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  Fuchs-1984

 

 

43-74

Der Zug ist angekommen. Die Reisenden steigen aus und nehmen Aufstellung in Sechserreihen. Offiziere und Unteroffiziere stehen auf dem Bahnsteig in der Nähe des Bahnhofsgebäudes. Sie sehen zu. Der lange Zug setzt sich in Bewegung, 800 bis 1000 junge Männer kommen in rechtem Winkel über die Gleise. Es ist merkwürdig still. Kaum Befehle, kein Lachen, keine Blödeleien. Die Spaßmacher haben ihre Skatkarten weggesteckt, die Angetrunkenen gehen betont gerade, Kannengießer schleppt seinen schweren Koffer, der Berliner hat seinen Apfel gegessen und den Griebs aus dem Fenster geworfen. Der Fahrdienst­leiter mit der roten Mütze steht etwas abseits in fast militärischer Haltung.

Die alte Eisenbahnerin hält ihre silberne Zange hinter dem Rücken und lächelt wie immer. Sie wird heute nicht gebraucht. Das sind keine Urlauber, die nach den FDGB-Heimen fragen und denen man die Abfahrtszeiten der Busse sagen muß. Heute kommen die Wehrpflichtigen, die gleich hinaufgefahren werden ins ehemalige Wismut-Gebiet, an den Rand der Halden. Auf dem Bahnhofsvorplatz stehen Lkw. Jetzt werden die Motoren angelassen.

«Der Reihe nach aufsitzen, die Koffer nach hinten, nicht einschlafen. So, halt, der Wagen ist voll, Klappe zu, ab geht die Post.»

Der Abtransport beginnt. Als ich an die Reihe komme, reiche ich meinen Koffer auf die Ladefläche, steige hinauf und setze mich auf eine der schmalen, angeschraubten Holzpritschen. Wir sitzen dicht gedrängt, ich versuche vergeblich, näher an meinen Koffer zu rücken. Der Fahrer kommt und schließt die Wagenklappe. Er mustert die Ladung.

«Den Koffer da nach hinten, sonst verlieren wir das wertvolle Stück», sagt er. Es klingt überlegen und höhnisch. Ich kann die Bedeutung der Schulterstücke noch nicht genau zuordnen, auf dem Bahnsteig habe ich auch Offiziere gesehen ... Aber bestimmt ist dieser Fahrer Soldat, er trägt glatte, grün umrandete Schulterstücke. Er ist gar kein Vorgesetzter und verhält sich herab­lassend. Vielleicht kam er vor einigen Wochen oder Monaten selbst auf diesem Bahnhof an. Jetzt mustert er uns ohne Mitgefühl und gibt schnarrende Anweisungen ...

Der Motor wird angelassen, mit einem Ruck fährt der Lkw an. Das Planengestänge vibriert, mit hoher Geschwindigkeit geht es durch die Kurven. Ab und zu bremst der Wagen, einige finden sich zwischen den Koffern und neben den Pritschen wieder. Ich kralle mich an die Holzplanken der Sitzbank. Der Fahrer spielt offenbar Autorennen.

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Warum hat er es so eilig? Ich schalte ab, lasse es geschehen. Wohin wir fahren, kann ich nicht sehen, es geht bergauf, schwankende Straßenbäume, Abhänge, jetzt Neubauten, Schlaglöcher, hinter uns noch ein Militärlaster. Was soll ich tun?

Diese hellwache Abwesenheit kenne ich schon aus der Schule, wenn nichts mehr zu machen war, wenn mich Lehrer Köppl stumm, seine Hand an meinem Oberarm, mit großen Schritten durch die halbdunklen Korridore zum Zimmer des Direktors führte. Dort sollte ich erzählen, was ich gemacht habe. «Herr Direktor», hörte ich mich sagen, «ich habe den Unterricht gestört durch dauerndes Schwatzen mit Krumbholz.» - «Und?» fragte er, Köppl stand daneben. «Ich will es nie wieder tun.»

 

Der Lkw, ein dunkelgrüner «W 50» mit Plane, hält an. Die Klappe wird geöffnet, und wieder erscheint das Gesicht des Fahrers:
«Absteigen, los, los!»
Ein Befehl, ein Witz, eine Verhöhnung, eine verquere Bitte, von allem etwas. Wie der selbsternannte Führer einer Jungenbande, wie der Lange Karl, der den Gast aus der oberen Stadt herumkommandiert und durch Pfützen waten läßt mit seinem Scheitel und den weißen Kniestrümpfen. Jetzt sind wir die Dummen, die Neulinge.
«Antreten in Zweierreihe.»
Da steht schon eine lange Schlange vor einem flachen, zweistöckigen Gebäude, Koffer und Taschen auf dem Boden abgestellt, ein Zaun, das Tor mit Posten und Postenpilz, ein großer, schräger Appellplatz, Hecken, Fahnenmaste. Die Schlange rückt langsam vor, wird geschluckt von dem flachen Ziegelgebäude. Es beginnt zu nieseln. Unser Lkw wird abgestellt, der unfreundliche Fahrer ist ausgestiegen und lehnt am Führerhaus.

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Noch zwei Lastwagen kommen angefahren, die Ladung sitzt ab und reiht sich in die wartende Schlange ein. Die Fahrer steigen aus, schlagen laut die Autotüren zu, stellen sich zusammen vor eine Motorhaube, lachen, sehen zu uns herüber.
«Na, ihr Rotärsche, jetzt geht das Rennen los. Hoffentlich haben die Kleinen genügend Pflaster eingepackt für die Blasen. Rennerenne, robbirobbi durch den Tannenwald ... ihr werdet schon sehen ... Endlich Nachwuchs, man kam sich schon ganz einsam vor, nix mehr los ... wird Zeit, daß hier neue Stimmung entsteht ... Jubel, Trubel, Heiterkeit...»
Jeder wirft uns seine Brocken an den Kopf. Einer aus der Schlange sagt:
«Ihr macht hier wohl den Chef? Ihr seid doch auch bloß Soldaten!»
Da schnippen die drei Fahrer hoch, lehnen sich gar nicht mehr an ihre Fahrzeuge, gehen auf den Frechdachs zu:
«Wir sind <Vize>, merk dir das! Sieh dir unsere Schulterstücke genau an! Da ist zwar noch kein Balken, aber den Knick in der Mitte wirst du doch erkennen mit deinen ahnungslosen Augen ... <Vize>, vergiß das nicht! Denk an deine Tage! Wenn ich deine Tage hätte, würde ich mich aufhängen ...»

«Die hattest du doch auch mal...»
«Na und, aber jetzt nicht mehr. Soll ich dir mein Bandmaß zeigen? Weißt du überhaupt, was das ist? Wir sind Fahrer, Kfz-Kompanie, das ist was anderes als Schütze Arsch im letzten Glied ... Hier ankommen als Mot.-Schütze, als buntes Laub, und dann gleich losmotzen, das haben wir gern ...»
Sie winken ab, drohen, funkeln mit den Augen und gehen zu ihren Fahrzeugen zurück.

