Verhaftet und verschleppt
1968 — Wieder im Zug
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Ich sitze wieder in einem Zug, der mich nach Haus bringt wie damals 1949, als ich verschleppt wurde. Meine Kinder hatten geschrieben, daß meine Mutter im Krankenhaus liege. So gab es für mich keine Frage. Ich mußte zu ihr. Den inneren Schweinehund <Angst> bekämpfend löste ich mit Zittern und Zagen in Wien die Fahrkarte über Prag, Dresden, Stendal nach Tangermünde.
Schon die Fahrt durch die CSSR ist beklemmend. Erstmals nach 18 Jahren Abwesenheit erfahre ich wieder was es heißt: Ost-Diktatur. Die tschechische Kontrolle beanstandet, daß ich kein Visum habe. Nach langem Hin und Her stempelt man meinen Paß, ich zahle die Visum-Gebühr und schicke ein Dankgebet zum Himmel, daß man mich in Ruhe weiterfahren läßt. Natürlich war es der Fehler des Reisebüros. Man hätte mir sagen müssen, daß ich ein Transitvisum durch die CSSR brauche. — Es geht gut.
Unterwegs müssen ostdeutsche Zöllner zugestiegen sein; denn plötzlich öffnet sich die Tür, und ein freundlich grüßender Beamter verlangt meinen Paß zu sehen. Zusammen mit dem Paß überreiche ich ihm die telegrafische Mitteilung der Polizeistelle aus Tangermünde, daß mein Einreisevisum an der Grenze erteilt werden würde.
»Warum kommen Sie erst heute?« fragt er mich. »Sie haben das Telegramm doch schon am Mittwoch bekommen, und heute ist Samstag?« ??? »Ich arbeite. Ich bin verheiratet. Man kann doch nicht alles plötzlich stehen- und liegenlassen. Verstehen Sie das nicht?« Er reicht mir den Ausweis zurück und trägt mir auf, sofort nach Ankunft in Tangermünde die Anmeldung bei der Polizei vorzunehmen. »Um Schwierigkeiten zu vermeiden«, erklärt er noch.
»Arbeitet man denn noch, wenn ich heute, Samstag abend, ankomme?« — »Ja, diese Stellen arbeiten auch Samstag und Sonntag.« Dann verläßt er das Abteil mit freundlichem Gruß und mit dem Wunsch, ich möge meine Mutter wohlbehalten wiedersehen.
Die Grenze zwischen der CSSR und der DDR haben wir hinter uns gelassen. Deutsch beschilderte Ortschaften fliegen vorüber. Der Zoll hat keinen Einwand erhoben gegen mein schweres Gepäck und die große Tasche voller Südfrüchte.
Die Abteiltür wird aufgeschoben. Der erste Beamte kommt wieder. Er setzt sich mir gegenüber, die Tür hat er hinter sich geschlossen. Er musterte mich, dann fragt er: »Haben Sie Angst?« — »Ja«, antworte ich kurz und innerlich erschrocken.
»Sie müssen keine Angst haben. Niemand tut Ihnen etwas. Glauben Sie mir. Mein Onkel war auch im Lager.« Wie kann er ... woher weiß er, daß ich ...? Was will er mir zu verstehen geben?
»Möchten Sie nicht wieder zurückkommen in die DDR? Sie sprechen doch so hervorragend russisch. Leute wie Sie brauchen wir. Sie würden sofort einen guten Job bekommen bei uns!« — »Das ist unmöglich, ich bin nicht allein und entscheide auch nicht mehr allein über mein Leben«, versuche ich meine Ablehnung zu begründen. Und ich bete: Lieber Gott, hilf mir, daß mir nichts passiert. Steh mir bei, bitte!
Der Zug läuft in Dresden ein. Der Zollbeamte öffnet die Abteiltür, hilft mir freundlich beim Aussteigen mit dem Gepäck, sogar beim Transport auf den anderen Bahnsteig, bedankt sich für die Zigaretten und Bananen, die ich ihm für seine Hilfe geschenkt habe und wünscht mir noch eine gute Weiterfahrt.
Der Kelch war an mir vorüber gegangen.
Ein Taxi bringt mich von Stendal nach Tangermünde. Ich müßte sonst Stunden warten, bis der nächste Zug geht. Wer empfängt mich? Meine Mutter! Sie hat sich aus dem Krankenhaus entlassen lassen. Dem Arzt hatte sie erklärt, keine Zeit zum Kranksein zu haben. Die Tochter kommt.
