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3. Fortschritt und Kulturverfall  

Anmerkungen zur Psychopathologie der Neuzeit  

1979: Der Fortschritt als Kulturkatastrophe 

1. Die Hybris des Fortschritts

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Unter der Devise sogenannter Tendenzwenden wird viel leeres politisches, zeitgeistig-emotionales und sektiererisch-irrationales Stroh gedroschen. Dennoch signalisieren diese meist unbeholfenen Aufstände gegen das Diktat der Technokratie eine gesellschaftliche Verunsicherung und ein Unbehagen, die mehr als nur verärgerte Aufmerksamkeit verdienen. 

Ob solches Unbehagen allerdings in den kommenden Jahren und Jahrzehnten tatsächlich zu einer rehumanisierenden Tendenz der technischen Zivilisation führen wird, läßt sich derzeit kaum absehen, zumal hier schlechthin die Frage auf Antwort wartet, wie die Menschheit auf dem Planeten Erde überhaupt überleben könne, nachdem sie derart technikabhängig geworden ist.

Bis heute jedenfalls wird ernsthaft über eine praktische Alternative zur industriellen Hypertrophie nur sehr vereinzelt (wie zum Beispiel vom stark angefeindeten »Club of Rome«) diskutiert und nachgedacht. Die Mehrheit derer, die über die öffentlichen Geschicke, und derer, die über die öffentliche Meinung bestimmen, sieht entweder die globalen Gefahren aus provinzieller Kurzsichtigkeit nicht, oder sie hat nicht den Mut, sich der Wirklichkeit dieser Bedrohungen zu stellen und über sie die Wahrheit zu sagen. 

Stattdessen reden die Verantwortlichen über Arbeitsplatzsicherungen, Wachstumsraten, über Chancengleichheiten und Produktions­steigerungen sowie über Exportmärkte und ähnliche Vokabeln aus der freien und auch sozialen Marktwirtschaftsfibel, obwohl sie doch eigentlich wissen müßten, daß dadurch die Ausein­andersetzung mit dem Dilemma des Fortschritts nur vertagt wird — und zwar mit Sicherheit auf einen für alle Beteiligten weitaus unangenehmeren Zeitpunkt.

Man kann die Probleme, die der technische Fortschritt aufwirft, nicht dadurch lösen, daß man sie vor sich herschiebt oder sie gar durch noch mehr Fortschritt zu überspielen versucht.

Man kann diesen Problemen aber auch nicht dadurch beikommen, daß man den sogenannten Fortschritt nur in bestimmten Bereichen als lästig empfindet und anprangert, ihn dort aber, wo er als angenehm empfunden wird, gern duldet. 

Wenn unter »Tendenzwende« nur die Auseinandersetzung über etwas mehr oder etwas weniger Technik, über Kläranlagen und Luftreiniger sowie über Natur- und Denkmal­schutz-Idyllen verstanden wird, so verweist dies keines­wegs auf eine grundsätzlich veränderte Einstellung der Zeitgenossen zur industriellen Entwicklung; vielmehr wird hier eine Art Ökologie-Kosmetik betrieben, die den Zerfall lediglich zeitweise verschleiert.  

Was angesichts der Sackgasse, in die sich die Spezies Mensch in den vergangenen fünfhundert Jahren hineinmanövriert hat, notwendig erscheint, das ist weniger eine Tendenz- als vielmehr eine Denkwende. Es gilt gegen den technokratischen Strich zu denken, um überhaupt wieder Ansatzpunkte zu finden für eine Aktivierung dessen, was einmal Humanität genannt wurde.

Allerdings gerät, wer sich dieser Aufgabe widmet, leicht in den Geruch entweder des Kulturpessimisten oder des idealistischen Predigers in der sprich­wörtlichen Wüste. Beide Rollen werden bekanntlich vom Zeitgeist dem komischen Fach zugerechnet; allenfalls amüsiert man sich über deren Interpreten wie über irrationale Slapstick-Clowns. Dieses Amüsement wäre auch zweifellos berechtigt, wenn »Denkwende« eine realitätsferne Hinwendung zu menschlicher Idyllik anzeigte, die in der Tat nur als Spinnerei von (vornehmlich psychiatrischem) Interesse wäre. 

