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4  Ein Votum für die schwarzen Kutten

     Gottfried Benns und Bertolt Brechts Protest gegen die Hybris der Geschichte 

 

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Die literarischen Größen des Jahrhunderts treten jetzt, da dieses sich dem Ende zuneigt, allmählich aus der unmittelbaren Zeitgenossenschaft zurück in die Geschichte und stellen sich deren Urteil. Schon beginnt sich abzuzeichnen, wessen Werk aus der Vergangenheit der letzten 80 Jahre Aussicht haben dürfte, in den klassischen Bestand übernommen und damit der Aufmerksamkeit der Nachgeborenen empfohlen zu werden. 

Hofmannsthal, Rilke und George, Trakl, Thomas und Heinrich Mann, Brecht, Kafka — das sind nur einige Namen aus dem Bereich der deutschen Literatur, die zum Beispiel sehr wahrscheinlich einen Platz auf dem Parnaß des 20. Jahrhunderts erwarten dürfen.

Auf dem Weg dorthin begleiten sie jene Festivitäten, die aus Anlaß von hohen Dezimal-Geburtstagen wohl unvermeidbar sind und die sich trotz des kritischen Objektiviergehabes, das dabei heutzutage als Fortschrittsalibi zur Schau getragen wird, im Grunde dennoch gar nicht so sehr von den »Denn er war unser«-Feiern unserer Vorväter unterscheiden.

Zu denen, die jetzt aus dem Streit der Tagesmeinungen zurücktreten in die Geschichte, um selbst Geschichte zu werden, gehört auch Gottfried Benn. Von Benn allerdings zu behaupten, er sei unser gewesen, fällt schwer.

Denn unser war er, der sich diesem Jahrhundert und dessen intellektueller Wichtigtuerei schroff verweigerte, eigentlich nie — und er wird »unser« wohl auch nie werden können, weil ihm die Zeitgenossenschaft, die sein Geburtsjahr 1886 ihm aufdrängte, weder geheuer noch angenehm war; er verachtete sie. Und mit dieser Verachtung war es ihm, im Gegensatz zu manchem seiner schreibenden Zeitgenossen, auch ernst. Er wollte sich durch sie nicht interessant machen; deshalb erwartete er auch keinen Beifall für sie. Noch nicht einmal auf seine Gedichte erwartete er ein Echo. »Gedicht«, schrieb er, »ist die unbesoldete Arbeit des Geistes, der fonds perdu, eine Art Aktion am Sandsack: einseitig, ergebnislos und ohne Partner —: evoé!«

Dennoch mangelte und mangelt es Benn nicht an Bewunderern aus den verschiedensten »Lagern«, von Brecht bis Klaus Mann, von Ernst Stadler bis Max Rychner, Friedrich Sieburg und Johannes R. Becher — um nur ein paar der prominentesten Namen zu nennen.

Der zuletzt Genannte zum Beispiel schrieb noch 1956, als wohlbestallter Kulturminister der DDR, auf Benns Tod die fast befremdlich-bewegenden Verse (sie gehören übrigens zu den wenigen ernst­zunehmenden, die dem Kulturfunktionär noch gelangen):

 

 

»Er ist geschieden, wie er lebte: streng, 
Und diese Größe einte uns, die Strenge, 
Uns beiden war vormals die Welt zu eng, 
Wir blieben beide einsam im Gedränge.

 

Unwürdig wär' ein: nihil nisi bene,
Der Juli summt ein Lied dir: <Muß i denn...> 
Mein Vers weint eine harte, strenge Träne, 
Denn er nahm Abschied von uns: Gottfried Benn.«  (J.Becher)

 

 

Ein derartiger Trauersalut, entboten von einem, den zum Zeitpunkt der Niederschrift politische Abgründe und Eiserne Vorhänge von Benn trennten, mutet ebenso erstaunlich an wie ein anderer Satz, den ebenfalls einer schrieb, der zu Benns Parteigängern gewiß nicht vorbestimmt war: Hermann Hesse

Anfang der fünfziger Jahre, als Benn sich bereits wieder als Prototyp des reaktionären Schriftstellers umstritten, das heißt: dem zeitgeistigen Vorurteil ausgeliefert sah, nannte Hesse seinen Generationsgenossen Benn den »im Denken fortschrittlichsten und unerschrockensten deutschen Dichter unserer Zeit«. Das ist ein großes Wort, gelassen ausgesprochen zu einem Zeitpunkt, da Hesse für solche Gelassenheit kaum ungeteilter Zustimmung gewiß sein durfte.

Noch merk- und nachdenkenswürdiger aber als diese beiden Bekundungen ist jenes Gedicht, das Bertolt Brecht (ebenfalls in den fünfziger Jahren!) dem Thema Benn widmete und auf das man sich eigentlich nur einen vergleichsweise pythischen Reim machen kann: »Beim Anhören von Versen des todessüchtigen Benn habe ich auf Arbeitergesichtern einen Ausdruck gesehen, der nicht dem Versbau galt und kostbarer war als das Lächeln der Mona Lisa.«

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Man mag in solche und ähnliche Zeugnisse hineingeheimnissen oder herauslesen, was immer man mag — unüberhörbar und auch unmißverständlich spricht aus ihnen doch wohl eine Faszination, die den zeitgeistigen Tageskurs des Autors Benn und dessen Schwankungen völlig außer acht läßt. Wahrscheinlich war es nicht zuletzt die von Hesse seinem Dichterkollegen Benn nachgerühmte Unerschrockenheit, die Rücksichtslosigkeit des Erkennens und Bekennens, aber auch die bald elegische, bald aggressive Melancholie seiner Tapferkeit aus Pessimismus, die so tiefen und nachhaltigen Eindruck auf die Zeitgenossen machte. 

Der Einzelgänger Benn schloß weder mit sich noch mit anderen einen Kompromiß, selbst mit den Nationalsozialisten nicht, obwohl in diesem Fall gedruckte Fakten das Gegenteil zu beweisen scheinen, wovon noch zu sprechen sein wird. Vorsicht kannte er nicht; wenn er schrieb, ging er immer aufs Ganze:

»Ich bin nie links gewesen, nicht eine Stunde, die Behauptung ist absurd. Das Schöpferische ist weder rechts noch links, sondern immer zentral. Ich habe immer das Leben gleich angesehen: als tragisch, aber mit der Aufgabe, es zu leben. Ein Satz, den ich vor mehreren Jahren schrieb, spricht es aus: <Das Leben ist ein tödliches Gesetz und ein unbekanntes. Der Mann, heute wie einst, vermag nicht mehr als das Seine ohne Tränen hinzunehmen.> Dieses an der Antike gebildete Gefühl stand über jeder meiner Stunden.«

Wer dieses schreibt, gehört nicht zu denen, die Literaturbetrieb machen, Resolutionen verfassen und sich dem Tagesgeschäft der Politik anbiedern, um den Mangel an schöpferischer Substanz durch Barrikadengeschrei zu kompensieren. Wer so spricht, der päppelt auch kein Bestseller-Image und keine Anwartschaft auf öffentliche Zustimmung und Nobelpreise. 