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Sie kommen sich besser vor. Endlich können sie auf andere herabsehen. Wahrscheinlich empfangen sie uns so, wie sie empfangen wurden vor einem halben Jahr. Aber daß sie uns beleidigen ... kein gutes Wort haben. Wie wichtig wäre ein gutes Wort von einem, der schon länger hier ist, der auch Soldat ist. Es wird also noch einmal unterteilt, noch einmal findet eine Unterordnung statt: die Neuen, dann die «Vize», dann wahrscheinlich die «EKs». Das habe ich schon von meinem Schwager gehört. Und dann die Unteroffiziere, die Offiziere ... O Gott, das kann etwas werden ... Diese Fahrer feixen mit, fahren und bremsen wie die Wilden, beteiligen sich am «Empfang». Gerade jetzt, am Anfang, am ersten Tag, wo alles schwer ist, wo alles übermächtig hereinbricht ...

Ich nähere mich der Eingangstür. In ein Zimmer geht es, vor Tischen und Karteikästen sitzen welche in Uniform.
«Die Einberufungsbefehle!»
Namen werden verglichen, Wohnorte, Paßbilder.
«Was? Aus Reichenbach? Mitkommen!»
Zwei in Uniform führen mich in ein Dienstzimmer. Kannengießer und Strobel aus Oberreichenbach mit der 250iger, der mit kurzen Haaren zum Wehrkreiskommando kam und keinen grüßte, warten schon.

«Was ist los?» frage ich, als ich die beiden sehe.
«Keine Ahnung», will Kannengießer sagen und wird unterbrochen von einem, der zwei silberne Striche auf seinen Schulterstücken hat:
«Ruhe, keine Absprachen, aufstehen, mit dem Gesicht zur Wand!»
Also stehen wir mit den Gesichtern zur Wand. Drei graue Trainingsanzüge werden gebracht.
«Anziehen, die Zivilsachen auf die Koffer legen.»
Also ziehen wir die Trainingsanzüge an und legen die eigenen Sachen über die Koffer. Kannengießer fragt:

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«Warum denn das?»
«Ruhe», brüllt der Bewacher. «Aufstellung nehmen, Gesicht zur Wand!»
Also nehmen wir Aufstellung mit den Gesichtern zur Wand. Nach einer Weile setzt sich Strobel auf einen Stuhl, wird angebrüllt, bleibt sitzen.
«Mit mir nicht», sagt er, «ich will wissen, was los ist.»
Der mit den zwei silbernen Streifen, ein Gefreiter, ein Unteroffizier ... der gerade Wachdienst hat und sich aufspielen will, verläßt das Zimmer und kehrt zurück einer Autorität. Die kommt herein, Strobel springt auf.
«Setzt euch mal hin, was habt ihr denn verbrochen?»
«Nichts», sagt Kannengießer, «überhaupt nichts.»
«Ich bin hier der Bataillonskommandeur, Major Wildgrube. Wir haben einen Anruf erhalten, daß etwas vorliegt, eine Straftat.»

Wir schütteln lange unsere Köpfe und rutschen auf den Stühlen hin und her. Draußen ist es dunkel geworden. Wildgrube ist sehr groß und hat silbergraue Haare. Er betrachtet Kannengießers Frisur.
«Wirklich nicht?» fragt er und gibt dem Obergefreiten ein Zeichen:
«Essen holen auf einem Tablett, die haben bestimmt Hunger. Dann den Kompanien zuführen.»
«Zu Befehl, Genosse Major.» Der Zweigestreifte steht stramm und verläßt das Zimmer. Auch Wildgrube geht, ohne Gruß und Blick. Strobel sagt:
«Der war ganz in Ordnung.»
Ich nicke, Kannengießer grinst, hält den Kopf schief:
«Wurde auch Zeit.»

Ein Soldat kommt mit einem Tablett, stellt es ab, geht wieder. Unser Bewacher bleibt in der Tür stehen, sagt nichts, seine kleinen grünen Augen giften uns an. Wir essen. Kannengießer fragt:

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«Gibt es noch Brot?»
Der Obergefreite reagiert nicht. Nach einigen Augenblicken, Kannengießer wartet kauend auf Antwort, zischelt er:
«Sonst noch was? Die Küche hat geschlossen.»
«Schade», sagt Kannengießer und schmiert sich eine neue
Stulle.
Strobel legt eine angebissene Brotscheibe auf den Teller zurück.
«Begrüßungsdusche», sagt er. «Mir fällt was ein, was ich auf dem Weg zum Wehrkreiskommando heute früh hörte. In den Neubauten an der Zwickauer Straße haben welche randaliert. Die Wohnungen waren bezugsfertig ... Fenster zerschlagen, Kacheln abgerissen, in die Badewannen geschissen. Vielleicht ist es das ... Vielleicht dachte die Kripo, das können nur wir gewesen sein, weil wir heute gezogen wurden. Betrunkene Wehrpflichtige lassen ihre Wut an Volkseigentum aus ...»
«Na dann», sagt Kannengießer kauend, «wissen wir ja Bescheid. Seid ihr's gewesen?» Er sieht uns grinsend an.
«Ich auch nicht. Na also. Vergessen wir's. Einwandfreier Empfang ...»
«Die kriegen sie», prophezeit Strobel, dem der Appetit vergangen sein muß. Mit Mundwinkeln, die nach unten weisen, sitzt er da wie ein reuiger Sünder. Man kann sich gar nicht vorstellen, daß er einmal auf einem schnellen Motorrad saß und die Stadt unsicher machte.

Jetzt hat auch Kannengießer seine Portion verspeist. Der strenge Bewacher kommt mit einem Zettel und verkündet mit böser, gepreßter Stimme:

«Kannengießer, 4. Kompanie, 1. Zug; Fuchs, 3. Kompanie, 3. Zug; Strobel, 3. Kompanie 1. Zug.»
Drei in neuen, grauen Trainingsanzügen gehen los und suchen eine 3. und 4. Kompanie. Jeder trägt einen Koffer und die eigenen Klamotten, die «Zivilsachen», Kannengießer biegt plötzlich wortlos ab und verschwindet in einer Tür, die sich langsam wieder schließt.

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«Spinnt der?» fragt Strobel. Auf einem Holzbrett entdecken wir die Zahl «4».

«Und wo ist die Drei?» frage ich Strobel.

Wir gehen die Lagerstraße hinunter, kleine Gruppen grauen Trainingsanzügen rennen an uns vorbei. Wir können sie nicht fragen, sie sind in großer Eile, ihre Augen sehen uns nicht.

«Können Sie nicht grüßen?» schreit eine Stimme. «Halt, kommen Sie zurück!»

Wir beide sind gemeint, Strobel und ich. Neben vorbeihastenden Trainingsanzügen ging eine und ruft uns jetzt zurück. Wir hatten sie nicht gesehen.

«Merken Sie sich das von Anfang an: Wenn Sie Hände voll haben, wenden Sie den Kopf zum Vorgesetzten, klar? Kopfdrehung, dann wieder geradeaus.»

«Ja», sage ich.
«Was heißt hier <ja>? <Jawoll> heißt das und <zu Befehl, Genosse Leutnant!> Verstanden?». Die Stimme bleibt im Halbdunkel, sie trägt Uniform, ein goldener Stern blinkt auf jeder Schulter. Die Stimme ist jung.
«Jawoll, Genosse Leutnant», sagt Strobel.
«Los, los, noch mal zurück, ich will sehen, ob Sie das begriffen haben.»