Niemand, der sich ernsthaft mit den Gefahren auseinandersetzt, die unsere Gegenwart und auch unsere Zukunft bedrängen, wird auf den unterstellten Gedanken verfallen, man könne das Rad irgendeiner Entwicklung zurückdrehen und zum Beispiel von heute auf morgen eine technokratisch geprägte Welt in den Zustand vorindustrieller Gemütlichkeit (die es im übrigen auch nie gegeben hat) zurückverwandeln. Ein derartiges Vorhaben müßte ebenso zur Katastrophe führen wie die enthemmte industrielle Entwicklung zwangsläufig im technokratischen Selbstmord enden muß.

Was angesichts dieser Sachlage allein nottut, das ist einerseits die Erkenntnis der Ursachen, die zu ihr geführt haben, und zum anderen die aus dieser Einsicht notwendig folgende Korrektur menschlichen Fehlverhaltens. Der homo sapiens muß versuchen, dem, was er tut, wieder einen anthropologischen Wert beizumessen, der über das Materielle hinausreicht. 

Dabei stellt sich unabwendbar die Frage, ob die Idee des Fortschritts überhaupt einen anthropologisch sinnvollen, das heißt auf die Wirklichkeit des Menschen zutreffenden Wert darstellen kann oder ob hier eine Verirrung menschlichen Denkens obwaltet, die zwar einerseits ungeheure erfinderische Aktivitäten entbindet, andererseits aber nicht in der Lage ist, diese Aktivitäten auch geistig zu steuern. 

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Um darauf eine Antwort zu finden, muß man den Blick sowohl zurück als auch nach vorn wenden. Denn es kann kein Konzept für die Zukunft geben ohne die Kenntnis und Erkenntnis des Vergangenen. 

Ein Fortschritt, der sich von der Erfahrung der Vergangenheit emanzipiert und sich damit von der Vergangenheit trennt, kann nur ein Fortschritt des Menschen von sich selbst sein. Deshalb sollte der Mensch, wenn er nach vorn blickt, auch stets auf sich selbst und das, was er geworden (oder auch nicht geworden) ist, zurückschauen.

 

Der Begriff Fortschritt entstammt der Aufklärung. In seiner heute gebrauchten Form taucht er erstmals im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts auf. Der Fortschritts­gedanke selbst jedoch ist älter als die Geschichte des Begriffs »Fortschritt«. Er reicht zurück bis an den Beginn der Neuzeit, nämlich bis an die Schwelle vom 13. zum 14. nachchristlichen Jahrhundert — und er ist der eigentliche Leitgedanke der Neuzeit schlechthin. Gewiß: auch im Altertum und im Mittelalter beschäftigten sich die großen Geister der Epochen mit Problemen, die man als »Fortschritt« bezeichnen könnte. Jedoch richtete sich ihre Absicht, wenn sie auf diese Fragen zu sprechen kamen, mehr auf die geistige und ethische Vervollkommnung des Menschen und weniger auf die technische Bewältigung der Welt durch den Menschen. Sie versuchten, den Kosmos vornehmlich noch als Erkennende zu begreifen und nicht als Ausbeutende und Genießende.

Erst mit der Neuzeit entwickelte sich im Verlauf von fünf Jahrhunderten jener Sinn für das Materielle und für dessen Verbrauch, der Ende unseres zwanzigsten Jahrhunderts in der Aufblähung der Industriestaaten und in der Vorherrschaft der Wirtschaft seinen Kulminationspunkt erreicht.