* detopia:  Gottfried Benn  1886-1956 

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Wer sich derart aussetzt, der fühlt sich nur der Maxime verpflichtet, für das, was er als wahr erkannt zu haben glaubt, vorbehaltlos mit der ganzen Existenz einzustehen. Er macht sich und anderen nichts vor, und er macht sich keinen Augenblick Illusionen über den Preis, den er dafür zeit seines Lebens zahlen muß. Allein diese Haltung, die heute so selten ist, wie sie es gestern war, verdient Respekt — unabhängig davon, ob man die Überzeugungen des Respektierten teilt oder nicht.

Wie nüchtern Gottfried Benn selbst seine Lage einschätzte, läßt sich einem Brief entnehmen, den er an seinen späteren Verleger Max Niedermayer, den Inhaber des Limes-Verlages, am 18. August 1948 schrieb. Niedermayer hatte Benn angeboten, dessen noch ungedruckte Manuskripte zu veröffentlichen. Benn antwortete, er könne eigentlich niemand zumuten, sich dieser Texte anzunehmen. Sie würden, so heißt es wörtlich in dem Brief, 

»sehr starken Widerspruch finden und als unzeitgemäß angesehen werden. Die mir so wohlbekannten Angriffe gegen meinen Ästhetizimus, Esoterismus, Asozialismus würden wieder beginnen. Mir persönlich ist das völlig gleich, aber andere mit meinen im wesentlichen tragischen Gedanken zu belasten, kann ich mich kaum entschließen und bin daher gar nicht so versessen darauf, wieder in der Öffentlichkeit zu erscheinen.«

Als Benns Schriften dann doch, dank Niedermayers Hartnäckigkeit, wieder in der Öffentlichkeit zu erscheinen begannen, erweckten sie in Für und Wider ein Echo, wie es ihnen zuvor nie beschieden gewesen war. Abgesehen nämlich von dem lyrischen Schock, den der junge Mediziner Benn 1912 mit dem schmalen Gedicht-Bändchen »Morgue« ausgelöst hatte, blieb bis zum Verstummen Mitte der dreißiger Jahre alles, was Benn schrieb, ohne nennenswerte Wirkung in die Breite dessen, was man literarische Öffentlichkeit zu nennen pflegt.

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Zwar habe ihn, merkt Benn 1927 an, eine Zeitung »unter die Größten unserer Zeit« gerechnet; das sei zweifellos schmeichelhaft, aber unterm Strich seiner Verlagsabrechnungen stünden als Ertrag aus fünfzehn Autoren-Jahren (1912 bis 1927) ganze 975 Mark (die Zeitungsartikel und »Sonstiges« sogar eingerechnet). Jedoch, fährt er fort, er beklage sich nicht: »Ich will weiter meinen Tripper spritzen, zwanzig Mark in der Tasche, keine Zahnschmerzen, keine Hühneraugen, der Rest ist schon Gemeinschaft und der weiche ich aus.« Er war eben jener Stendhal-Typ des Autors, der von vornherein wußte, daß er for the happy few schrieb.

Nach der zweiten geschichtlichen Katastrophe, die sich das Jahrhundert geleistet hatte, wendete sich also nun dieses Blatt, auf dem Benns Rang mit 975 Mark notiert war. Der Nonkonformist Benn, bisher fast nur esoterisch verehrt, gelegentlich mit schwärmerischer Leidenschaft (Klaus Mann, nach dem Stichjahr 1933 der größte Benn-Hasser aus enttäuschter Liebe, gehörte vorher zu den heftigsten Benn-Schwärmern), dann verleumdet, verschwiegen und halbwegs vergessen — dieser Gottfried Benn gehörte, kaum war nach 1945 wieder etwas von ihm schwarz auf weiß erschienen, plötzlich zu den Leuten, über die man sprach —, und das heißt: von denen man etwas gelesen haben mußte, wenn man literarisch up to date sein wollte. Das »Gezeichnete Ich« war gezwungen, sich diesem Anspruch der Öffentlichkeit zu stellen und sich mit dem Ruhm abzufinden. Es ist schon komisch, sagte er damals in einem Gespräch, »da hat man nun zeit seines Lebens Denkmäler angepinkelt und ist auf einmal selber eines...«

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Unerklärbar ist diese Wende allerdings nicht. Benn mußte sich, zumal nach dieser erneuten geschichtlichen Katastrophe, dem geistigen Gewissen der Jahrhundert­mitte geradezu unausweichlich aufdrängen, nachdem das Menetekel seiner Schriften sich beklemmend erfüllt hatte und noch erfüllte, nämlich: der totale Wertverlust der Gesellschaft und daraus folgend der Verzicht auf deren soziale und politische, insbesondere aber geistige und seelische Sinngebung. Was stattdessen als Sinngebung angeboten worden war und angeboten wurde, entlarvte Benn mit der ihm eigenen Offenheit als das, was es de facto war: als pseudohumane Ersatzbefriedigung. 

Weder die geschichts-euphorischen Schicksalsideologien von rechts noch die als Sozialverhaltens-Ersatz vorgeführten materiellen Verteilungskämpfe von links konnten den als Naturwissenschaftler wie als Gesellschaftskritiker gleichermaßen unbestechlichen Diagnostiker Benn über die Tatsache hinwegtäuschen, daß die Sozietät sich auch weiterhin anschickte, systematisch den eigenen Selbstmord vorzubereiten. Die Konkursmasse des politischen Bankrotts vor Augen und nach 1945 konfrontiert mit den ebenso überheblichen wie ignoranten Bemühungen der Politiker, diese Konkursmasse bereits wieder als Grundkapital für eine neue geschichtliche Pleite zu verwenden, konnten die verstörten Zeitgenossen (zumindest die sensibleren, hellhörigen unter ihnen) die Stimme Gottfried Benns einfach nicht mehr überhören — zumal diese Stimme mit einer poetischen Zunge sprach, deren Tonfall die aggressiv-lakonische Lässigkeit des intellektuellen Großstadt-Jargons wie selbstverständlich mit jenem lyrischen Instrumentarium in Einklang brachte, durch das seit den Tagen der Sappho das lyrische Ich die Geheimnisse der inneren Welt erspürt und in formstrengen Evokationen verlautbart:

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»Wo endest du, wo lagerst du, wo breiten
sich deine Sphären an — Verlust, Gewinn —: 
ein Spiel von Bestien: Ewigkeiten, 
an ihren Gittern fliehst du hin.