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Und es ist, als wäre ich nie fortgewesen. Nichts und niemand war mir fremd geworden in all jenen Jahren der Abwesenheit. Das war der Beginn meiner Reisen in die DDR. Später vermied ich den Weg durch die CSSR und flog fortan von Wien bis Berlin-Schönefeld. Mein Sohn holte mich ab vom Flughafen. Ich wollte jede Unannehmlichkeit vermeiden.
Befreiend war für mich das Aufgenommenwerden von den Schulkameradinnen. Es schien, als wären sie immer meine Freundinnen gewesen. Sie trafen sich monatlich einmal — und wenn ich kam, verlegten sie das Treffen auf diesen Zeitpunkt, oder sie kamen alle in mein Elternhaus, oder wir trafen uns bei Lotti, Ruth oder Käthchen. Allmählich hatte sich die Angst gelegt.
Heute liegt alles sehr weit zurück, der Zeitpunkt, als die Angst begann, mein Herz zu erschrecken, 1949.
Die Verschleppung
Meine Eltern haben beide an einem Tag Geburtstag. Einige Monate schon war ich nicht zu Haus gewesen, weil man in West-Berlin immer wieder von Verschleppungen las und hörte. Zwar hatte ich nie derartiges erlebt und sträubte mich, so etwas zu glauben, daß Russen oder Deutsche aus der DDR Menschen kidnappen. Dem brieflichen Drängen meiner Mutter nachgebend, fuhr ich nun doch zur Geburtstagsfeier nach Tangermünde.
Heiner, mein Sohn, empfing mich aufgeregt: »Mutti, Oma hat sieben verschiedene Kuchen gebacken, aber ich soll nichts sagen...« Es war eine wunderschöne Feier. Und ich genoß den Samstag und Sonntag daheim.
Am Montag in der Früh saß ich wieder im Zug nach Berlin. Das Wetter war nebelig und unfreundlich. Unfreundlich waren auch die Menschen im Zug. Stendal. Umsteigen.
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Der D-Zug nach Berlin war angenehm durchwärmt. Ich setzte mich, nachdem ich mein Gepäck verstaut hatte, ans Fenster, gegenüber einem netten jungen Vater und seiner circa vierjährigen Tochter. Wir waren bald in ein Gespräch verwickelt. Er erzählte mir, daß er Matrose war, seine Frau Kellnerin gewesen sei und daß er nun zu einem Treffen der Bibelforscher nach Berlin-Schöneberg fahre. Nach seiner Heimkehr von der Front war er von seinem Vater, der inzwischen dieser Bibelforschergemeinde beigetreten war, bekehrt worden.
»Sie können sich nicht vorstellen, was ich für ein Hallodri war. Ich wollte und wollte nicht glauben, was mir mein Vater erzählte. Als erste hatte er meine Frau bekehrt. Sie war auch nicht eine von den frommen Schwestern, das können Sie glauben. Als Kellnerin. — Aber nachdem sie immer wieder mit mir sprachen und ich endlich begriff, daß die einzige Möglichkeit, hier zu leben, die in der Gesellschaft Gottes war, ergab ich mich darein. Und Sie müssen wissen: ich glaube heute tief und fest an die Heilige Schrift, an das Wort Gottes, an Jesus Christus.«
»Sehen Sie«, argumentierte ich dagegen, »und gerade das glaube ich nicht. Ich kann nicht glauben, daß eine Jungfrau vom Heiligen Geist beschattet wurde und ein Kind empfing, das nun als Kind Gottes deklariert wird. — Wahrscheinlich hatte sie ein Verhältnis mit einem hohen Priester, der seinen Gläubigen und auch ihr klar machte, er sei ohne Schuld. Es sei Gott, der hier handle. — Nein, ich glaube nicht!«
In dem Augenblick zog ein Zivilist die Abteiltür auf und forderte alle auf: »Ihre Ausweise, bitte!«
»Sie haben einen West-Berliner Ausweis«, wandte er sich dann an mich. Seine Aussprache hatte einen stark russischen Akzent. »Nehmen Sie bitte Ihr Gepäck und folgen Sie mir.«
Ungehalten, jedoch noch immer arglos, folgte ich der Aufforderung, nahm meinen kleinen Koffer, das Netz mit den Äpfeln und der Wegzehrung, die mir meine Mutter mitgegeben hatte, und stieg aus.
Es mußte sich ja aufklären, daß ich nur mal zu meinen Eltern gefahren war, um ihren Geburtstag zu feiern, zu meinem Sohn. Ich wollte doch nur meine Familie wiedersehen, meinen Sohn in die Arme schließen.