Der vor wenigen Jahren verstorbene Kulturphilosoph Jean Gebser stellte in seinem leider noch viel zu wenig bekannten Hauptwerk <Ursprung und Gegenwart> einleuchtend den epochalen Umbruch dar, der sich damals ereignete. Bis zum Niedergang des Mittelalters, sagt Gebser, habe sich die abendländische Menschheit noch in einer Art mythischen Seelenzustands befunden. Dieser sei gekennzeichnet gewesen durch ein gleichsam zeitloses Verhältnis der Menschen zur Welt. 

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Selbst das Nachdenken jener Altvorderen über die Welt sei noch durch eine ursprüngliche Naivität des Staunens und Erstaunens bestimmt worden. Dementsprechend hätten sich die Menschen damals auch durch gläubige Weltoffenheit ausgezeichnet; sie seien dadurch perspektivischer Verengung und Zweckrichtung ihres Denkens und Fühlens entgangen. Dementsprechend nennt Gebser die geschichtlichen Epochen bis zum Beginn der Neuzeit zusammenfassend das un-perspektivische Zeitalter.

Die Entdeckung der Perspektive durch die Renaissance signalisiere demgegenüber eine völlig neue Art des Denkens und damit auch ein verändertes Verhalten des abendländischen Menschen zur Welt und Umwelt. Der menschliche Verstand versuche nicht mehr, die Wirklichkeit nur zu erkennen und sie zu deuten, sondern er trachte danach, sich ihrer zu bemächtigen und sie sich materiell absolut dienstbar zu machen. Augenfällig wird diese neue Verhaltensweise des nicht mehr glaubensfrommen, sondern aufgeklärten Menschen der Neuzeit in den großen Entdeckungsreisen und Eroberungszügen des 15. und 16. Jahrhunderts, durch die sich das Abendland ganze Kontinente unterwarf und diese systematisch auszurauben begann.

Damals wurden aber auch die für das weitere Schicksal nicht nur der abendländischen, sondern auch der globalen Menschheit entscheidenden Erfindungen gemacht, nämlich das Schießpulver und die Buchdruckerkunst. Im gleichen Zeitraum beginnen sich die Wissenschaften von der Philosophie zu lösen, mit der sie bis dahin identisch waren. Das Falkenbuch des großen Hohenstaufenkaisers Friedrich IL, noch im Zenit des Mittelalters entstanden, setzt hier ein bemerkenswertes Zeichen: es ist das erste naturwissenschaftliche Werk, das diesen Namen verdient. 

Über Kopernikus, Kepler, Galilei und Paracelsus, über die großen Barockphilosophen Descartes, Spinoza und Leibniz, die zugleich große Naturwissenschaftler und Mathematiker waren (und die auch wissenschaftlich philosophierten), führt eine gerade Linie zu den bedeutenden wissenschaftlichen Köpfen des 19. und 20. Jahrhunderts, in denen die pragmatische, auf Tatsachen gegründete Erkundung der Welt ihren Höhepunkt erreicht.

Im gleichen Maß, in dem die sogenannten exakten Wissenschaften zu triumphieren begannen, vollzog sich der Niedergang der Philosophie. Nicht mehr das freie Spiel des erkennenden, wägenden und vermutenden Geistes war zuständig für die Beantwortung von Lebensfragen, sondern der wissenschaftliche Tatsachen­beweis — und dieser scheute auch vor Gott nicht zurück.

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Jean Gebser nennt dementsprechend, im Gegensatz zu den »un-perspektivischen« Epochen, die Neuzeit das perspektivische Zeitalter, das analysierend, messend, erobernd und unterwerfend den Blick nur noch auf Zwecke richtet. Die Inkarnation dieses perspektivischen Neuzeit-Menschen ist kein anderer als jener Doktor Faust, dessen geistiges und seelisches Schicksal Goethe in seiner Weltdichtung beschwor. Vor unserem Blick erscheint jener neue Typus Mensch, der von Erkenntnis zu Erkenntnis, von Begierde zu Begierde hastet, um jenen Augenblick zu erjagen, zu dem er sagen könnte: Verweile doch, du bist so schön

Als er diesen Augenblick, am Ende der Tragödie, gekommen glaubt, erliegt er einer Täuschung von geradezu kosmischer Ironie: Was er für seinen großen Triumph hält, nämlich die Schaffung »freien Grundes« für ein »freies Volk«, ist in Wirklichkeit nur das Spatengeklirr der Lemuren, die Fausts Grab schaufeln.