Der Bestienblick: die Sterne als Kaidaunen,
der Dschungeltod als Sein- und Schöpfungsgrund,
Mensch, Völkerschlachten, Katalaunen,
hinab den Bestienschlund.

Die Welt zerdacht. Und Raum und Zeiten 
und was die Menschheit wob und wog,
Funktion nur von Unendlichkeiten —
die Mythe log.«

In solchen Versen beweist sich Benns Epochen-Modernität, die lyrische Geschichte gemacht hat und sicher auch noch machen wird. Die melancholische Betroffenheit eines Endzeitalter-Bürgers wird darin ebenso poetisch manifest wie jene fast schon snobistische Lässigkeit, hinter der sich die große Trauer um den Zerfall der menschlichen Wirklichkeit und Welt verbirgt. Ein tragischer Chansonnier meldet sich zu Wort mit dem Cowboy-Charme des harten Mannes, der scheu seine Herztöne durch Schnoddrigkeit überspielt. Ein Clown aus Verzweiflung. »Nur Narr, nur Dichter« heißt es bei Nietzsche.

Nicht zuletzt rufen gerade diese Ingredienzen: die eschatologisch-pessimistische Clownerie, der tragische Snobismus und das elegisch-melancholische Sentiment mit Ausblick auf das Abendland — nicht zuletzt rufen gerade sie jene Faszination hervor, die Benns Lyrik gelegentlich den Vorwurf des Drogencharakters einbrachte.

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Aus gutem, nicht nur stil- sondern auch insbesondere wesensverwandtem Grund wurde daher Benns Lyrik gelegentlich mit der Jazz-Musik in Verbindung gebracht: Hier wie dort drücken sich die Auf- und Abschwünge der Seele im Zerrbild der Harmonie aus; der Reiz der Verzerrung ist ohnehin fast nur noch der einzige, der das Abendland aus seiner kulturschöpferischen Lethargie für ein müdes Augenblinzeln herauszulocken vermag . . .

Benns lyrisches Fluidum, diese »Alexanderzüge mittels Wallungen« und das Hinabtauchen in »trunkene Fluten«, — dieses Fluidum hinwiederum verleitet zu der vorschnellen, ja: bequemen, weil ins emotional Unwägbare ausweichenden Annahme, man habe Benn »begriffen«, wenn man sich von ihm »berauscht« oder auch nur poetisch angeregt fühle, kurzum: wenn man seinem ästhetischen Zauber erlegen sei. Gewiß: ohne diesen Zauber, ohne diese lyrische Artistik, ohne diese ästhetischen Reizschwellen aus expressiven Metaphern- und Stimmungscollagen entbehrte Benns Werk seiner dichterischen Originalität. Aber dieses Werk erschließt sich dennoch erst ganz, wenn man, wie dies noch immer manche »Bewunderer« tun, aus ihm die denkerische Dimension nicht auszuklammern oder allenfalls nur als ästhetisches Phänomen, als poetisches Stimulans hinzunehmen versucht.

Poesie und Reflexion verschränken sich in Benns Werk zu einer untrennbaren Einheit. Die Gedankenwelt Benns äußert sich bis in die großen Essays hinein poetisch, und das von Benn beschworene »lyrische Ich« verlautbart andererseits in den Gedichten keineswegs jenen stimmungsträchtigen Innenwelt-Singsang, der in Deutschland oft mit Lyrik verwechselt wird, sondern es schafft neue

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menschliche Wirklichkeiten, indem es das »Gegenstück des Geistes« durch Form, durch Stil, durch Kunst stiftet. Im Bekenntnis zu dieser »Ausdruckswelt« (in der alles, was er schrieb, angesiedelt ist) bekräftigt Benn den Aphorismus Nietzsches, daß »nur als ästhetisches Phänomen das Dasein und die Welt ewig gerechtfertigt« seien.

Im übrigen:

So wenig das Auseinanderdividieren des Poeten und des Denkers Benn einen Erkenntnisgewinn im Hinblick auf das Gesamtwerk dieses Dichters erbringt, ebenso wenig eröffnet, außer Mißverständnis und Mißdeutung, das Ausspielen des jungen Benn gegen den der mittleren und späten Lebens- und Schaffens-Periode ergiebige Einsichten. Freilich: dem gegenwärtigen, auf das intellektuelle Abschmecken menschlicher Zerfallsprozesse erpichten Zeitgeist mag, da er sich um die Auseinandersetzung mit Benn nicht mehr herumdrücken kann, die zynisch diagnostizierende Morbidezza des 26jährigen Berliner Facharztes für Haut- und Geschlechtskrankheiten vielleicht annehmbarer und auch interessanter erscheinen als die aggressive Erkenntnis-Rücksichtslosigkeit, mit der sich Benn später von der Epoche distanzierte, zumal die Todes- und Verwesungsgerüche, die dem 1912 erschienenen Gedichtbändchen »Morgue« entströmen, Übereinstimmungen mit jenen odeurs aufweisen, die von jeher die Nüstern der salon-anarchistischen Snobs in Erregung versetzen.

Aber der Geruch, den man hier zeitgeistverwandt wahrzunehmen meint, trügt. Der Benn des Jahrzehnts zwischen 1912 und 1922 war lediglich jünger als der spätere; anders in seiner grundsätzlichen Denkhaltung jedoch war er nicht.

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Auch war er nicht nur damals, in seiner Sturm- und Drangzeit, die niemals eine solche war, ein Expressionist von hohem Rang und später keiner mehr, wie in diesem Zusammenhang oft behauptet wird, sondern im Gegenteil: Gottfried Benn ist der einzige Literat der expressionistischen Stilepoche, der bis in sein achtzigstes Lebensjahrzehnt hinein ein Expressionist geblieben ist, ja: dessen künstlerisches Lebens-Programm sich im Expressionismus, in der »Ausdruckskunst« schlechthin erfüllt.