Wir haben es begriffen. Wir marschieren mit unseren Koffern und Kleidern an ihm vorbei, die Gesichter, vor allem die Augen, starr auf ihn gerichtet. Über uns wölben sich Peitschenlampen und eine verregnete, kalte Nacht, die auch auf uns herabsieht.
«Dort», sagt Strobel, «dort ist die Drei.»
Die Tür quietscht.

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Im Treppenaufgang treffen wir einen Trainingsanzug, der zwei halbhohe, schwarze Schuhe in der Hand hält. Wir fragen nach dem 1. und 3. Zug.
«1. Zug, das ist hier», sagt er und fuchtelt mit den Schuhen, «3. Zug weiß ich nicht, vielleicht oben.» Strobel verzieht das Gesicht und setzt seinen Koffer ab.
«Ich warte hier.»
«Mach's gut», sage ich und gehe die Treppe hinauf. Ein Uniformierter kommt mir entgegen, stutzt, fragt, woher ich komme.
«Ich war oben, in diesem großen Gebäude», sage ich.
«Im Stabsgebäude», sagt er und führt mich durch einen niedrigen Gang, von dem nach beiden Seiten Türen abgehen. Der Boden besteht aus glänzenden, polierten Steinplatten.
«Warten!»
Er öffnet eine Tür, tuschelt, ein anderer in Uniform kommt heraus, seine Schulterstücke haben einen breiten silbernen Rand. Es ist Unterfeldwebel Weidauer, mein zukünftiger Gruppenführer. Er winkt mich in ein Zimmer. Ich sehe zwei eiserne Doppelstockbetten, Matratzen, Decken, Schränke, Holzhocker und einen Tisch.
«Nachher den Spind einräumen», sagt er. «Was war oben los? Warum kommen Sie so spät?»
Ich sage ihm:
«Wir mußten warten. Noch zwei andere und ich.»
Weidauer sieht mich an, lächelt, hat wohl schon einen Anruf erhalten.
«Zuviel gefeiert, was?»
Er hält mich für den Täter, dieser große, stämmige Mensch mit dem breiten Frischluftgesicht des Jungen vom Lande, der den Hof übernehmen soll, aber keine Lust dazu hat.
«Trainingsanzug haben Sie schon, sehe ich gerade. Von oben, was? Die dachten wohl, Sie wollen türmen.

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Na ja, Ihre Zivilklamotten haben Sie noch. Hat man Ihnen den Trainingsanzug gegeben? Den anderen auch?»
Ich nicke.
«Ausziehen», sagt er, «zieh Deine Zivilsachen an, Koffer hier abstellen, wir müssen nach oben: Einkleidung.»

Ich ziehe mich um, Weidauer steht in der Tür, geht los, ich renne ihm nach, er springt die Treppen hinunter, zwei, drei Stufen auf einmal, er hat es eilig. Wir laufen zum Stabsgebäude, er vorneweg, durch Gänge, an wartenden Trainingsanzügen vorbei, an Soldaten, an Rekruten, an den Neuen vorbei, wie soll ich sie nennen, ohne zynisch zu sein. Weidauer wartet nicht, er läßt sich Uniformen geben, legt Hosen, Jacken und einen Pullover auf meine Arme, «paßt», sagt er, «paßt. So, noch den Stahlhelm, der läßt sich verstellen, egal, wie groß die Rübe ist. Und einen Trainingsanzug, Vize», ruft er über Tisch. Vor den Regalen steht ein Unterfeldwebel. Die Unteroffiziersdienstgrade zählen also auch die Tage, im vorletzten Diensthalbjahr nennen sie sich «Vize», im letzten «EK». Das wird nicht in den Dienstvorschriften stehen.

«Reich mal einen Trainingsanzug, schön groß für den jungen Genossen ...» höre ich ihn sagen und will an etwas erinnern:
«Aber...» will ich sagen.
«Ruhe», Weidauer stößt mich an, «Bekleidung aufnehmen und ab.»

Er stürmt los, draußen regnet es stärker, ein Wind ist aufgekommen. Ich renne ihm nach, stürze vollbeladen und betäubt hinter Weidauer her, verschiedene Uniformen liegen über meinen ausgestreckten Armen. Stahlhelm nicht verlieren. Die Treppe hoch, in das beschriebene Zimmer.

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«So», sagt Weidauer und nimmt einen Trainingsanzug an sich, «zwei sind zuviel für einen.» Er sieht mich an:
«Alles klar?»
Ich kapiere nicht gleich, nicke aber dann. Weidauer lächelt. Ich bin sein Komplice, bin der, der zu spät kam und der draußen vielleicht ein Ding gedreht hat.

«Fällt nicht ins Gewicht», sagt er und geht zur Tür, den neuen Trainingsanzug in der Hand. «Zigarettenpause, dann Spind einräumen und Betten beziehen ... ach so», er dreht sich noch einmal um, grinst über das breite Gesicht:
«Und die Dienstuniform anziehen, nicht die mit den silbernen Streifen an den Ärmeln, die andere ... tja, Fuchs», sagt er, «der Ehrendienst hat begonnen.»

Ich lasse mich auf einen Hocker fallen. Verbergen, hinlegen, verstecken, das Gesicht zur Wand drehen. Ich bleibe sitzen, will rauchen, finde die Streichhölzer nicht. Der Kopf ist leer und dröhnt. Auf dem Tisch liegen Uniformen und ein grauer Stahlhelm. Wer ist noch hier? Ab und zu schlagen Türen. Wie spät? Halb acht. Ich stehe auf, öffne den Koffer, ziehe meine «Zivilsachen» aus. Welche Uniform? Wie schwer der Stahlhelm ist: Ach so, innen gepolstert und verstellbar ... diese Jacke ... die ist ja schon getragen... in den Taschen sind Krümel, Tabak... welche Hose?... die?

Die Tür geht auf. Ein Berg von Kleidungsstücken kommt herein, er wird getragen von einem kleinen, kräftigen Mann. Älter als ich, um die Dreißig. Schwarze, nach vorn gekämmte kurze Haare, große Hände. Er sagt «Tag» und wirft seine Sachen auf den Fußboden. «Noch mal umziehen, verfluchter Mist... Manfred», sagt er und gibt mir die Hand, ohne mich anzusehen. «Karausche.»

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Ich sage auch meinen Namen, er nickt:
«Drüben in der 38, schräg gegenüber, hatte ich schon mein Bett gebaut. Wollte gerade den Spind einräumen... und was ist mit dir? Ach so», sagt er, als ich ihm die Verspätung andeute, «dann mach mal los, die anderen sind schon weiter.» Er zieht eine Decke in einen weiß-blauen Karobezug. «Nachher pfeifen sie wieder, das soll ja heute bis nach Mitternacht gehen. Einkleidung ist immer Scheiße.»

«Kennst du dich aus?» frage ich.
«Sechs Jahre Kampfgruppe», sagt er, «mir können sie nichts erzählen.»
«Wie alt bist du?»
«Siebenundzwanzig», sagt er, «sie haben mich noch gekriegt. Zu Hause habe ich meine Frau und zwei Kinder. Schöne Scheiße. Da hätte ich mir die Kampfgruppe sparen können. Die im Betrieb konnten auch nix machen. Ich bin von Beruf Schmelzer, im Stahlwerk Schneeberg. Meine Frau ist schwanger. Und ich hier.»
Er sieht mich mit geröteten Augen an und baut sorgfältig sein Bett.
«Vor allem die Kanten glattziehen», sagt er, «das wollen sie wissen beim Stubendurchgang. Man kann auch Zeitungspapier oder Pappe zwischen Matratze und Bettuch tun. <Armeerundschau> geht ganz gut. Es gibt Punkte. Zieh erst mal deine Dienstuniform an.»