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Ich hatte keine Zeit, mich umzusehen. Trotzdem nahm ich wahr, daß mehrere Menschen auf dieser Station, Rathenow, den Zug verließen und zum Ausgang geleitet wurden wie ich. Vor dem Bahnhofsgebäude standen mehrere dunkle Limousinen. Man forderte mich auf, in einem Wagen Platz zu nehmen. Sehr höflich, sehr freundlich. Doch auch sehr bestimmt.
Und tröstend hob ein Herr die Hand: »Es ist nur eine Überprüfung! Haben Sie keine Angst.« Längst hatte ich erkannt, daß jener Zivilist ein Russe war.
Der Wagen setzte sich in Bewegung und verließ die Stadt. Plötzlich — mitten im Wald — hielt das Auto an. Ich mußte aussteigen. Man befragte mich noch einmal, ob dies mein ganzes Gepäck sei. Ich bejahte.
Schlotternd vor Angst stand ich da. Was, wenn die mich jetzt erschießen? raste es durch mein Hirn. Warum?
Der Russe holte ein Tuch hervor, verband mir die Augen und forderte mich auf, mich wieder in das Auto zu setzen. Er führte mich zur Tür. Ich stieg ein. Mein Gepäck hatte man nun in den Kofferraum verstaut. Ein wenig hatte ich die Augenbinde verschoben und nahm wahr, daß das Auto mich zurückbrachte, durch Tangermünde, weiter nach Stendal. Man hieß mich aussteigen, führte mich durch ein Tor, nahm mir das Tuch von den Augen und befahl mir, ins Haus zu gehen. Eine Russin kam, tastete mich ab, fragte, ob ich wisse, wo ich sei? — »Ja«, antwortete ich wahrheitsgemäß, »in Stendal, im Russenviertel.« Sie hatten mein Gepäck hereingebracht. Unter anderem hatte ich in meinem Koffer ungefähr achtzig bis hundert Zeichnungen, die ich während des zweijährigen Unterrichtes von 1945 bis 1947 in Tangermünde bei dem freischaffenden Künstler Günther Johl angefertigt hatte. Ich hatte mich damals einer Junglehrergruppe angeschlossen. Zumeist waren diese Skizzen Porträt-Zeichnungen.
»Unterschreiben Sie alle diese Blätter auf der Rückseite. Schreiben Sie: diese Zeichnung wurde von mir angefertigt. Setzen Sie dann das heutige Datum und Ihren Namen darunter.«
Das beschäftigte mich einige Zeit. Immer fragte ich mich: Was will man von mir? Ich wußte keine Antwort.
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Einige Stunden später setzte man mich wieder mit verbundenen Augen in eine Limousine und verbrachte mich nach Magdeburg.
Ich kenne meine Heimat sehr gut. War ich doch wöchentlich heimgefahren von Dessau nach Tangermünde, immer wieder die gleiche Strecke. Die Geräusche waren mir vertraut.
Als man mich am Zielort fragte, ob ich wisse, wo ich sei, und ich nickte und sagte: »In Magdeburg«, rief einer der Russen in dem Raum: »Oh, welch große Spionin. Mit verbundenen Augen weiß sie noch genau, wo sie ist!« Da wurde mir klar, daß ich vielleicht besser geschwiegen hätte. — Ach, was war ich für ein naiver Mensch.
Es folgten Verhöre, tagsüber und nächtens, Nacht für Nacht mehrmals, immer wieder, und das Wochen hindurch. Kaum hat dich der Kummer einschlafen lassen, hieß es: <Dawei> Das System lag in der Zermürbung des Willens. Man ließ mich in dem Vernehmungszimmer mitunter einfach sitzen. Der Untersuchungsrichter und die Dolmetscherin kümmerten sich anscheinend gar nicht um mich. Am Ende aber immer wieder grinsend die gleiche Aufforderung: »Geben Sie zu: Sie sind eine Spionin!« Jede Verneinung, jede Empörung meinerseits wurde mit einer abweisenden Geste abgetan und wenn ich die Unterschrift unter angefertigte Protokolle verweigerte mit dem Hinweis, niemals so etwas ausgesagt zu haben, grinsten sie hämisch über das ganze Gesicht: »Nitschewo! Unterschreiben Sie!« Waren es fünf Wochen oder mehr? Jedes Zeitmaß hatte ich verloren.