Daß ihm diese Erfüllung, an der seine Weggenossen (sofern sie nicht, wie Trakl, Stadler oder Heym, bereits in jungen Jahren starben) bei fortschreitendem Alter scheiterten — daß ihm diese Erfüllung gelang, liegt in dem Gesetz begründet, nach dem er künstlerisch und denkerisch angetreten war und das ihn die Probleme des menschlichen Daseins in tieferen Dimensionen als denen, die sich gerade als gesellschaftliche Verklemmung darboten, erkennen ließ. 

Der Expressionismus von Gottfried Benn beschied sich weder noch erschöpfte er sich im gesellschaftskritischen Protest, im antibürgerlichen Affekt oder im kulturromantischen Erneuerungs-Rausch; er hatte vielmehr von Anfang, eben von jener Morgue-Lyrik an, entschiedene anthropokritische Züge. Diese kritische Haltung entsprang der von Benn früh erkannten Diskrepanz zwischen Leben und Denken, zwischen Natur und Geist oder, metaphysisch, zwischen Irdischem und Ewigem. Hier schwillt, so heißt es in dem berühmten Gedicht »Mann und Frau gehen durch die Krebsbaracke«: »Hier schwillt der Acker schon um jedes Bett. Fleisch ebnet sich zu Land. Glut gibt sich fort. Saft schickt sich an zu rinnen. Erde ruft.« Mit Versen wie diesen demaskiert der junge Mediziner Benn schonungslos und schockierend den individuellen geistigen Hochmut des homo sapiens; hinter der hehren Fassade »Krone der Schöpfung« gibt er den

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Blick frei in die Abfall-Abgründe menschlicher Auflösung, in denen sich das egozentrische Individuum stinkend zurückverwandelt ins Allgemeine. Auch Benn selbst packt Entsetzen vor dieser Wirklichkeit des »Vegetabilischen«, der einzigen, die ihm schließlich überhaupt noch glaubhaft und verläßlich erscheint. »Jahre waren es«, so klagt er ein Jahr später, 1913, in einem kleinen Prosastück mit dem Titel »Heinrich Mann. Ein Untergang« — »Jahre waren es, die lebte ich nur im Echo meiner Schreie, hungernd und auf den Klippen des Nichts. Jenseits von Gut und Böse — dummes Literatenwort. Jenseits von Krebs und Syphilis und Herzschlag und Ersticken — das ganze grauenvolle Leben der Götter war es, ehe sie ihre Erde schufen.

Früher in meinem Dorf wurde jedes Ding nur mit Gott oder dem Tod verknüpft und nie mit einer Irdischkeit. Da standen die Dinge fest auf ihrem Platze und reichten bis in das Herz der Erde. Bis mich die Seuche der Erkenntnis schlug: es geht nirgends etwas vor; es geschieht alles nur in meinem Gehirn. Da fingen die Dinge an zu schwanken, wurden verächtlich und kaum des Ansehens wert. Und selbst die großen Dinge: wer ist Gott? und wer ist Tod? Kleinigkeiten. Wappentiere. Worte aus meiner Mutter Mund.

Nun gab es nichts mehr, das mich trug. Nun war über allen Tiefen nur mein Odem. Nun war das Du tot. Nun war alles tot: Erlösung, Opfer und Erlöschen.«

Knapp 20 Jahre später charakterisiert Benn den geistesgeschichtlichen, aber auch erkenntnistheoretischen Hintergrund, vor dessen Folie sich solche Verzweiflungen und nihilistischen Ernüchterungen ereigneten. In seiner Rede bei Aufnahme in die Preußische Akademie der Künste,

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1932, stellt er lapidar fest: 

»Der Realitätszerfall seit Goethe geht über alles Maß, daß selbst Stelzvögel, wenn sie ihn bemerkten, ins Wasser müßten. Der Erdboden ist zerrüttet von purer Dynamik und von reiner Relation.« 

 

Es ist bezeichnend, daß bereits der junge Benn es nicht bei der Diagnose dieses Realitätszerfalls und deren luzid-nihilistischer Erörterung bewenden ließ, sondern sich der »Gewalt des Nichts« zu stellen trachtete. In der Gestalt des Arztes Rönne entwarf er einen autobiographischen Doppelgänger, an dessen Existenz er die eigenen Vorstellungen und Gedanken gleichsam auf literarischem Experimentierfeld überprüfte und erprobte. Diesen Dr. Rönne nun läßt Benn zu jener Grundeinsicht vorstoßen, die fortan auch, jenseits von Syphilis und Krebsbaracke, seine eigene Existenz leitmotivisch bestimmt. In dem Bericht <Lebensweg eines Intellektuellen> unterstreicht Gottfried Benn, rückblickend aus dem Jahr 1934 auf die eigenen Anfänge, ausdrücklich und unmißverständlich diese grundsätzliche Bedeutung des Rönne-Erlebnisses. Er schließt damit die Kette, die das Jugendwerk mit dem Werk des reifen Mannes verbindet.

Rönnes Fragestellung aus den Jahren des Ersten Weltkrieges noch einmal replizierend, schreibt Benn nämlich in dem genannten Aufsatz: 

»Das Tierische und der immer nackter sich sublimierende Gedanke: gibt es noch für beides ein gemeinsames Prinzip? Für das Leben und die Erkenntnis, die Geschichte und den Gedanken, gibt es in der abendländischen Welt noch ein solches monistisches Prinzip? Für die Bewegung und den Geist, für die Reize und die Tiefe — gibt es noch einen Zusammenschluß, eine Betastung, ein Glück?

Ja, antwortet Rönne, aber weither, nichts Allgemeines, fremde, schwer zu ertragende, einsam zu erlebende Bezirke: <In sich rauschte der Strom. Oder wenn es kein Strom war, ein Wurf von Formen, ein Spiel in Fiebern, sinnlos und das Ende um allen Saum —>: er erblickt die Kunst.«

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Er erblickt die Kunst. Oder, wie es an anderer Stelle (Rede auf Heinrich Mann, 1932) heißt: »Auf der einen Seite immer der tiefe Nihilismus der Werte, aber über ihm die Transzendenz der schöpferischen Lust.« Das ist die expressionistische, die ausdruckskünstlerische Antwort, die Benn auf den Zerfall der Wirklichkeit gibt, und das heißt: es ist die schon angesprochene Antwort von »Onkel Fritz«, wie Benn Nietzsche mit geistesverwandtschaftlich-schnoddriger Vertraulichkeit zu nennen pflegte, es ist die Antwort Nietzsches auf die europäische Decadence, die hier neu formuliert und in die artistische Tat umgesetzt wird.