 

 

Wie mächtig das alles wird. Treppe rauf, Treppe runter. Da lang, das nicht vergessen, jetzt diese Uniform anziehen, Bettenbau ... immer in Erwartung. Immer geschieht etwas, mit und ohne Ankündigung. Das überrollt mich, ich will übergenau sein, korrekt und gehorsam. Erst das, dann das, auf keinen Fall das und das vergessen. Und von nichts überraschen lassen, vieles ist möglich, nicht wundern, nicht staunen, nicht fragen ... Ein Soldat keine Fragen zu stellen, er hat zu gehorchen. Dabei

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habe ich so gern Fragen gestellt. Im Unterricht habe ich Börner, den Staatsbürgerkundelehrer, zur Weißglut gebracht, «Doktor Börner bitte, des Prinzips wegen». 

Sein Lieblingsthema: «Die Krise des staatsmonopolistischen Kapitalismus in der Zeit der wissenschaftlich-technischen Revolution am Beispiel der industriellen Entwicklung in der Türkei.» Das war sein Dissertationsthema. Keine Stunde verging ohne Hinweise auf letzte Erkenntnisse über Asien und die Welt. «Bei uns gibt es keinen staatsmonopolistischen Kapitalismus, weil wir ein sozialistisches Land sind.» So einfache, schöne Sätze konnte er sagen. «Gibt es Fragen?» Und wenn es Fragen gab, nahm er ein großes Lineal und schlug an die Tafel, auf Punkt zwei oder drei: «Nachdenken», sagte er. «Was steht hier? Lesen Sie vor, laut und deutlich.» Oder: «Das behandeln wir in der nächsten Stunde.» Oder: «Das gehört nicht hierher.» Oder: «Sehen Sie West?»

Nein, zynisch war er nicht, hinterhältig auch nicht. Er sagte es gleich: «Das muß ich dem Direktor melden, das wird Folgen haben!» Er schrieb viel, seitenlange Unterrichtsvorbereitungen brachte er mit und las sie vor. Die Tafel füllte er jede Stunde mit seiner schwungvollen Schrift. Dann stand er vor uns, von oben bis unten voller Kreide — später erst trug er einen Kittel —, weiß, rot, grün, rosa, je nachdem, welche Farbe er verwendet hatte, welche Unterscheidungen ihm wichtig waren. «Wir leben in einer sozialistischen Gesellschaft. Die Arbeiterklasse ist bei uns die führende Klasse, sie hat die Macht im Staat. Das prägen wir uns bis zur nächsten Stunde ein, vielleicht schreiben wir eine Arbeit.» Und Arbeiten schrieb er gern, ohne Ankündigung, ganz plötzlich wollte er unser Wissen prüfen: «Eins, zwei, eins, zwei», teilte er die Reihen ein. Die Fragen diktierte er leise, fast geheimnisvoll. 

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Seine Zensuren hatten immer noch ein Zeichen neben der Zahl, meist ein Minus: «3-» oder «4waren bevorzugte Noten im System seiner Bewertung. «Wissenschaftlich», sagte er, «wissenschaftlich und parteilich, das ist wichtig. Wir leben im Zeitalter gewaltiger Veränderungen. So ist es, ja, so ist es,» 

Und wer da nicht vor Ehrfurcht erstarrte, sondern aus dem Fenster sah oder wissen wollte, warum einige Bücher nicht gedruckt werden, konnte etwas erleben. In der Pause wurde dann gelacht und getuschelt, zu Hause wurden die Gedichte von Reiner Kunze mit vier Durchschlägen abgeschrieben, an den Wänden Reproduktionen von George Grosz und Picasso ... Börner, Doktor Börner ... Und jetzt in Uniform in der 3. Kompanie ... Der eine heißt Manfred Karausche, der andere Weidauer, die Stiefel fehlen noch, die bekommen wir gerade im Erdgeschoß, zwei matte Glühbirnen brennen ...

Als ob das alles nicht ganz egal wäre. Als ob das alles nicht schon auf verödeten Schlachtfeldern gelegen hätte, in verlassenen Schützengräben, in den wirren, trockneten Panzerspuren staubiger Truppenübungsplätze. Als ob das alles nicht längst so sehr zum Weinen oder Lachen wäre, daß kein Ton mehr kommt aus dem jeweiligen Mund, keine Träne aus meinen und de Augen...

Jetzt drängt es sich auf, macht sich wichtig, will bestimmen. Johanngeorgenstadt, dieser Luftkurort an der Grenze zur Tschechoslowakei, dieser Ort von vielen. Wie heißt der nächste Brennpunkt, wer hat Nachricht gehört? Gibt es einen neuen Angriff irgendwo? Oder wurde bereits ein Freundschaftsvertrag geschlossen? Im Fernsehen fahren vielleicht schon wieder befreundete oder verfeindete Panzer ... Wurde die jeweilige Hauptstadt schon erreicht? Gibt es Verluste? Oder erst einmal einen Waffenstillstand, der nicht eingehalten wird? Verhandlungen? Wieder Krieg? Wieder Frieden?

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Wie wenig diese Worte sagen. Wie sinnlos diese Gedanken sind. Wie weit weg das alles ist, wie albern, wie unwichtig. Gut, ich bin selbst dabei. Aber es stimmt nicht, daß es dann ganz anders ist. Es geht alles nach Plan und Vorschrift: Grüßen, Uniform anziehen, antreten. Ein Apparat beginnt zu funktionieren, zu fordern. Es wird noch etwas dauern, bis ich alle Signale verstehe, alle Weisungen gleich kapiere. Ich gehöre dazu und funktioniere. Der freche Frager, der aufsässige Schüler, der Literaturliebhaber macht das hier mit. Ohne viel Widerrede. Betten beziehen, Spind einräumen, leise meckern, fluchen, strammstehen, Stiefel empfangen, an zu Hause denken, an Eva, «Politunterricht» wird es geben, so was wie Staatsbürgerkunde, Kapitalismus, Revanchismus, Kommunismus ... Das ist alles nahe und fern, wie Trainingsanzüge, wie Zigarettenasche, wie verwüstete Neubauten, wie fahrende Güterzüge ...

Und die Erzählungen vom letzten Krieg, von Rußland, von Sowjetrußland, von der Sowjetunion, wie die wenigsten sagten, die in dieses Land einmarschiert waren im Jahre 41, vom Schützengraben, vom Schützenloch, in dem einer Wache geschoben hatte, den wir in der «Scharfen Ecke» trafen, als wir vom Sport kamen und eine Limonade trinken wollten. «Hört mal zu», sagte er, «das müßt ihr euch für später merken: Ich habe immer meine Zehen bewegt in den Stiefeln, immer bewegt, kleine kreisförmige Bewegungen, da sind sie nicht erfroren wie bei den anderen ... immer bewegt, auch im Stand, ohne Pause ... in den Pausen und wenn man müde wird, da passiert es ... lieber nicht schlafen, immer bewegen ...»

Daran denke ich jetzt. In eine Mühle bin ich geraten, innen und außen... Was hat der Lange Karl erzählt? 