Denn das perspektivische Bewußtsein beraubt sich, indem es vornehmlich sein Interesse auf die Eroberung und Beherrschung des Raumes richtet, der zeitlichen Dimension des Daseins, ja: es trachtet sogar danach, den Raum gegen die Zeit auszuspielen — verkennend, daß Raum ohne Zeit (und damit Vergänglichkeit) gar nicht erscheinen kann.

Unabhängig davon, ob man Jean Gebsers Definition im einzelnen zu folgen gewillt ist, muß man ihr zugestehen, daß sie einen Eindruck davon vermittelt, was sich mit dem Zusammenbruch der mittelalterlichen Welt und der Heraufkunft des Humanismus mitsamt der Renaissance vollzog: nämlich mehr als nur die Ablösung einer Kulturepoche durch eine andere. Hier ereignete sich ein menschheitsgeschichtlicher Einbruch, der die Welt veränderte.

Die abendländische Menschheit wurde sich mit fast schon euphorischer Besessenheit der Machtmittel bewußt, die sie kraft ihrer Intelligenz bereits besaß oder noch erwerben konnte. Daß dieses Bewußtsein unweigerlich zu einer Selbstvergötterung führen mußte, liegt fast auf der Hand. Ein Wesen, das alles machen kann, was es machen will, kann der Gefahr gar nicht entgehen, sich schließlich selbst für das Maß und den Herrn aller Dinge zu halten. Wo dies jedoch geschieht, ist die Hybris nicht fern. Und diese Hybris heißt Selbstmord durch Fortschritt. 

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Die Selbstüberheblichkeit des homo sapiens unter dem Vorzeichen perspektivischer, vornehmlich auf Erwerbszweck gerichteter Denkweisen gewinnt nämlich dadurch apokalyptischen Charakter, daß besagtes Wesen sich von seinem Ursprung und damit von seiner Daseinswurzel entfremdet. Der Mensch des nicht-perspektivischen Zeitalters lebte in Einklang mit der Vergangenheit und Zukunft. Für ihn war die Zukunft ebenso fern wie die Vergangenheit, das heißt: beide waren ihm gleich nah. Dem zeitlich-zeitlosen Menschen wird alles zur Gegenwart, die Zeiträume schmelzen zusammen. 

Daraus erklärt sich auch, daß in den heiligen Büchern der Menschheit (und dies gilt für die Mythen ebenso wie für die Bibel) kosmische Ereignisse, etwa das der Weltentstehung, erahnt und beschrieben werden, obwohl sie kein Mensch erlebt haben konnte. Aber jene Altvorderen haben diese Geheimnisse als Lebenswahrheiten in einem tieferen Sinn »gewußt«, weil die Generationsglieder der Lebenskette eben weit, sehr weit in die Vorzeit hineinreichten. Für den perspektivisch denkenden Menschen jedoch stellten bereits vierhundert bis fünfhundert Generationen, die uns von unseren Urahnen trennen, eine kaum vorstellbare und gar nicht mehr erlebbare Zeitspanne dar, deren Vergegenwärtigung nur noch deskriptiv oder museal zu gelingen scheint.

Im Dasein, auch im Erlebnis-Dasein einer Spezies jedoch sind fünfhundert Generationen fast unerheblich; die Evolution vollzieht sich in weitaus größeren Zeiträumen. Auch für die Entwicklung des Menschen sind vierhundert bis fünfhundert Generationen (oder gar noch weniger) keine Entwicklungsstrecke von Belang, obwohl die Leistungen des homo sapiens in diesem Zeitraum durchaus (um mit Goethe zu sprechen) den Eindruck erwecken, als hätten wir es herrlich weit, ja: sogar bis an die Sterne weit gebracht.