Das Kennwort Nietzsche unterstreicht hier freilich nicht nur das Generalthema Gottfried Benns, sondern mit ihm klingt zugleich mehr an, nämlich ein Jahrhundertthema. Je weiter sich dieses Saeculum seinem Ende zuneigt, um so deutlicher wird nämlich erkennbar, daß, parallel zum sogenannten Fortschritt des wissenschaftlichen Positivismus und der daraus resultierenden technokratischen und ökonomischen Hybris — daß parallel zu diesen Entwicklungen und herausgefordert durch sie zwei grundverschiedene, einander letztlich ausschließende Aussagen über die Zukunft der europäischen und inzwischen auch der globalen Menschheit unsere gegenwärtigen Hoffnungen und Ängste, unsere Utopien und Ernüchterungen stimulieren.

Die eine Aussage hat gesellschaftlich-materielle Aspekte und zielt auf politisch-revolutionäre Strukturveränderungen brüchig gewordener sozialer Systeme ab. Mit geradezu messianischer Inbrunst wurde sie formuliert von Karl Marx und Friedrich Engels.

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Die andere Aussage läßt die soziale Frage und damit die Proklamation von Klassenkämpfen weitgehend außer acht; sie hat anthropologischen Charakter. Dementsprechend konzentriert sie sich auf die Frage, was denn der Mensch de facto sei, wenn man ihn jenseits idealistischer Verbrämungen und auch jenseits sozialer Rivalitäten unvoreingenommen als »Phänotyp« betrachte. Die entschiedenste, rücksichtsloseste und sicher auch schockierendste Antwort auf diese Frage gab Friedrich Nietzsche. Sozialistisch war sie nicht, ja: sie war noch nicht einmal, aus Sonntagsreden-Perspektive betrachtet, sozial. Stattdessen plädierte sie für die Besinnung auf den höchstmöglichen humanen Rang der Spezies entgegen individueller Visionen vom »kleinen Glück«.

Beide Aussagen über die Zukunft des Menschen in der von ihm intelligent beherrschten, nach seinen Bedürfnissen bedenkenlos hergerichteten und egoistisch ausgebeuteten terrestrischen Umwelt, die sozialistische von Marx und die anthropologische von Nietzsche — sie stimmen, trotz grundsätzlicher Verschiedenheit in den philosophischen, ideologischen und politischen Konsequenzen, in einem entscheidenden Punkt überein, nämlich in der Diagnose des gesellschafts-pathologischen Sachverhaltes, den sie vorfinden; beide stellen sie das Versagen des Bürgertums in der von ihm übernommenen gesellschaftlichen Führungsrolle und die daraus folgende bürgerliche Dekadenz mit entsprechenden geistigen, sozialen, politischen und wirtschaftlichen Verfallserscheinungen scharfsinnig fest. 

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Aber indes Nietzsche die Katastrophe eines endgültigen Zusammenbruchs aller Werte (er nennt sie den »europäischen Nihilismus«) für die unausweichliche Folge dieser Dekadenz und zugleich für die Voraussetzung einer anthropologischen Regeneration hält, verkündet Marx die Heilslehre einer besseren, weil durch Vernunft sozialgerecht geordneten Gesellschaft, die, mit dem Proletariat als politischem Garanten, ihre materiellen Güter in Frieden und mit Zufriedenheit genießt.

Nietzsche glaubte nicht an dieses soziale und schon gar nicht an dieses sozialistisch-proletarische Glück; er konnte nicht daran glauben, weil ihm, dem tragischen Denker, die Naivität mangelte, über die Widersprüche des menschlichen Daseins optimistisch-idealistisch hinweg-utopisieren zu können. Im Gegenteil: seine tragische Erkenntnis anthropologischer Realitäten mündet sogar in den bitteren (leider oft, teils willentlich, teils mangels besserer Einsicht mißverstandenen) Satz, daß der Mensch etwas sei, das überwunden werden müsse.

Allein steht Nietzsche mit dieser Meinung allerdings nicht im Kontext des 19. Jahrhunderts. Von Goethe, der meinte, Gott müsse die Schöpfung erst ruinieren, um sie wieder in Ordnung bringen zu können, bis zu Fontane, der äußerte, Menschsein, das sei »eine schlimme Sache« — von Goethe bis zu Fontane, von Byron bis Baudelaire und von Stendhal bis Dostojewski (von Schopenhauer, diesem Zyklopen pessimistischer Menschenverachtung, ganz zu schweigen) erschütterte das Unbehagen am Menschen und an dessen zivilisatorischem Fortschrittshochmut, an dessen positivistischer Machbarkeits-Gläubigkeit, die geistig-künstlerischen Seismographen der Epoche. Was diese Seismographen schließlich anzeigten, das war der tiefe Zweifel an der Spezies selbst.

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Dieser grundsätzliche Zweifel an der Spezies hinwiederum ist natürlich auch weder eine Erfindung des 19. Jahrhunderts noch ist er an bürgerliche oder feudale Verhaltensweisen geknüpft; auch proletarische Kreise sind, obwohl sie ihn vielleicht nicht sensibel genug wahrnehmen, davon betroffen, mögen deren Wortführer es wahrhaben wollen oder nicht. Er wohnt jeder halbwegs tiefgreifenden Betrachtung der Spezies Mensch inne, von den heiligen Büchern der Menschheit (nicht zuletzt von der Bibel) angefangen bis hin zu Heideggers philosophischem Grübeln über »Sein und Zeit« oder Blochs Fragen nach dem »Prinzip Hoffnung«. 

Alle diese Schriften diagnostizieren letzten Endes die »schlimme Sache« des Menschseins und suchen nach Wegen, die entweder über den Existenznotstand trösten oder von ihm erlösen oder die gar zu dessen Bewältigung und Überwindung führen sollen. Deshalb haben die anthropologisch bedeutsamen Aussagen und Spekulationen über die Spezies Mensch auch fast immer apokalyptisch-eschatologische oder, wo sie der Heilshoffnung entbehren, tragische Züge. Und insofern zieht Nietzsche auch nur die letzte Konsequenz aus der metaphysischen Erfahrungssumme der Menschheit, wenn er die Überwindung des Menschen als anthropologisch notwendige Voraussetzung der Humanitas erachtet. Mit dem Faschismus verbindet diesen Denkansatz nur das fundamentale Mißverständnis, das jener ebenso rabulistisch wie banausenhaft daraus zog.

