2. Die Geschichte protegiert den Fortschritt
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Wie es um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert und das ganze 19. Jahrhundert hindurch Stimmen genug gab, die vor der Fortschritt-Hybris warnten (erinnert sei nur an Jacob Burckhardt und Nietzsche), so fehlt es auch heute nicht an eindringlichen Warnungen davor, daß Fortschritt nur zum Zweck des Fortschritts die Menschen entschiedener versklavt und sich selbst entfremdet als der Verzicht auf Steigerung des Fortschritts um jeden Zukunftspreis.
Buchtitel wie <Ketten für Prometheus>, <Menschheit am Wendepunkt>, <Ende der Verschwendung>, <Der abwendbare Untergang>, <Die biologische Zeitbombe>, <Ein Planet wird geplündert> oder <Planspiel zum Überleben> und viele andere sprechen in diesem Zusammenhang eine mehr als deutliche Sprache — nicht zu vergessen die in ihren Diagnosen aufrüttelnde kleine Schrift <Die acht Todsünden der zivilisierten Menschheit> von Konrad Lorenz.
In Büchern wie diesen wird der Fortschritt entlarvt als das, was er wohl tatsächlich ist, nämlich als der weithin sichtbare Ausdruck eines inzwischen den gesamten Globus ansteckenden europäischen Nihilismus mit allen Folgen des totalen geistigen und ethischen Verfalls.
Die Menschheit betäubt den Verlust ihrer Weltfrömmigkeit und die daraus entspringende Angst vor dem Dasein durch eine Fortschrittsraserei, die letztlich die Agonie beschleunigt.
Dagegen hilft, obwohl er vielen als die große Ausweghoffnung aus der Klemme erscheint, auf die Dauer auch kein Sozialismus, da ja auch er auf nichts anderes abzielt als auf die angeblich gerechtere Verteilung der Fortschrittsgüter, ansonsten diesen Fortschritt aber ebenso zu seinem materialistischen Glaubensbekenntnis erhebt wie der Kapitalismus, und zwar doktrinär.
Und dagegen hilft wohl auch kaum der futuristische Freie-Welt-Optimismus eines Mannes wie Herman Kahn, der beschwichtigend meint, nach einer Übergangsphase der Unsicherheit angesichts neuer Technologien und der damit verbundenen Strukturänderungen sei der menschliche Geist bestimmt auch in der Lage, die jetzige Entwicklung zu meistern und zu humanisieren.
De facto jedoch — so sieht es jedenfalls aus — ist die Zeit gekommen, in der beide Linien des perspektivischen Zeitalters sich endgültig im Unendlichen verlieren, ohne daß ein neuer Typus Mensch die Flucht vor dem Ursprung der Menschheit zum Aufbruch in neue Gefilde menschlicher Daseinsverwirklichung hätte umwandeln können.
Ratlos steht der alte Adam vor seinen machbaren Utopien; denn, so sagt Herman Kahn am Ende seines 1977 erschienenen Buches <Vor uns die guten Jahre>, eines müsse auch er zugeben, nämlich:
»Die großen Probleme der post-industriellen Ära werden ... immer noch dieselben Fragen sein, die uns heute so sehr beschäftigen, wenn sie auch an Größenordnungen und Tragweite beträchtlich zugenommen haben werden: Wer wird befehlen und manipulieren, und mit welchem Ziel wird das geschehen?«
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Nun: da wir dies nicht wissen können, sollten wir uns doch vielleicht lieber auf das verlassen, was wir tatsächlich wissen — nämlich auf die einzige gesicherte anthropologische Wahrheit, die da heißt: die Unberechenbarkeit des Menschen. Dieser homosapiens, obwohl inzwischen hochzivilisiert und industrialisiert, aufgeklärt und mit Wissen vollgestopft bis in die letzte Ganglie, kann sich nämlich ebenso wenig von seinem Ursprung abnabeln wie der Neger im inner-afrikanischen Busch oder der Eskimo im Iglu der eisigen Zonen.