Jene entsetzliche Zelle, eine Milchkanne in der Ecke für die Notdurft, täglich einen Becher Wasser für die Körperwäsche — für das Gesicht? für die Unterwäsche? — Längst hatte ich mein Hemd in Streifen gerissen, um die periodische Blutung aufzufangen. —
Endlich etwas Neues. Ein Ortswechsel. In dem Potsdamer NKWD-Gefängnis in der Lindenstraße hatte man für mich eine kleine Zelle reserviert. — Wieder: Verhöre. Tag und Nacht. Mehrmals nächtens, wieder, wieder. Müde und mürbe von den ewig gleichen Fragen, unterschrieb ich zum Schluß, was sie unterschrieben haben wollten. Nur Ruhe. Nur Ruhe haben und endlich schlafen dürfen. Schlafen.
In meine Zelle wurde Waltraud P. gebracht. Ich atmete auf. Sie erklärte mir, was das Kratzen und Klopfen rund um mich herum zu bedeuten hatte.
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Andere Zellengenossen, die auf diese Weise Kontakt suchten. Sie erklärte mir das System des Klopf-Alphabeths: A = 1 Klopfer, B = 2 Klopfer, C = 3 Klopfer usw., Kratzen heißt: Satzende.
Es wurde sogar ein bisserl aufregend; denn man durfte keineswegs beim Klopfen erwischt werden. Aber so erfuhr ich, daß ich kein Einzelfall war, sondern daß viele solcher Verschleppten hier auf den weiteren Verlauf der Dinge warteten.
Später, als wir heimgekehrt waren, erzählte mir Waltraud, daß man sie zu mir in die Zelle gesetzt hatte, um mehr in Erfahrung zu bringen. Sie blieb vier Wochen. Wahrscheinlich war es zwecklos, oder man brauchte sie für eine andere Zelle.
Irgendwann wurde ich dann einem militanten Gremium vorgeführt, und man verkündete mir das Urteil: "Wegen nicht nachgewiesener Spionage 20 Jahre SROK, abzuleisten in einem sowjetischen Konzentrationslager." Als man mich fragte, ob ich noch etwas zu sagen hätte, fuhr ich sie verachtungsvoll an: »Warum ziehen Sie nicht einen Stacheldraht um Ihre Zone, wenn Sie nicht wollen, daß man da hinfährt?« — Der Dolmetscher übersetzte, was ich gesagt hatte, dann wies man einen Soldaten an, mich hinauszubringen, und die nächste wurde hineingebracht. Auf einer Bank wartend, hockte ich Häufchen Unglück, das eben noch so wütend war, und heulte erbarmungswürdig. Ein russischer Soldat redete mich an: »He, nix Angst. Vielleicht 10 Jahre, dann damoi.« Konnte das Trost sein?
Eine riesige Zelle nahm mich nun auf. Ich kauerte mich in eine Ecke. Dann ging es Schlag auf Schlag. Bald waren wir zwölf arme Würstchen beieinander. Man machte sich leise miteinander bekannt. Einige hatten gehört, daß wir nun in einer »Abgangszelle« waren und demnächst auf Transport gehen würden, nach Rußland.
Damit verwandelte sich die Angst der Ungewißheit in das endlose Grauen der unfaßlichen Tatsache. Es währte 6 lange Jahre für mich, vom 19. September von 1949 bis zum 16. Oktober 1955.
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Repressalien oder Provokation?
Ich bin froh, daß ich jetzt in Wien wohne und die Sorge um meine Familie mich nur hin und wieder in die DDR führt. Einmal, es war Pfingsten und man erwartete mich am Pfingstmontag. Dann dachte ich — ach, ich werde schon am Pfingstsamstag fliegen, dann können wir die ganzen Feiertage miteinander verbringen, die Kinder werden zu Haus sein und nicht arbeiten.
Es sollte eine Überraschung werden. Das war es dann auch. Aber auch für mich.
In Schönefeld war kein Taxi zu bekommen. Ein Zug ging erst am späten Abend, und ich hätte Tangermünde nicht mehr erreicht. So fragte ich am Informationsschalter nach, ob man mir ein Taxi rufen könne oder ob man sonst irgendwie eine Mitfahrgelegenheit für mich finden könne, damit ich wenigstens bis Stendal oder Magdeburg käme. —
Man hielt es für ziemlich aussichtslos, da Willy Brandt an diesem Tage in Berlin und das Leben am Flughafen so gut wie ausgestorben war.