 

Nietzsches radikale Ablehnung des positivistischen Fortschrittsgedankens bei gleichzeitiger Entideologisierung (und damit radikaler Ernüchterung) der anthropologischen Vorstellungen, Anschauungen und Meinungen einerseits, und die marxistische These von der gesell-

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schaftlichen Strukturveränderung zugunsten des Proletariats unter Wahrung eben dieses Fortschritts und seiner materiellen Wohlstandsannehmlichkeiten andererseits — diese beiden Denk-Pole markieren das Spannungsfeld unseres Jahrhunderts nicht nur, sondern sie versorgen es auch ununterbrochen mit geistigen und politischen Energien, und zwar um so entschiedener, je mehr die Religionen an gesellschaftsbindender Kraft einbüßen.

Bemerkenswert ist nun im vorstehenden Zusammenhang, daß zwei große Autoren (und darin bekundet sich recht eigentlich ihr exzeptioneller Rang) des 20. Jahrhunderts in ihrem Werk gleichsam protagonistisch diese beiden Pole des gegenwärtigen menschheitsgeschichtlichen Spannungsfeldes durch die künstlerische Tat sinnlich anschaubar und damit pointiert erlebbar machten und posthum weiterwirkend auch jetzt noch machen: von dem einen, von Gottfried Benn, war bereits ausgiebig die Rede. Der andere ist Bertolt Brecht.

Weder Thomas Mann noch Rilke oder Hermann Hesse, weder Heinrich Mann noch Alfred Döblin, Gerhart Hauptmann oder Ödön von Horvath und auch nicht Ernst Jünger oder Hofmannsthal (um nur ein paar herausragende Namen der literarischen Jahrhundertszene in Deutschland zu nennen) — keiner von ihnen hat sich, so bewunderungswürdig und bewegend sie auch ihren künstlerischen und menschlichen Rang im Zwielicht der Epoche behaupteten, der Herausforderung des 20. Jahrhunderts mit der gleichen schöpferischen Unbedingtheit und geistigen Risikobereitschaft gestellt wie diese beiden Autoren.

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Beide begnügten sie sich nicht mit Auf- und Abgesängen, mit elegischen, ironischen oder kritischen Umspielungen und Variationen des epochalen Generalthemas, sondern dieses Generalthema wurde zum Leitmotiv ihrer künstlerischen und psychischen Existenz schlechthin. 

Sie waren Antipoden, aber in einer Dimension, wo sich die Gegensätze schöpferisch anziehen. Und das wußten sie auch. Brechts eingangs zitiertes Erinnerungsgedicht an Benn liefert dafür ein ebenso scheu-zurückhaltendes Zeugnis wie manche mündliche Bemerkung Benns über Brecht; stets sprach Benn mit verhaltener Hochachtung von seinem Generationsgenossen, obwohl er dessen politischen Standort zweifellos als »untragbar« empfand. Beiden muß wohl zeit ihres Lebens, ohne daß sie sich und anderen (und schon gar nicht der Öffentlichkeit) Rechenschaft darüber ablegten, bewußt gewesen sein, daß das, was sie zu trennen schien, sie zugleich unlöslich verband, nämlich das schöpferisch stimulierende Leiden an der Epoche, in der sie lebten und atmeten, ohne ihr recht zugehörig zu sein. Und dementsprechend litten sie auch beide an der Geschichte, die sie als die eigentliche Gegenmacht der Humanität zu erkennen glaubten. Der geschichtliche Mensch, der Täter, war für sie derjenige Typus, der die Menschwerdung immer wieder verhindert. Allerdings unterscheiden sich die Konsequenzen, die Brecht und Benn aus dieser Erkenntnis ziehen, nicht minder diametral als die von Marx und Nietzsche. An nur wenigen Verszeilen Brechts und Benns läßt sich die geistige Polspannung des Jahrhunderts, die zwischen ihnen herrschte, wie an einem Voltmeter ablesen, präzise und jedes Drumherumreden ausschließend. Auf der einen Seite, bei Brecht, die unerbittlichen »Fragen eines lesenden Arbeiters« nach jenen, die das siebentorige Theben wirklich erbaut hätten, endend mit einem rhetorisch-anklagend agitierenden Fragezeichen:

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»Alle zehn Jahre ein großer Mann / Wer bezahlt die Spesen?« Und auf der anderen Seite jene Zeilen, die für Benns tragische Welterkenntnis, für seinen anthropologischen Pessimismus einstehen:

»Der soziologische Nenner, 
der hinter Jahrtausenden schlief, 
heißt: ein paar große Männer, 
und die litten tief.«

Von solchen Leiden hielt Brecht wenig, und von Tragik wollte er schon gar nichts wissen. Denn Tragik setzt Größe voraus, auch im Scheitern. Alles aber, was groß war oder auch nur groß schien, fand Brecht als Ausdruck von Macht und Herrschaft suspekt. Denn wo Macht sich aufstaut und ausgeübt wird, richtet sie sich gegen andere und unterdrückt sie. Unterdrückung aber ist ein Begriff, mit dem sich bei Brecht geradezu psychische Ekelgefühle verbinden. Dementsprechend leidenschaftlich haßt er die großen Männer als die Phänotypen des geschichtlichen Machtwillens und schlägt sich auf die Seite der Aufrührer:

»Unter die Menschen kam ich zur Zeit des Aufruhrs,
Und ich empörte mich mit ihnen.
So verging meine Zeit,
Die auf Erden mir gegeben war.«

Brecht war jedoch weder ein Volkstribun noch ein Thomas Münzer und schon gar nicht ein proletarischer Macht-Täter wie Lenin; er war vielmehr, wie Benn auch, im Grunde seines Wesens ein Anarchist — ein Anarchist allerdings nicht im vordergründigen Sinn, sondern aus humanitärem Unbehagen an der fragwürdig organisierten menschlichen Gesellschaft überhaupt.

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Deshalb tat sich Brecht auch immer schwer, wenn er, wie etwa nach 1945 in der DDR, Schritt mit sozialistischer Partei-Ideologie fassen sollte und mußte. Seiner anarchistisch-widerborstigen Natur zwang er dann aus politischer Raison den Kinderglauben an die Herstellbarkeit proletarischer Paradiese ab (seit Bakunin und Kropotkin die gesellschaftliche Erlösungsvision linker Utopisten schlechthin) und investierte ihn schließlich mit geradezu rührender Selbstverleugnung in den Arbeiter- und Bauernstaat, in dem er selbst umhegt wurde. Er überredete den ihm eigenen Hang zu Spott und Zynismus mit Versen von entnervender Linientreue und gerierte sich damit als lyrischer Harfner des Kommunismus, mit dem ihn doch vornehmlich der Haß auf die Herrschenden verband und die Hoffnung auf die große gesellschaftliche Überwindung der Geschichte, nicht aber die Aussicht auf sozialistische Schrebergarten-Idyllen.