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War das eine Napalmübung? Er hat gesehen, wie einer einen Spritzer abbekam auf die Haut, auf die Hand. Der schrie und zappelte, obwohl es ein Manöver war. Das Zeug fraß sich ins Fleisch, er wurde weggebracht. «Das kann vorkommen», sagte der Lange Karl. «Ein Panzerspähwagen ist umgekippt, sechs Tote. Das kann vorkommen», sagte der Lange Karl. «Das sind Unfälle, da braucht man keinen Krieg dazu, das kann vorkommen. Wer Glück hat, wird ausgemustert. Aber da muß man großes Glück haben. Die setzen dich auch mit Krücken auf einen Schonplatz, lassen dich nicht nach Hause», sagte der Lange Karl. Ob das wirklich stimmt? Hat er vielleicht gesponnen, wenn er auf Urlaub kam und sich betrank? Am Anfang stolzierte er mit seinen weiten Hosen herum und fand alles «große Klasse». Aber dann kamen diese Geschichten ... Ob mir das auch blüht? Napalm, das gibt es im Vietnamkrieg, aber nicht hier ... und wenn doch?

Ich will nicht an solche Sachen denken. Ich habe Stiefel, ein Paar neue Stiefel. Sie passen gut ...

Jetzt soll ich das Bett beziehen. Ich will dieses Bett nicht beziehen. Im Koffer liegt ein kleines schwarzes Buch: Johannes Bobrowski, «Wetterzeichen». Jetzt nehme ich es heraus. Ich habe es mitgenommen, habe gedacht: Ein Lieblingsbuch muß genügen. Jetzt schlage ich es auf:

«Mit den Flößen hinab
im helleren Grau des fremden
Ufers, einem
Glanz, der zurücktritt, dem Grau
schräger Flächen, aus Spiegeln
beschoß uns das Licht.»

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Ich bin hier, bin achtzehn Jahre, Facharbeiter der Deutschen Reichsbahn, Abiturient, bin hier, soll ein Bett beziehen, einen Spind einräumen, einen Holzschrank mit zwei Türen und Fächern füllen. Der Ehrendienst hat begonnen, 3. Kompanie 3. Zug. Das werde ich hier keinem sagen: Ich schreibe Gedichte. Und wenn es so ist, was sagt das schon. Alle haben schon Gedichte geschrieben, Manfred Karausche, Kannengießer, Weidauer, Wildgrube, Strobel, Linke, «einmal weht der Südwind wieder», das ist auch ein Gedicht, sogar ein erfolgreiches, das im Radio kommt. Im Heft auf dem Tisch im eigenen Zimmer, ich räumte es weg, als ich zum Friseur ging und den Koffer mitnahm, da stand:

«Schwarzes bläht sich.
Zeit der Zäune.»

So ein Heft kann ich nicht mitnehmen, auf keinen Fall, «was soll das bedeuten»? Aber dieses kleine, gedruckte Buch aus dem Union-Verlag habe ich mitgenommen. Ist das peinlich? Gedichte an dieser Stelle? Und das Geständnis, selber welche zu schreiben? Ja, peinlich. Und unpassend, sehr unpassend. Und kann nichts ändern, nichts aufhalten. Pack dein Buch lieber weg, gleich kommt ein Pfiff oder ein Unterfeldwebel, dann wird es Schwierigkeiten geben.

«Es lag des Täufers Haupt
auf der zerrissenen Schläfe,
in das verschnittene Haar
eine Hand mit bläulichen, losen
Nägeln gekrallt...
der Strom
war ein Regen und flog
mit den Reihern, Blätter
fielen und füllten sein Bett.»

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«Was machst du denn, das geht nicht, räum erst mal deine Sachen weg. Zieh die Uniform an. Wir sollen Halbschuhe anziehen. Lesen kannst du später.»

«Niemand
umschritt das Lager. Niemand
löschte die Spiegel. Niemand
wird uns wecken
zu unserer Zeit.»

«Ich wollte nur etwas nachsehen», sage ich, «hast du deine Unterwäsche anbehalten?»

«Was denn sonst», sagt er, «draußen noch den Pullover drunter. Hast du schon Schulterstücke angemacht? Wart mal, ich zeig's dir.»
Er hilft mir.
Er kennt sich aus.
Sein Bett sieht unwirklich aus, als seien die Bezüge aus festem Material, aus Holz oder Stein, angemalt, eine Attrappe. Exakt und vorschriftsmäßig hat er den Stoff bearbeitet mit seinen großen Arbeiterhänden und geflucht dabei.
«Elende Scheiße», sagt er und fädelt meine Schulterstücke in die eingestanzten Löcher der Uniformjacke.
«Danke, Manfred», sage ich und zerre unter meinem Kleiderbündel die Bettwäsche vor.
Weidauer kommt ins Zimmer, sieht sich um, spricht mich an:
«Etwas Beeilung könnte nicht schaden, Fuchs. Dienstuniform anziehen, Spind einräumen, Bett beziehen. Ich bringe noch Papier für die Schrankfächer. Na, Karausche, Bettenbau haben Sie wohl gelernt?»

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«Jawoll, Genosse Unterfeldwebel.»
Er nimmt Haltung an. Seine Beflissenheit wirkt übertrieben. Aber in seinen geröteten, dunklen Augen läßt sich weder Witz noch Ironie entdecken.
«Auf alle Fälle Hosenträger verwenden», rät Weidauer.
Ich stehe in Dienstuniform, auf Strümpfen, vor ihm. Jetzt muß das Bett bezogen werden, Decke, Laken, Kopfkissen ... wie geht das ...
«Bezug umdrehen, dann die Zipfel festhalten, die Decke nicht loslassen, auch an den Zipfeln halten, dann Bezug nach unten ziehen, fertig. Eine Minute.»
Ich nicke. Karausche gibt mir gute Ratschläge. Fuchs und Karausche beim Militär. Ich ziehe, zerre, streiche glatt, verrücke die Matratzen, die Falten bleiben. Weidauer hängt eine Abbildung an die Wand, einen «Musterspind».
«So muß das aussehen. Hier sind Reißzwecken. Legen Sie die Fächer mit Papier aus. Und das geht zügig.»
Weidauer legt eine große Schere auf den Tisch und verläßt wieder das Zimmer. Er gibt solche Anweisungen im Ton nicht bissig, eher leicht spöttisch und etwas genervt. Zwei Jahre hat er schon hinter sich, erfahre ich später, ein spritziger Unteroffizier ist er nicht.
Wir messen ab, falten, schneiden, ganz genau, überprüfen, schneiden weiter, messen ab, ganz genau. Aber warum verbiegen sich alle Reißzwecken? Karausche schwitzt. Er drückt mit seinen großen schwieligen Händen wie besessen auf die Köpfe der Zwecken, benutzt die Schere als Hammer. Ohne Erfolg. Sie verbiegen sich. Gleich kommt Weidauer. Das kann doch nicht sein.
«Die Reißzwecken», sage ich, «verbiegen sich, Genosse Unterfeldwebel.»