Endlich winkte der Gepäckträger mir zu, ich hätte Glück, ein Autofahrer würde mich mitnehmen. Es waren inzwischen zwei Stunden vergangen, 16.00 Uhr. — Nun, ein netter Mann Ende Dreißig, Anfang Vierzig fragte mich, wo ich denn hin wolle. Ich fragte zurück, wo er denn hinfahre. Sein Weg ging nach Dresden. »Aber«, sagte er, als wir im Wagen saßen — der Himmel hatte alle Schleusen geöffnet, und es goß in Strömen — »es ist kein Umweg für mich, ich bring Sie nach Tangermünde«.
Überwältigt von so viel Liebenswürdigkeit bedankte ich mich. Wir plauderten. Er erzählte Witze über die DDR und ich fragte überrascht, ob er denn keine Angst habe, derartige Witze zu erzählen? — Ich revanchierte mich mit dem typischen Sowjet-Witz aus meiner Workuta-Zeit:
<Du kennst meinen Sohn nicht, Genosse Lehrer, wenn du das sagst>, war seine Antwort.»In der Schule sprach der Lehrer über das Epos Eugen Onegin. Wanja, unaufmerksam, las unter der Bank einen Zettel. Als es der Lehrer gewahrte, fragte er: <Wanja, wer hat es geschrieben?> Wanja zuckt zusammen und stammelt: <Ich nicht, ich bin unschuldig!> Der Lehrer straft Wanja, indem er dessen Vater aufsucht, ihm den Fall schildert und seiner Empörung Ausdruck verleiht.
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<Der Wanja ist frech, alles was recht ist. Er ist auch faul, gebe ich zu. Aber das eine weiß ich: lügen tut er nicht. Wenn er gesagt hat, er hat es nicht geschrieben, dann hat er es wirklich nicht geschrieben. Das mußt du ihm glauben.>
Der Lehrer wendet sich wortlos voller Verachtung über soviel Unwissenheit ab.Er kommt heim und erzählt dem Mitbewohner seines Quartiers von der elenden Unwissenheit des Volkes, schildert den Fall und der Genosse, der als Untersuchungsrichter arbeitet, fragt beiläufig: <Wer war das, um wen handelt es sich?> — >Nun<, erklärte der Lehrer, >der Sohn Wanja des Iwan Iwanowitsch und er selber. Du kennst ihn. Es ist unverständlich.>
Zwei Tage später — der Lehrer kommt von der Schule heim — ruft ihm der Genosse Untersuchungsrichter zu: >Du, schau her, hier ist der ganze Akt. Ich habe mir die beiden vorgenommen. Sie haben gestanden. Hier hast du dein Geständnis. Der Wanja hat es geschrieben.>
Das offenbart die ganze Tragödie des kommunistischen Systems. Sie beweisen dir in dialektischer Manier, daß es nur so sein kann und nicht anders.
Nun, der Autofahrer stoppte plötzlich und sagte: »O weh, wir sind hier am Truppenübungsplatz.« Er nannte einen Namen.
Entsetzt bat ich: »Um Gottes willen, fahren Sie auf demselben Weg zurück, den Sie gekommen sind. Mein Sohn ist noch nie an einem Truppenübungsplatz vorbeigekommen, wenn er mich abholt. Wir sind hier ganz falsch.« Gesagt, getan.
Der Weg nach Tangermünde war dann relativ kurzweilig. Der Regen hatte nachgelassen. Die Welt sah wunderbar aus. Die Äcker so erfrischt, das Grün glänzte, die Bäume schienen mit den Gräsern um die Wette zu wachsen. Es war so recht pfingstliche Stimmung in mir aufgekommen. Und die Freude der Überraschung für meine Lieben lag noch vor mir.
Mein ältester Enkelsohn Axel schaute aus dem Fenster und rief laut und voller Freude: »Oma ist gekommen!« Er rief es mehrmals, wohl um sich zu vergewissern, daß alle es auch wirklich hörten. Dann kam er schon zum Auto mit seinen Eltern. Meine Mutter schaute oben aus dem Fenster, ich winkte ihr zu.
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Mein Gepäck trug der Autofahrer — der mir erzählt hatte, er sei Patentanwalt und verdiene sieh durch solche Fahrten am Wochenende etwas Geld — zusammen mit meinem Sohn herein. Ich bat meine Schwiegertochter, sie möge für alle Kaffee kochen vom mitgebrachten und auch dem Herrn Kaffee anbieten.
Ich lief inzwischen schnell zu meiner Mutter hinauf, um sie zu begrüßen und die Freude der Überraschung richtig auszukosten.