Benn lehnt sich nicht minder gegen den Anspruch der Geschichte auf als Brecht. Aber er engagiert sich auf andere Weise; er glaubt nicht an die Aufhebbarkeit der menschlichen Widersprüche (insbesondere nicht der geschichtlichen) »im Schatten der Wohlfahrtseiche« — als Ergebnis siegreich bestandener Klassen- und Lohnkämpfe. Auch negiert er die Geschichte nicht; vielmehr ist er davon überzeugt, daß Scheitern der geschichtlich sich verwirklichenden Menschheit unabdingbares Erbteil sei. Dementsprechend pessimistisch beurteilt er die Lage, und dementsprechend begegnet er den Großen der Weltgeschichte, die Brecht als mörderische Unruhestifter anprangert, mit ritterlich-skeptischer Hochachtung, wie sie nur Einsicht in die anthropologische Tragik der Spezies vermitteln kann.

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Von Septimius Severus, der »aus einer niedrigen Stellung bis zu kaiserlicher Größe gegangen war«, zitiert Benn, ihn mehrmals wiederholend, einen Ausspruch, der als eine Art Schlüsselsatz für Benns Geschichtsauffassung hingenommen werden darf: »Omnia fui et nihil expedit — ich bin alles gewesen und es hat nichts geholfen.«

Daß, wer diesen Geschichtspessimismus vertritt, kein Faschist sein kann, liegt auf der Hand. Zum Faschismus mangelten Benns Denken die beiden entscheidenden Komponenten, die sozial-optimistische nämlich ebenso wie die national-chauvinistische. Was ihm, dem anarchistischen Tragiker und Verkünder des »Gezeichneten Ich«, 1933, als er jene gegen ihn mit Recht immer wieder ins Feld geführte Schrift »Der Neue Staat und die Intellektuellen« schrieb, einen folgenschweren Streich spielte, war die selbsttäuschende Fehleinschätzung der politischen Realität (wie sie notorischen Nicht-Politikern leider nur allzu leicht zu unterlaufen pflegt). Er projizierte in den »Umsturz« seine eigenen Aversionen und Hoffnungen hinein und glaubte dementsprechend, hier kündige sich eine gegen den intellektuellen Verbal-Kritizismus gerichtete Wende an. Niemanden nämlich haßte Benn mehr als die Intellektuellen, die bei kleinstmöglichem Einsatz an Verantwortung, aber mit dem größtmöglichen Aufwand an öffentlichem Effekt die Erkenntnis anthropologischer Sachverhalte konsequent vernebelten.

Liest man heute jenen Aufsatz unbefangen, und das heißt: mit dem gebührenden Aufwand an historischer Objektivität (auf diese hat Benn vertraut, als er ausdrücklich darauf bestand, den inkriminierten Aufsatz in seine Gesammelten Werke aufzunehmen) — tut man dies, dann wird man unschwer erkennen, daß das, was darin steht, mit dem, was man »nationalsozialistisches Gedankengut« nannte, überhaupt nichts zu tun hatte — und auch nicht mit Opportunismus.

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Der »Fehltritt« bestand vielmehr darin, daß Benn angesichts dessen, was sich damals ereignete, der scheinbaren Abkehr von der positivistischen Hybris und ihren politisch sowie kulturellen Verfallserscheinungen mehr Realität beimaß als seinem eigenen Geschichtspessimismus. Er hat diesen Irrtum teuer bezahlen müssen — mit jenem Doppelleben nämlich, das er ohne Schonung der eigenen Person erregend und zeiterhellend exemplarisch beschrieb. »Sich irren und doch seinem Innern weiter Glauben schenken müssen, das ist der Mensch, und jenseits von Sieg und Niederlage beginnt sein Ruhm«, notierte Benn 1948. Daß er seinem Innern weiterhin Glauben schenkte damals und sich späterhin den opportunistischen Kompromiß mit der Politik versagte, spricht für ihn. Erst der Irrtum bestätigt auf diese Weise die Konsequenz seines Denkens und damit auch sein Mißtrauen gegen die Geschichte, in der sich der Mensch immer wieder selbst aufs Spiel setzt, ohne dabei mehr zu gewinnen als die Bestätigung der eigenen Fragwürdigkeit.

Auch für den Menschen gilt, nach Benn, was für die Natur insgesamt gilt: Nicht Fortschritt bestimmt sein Dasein, sondern Verwandlung. »Gleich ist es für mich, wo ich beginne«, heißt es in einem Fragment des frühgriechischen Denkers Parmenides, »denn dorthin kehre ich immer wieder zurück.« Aus der gleichen ontologischen Grunderfahrung heraus formuliert Benn seinen Protest gegen die Geschichte, und er formuliert ihn als Kunst; wobei ihn übrigens nicht nur, wie wir bereits anmerkten, entscheidende Übereinstimmung mit Nietzsche, sondern auch mit der deutschen Frühromantik leiten.

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Allein der bemerkenswerte Aphorismus von Novalis, daß Kunst »progressive Anthropologie« sei, unterstreicht diesen Sachverhalt nachdrücklich. Um so verständlicher erscheint, daß Benn, ohne dabei pazifistischer Schwärmerei oder gar ahistorischer Ignoranz zu verfallen, aus dieser Grundhaltung heraus gegen den Totalitätsanspruch der Politik opponierte, ja: diesen Totalitätsanspruch als die Wiege aller menschlichen Leiden anprangerte. Entsprechend heftig reagierte er bereits im Sommer 1948 in dem berühmten <Berliner Brief> an den Herausgeber der Zeitschrift Merkur, an Hans Paeschke, auf die bereits erkennbaren Tendenzen der Weltpolitik, ihre Fehler, Irrtümer, Illusionen und auch Heucheleien lediglich zu repetieren anstatt sich von ihnen zu distanzieren.