Nur eine Mutation könnte hier Abhilfe schaffen, aber diese hat die Natur den Menschen des Industriezeitalters bisher versagt. Und es ist auch sehr die Frage, ob diese Mutation als Anpassung an die von Herman Kahn beschworene unnatürliche Menschen-Umwelt überhaupt je erfolgen wird — es sei denn durch Gen-Manipulation. Was dies jedoch heißt, das kann sich jeder halbwegs naturwissenschaftlich gebildete Mensch (und das ist schließlich heute schon jeder Schulabgänger) selbst ausrechnen.
Angesichts solcher Utopien, die eher an George Orwells berühmten Zukunftsroman <1984> als an wünschbare Menschheits-Wirklichkeiten der Zukunft erinnern, ist man geneigt, doch eher den Pessimisten Glauben zu schenken, wenn diese uns versichern, sie seien in Wirklichkeit die Realisten.
Ein Realist in diesem Sinn war zum Beispiel Egon Friedell, der in seiner <Kulturgeschichte der Neuzeit> Glanz und Elend des fünfhundertjährigen Fortschrittszeitalters beschrieb mit dem beklemmenden Fazit, daß die abendländische Menschheit, indem sie sich immer entschiedener an die materiell faßbare Realität klammerte, das Vertrauen in die eigentliche Wirklichkeit ihres Daseins restlos verspielt habe.
Der Imperialismus, als hybride Endstufe materialistischen Ausbeutungswillens, sei im Ersten Weltkrieg seiner Dämmerung entgegengeschritten und habe sich schließlich durch weltpolitische Arroganz selbst liquidiert. Übrig geblieben seien am Ende der Neuzeit nur Wirklichkeitsscherben, mit denen die Nachgeborenen ein mehr oder weniger unsinniges Spiel trieben.
Friedell zog dieses Fazit vor fünfzig Jahren. Dem Rest des Jahrhunderts sagte er wenig Erbauliches voraus.
Denn nach diesem Höllensturz der Menschen-Wirklichkeit bedarf es seiner Meinung nach wie damals, nach dem Niedergang des Mittelalters, einer Erholungs- und Vorbereitungs-, einer »Inkubationszeit«, in der sich die gestalterischen Kräfte der Gesellschaft rehabilitieren und reaktivieren, bevor sie sich zu einem neuen Weltbild formieren, das dem menschlichen Dasein wieder einen Sinn zu verleihen vermag.
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Allerdings vermutet Friedell, daß dieser Stiftung eines neuen menschlichen Daseins-Sinnes eine Katastrophe vorausgehen werde, die alle zerfallenden Restbestände der Vergangenheit endgültig beseitige. Vor fünfhundert Jahren besorgte die Pest dieses makabre Inkubations-Geschäft einer die Zeiten trennenden tabula rasa; denkbar wäre, daß heute der Seuche einer atomaren Hybris diese entsetzliche Aufgabe zufallen könnte, ohne daß eine Menschenrechts-Konvention oder ein UNO-Beschluß auch nur ansatzweise in der Lage wäre, sie daran zu hindern.
Vor diesem Hintergrund erscheinen auch die inflationistischen Bekenntnisse zur Menschlichkeit vergleichsweise läppisch, solange sie nicht mit Entschiedenheit dem dehumanisierenden Grundzug der Zeit widersprechen, demzufolge das Glück menschlicher Zukunft einzig und allein in der Anpassung an die totale Denaturierung der Spezies beschlossen sein soll.
Auf die Frage, ob die Idee des Fortschritts ihrer Tendenz nach überhaupt einen anthropologisch zuständigen oder gar sinnstiftenden Wert darstelle, bietet sich angesichts des hier umrissenen Sachverhalts fast zwingend eine verneinende Antwort an. Dennoch wäre die naheliegende Annahme unzutreffend, die Menschheit habe sich durch den Prozeß fortschreitender Zivilisierung willentlich und wissentlich in diese anthropologische Lage hineinmanövriert. Vielmehr waltet hier ein Fatum, das der Spezies bereits im Übergangsfeld vom Tier zum Menschen aufgebürdet wurde und das die Bibel durch die Geschichte vom Sündenfall auf genial einfache Weise veranschaulicht.