Im Grunde aber hat nur unsere Hirn-Kapazität ihre beängstigende Leistungsfähigkeit erwiesen, indem sie den Wissens- und Erfahrungsstoff, aber auch die geistigen Mißverständnisse, Irrtümer und auch Lügen der Menschheit fein säuberlich aufbewahrte. Von Generation zu Generation wuchs dieser Wissensvorrat, zumal er recht bald (und seit der Erfindung der Buchdruckerkunst in unübersehbaren Mengen) auch außerhalb der menschlichen Köpfe in Büchern aufgespeichert werden konnte. 

Diese Speicherung täuscht jedoch; sie suggeriert dem homo sapiens, daß er alles wisse oder doch zumindest alles wissen könne, obwohl doch eigentlich noch immer der atemberaubende Erkenntnisblitz des Sokrates gilt: Ich weiß, daß ich nichts weiß.

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Nirgends ist diese perspektivisch-unzeitliche Geistesgrundhaltung des homo sapiens und deren anthropologische Problematik anschaulich-knapper dargestellt und faßbar gemacht als in jenem großen Faust-Monolog aus Goethes Menschheitstragödie, der einsetzt mit den Versen:

»Habe nun, ach! Die Philosophie, 
Juristerei und Medizin 
Und leider auch Theologie 
Durchaus studiert, mit heißem Bemühn. 
Da steh ich nun, ich armer Tor, 
Und bin so klug als wie zuvor!«

 

... und wenig später heißt es:

»Drum hab ich mich der Magie ergeben, 
Ob mir durch Geistes Kraft und Mund 
Nicht manch Geheimnis würde kund, 
Daß ich nicht mehr mit saurem Schweiß 
Zu sagen brauche, was ich nicht weiß, 
Daß ich erkenne, was die Welt 
Im Innersten zusammenhält, 
Schau alle Wirkenskraft und Samen 
Und tu nicht mehr in Worten kramen.«

 

Die Idee des Fortschritts blieb bis zu jenem Zeitpunkt lediglich eine Idee, an dem die wissenschaftlich exakte Erkundung der Welt in technische Praxis mündete, also in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. 

Damals setzte zunächst in England die industrielle Entwicklung auf eine derart barbarische Weise ein, daß sie bereits den zukünftigen Jahrhunderten einen Vorgeschmack von dem hätte geben können, was auf sie zukam, und zwar einschließlich der sozialen Frage. Dieser Vorgeschmack wurde von den hervorragendsten Geistern um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert (nicht zuletzt von Goethe) auch durchaus in seiner ätzenden Schärfe wahrgenommen und als Warnung an die Zeitgenossen verlautbart. 

Aber wie stets in solchen Situationen nutzten diese Warnungen so gut wie nichts. 

Der Übergang von der theoretischen Wissenschaft zur angewandten Wissenschaft war schicksalhaft unausweichlich, nachdem der Mensch der Neuzeit die individuelle Selbstverwirklichung als oberstes Lebensziel auf sein Panier geschrieben hatte.

Die Humanisten hatten zu dieser Apotheose des Individuums den Auftakt gegeben; die Aufklärer des 18. Jahrhunderts aber brachten diese neue anthropologische Ideologie erst so recht auf zeitgeistigen Schwung, und die Französische Revolution setzte sie schließlich in politische, das heißt: in gesellschaftliche Wirklichkeit um.

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Der Bürger, als Inkarnation dieses neuen, sich selbst verwirklichenden und sich auch selbst verantwortlichen Menschentypus, betrat die geschichtliche Bühne. Er war auf diese Rolle ebenso wenig vorbereitet, wie dies in unserem Jahrhundert der Proletarier war. Das Bürgertum besaß zwar Intelligenz, um die Mittel, die ihm in die Hand gegeben wurden, mit Konsequenz zu benutzen, es verfügte aber in seiner bestimmenden Mehrzahl nicht über das Format, um den Verlust an aristokratischer Tradition durch geistige Überlegenheit zu ersetzen. Zwar waren dem Bürger die ideellen Güter nicht gleichgültig, im Gegenteil: er wünschte nichts sehnlicher als deren Förderung und Bewahrung. 