Dann saßen wir alle unten beisammen und tranken Kaffee. Der Herr verabschiedete sich von uns. Ich gab ihm außer dem geforderten Geldbetrag noch vom mitgebrachten Obst, Zigaretten und Kaffee, dazu noch meine Visitenkarte und sagte: »Vielleicht kommen Sie einmal nach Wien, dann kehren Sie ein bei uns auf einen Kaffee.« — Er bedankte sich für die Geschenke, für das Geld und ging.
Viel Zeit ging ins Land. Monate später.
Die Post brachte eines Tages einen Brief. Der Inhalt war befremdend. Der Schreiber erinnerte an die Pfingstfahrt von Schönefeld nach Tangermünde und bedrängte mich, ich möge ihm doch für sich und seine Frau falsche Pässe besorgen und ein Nummernschild aus der CSSR. Ratlos und aufgeregt überlegten mein Mann und ich, was zu tun ist. Ich fragte meine Arbeitskollegen, und die sagten einhellig: »Net amal ignorieren«, was soviel heißt, wie gar nicht reagieren. So verhielt ich mich dann auch.
Es kam ein zweiter Brief, man hätte bereits Pässe, es wäre nur mehr das Nummernschild notwendig. Eine West-Berliner Adresse war angegeben, wo es hin zu senden wäre.
Wieder diskutierten wir alles mit den Freunden und Arbeitskollegen durch, was man davon zu halten habe. Eindeutig stimmten wir überein: Das kann doch nur eine Provokation sein. Welcher normale Mensch schreibt denn so was!
Einige Tage später erreichte mich ein Brief meiner Mutter. Sie war entsetzt. Jener Mann war auch zu meinem Sohn in den Betrieb gegangen mit dem Anliegen, mich zu bearbeiten, daß ich ihm helfen solle bei der Beschaffung der falschen Pässe und Nummernschilder, ebenso hatte er meine Schwiegertochter bedrängt.
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Das schlug dem Faß den Boden aus. Es überstieg mein Fassungsvermögen. Ich fragte in unserer Westdeutschen Botschaft in Wien nach, man verwies mich zum Verfassungsschutz. Die Herren waren mit uns der Meinung, daß dies eine reine Provokation sein müsse. »Am besten ist es«, so lautete der Rat des Diplomaten, »Sie gehen mit diesen beiden Schreiben zur DDR-Botschaft und erstatten Anzeige wegen Belästigung.«
Auf direktem Wege begleitete mich mein Mann zur Botschaft der DDR. Man erbat sich beide Briefe, beruhigte uns und sagte, sie würden der Sache nachgehen.
Es gelang mir nur schwer, meine Angehörigen zu beruhigen, ihnen die Angst vor neuerlichen Repressalien der Regierung der DDR zu nehmen. Nachdem zwei Monate vergangen waren, suchte mich eine Dame von der DDR-Botschaft in Wien auf, bedankte sich bei mir für die Loyalität, die ich bewiesen hätte und schlug vor, ich könne sofort zu meinen Angehörigen fahren, ich würde kein Visum brauchen.
Ich wagte nicht einmal »nein« zu sagen zu dem Vorschlag. Ich flog für ein paar Tage zu meinen Angehörigen, schon um ihnen alles zu schildern, was sich bei mir ereignet hatte und wie der tatsächliche Sachverhalt war. Und ich bat sie, wenn irgendwann irgendwer wieder mit solchen oder ähnlichen Anliegen käme, diese Leute sofort an die Luft zu setzen und mit einer Anzeige zu drohen.
Es war nie einfach, wenn ich meine Familie besuchte. Die Angst war immer mein Reisegefährte. Und ich denke, nein, ich weiß heute, daß auch meine Familie meinetwegen kein einfaches Leben hatte.
Später, als Rentner die DDR besuchsweise verlassen durften, bat ich die Verwandten in Westdeutschland, meine Eltern einzuladen nacheinander und mit ihnen — wie man es mir hier geraten hatte — zum Landratsamt zu gehen. Gottlob tat es mein Onkel. Als erster kam mein Vater, später meine Mutter. Das Landratsamt hatte sie für die kurze Zeit der Reise unbürokratisch eingegliedert als westdeutsche Bürger, ihnen für diese Zeit einen westdeutschen Paß gegeben und ein Taschengeld. Der Paß wurde dann vor der Rückfahrt wieder rückerstattet, und meine Eltern fuhren mit ihrem ostdeutschen Paß heim. Auch diese Besuche waren immer mit der Angst verbunden, sie könnten in der DDR erzählen, sie seien in Wien gewesen. Ein alter Mensch, dessen Herz vor Freude übergeht.