Der Biß in den Apfel vom Baum der Erkenntnis distanziert das erste Menschenpaar zwar von seinem natürlichen Ursprung, aber er trennt es nicht davon. Das heißt: die frühen Menschen, vom Blitz des Bewußtseins getroffen, traten der Natur, in deren Haushalt sie biologisch nach wie vor eingeordnet bleiben, aus eigenem Willen handelnd gegenüber und unternahmen den prometheischen Versuch, sie sich dienstbar und damit untenan zu machen. In dem Maß, in dem ihnen dies gelang, kultivierten sie auch sich selbst; denn die nach Menschenbedürfnis umgestaltete oder auch nur moderierte Naturwirklichkeit setzt Selbstdisziplin voraus, ohne die kein ordnender Wille sich entfalten kann. Auf diese Weise wurde der Prozeß einer Selbstzähmung oder, wie Arnold Gehlen ihn nannte, der »Selbstdomestikation« des Menschen ausgelöst, die schließlich das zeitigte, was wir mit Recht als »Kultur« bezeichnen.
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Kultur ist schlechthin das Synonym für die Gegenwelt, die der Mensch als neue, nur ihm zugängliche und auf ihn zugeschnittene Wirklichkeit gegenüber der Natur aufrichtet. Man könnte auch sagen: Da die Natur auf die Intelligenz des homo sapiens nicht vorbereitet war, zeigte sie sich unfähig, dem menschlichen Erkenntnis- und Tatendrang eine Wirklichkeit anzubieten, in der sich dieser noch hätte heimisch fühlen können. Aus dem Paradies vertrieben, mußten Adam und Eva die Gestaltung und Sicherung ihrer Existenz sozusagen in die eigene Hand nehmen — wobei dem sprichwörtlichen Begriff »eigene Hand« eine sehr konkrete Bedeutung zukommt. Denn ohne das natürliche Werkzeug der Hand hätte der Erkenntnis- und Erfahrungsprozeß der menschlichen Intelligenz kaum jene gestalterisch-praktische Dimension hinzugewinnen können, die dem homo sapiens schließlich alles zu machen erlaubte, was er machen wollte.
Die Hand blieb aber zugleich auch das Bindeglied, das den homo sapiens mit seinem Ursprung verband; sie garantierte ihm jene sinnliche Nähe zur Materie, die ihn Formen dadurch begreifen ließ, daß er sie im buchstäblichen Sinn des Wortes »begriff«. Deshalb stellt auch die mit fortschreitender Technisierung der menschlichen Wirklichkeit einhergehende »Enthändigung« des homo sapiens anthropologisch eine schlimmere Entmündigung dar als alles, was unter diesem Schlagwort gemeinhin angeprangert wird. Aber davon später.
Zunächst noch ein Wort zu dem Faktor, der Hand und Intelligenz, gepaart mit Erkenntnis-Neugier, Vorstellungskraft und Erfahrung, zur gestalterischen Tat vereint: zur Arbeit. Gewiß, auch Tiere arbeiten. Ameisen oder Biber; auch der Nestbau der Vögel ist Arbeit — aber eben doch nicht in dem spezifischen Sinn menschlicher Arbeit. Denn von menschlicher Arbeit unterscheidet sich die tierische in wesentlichen Punkten grundsätzlich. Das Tier arbeitet rationell im Rahmen der für die Erhaltung der Art gesteckten Grenzen. Es verbindet mit diesen Tätigkeiten nur diesen einen Sinn; darüber hinausreichende Aktivitäten liegen außerhalb tierischen Vorstellungsvermögens und damit auch tierischer Aktivitäten. Das Tier will nichts anderes als das, was ihm die Natur aufgegeben hat, um den Bestand der Spezies zu sichern.
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Anders beim Menschen. Herausgefordert, die eigene Wirklichkeit selbst zu gestalten, versucht der Mensch sich durch Arbeit von der Natur zu erlösen und das zu erlangen, was Freiheit genannt wird. Im Gegensatz zum Tier trachtet der homo sapiens danach, mit dem, was er tut, nicht nur der Lebensnotwendigkeit zu gehorchen, sondern auch vornehmlich sich selbst innerhalb der Sozietät zu verwirklichen und sein Dasein, indem er es nach eigenem Willen gestaltet, zu genießen. Er schafft dadurch neue, von der Natur in dieser Form nicht bereitgestellte Werte, die nur ihm zugänglich sind und damit auch nur ihm wertvoll erscheinen. Auf diese Weise bekundet er durch Arbeit unablässig seine scheinbare Unabhängigkeit von der Natur, in deren Geborgenheit er sich doch insgeheim zurücksehnt.