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Weidauer grinst, hält eine Leimtube hoch.
«Keine Ahnung, was? Das ist Hartholz. Leimen, aber schnell.»
«Danke», sage ich. Erleichtert, nicht unterwürfig, «danke, ich beeile mich.»
Als Weidauer gegangen ist, beginnt Karausche zu fluchen:
«Hartholz, diese Schweine, Hartholz.»
Hat Weidauer Spaß gemacht? War das ein Witz? Der Witz besteht vielleicht darin, daß wir nicht über ihn lachen. Ernst, mit Schweißperlen auf der Stirn, räumen und kleben wir, schielen zur Tür, versuchen die Geräusche auf dem Flur und unten auf der Lagerstraße zu deuten. Karausche flucht und findet meist einen Weg. Ich stehe wie ein Schüler daneben, bedanke mich auf Strümpfen und in Dienstuniform bei Unterfeldwebel Weidauer für eine Tube Leim, versuche irgendwie klarzukommen. Wir sind keine Schwejks, wir funktionieren. Ängstlich und fluchend, mit einem banalen, bitteren, lächerlichen Ernst.

«Wie spät?»
Ich sehe auf die Uhr.
«Halb neun.»
Die Uhr durfte ich behalten. Von einem aus meiner Parallelklasse, der in Mylau an die Burgmauer schrieb: «Es lebe Dubcek» und dafür ins Gefängnis kam und von der Schule flog, erfuhr ich, daß er bei der Einlieferung in die Zelle seine Uhr abgeben mußte. «Wenn deine Stunde schlägt, wirst du es schon merken», hätten sie zu ihm gesagt. Ist Gefängnis schwerer als Armee? Hier sagen sie «Genosse Soldat» und reden vom «Ehrendienst». Armee ist freiwilliger, ich muß mich freiwillig unterwerfen. Was ist schwerer? 

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Ich habe das Gefühl, wie ein Gefangener behandelt zu werden. In einigen Monaten sollen wir aber als Bewacher mit Gewehren an der Grenze stehen. Sollen uns selbst bewachen ...

Der Spind ist eingeräumt, das Bett gemacht. «Gebaut» muß ich besser sagen. Einiges fehlt noch an «Ausrüstung». Ein zweites Paar Stiefel sollen wir bekommen, das Marschgepäck, die Gasmaske, die Schutzplane ... Karausche ist informiert. Auch aus der Abbildung an der Wand, die Weidauer hingehängt hat, aus dem «Musterspind», läßt sich entnehmen, was noch fehlt.

Aber so genau sehe ich gar nicht hin. Auf die Uhr habe ich wieder gesehen. Kurz nach neun. Eine Trillerpfeife gellt im Flur, die Türen sind aus dünnem Holz:
«Raustreten!»
Ich sehe Karausche an, er zupft an seiner Uniform, zieht seine schwarzen Halbschuhe an.
«Was ist los?» frage ich.
«Raustreten, auf den Flur.»
Er reißt die Tür auf, es ist eilig, ich gehe hinterher, bemerke auf halbem Weg, daß ich noch immer in Strümpfen bin. Karausche schließt die Tür, ich stehe auf dem Flur. Der Gang ist voller Menschen, voller Uniformen, voller Soldaten.
«Raustreten heißt stillgestanden!» ruft eine Stimme. «Der erste Strich ist die Linie, auf die Fliesen achten!»
Vor jeder Tür stehen vier bis sechs junge Männer, wie soll ich sie nennen, ich habe sie kaum angesehen, nur ein Blick: viele in meiner Lage ... Ich sehe zu Boden, auf die quadratischen, glänzenden Steinfliesen, rücke etwas vor, mit dem großen Zeh an die «Linie».
«Was ist denn los dahinten?» ruft es. «Schuhe anziehen, aber plötzlich!»
Ich weiß nicht, wer gemeint ist.

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«Na los, Schuhe anziehen, schlafen Sie?» mahnt die Stimme lauter. Karausche stößt mich an. Ich bin gemeint. Ich springe ins Zimmer zurück, ziehe meine Halbschuhe an, raus auf den Flur. Karausche schließt die Tür, ohne mich anzusehen. Er steht steif da, das Kinn leicht nach vorn geschoben.
«Ruhe!» ruft die Stimme.
Ganz in meiner Nähe sind noch andere. Sie stehen still wie ich. Sind unsicher und in Angst wie ich. Das kann ich fühlen. Jeder für sich allein. Die Schuhspitzen berühren die «Linie». Jetzt habe ich Schuhe an. Es sind noch andere hier.
«Rechts beziehungsweise links ... um!» ruft die Stimme. «Ohne Tritt! Marsch!»
Der Zug setzt sich in Bewegung. Viele Schuhe setzen sich in Bewegung. Solche wie ich. Ich weiß nicht wer, aber viele Schuhe, viele laute Schritte im langen, niedrigen Flur. Hier wohnten in den fünfziger Jahren Wismut-Kumpels, erzählte einer im Zug.
Vor der Kompanie stehen wir im Regen.
«Antreten! Stillgestanden! Rechts ... um! Im Laufschritt! Marsch!»
Wir rennen los. Es geht hinauf ins Stabsgebäude, das weiß ich schon. Wir rennen los. Wir. Nicht nur ich.

 

Im Gebäude müssen wir warten. Warum und worauf, wird nicht gesagt. Das sagt die Stimme nicht, die von vorhin. Es gibt Vermutungen. Die einen wollen wissen, daß Paßbilder für den «Dienstausweis» gemacht werden, die anderen erwarten eine ärztliche Untersuchung. Wir sprechen kaum, aber es ist ein besonderes Gefühl, nach den Stunden der Vereinzelung und des Herumhetzens in einer größeren Gruppe zu sein: Jeder trägt die Uniform des «einfachen Soldaten», alle sind neu und stehen in angestrengter, dumpfer Erwartung in dieser Schlange.

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Und auch das spricht aus den Blicken, mit denen der Nebenmann gemustert wird: Anderen ergeht es auch so. Wie im Zug, wie in den Lkws, die uns ins Lager fuhren. Nur jetzt in der äußerlichen «Gleichschaltung», nach dem Einkleiden und dem ersten Umziehen.

Ja, manche lachen noch – oder schon wieder. Immer gibt es einen, den scheinbar nichts erschüttern kann, der immer noch einen Witz auf Lager hat. Aber wir anderen, lachen wir mit? Hin und wieder, ohne genau zu wissen, worüber. Ohne genaue Kenntnis, daß die eigenen Mundwinkel zucken, nach oben zeigen.
«Ausziehen, nur Turnhosen anbehalten.»
Also doch zur Untersuchung. Eine fast nackte Schlange rückt vor, durchquert einen Saal, da sind Sitzreihen, ein Rednerpult, eine schwarzrotgoldene Fahne mit Hammer, Zirkel und Ährenkranz. Wir sind bei der «Fahne». Auf der erhöhten Bühne stehen Bier- und Schnapsflaschen, säuberlich aufgereiht. Sie wurden offenbar beschlagnahmt. Aber zuerst sehe ich auf ihn: Neben den Flaschen, vor der Bühne, sehr gerade, vielleicht aus Gründen der allgemeinen Besichtigung dort postiert auf Befehl: ein junger Mann mit Gitarre und schulterlangen, blonden Haaren.