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Aber alles ging immer wieder gut.
Später konnten sie offiziell kommen. Nur meine Kinder und Enkel nicht. Jungen Menschen war es verwehrt, außer Landes zu fahren.
Ich bin froh, daß diese Zeit vorüber ist. Froh, daß der Kommunismus sich selbst ad absurdum geführt hat. Und immer wieder froh, dankbar und stolz, Bürger eines solchen Staates zu sein, wie es mein Land ist: West-Deutschland, Deutschland.
Wie bewegt, wie dankbar erlebte ich die Wiedervereinigung beider Teile Deutschlands via Kabelfernsehen.
Schluchzend und tränenreich glücklich — zu spät für meinen Sohn, der inzwischen verstorben war, zu spät für meine Eltern, die längst von uns gegangen waren. Aber nicht zu spät für die vielen, vielen Menschen, die immer noch voneinander getrennt lebten, Familien, Freunde. Beide Enkelsöhne kamen kurz nacheinander zu ihrem ersten Besuch bei den Großeltern.
Die große Euphorie, die jenen unsagbaren Jubel auslöste, hatte auch uns erfaßt.
Und ich bin dankbar den Verantwortlichen in der Politik, die endlich aufgewacht sind aus der Lethargie des: da-kann-man-nichts-machen und den Augenblick der Möglichkeit erfaßten und handelten.
Daß der Staat, die Bevölkerung dafür soviel Zoll zu entrichten hat über Jahre hindurch: Werdet dessen nicht müde. Es ist hoch an der Zeit gewesen.
Und jene, die nie die DDR erlebt haben oder auch keine Familienangehörigen mehr hatten — möchte ich inständig bitten: seid voller Verständnis für die vielen, die nun endlich friedlich und vereint miteinander leben wollen, alte Kontakte pflegen wollen oder auch nur neue zu knüpfen versuchen.
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Glasnost und Perestroika
Wiedersehen in Moskau
So weltbewegend sich der »Russische Bär« auch alle Läuse aus seinem Pelz zu schütteln versuchte, für mich waren die beiden Worte Glasnost und Perestroika Phrasen geblieben.
Hatte ich doch wieder einmal versucht, Tatjana unter der mir gegebenen Adresse in Moskau zu erreichen. — Wieder war der Brief nicht zurückgekommen wie die ganzen Jahre zuvor, da ich es seit 1955 versucht hatte, sie wissen zu lassen, daß wir heimgekehrt waren. Und wie all die Jahre zuvor — es kam aber auch keine Antwort.
Seit dem 10. Feber 1991 allerdings wurde Glasnost für mich zu einem konkreten Begriff.
Bei Freunden zu Gast, wurden wir bekannt mit einer reizenden jungen Indonesierin. Violetta erzählte uns, daß ihre Mutter Russin sei, aus Moskau stamme und ihre Babuschka noch dort wohne und sie ab und zu hinfahre, um die Großmutter zu besuchen.
Ich schilderte ihr meine vergeblichen Versuche, Tatjana P. zu finden, und darauf entgegnete sie mir: »Das ist etwas für meine Babuschka. Sie ist sehr resolut und kann sich durchsetzen. Schreiben Sie mir den Namen und die Anschrift auf. Ich werde Großmutter anrufen.«
Das war im November 1990. — Weihnachten und Sylvester hatten wir der Umstände halber zu Haus verbracht. Von Violetta hatte ich lang nichts gehört. Bis sie mich anrief am 10. Feber 1991: »Anneli, ich habe hier die Adresse und Telefonnummer von Tatjana Palagina.« — Sie teilte mir die Anschrift mit, und ich wußte mich im Augenblick vor Freude gar nicht zu fassen. Ich konnte es nicht glauben.
Mein Mann sagte: »So ruf doch mal an!«
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Als sich am anderen Ende der Leitung Tatjana Palagina meldete und wir miteinander sprachen, als hätten wir uns gestern getrennt, kannte meine Freude keine Grenzen. Ich redete in der russischen Sprache, als hätte ich sie perfekt erlernt und Tanja fragte mich: »Annelise, wo haben Sie so gut russisch sprechen gelernt?«
Seither kann ich ihr so herzlich »Danke« sagen, wie ich es so gern schon lange getan hätte. Zusammen mit Vera B. wird Tatjana von uns betreut mit Paketen usw.