Nach drei Jahrzehnten hat dieser Widerspruch weder an Aktualität (von den zitierten Politikern einmal abgesehen) noch an politkritischer Brisanz eingebüßt:

»Innerhalb des Abendlandes diskutiert seit vier Jahrzehnten dieselbe Gruppe von Köpfen über dieselbe Gruppe von Problemen mit derselben Gruppe von Argumenten unter Zuhilfenahme von derselben Gruppe von Kausal- und Konditionalsätzen und kommt zu derselben Gruppe von sei es Ergebnissen, die sie <Synthese>, sei es von Nicht-Ergebnissen, die sie dann <Krise> nennt — das Ganze wirkt schon etwas abgespielt, wie ein bewährtes Libretto, es wirkt erstarrt und scholastisch, es wirkt wie eine Typik aus Kulisse und Staub.

Ein Volk oder das Abendland, das sich erneuern möchte, und manches läßt darauf schließen, daß es sich auch noch erneuern könnte, ist mit dieser Methode nicht zu regenerieren.

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Ein Volk regeneriert sich durch Emanation von spontanen Elementen, nicht durch Pflege und Hochbinden von historisierenden und deskriptiven. Diese letzteren aber füllen bei uns den öffentlichen Raum. Und als Hintergrund dieses Vorgangs sehe ich etwas, das, wenn ich es ausspreche, Sie als katastrophal empfinden werden.

Das Abendland geht meiner Meinung nach gar nicht zugrunde an den totalitären Systemen oder den SS-Verbrechern, auch nicht an seiner materiellen Verarmung oder an den Gottwalds und Molotows, sondern an dem hündischen Kriechen seiner Intelligenz vor den politischen Begriffen.

Das Zoon politikon, dieser griechische Mißgriff, diese Balkanidee — das ist der Keim des Untergangs, der sich jetzt vollzieht. Daß diese politischen Begriffe die primären seien, wird von dieser Art Intelligenz der Klubs und Tagungen schon lange nicht mehr bezweifelt, sie bemüht sich vielmehr nur noch, um sie herumzuwedeln und sich von ihnen als tragbar empfinden zu lassen.

Dies gilt nicht nur für Deutschland, das sogar in dieser Hinsicht in einer besonders schwierigen, fast entschuldbaren Lage ist, sondern ebenso für alle europäischen Intelligenzen.«

Man mag gegen solche geharnischten Sätze einwenden, was man will — eines jedenfalls kann ihnen auch der vorurteilsgeschwängerte Opponent nicht nachsagen, nämlich, daß sie aus der zeitgeistigen Froschperspektive heraus oder in opportunistischer Absicht (man denke: 1948!) geschrieben worden seien.

Wenn Nietzsche meinte, die »letzten Menschen«, die sich wahrscheinlich am längsten auf dem Planeten halten würden, seien dadurch ausgewiesen, daß »sie alles kleinmachten«, so darf festgestellt werden: zu denen gehörte Benn nicht. 

* (d-2014:)   wikipedia  Emanation Philosophie  

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Vielleicht war oder ist er sogar einer der Letzten, die von den Möglichkeiten des Menschen nicht nur groß geredet, sondern von ihnen auch tatsächlich noch groß gedacht haben — im Gegensatz zu Brecht, der seinen Protest gegen die Geschichte als Veto gegen den großen Menschen formulierte.

Das kommende Jahrhundert, schreibt Benn in dem bereits zitierten <Berliner Brief> — 

»das kommende Jahrhundert wird die Männerwelt in einen Zwang nehmen, vor eine Entscheidung stellen, vor der es kein Ausweichen und keine Emigration gibt, es wird nur noch zwei Typen, zwei Konstitutionen, zwei Reaktionsformen zulassen: diejenigen, die handeln und hochwollen, und diejenigen, die schweigend die Verwandlung erwarten, die Geschichtlichen und die Tiefen, Verbrecher und Mönche — und ich plädiere für die schwarzen Kutten

Für die schwarzen Kutten plädierte Brecht natürlich nicht. Er schlug sich auf die Seite derer, die Sozialrevolutionär hochwollen, um die Geschichte zu liquidieren. Deshalb erschien ihm das Bündnis auf Zeit mit der Geschichte, gegen die er rebellierte, der dialektisch erfolgverheißendere Weg als die schweigende Erwartung der Verwandlung.

Zu welcher Auffassung man nun auch immer neigen mag, zu der tragischen von Benn oder der Sozialrevolutionären von Brecht, zu der pessimistisch-anthropologischen von Nietzsche oder der gesellschaftlich-progressiven von Marx (über beide hat das Jahrhundert durchaus noch nicht das letzte Wort gesprochen) — eines bleibt jenseits dieser Alternative festzuhalten, nämlich: daß diese beiden Autoren, Benn und Brecht, die Sache der geschichtlich geschundenen Menschheit durch das Medium der Kunst den Mitlebenden als Existenzproblem par excellence vorgestellt haben.

Insofern scheint sich das, was Brecht unter dem Datum des 16. Januar 1942 in sein Arbeitsjournal eintrug, auch mit Benns Kunstauffassung durchaus zu berühren:

»Artistik und Moral gehen in unserer Gesellschaft schlecht zusammen; wenn die Moral einer Gesellschaft unsozial wird, ist es ganz gut, daß die Kunst ihre eigene (Handwerks-) Moral entwickelt und im übrigen >unmoralisch< wird. Eine produktive Gesellschaftsordnung wird in der Artistik zusammen mit Handwerksmoral auch gesellschaftliche Moral entwickeln. Eine beispielsweise, welche das Verhalten der Menschen so wiedergibt, daß die Gesellschaft darauf produktiv reagieren kann, erfordert so etwas wie Verantwortungsbewußtsein, also eine moralische Qualität... Der Künstler hat nicht nur eine Verantwortung vor der Gesellschaft, er zieht die Gesellschaft zur Verantwortung. Kurz, die Gesellschaft verliert den Instanzcharakter, der Künstler hat sie voll zu repräsentieren.«

Zur Verantwortung zogen und ziehen in der Tat beide die Gesellschaft, jeder auf seine Weise, aber beide mit gleicher Unbedingtheit; gleichgültig bleiben kann vor dieser Herausforderung niemand, weder vor Brechts attackierendem Sozialmoralismus noch vor Benns tragischem Credo seiner künstlerischen Existenz, das in die Verse mündet:

»Im Namen dessen, der die Stunden spendet, 
erahnbar nur, wenn er vorüberzieht 
an einem Schatten, der das Jahr vollendet, 
doch unausdenkbar bleibt das Stundenlied — 
ein Jahr am Steingeröll der Weltgeschichte, 
Geröll der Himmel und Geröll der Macht, 
und nun die Stunde, deine: im Gedichte 
das Selbstgespräch des Leides und der Nacht.«

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 Heinz Friedrich 1979