Da stehen wir in Turnhosen und mit militärisch gestutzten Köpfen diesem Menschen gegenüber. Und was jetzt? Vereinzeltes Lachen, einige halblaute Rufe, aber doch eher Stille, fast andächtig. Er weicht unseren Blicken nicht aus, er ist sicher. Er steht da, sieht sich diese Prozession an und wartet. Ein Unteroffizier ruft ihm zu:
«Wolln Se nich ein Kampflied singen, Se ham ja ne Klampfe dabei.»
Er antwortet nur:
«Nein.»
Einer aus der Schlange sagt leise: «Klammer aus Karl-Marx-Stadt, christlich, glaube ich.»

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Klammer trägt noch Zivil und wurde ausgesondert wie diese Schnapsflaschen. «Die Flasche mit den langen Zotteln zu den anderen Flaschen», wird einer gesagt haben unter dem Gelächter der mithörenden Dienstgrade. Also steht er vor dieser Bühne. Aber ganz so, wie es gedacht war, geht dieses Spiel wohl nicht. Klammer hält stand, und kein blökendes Gelächter schlägt auf ihn ein. Eher Scham und Solidarität kommt auf, ein Unbehagen an diesem Alle-gegen-einen. Und Klammer verachtet uns andere nicht, wie es aussieht. Also müssen wir uns nicht wehren auf dem Weg zur Untersuchung. Nackt und in der Schlange müssen wir nicht spöttisch sein und ihn «anpflaumen». Eher beneiden wir ihn, auch etwas Achtung und Bewunderung ist dabei.

Wie gut erinnere ich mich an die jahrelangen Kämpfe um die Länge der eigenen Haare. Jeder Millimeter war umkämpft! An der Alternative «Fasson-» oder «Rundschnitt», an den Haarspitzen über den Ohren zerbrachen Familien, Lehrverträge und Immatrikulationen. Friseur Richter von der Reichsstraße wurde vom Vater instruiert, ja keine «neuen Moden» einreißen zu lassen auf Wunsch des Sohnes, der noch zur Schule ging und einen «sauberen, gepflegten Haarschnitt zu tragen hat ...» Und Friseur Richter, zu dem auch Ärzte vom Krankenhaus kamen und sich einen ganz kurzen «Messerformschnitt» verpassen ließen, hielt sich an die Weisung des Erziehungsberechtigten. «Willst wohl aussehen wie ein Biedel?» wurde auf vogtländisch gefragt. «Aussehen wie die Beatles», das hieß oft: wie ein Gammler, ein Schwein, ein Asozialer, wie ein Westlicher. Jedes Wort wurde als Schimpfwort verwendet... Vieles prallte aufeinander. 

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Unsere Väter wuchsen auf in der Obhut von Feldwebeln und machtbesessenen Gefreiten, die ab und zu auf Feldbetten schliefen mit Blick auf die Massen. Ihr Schönheitsideal war männlich, anständig, ordentlich, truppenverwendungsfähig. Es tat seine Pflicht und vollbrachte in der Regel Übermenschliches mit letzter Kraft, strahlend und blond, die Hand am Koppel oder in Genitalnähe.

Auch unsere neuen sozialistischen Führer haben das Heroische im Blick. Das kann man auf Fotos und Gemälden sehen. Sie alle sind Vorsitzende und Generalsekretäre, Mannschaftskapitäne und Leistungsträger, Helden und gute Kameraden. Ihre Durchhaltegesichter mit den harten oder gutmütigen Mundwinkeln vertragen sich durchaus mit Feldstechern, Fußbällen, Rasiermessern, Raumkapseln und Panzerluken. Sie schwören den Eid und kommen ans Ziel. Sie haben ihren Willen und dienen treu.

Das kollidiert dann mit gewissen zwittrigen Wesen, die vor dem Fernseher hocken und «Beatclub» ansehen, die Jazz hören und die Hosen nicht bügeln. Bastarde sind das, Renegaten, Dissidenten und angloamerikanische Hippies, die auf Straßen herumlungern, laute Musik hören und mit vollbusigen Weibern wochenlang im Bett liegen, weil sie angeblich für den Frieden sind, den sie nicht mit Waffen verteidigen wollen aus Gründen der Feigheit. Da hört doch der Spaß auf ... Und das ist wahr: Da hörte der Spaß wirklich auf. Da wurde Ernst gemacht. Dieser alte, sture Ernst.

Klammer steht neben der Bühne, die Gitarre in der linken Hand, als wolle er gleich ein Lied singen, zu musizieren beginnen. Er lehnt sich nicht an, er wartet.
Die Untersuchung beginnt.
Immer zwei durch eine Tür. Auf Hockern sitzen Männer in weißen Kitteln:
«Dalli, dalli, Hosen runter, bücken, geradestehen, atmen, umdrehen, Beschwerden? Und ab.»

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Zwei Minuten
Anziehen, antreten, in Zweierreihen, im Laufschritt zurück.

 

Und Klammer? Ab heute werde ich Klammer gesehen haben, wie er an dieser Bühne neben den einkassierten Flaschen stand und herübersah. Klammer werde ich nicht so leicht vergessen können. Vielleicht werde ich nicht gern von dieser Begegnung erzählen, immerhin unterschied ich mich erheblich von ihm. Das könnte ärgerlich und kränkend sein, auch im nachhinein, zumindest ungeeignet für eine Armee-Story, bei der man lacht und sich zuprostet. Aber Klammer, wie er stehen muß vor Rednerpult und Fahne, als Gegenbild des Soldaten, eine Provokation, unmännlich, musisch, ohne Haß, ohne Angst, ein langhaariger Märtyrer aus Karl-Marx-Stadt mit Gitarre, dazu unsere befohlene, bereitstehende Turnhosenblöße und das Dalli-dalli-die-Hosen-runter, das werde ich nicht vergessen.

Ich stehe in der Schlange und gaffe ihn an. Bin froh, daß ich da nicht stehen muß. Und schäme mich, weil ich von Klammer an meine Verweigerungsabsichten erinnert werde, die ich aufgegeben habe trotz Lektüre von Böll und Borchert. An ihre Stelle sind kleine, schlaue Sätze getreten, die, für sich genommen, nicht falsch sind:
«Jetzt kann ich erleben, was wirklich los ist ... mit einer Waffe umgehen können, muß kein Fehler sein ... dann habe ich es hinter mir als einfacher Soldat, da muß ich nicht Befehlshaber spielen.» Solche Sätze.
       Was werden sie mit Klammer machen?

 

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Ich stehe in der Reihe. Kannengießer und Strobel habe ich nicht gesehen. Kannengießers Haare sind etwas kürzer als die von Klammer, sie liegen an, sind fettig, sind nicht blond. Kannengießer ist klein und eher unauffällig. Klammer fällt auf mit seiner Gitarre. Aber leicht wird es Kannengießer auch nicht haben in seiner 4. Kompanie ...

Kühl ist es, ich habe Gänsehaut. Wie sehe ich aus ohne Turnhemd? Meine Rippen ... im Freibad lachten sie und wollten Klavier spielen: «Lange nichts gegessen, was? Keinen Platz an der Sonne bekommen? Bist wohl ein Stubenhocker?» Daran muß ich jetzt denken. Keiner sieht mich an. Der vorhin im weißen Kittel sagte: "Hosen runter, dalli, dalli.» Andere Kittel standen dabei. Ärzte? Waren das wirklich Ärzte? Ärzte sind freundlicher. «Feldscher», dieses Wort kenne ich aus Kriegsbüchern, Feldscher paßt hier besser. Sanitäter amputieren Beine, Medizinstudenten schnippeln an blutigen Wunden herum. Oberstabsärzte mustern Felix Krull. Diese da sitzen auf Hockern und sehen durch mich hindurch.