Die Heilserwartungen aller Religionen wurzeln in diesem Zwiespalt zwischen der Endlichkeit der menschengeschaffenen Wirklichkeit und der Unendlichkeit, sprich: Ewigkeit der natürlichen Wirklichkeit. Deshalb trachtet der homo sapiens, dem immerhin von Zeit zu Zeit, um mit Faust zu reden, vor seiner »Gottähnlichkeit bange« wird, auch danach, sich mit der Ewigkeit, mit Gott zu versöhnen, um nicht in den Kulissen seiner selbsterbauten Welt seelisch verkümmern zu müssen. Gerade weil der Mensch durch den Biß in den Apfel der Erkenntnis sich seiner Endlichkeit bewußt wurde, bedarf er der Zwiesprache mit dem Unendlichen, um dem, was er tut, einen Sinn zu erhalten. Religion und Kunst sind die »Medien«, die dieses Gespräch mit dem Unendlichen in Gang halten. »Und meine Seele spannte / Weit ihre Flügel aus, / Flog durch die stillen Lande, / Als flöge sie nach Haus« — heißt es in einem der schönsten deutschen Gedichte, in dem >Nachtlied< von Eichendorff.
Aber der denkende Mensch ist vornehmlich weder ein poetischer Träumer noch ein frommer Beter, der sich ergriffen auf die Heimat seiner Seele besinnt, sondern ein barbarischer Täter, der den aus seiner tierischen Vergangenheit ererbten Aggressionstrieb in zielgerichteten, geschichtlichen Willen zur Macht verwandelte. Es ist das Kains-Mal, das der homo sapiens auf der Stirn trägt. Unter seinem Zeichen ereignet sich die Fatalität der menschlichen Geschichte, gegen die weder Vernunft noch Katastrophen-Erfahrung noch der Fluch der Götter und am allerwenigsten Gebete je etwas ausrichten konnten und wahrscheinlich auch in Zukunft nichts werden ausrichten können. Obwohl seiner höheren Möglichkeiten durchaus eingedenk, ist der Mensch offensichtlich unfähig, sich aus der Barbarei zu lösen, in die ihn seine Geschichte unablässig verstrickt. Seine Tragik macht aus, daß er dies weiß, und zwar auch dann, wenn er dies nicht wahrhaben will.
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»Nicht Blindheit ist es«, schreibt Leopold von Ranke,
»nicht Unwissenheit, was die Menschen und Staaten verdirbt. Nicht lange bleibt ihnen verborgen, wohin die eingeschlagene Bahn sie führen wird. Aber es ist in ihnen ein Trieb, von ihrer Natur begünstigt, von der Gewohnheit verstärkt, dem sie nicht widerstehen, der sie weiter vorwärts reißt, solange sie noch einen Rest von Kraft haben. Göttlich ist der, welcher sich selbst bezwingt. Die meisten haben ihren Ruin vor Augen — aber sie gehen hinein.«
Frühere Epochen durchlitten diesen Zwiespalt vergleichsweise naiv. Die homerischen Helden lieferten sich ihrem Schmerz und ihrem Edelmut ebenso elementar aus wie ihrer Brutalität. Größe und Niedertracht, Liebe und Haß, Weitblick und Ignoranz liegen in ihrem Wesen unabgegrenzt benachbart. Achill, Hektor oder Patroklos geben sich ihren Gefühlen uneingeschränkt hin, und sie handeln spontan.
Ein Mann wie der listenreiche Odysseus nimmt sich in dieser Gesellschaft schon fast wie der Vorbote einer anderen, intellektuell reflektierenden Epoche aus. Natürlich beklagen auch die homerischen Helden die Folgen, die ihre impulsiven Handlungen zeitigen, und sie hadern mit ihrem Schicksal ebenso heftig, wie sie es mutwillig herausfordern — aber sie nehmen es doch hin wie etwas, das gar nicht anders sein kann.