Niemals hatte man ihr oder ihrer Mutter die Karten, die ich geschrieben hatte, ausgehändigt. Sie hatten nichts davon gewußt, daß ich sie gesucht und immer wieder geschrieben hatte.
Nun sind wir in diesem Jahr, 1992, im Mai/Juni nach Moskau geflogen und haben Tatjana besucht.
Die Verhältnisse und Umstände waren niederschmetternd. Moskau bot lediglich im Kreml ein sauberes, schönes Bild.
Mein Mann und ich trennten uns nach der Führung von der Touristengruppe, um eventuell im GUM für Tanja noch Kleinigkeiten zu kaufen. Wir schlenderten durch den Alexandergarten, der Kreml und Roten Platz voneinander trennt.
Franzi war ein paar Schritte zurückgeblieben, ich hörte ihn Bettler abwehren, denen man leider auf Schritt und Tritt begegnet. Erst als er laut wurde und ich mich umdrehend gewahrte, daß man bereits versuchte, meinen Mann auszuziehen — vier Burschen hingen und zerrten an ihm rum, und eine Frau hielt seinen Jackettärmel in der Hand, fuhr ich wie eine Furie mit lauten russischen Flüchen auf die Diebe zu: »Ehrlose Hunde, gehen Sie sofort weg!«
Sie erschraken und ließen ab von meinem Mann. Die Knöpfe fehlten am Sakko, furchtbar beschmutzt war mein sonst so gepflegter Mann — und — das stellten wir jedoch erst später fest: in die hintere Hosentasche hatte man mit einer Rasierklinge geschickt ein Dreieck geschnitten. Gott sei Dank hatten sie nur das Geld erwischt und nicht den Paß, den hatten wir ja im Hotel hinterlegt.
Als wir der Reiseleiterin beim Mittagessen davon berichteten, meinte sie: »Na ja, Ihr Mann sieht eben aus wie ein Großkapitalist!« Tja, aber ist das ein Freibrief für Kriminalität? Dafür brachten wir kein Verständnis auf.
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Der Park an der Wolga, den wir — wieder mit der Gruppe — besuchten am nächsten Vormittag, war wunderschön, naturbelassen. Die alten, verwitterten Gebäude vermittelten den Eindruck von der sommerlichen Lebensgewohnheit der Zarenfamilie.
Und die vielen frohen Kinder in russischen Sarafanschicks, die da tanzten und sangen, die Schausteller, die im Park spielten, die Redner, die ihre Reden schwangen, alle feierten an dem Tag miteinander den Geburtstag Peters des Großen. Sogar der Gottesdienst in der nahen Kirche galt dem längst verstorbenen Zaren. Ja. Das ist wahrhaftig Perestroika.
Wir trafen Tatjana in ihrer liebevoll gepflegten kleinen Wohnung. Das Haus und die Häuser rund herum sahen alle aus wie Ruinen.
Tatjana war Fernsehregisseurin von Beruf bis zu ihrer Pensionierung. Ihre Kollegen vom Russischen Fernsehen waren gekommen, um dieses Wiedersehen nach 40 Jahren festzuhalten. Sie hatte uns die köstlichsten Sachen aufgetischt, Kaviar, Beluga-Fisch, französischen Champagner, von ihr selbst zubereitete Piroschki. Es war eine wunderschöne Wiedersehensfeier. Am nächsten Tag besuchte uns Tatjana im Hotel, zusammen mit ihrer Nichte Lusja.
Ich bin so froh, da wir uns wiedergetroffen haben, Tanja, und daß wir Lusja kennenlernten. Zwei Russinnen, zwei wahre Menschen. Und wie schön, daß wir Freunde sind. Daß auf dem Rückflug unser neuer Koffer aufgebrochen und um einiges leichter geworden war — davon will ich gar nicht mehr sprechen. Die Menschen sind sehr, sehr arm. Nur glaube ich, die früher nicht gestohlen haben, tun es auch heute nicht.
Wir wollen derzeit nicht wieder nach Moskau fahren. Der Aufenthalt ist teuer und wir denken, daß dieses Geld besser Tanja zugute kommen kann.
Wir hoffen, daß Tanja und Lusja im Mai 1993 unsere Gäste sein werden, daß wir sie verwöhnen können und wir so Tanja noch einmal ein großes Dankeschön zu sagen vermögen für ihre beispiellose Kameradschaft und Freundlichkeit im russischen Konzentrationslager Periodschachtny in der Vorderen Polarzone in der KOMI ASSR.
Glasnost und Perestroika haben wirklich stattgefunden.
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Ende
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