Aber bereits im Verlauf des 19. Jahrhunderts wurde überdeutlich, daß er nicht die Kraft besaß, diese Güter gegen die Verlockungen materieller Glücksverheißung als Gegengewicht in die Waagschale des Jahrhunderts zu werfen. So konnte es geschehen, daß in diesem 19. Jahr­hundert einerseits geistig-schöpferische Leistungen erbracht wurden, die zum Bedeutendsten gehören, was die Menschheit in ihrer Geschichte hervorbrachte, andererseits aber jene technischen und wirtschaftlichen Wucherungen und Zwänge entstanden, die, im Verein mit einer nie dagewesenen, durch die technische Revolution bedingten Bevölkerungsexplosion, mehr gesellschaftliches Elend über die Welt brachten als selbst die barbarischsten Auswüchse der Geschichte bisher.

 

Bereits im Brockhaus von 1834 wird unter dem Stichwort »Industrie« in wenigen Sätzen und mit geradezu entwaffnender Offenheit das ebenso biedere wie folgenreiche Credo bürgerlichen Fortschrittsglaubens mitgeteilt. Die darauffolgende Neuausgabe des Brockhaus wiederholt diese Definition; der Text ist lediglich in eine klarere und damit verständlichere Form gebracht:

»Industrie ist das Bestreben und die Geschicklichkeit, Gegenstände zu erschaffen, welche zur Befriedigung der menschlichen Bedürfnisse dienen. Sie gibt nämlich der Arbeit eine solche Richtung, daß sie die Vorstellung verwirklicht, wie die rohe Materie eine vollkommene, das heißt dem Bedürfnisse angemessene Gestalt bekommen und überhaupt mehr leisten kann, als es bisher der Fall gewesen ist. 

Die Industrie ist eine Vervollkommnung des menschlichen Willens und daher geistiger Natur. Die Möglichkeit derselben hängt zunächst von der Ausbildung des menschlichen Verstandes und von den Fertigkeiten ab, das, was dieser als zweckmäßig erkennt, auch mit der Tat auszuführen.

Hierzu aber gehört Ausbildung des menschlichen Erkenntnis-Vermögens, Erweiterung und Vervollkommnung des menschlichen Wissens. Je weiter sich solches erstreckt und je tiefer er in die Natur der Dinge eindringt, desto mehr Mittel und Wege werden dem Menschen bekannt, die natürlichen Dinge zu seinen Zwecken einzurichten und zu gebrauchen.«

Eine Gesellschaft, die sich unter einer derartigen Devise anheischig macht, die Geschicke der nächsten Jahrhunderte zu bestimmen, verurteilt sich eigentlich schon im Ansatz zum Scheitern. Denn was sich hier zeitgeistig zu Wort meldet (und der Brockhaus von damals war ebenso ein Abbild seiner Zeit, wie der heutige Brockhaus eines der unseren darbietet), ist, in vergleichsweise hehre Worte gefaßt, plattester Materialismus, demzufolge die Natur eigentlich nur dazu da ist, um von dem Bürger zu seinen Zwecken eingerichtet zu werden. Darauf soll nach der Aussage jenes Stichwortes auch die geistige Ausbildung vornehmlich abzielen, um eine möglichst umfassende Aus- und Umwertung der natürlichen Güter für den menschlichen Gebrauch zu gewährleisten.

An dieser Auffassung hat sich bis auf den heutigen Tag nichts geändert: auch der Sozialismus erstrebt im Grunde nichts anderes. Und unsere Ausbildung hat längst das anno 1834 postulierte Ziel erreicht, nämlich dem Verstand beizubringen, was er als zweckmäßig zu erkennen hat, um es in die Tat umzusetzen.

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