Die griechischen Tragiker gingen bereits einen Schritt weiter als Homer, indem sie die Unvereinbarkeit von Geschichte und Menschlichkeit unerbittlich feststellten. Die Katharsis wird in der Tragödie nur durch die menschliche Katastrophe möglich. Erst der Tod der Täter sühnt die Tat, die der tragische Held unschuldig-schuldig beging. Die tragischen Helden gehen zugrunde, weil sie an der Unvereinbarkeit von Tat und Menschlichkeit, von zum Handeln drängender Geschichte und kosmischem Seins-Vertrauen scheitern.
Geschichte als täterische Formkraft, die menschlicher Endlichkeit durch Gestaltung dessen, was ist, einen Sinn zu geben trachtet, strebt immer nach vorn, einem Ziel zu — und sei dieses auch noch so utopisch oder gar aberwitzig. Sie muß den Fortschritt wollen, um sich nicht selbst ad absurdum zu führen. Sie vermag den Glauben an sich selbst nur dadurch zu wahren, daß sie Siege verspricht, wo sie Niederlagen erntet; das Prinzip Hoffnung ist ihre einzige Waffe gegen die eigene Fatalität. Wie sagt Nietzsche? »Letzte Lehre der Historie: nur nicht wieder dahin zurück!«
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Aber das ist, so möchten wir hinzufügen, auch ihr Verhängnis. Denn, indem die Geschichte von sich selbst wegstrebt, protegiert sie den Fortschritt. Dadurch, daß die Geschichte immer wieder von neuem Geschichte macht, erliegt sie nämlich dem fast schon logischen Trugschluß, sie könne über sich selbst hinauswachsen und eine höhere Plattform menschlichen Daseins gewinnen. Die Menschheit wähnt sich durch die Geschichte in einem immerwährenden Prozeß der Menschwerdung, der irgendwann einmal in der Vervollkommnung der Humanitas und damit in die selbstverwirklichte Freiheit des homo sapiens führe. Deshalb gehört auch zum Charakteristikum der Geschichte, daß sie nichts aus ihrer Vergangenheit lernt oder lernen will.
Entfalten kann sie sich nur durch Raumgewinn, und das heißt: in der Gegenwart mit Projektion in die Zukunft. Das Wort »Was hülfe es, wenn einer die ganze Welt gewönne und nähme doch Schaden an seiner Seele«, muß sie in den Wind schlagen, weil sie ihren inneren Triebkräften nach gar nichts anderes wollen kann, als die ganze Welt zu gewinnen. Rücksichten auf die Seele sind ihr unbekannt; treten sie in ihr Bewußtsein, so setzt sie sich rüde darüber hinweg. Eine zahme Geschichte ist eine contradictio in adjecto. Insofern ist auch Friede als tatsächliches Ziel der Geschichte undenkbar.
Da sich Geschichte nur vorwärts zu entfalten vermag, folgt sie notgedrungen perspektivischen Vorstellungen. Sie eilt jenem Punkt zu, an dem sich die Linien im Unendlichen zu treffen scheinen, aber sie erreicht ihn natürlich ebensowenig wie der mythische Sisyphos jemals imstande sein wird, den Felsbrocken endgültig den Hang hochzustemmen, an dem er sich abmüht.
Indem Geschichte vorwärts drängt, zerstört oder verändert sie das Gewordene und Bestehende. Ihr Grundzug ist die Revolution, nicht die Evolution — das heißt: der gewaltsame Umsturz anstelle der auf Geduld angewiesenen Entwicklung. Was Geschichte zerstört und verändert, bleibt zerstört und verändert. Die Reaktion hat nie geschichtliche Chancen, denn das Rad der Geschichte, schon das Sprichwort sagt es, läßt sich nicht zurückdrehen.
Weder die Weltmacht der christlichen Kirche noch die deutschen Kaiser des Mittelalters konnten zum Beispiel das Imperium Romanum wiederherstellen, obwohl sie diesen historischen Traum geträumt haben mochten. Tatsächlich jedoch liquidierten sie durch ihre geschichtliche Tat Roms Restbestände, indem sie stattdessen Strukturen und Ordnungen schufen, die bei den Zeitgenossen ihrer Epoche neue Wirklichkeits-Hoffnungen erweckten.
Über Gräber vorwärts — das ist die Devise der Geschichte.
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detopia: Burckhardt Lorenz Kahn Orwell Friedell