Breite Schultern, große Hände ... so kam es mir vor. Ich, ich, ich. Was ist los, was tun sie? Mein Schwanz ist kurz ... schon das Wort macht Schwierigkeiten im inneren Sprechen. Penis sollte ich lieber sagen, Herr Biologielehrer Schiller, Penis oder Vagina. Und keine dreckigen Witze in der vorletzten Bank, wenn ich bitten darf. Oder gar nichts sagen, so wie zu Hause ... Tür zu, Licht aus ... Diese unpassenden, quälenden, verhemmten Gedanken kommen. Ich, ich, ich. Ich werde gesehen, von ihnen angesehen. Kannengießer und Strobel sind nicht da. Reichenbach liegt weit von hier. Auch Klammer, auch der langhaarige Held Klammer ist weit weg. Und Eva, meine lachende Freundin mit ihren offenen, braunen Haaren ... weit weg, eine Episode aus einer früheren, freundlicheren Welt, die untergegangen ist. Jetzt geht sie unter. Ich gehe unter, kippe weg, bücke

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mich, werde besichtigt. Die Mahlzeiten im Hause der Eltern, die ewigen Auseinandersetzungen, endgültig vorbei und außer Kraft. Bald werde ich andere Mahlzeiten erleben, welche an langen Tischen, welche mit Aufstehen und Setzen, welche mit Küchendienst und Sprechverbot; wenn das stimmt, was der Lange Karl erzählt hat.

Die Zukunft hat begonnen. Da steht noch immer Klammer an der Bühne, vor Rednerpult und Fahne. Reglos, blaß, ernst. Aber alles ist weit weg. Dorthin habe ich es geschoben. Es geschieht. Ich, ich, ich. Alles ist weit weg.

 

«Im Laufschritt! Marsch!»
In ein anderes Gebäude. Stiefelempfang.
«Schuhgröße?»
«Zweiundvierzig.»
Ein Paar Stiefel aus hartem, altem Leder bekomme ich, schon lange im Dienst wie die halbhohen Schnürschuhe. Ein paar Stiefel und halbhohe Schnürschuhe bekommen wir gereicht.
«Für den Innendienst», weiß Karausche, «ein Glück, daß wir noch die neuen polnischen haben mit angegossener Sohle.»
Die haben wir schon im Kompaniegebäude bekommen, im Erdgeschoß, vor der Untersuchung. Und jetzt diese ausgelatschte Museumsware ...
Einer weiß den Namen, vielleicht Weidauer oder Kompanieschreiber Fröhlich, der in einem Zimmer mit Unteroffizieren schläft und schon Gefreiter ist nach einem halben Jahr, auch ein «Vize», aber einer mit «Balken». Er führt Buch, streicht auf einer Liste herum. Einer weiß den Namen, vielleicht auch jemand von uns:
«Auschwitzer.»

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So werden die halbhohen Schnürschuhe im Lager genannt. Sie sind aus hartem, altem Leder wie das eine Paar Stiefel. «Auschwitzer» werden sie genannt.

Im Laufschritt zurück, Stiefel und Schuhe ablegen, antreten im Flur.

«Genossen Soldaten», sagt ein dünner Mann mit großer Schirmmütze, «ich bin der Hauptfeldwebel, der Spieß dieser Kompanie, mein Name ist Flörchinger. Es soll einen Schauspieler gleichen Namens geben, das bin ich nicht. Daß ich kein Schauspieler bin, sondern meine, was ich sage, das werden Sie noch mitbekommen. So. Sie haben die meisten Bekleidungs- und Ausrüstungsgegenstände erhalten. Was noch fehlt, kommt später. Das eine will ich gleich zu Anfang sagen: Stiefel- und Körperpflege bilden eine Einheit. Mit Blasen und blutigen Arschbacken läßt sich kein Krieg gewinnen. Dagegen hilft nur Sauberkeit und tägliche Pflege. Wir werden das kontrollieren. So. Unterfeldwebel, lassen Sie wegtreten.

«1. Zug, fertig machen zur Nachtruhe, wegtreten!»

 

 

Im Zimmer zieht sich Karausche schnell aus, nimmt Handtücher, Seife und Waschlappen.

«Was ist los?» frage ich.

«Na, du hast doch gehört: Fertigmachen zur Nachtruhe. Der Waschraum ist vorn an der Treppe.» 
Und weg ist er.
Ich ziehe die Uniform aus, beeile mich, will Karausche nach, finde die Handtücher nicht, haste den Gang hinunter, treffe andere nackte Oberkörper, ziehe mein Unterhemd aus, putze die Zähne, Karausche ist schon wieder auf dem Rückweg. Dort ist das Klo, pissen, in der Tür steht ein Unteroffizier:
«Beeilung!»

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Dort am Waschbecken, den kennst du doch! Das ist Biellau! Er hier! Zurück ins Zimmer, fertigmachen zur Nachtruhe. Jeder huscht am anderen vorbei. Biellau in diesem Waschraum. Sportfest der vogtländischen Oberschulen in Auerbach. Unterbringung in Privatquartieren. Ich wohnte bei Biellau und seiner Mutter. Sie lebten allein. Zweimal übernachten. Federballspielen am Abend, Muskelkater, weil ich neue Holzpantoffeln angezogen hatte, ich Idiot. Dabei wollte ich möglichst schnell 100 Meter laufen. Biellau und seine Mutter. Er hockte, wie es aussah, immer zu Hause, war ein guter Schüler, unsportlich, nahm nicht an diesen Wettkämpfen teil, wollte Arzt werden. Seine Mutter las mir seine Aufsätze vor, «Werner Holt und der Aufbau des Sozialismus», Inhalt 1, Ausdruck 1. «Ist das nicht gut?» fragte sie. «Ja, gut», sagte ich.

Am Waschbecken stand Biellau. Es wäre unter anderen Umständen selbstverständlich gewesen, hinzugehen und «Guten Tag» zu sagen. Ich sah ihn, er sah mich. Es war eher ein Erschrecken, eine Peinlichkeit. Jeder war außerhalb von sich selbst und wollte nicht gesehen werden.

Im Zimmer legt Karausche schon seine Unterwäsche zusammen, baut ein «Päckchen», faltet Zeitungen, im Schlafanzug, legt Papier zwischen Unterhose und Unterhemd.

«ND ist zu groß», sagt er. «Innen rein, dann gibt es keine Falten. Den Hocker so vors Bett stellen. Und der Spind muß in Ordnung sein. Wie auf der Abbildung. Ich weiß nicht, ob sie heute noch Stubendurchgang machen. Glaube nicht. Verflucht spät schon, elender Mist.»

Karausche richtet seine Uniform auf einen Holzbügel, hängt sie außen an den Schrank, legt eine weiße Kragenbinde ein.«

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Kragenbinde kontrollieren sie, die muß frisch gewaschen sein. Hast du Waschmittel mit? Ich ja, eine Tube, auch in kaltem Wasser verwendbar.» Er schließt die Schranktür, hängt ein Schloß ein, zieht den Schlüssel ab.
«Das muß sein. Sonst heißt es: Verführung zum Kameradendiebstahl.»
Ich nicke, sage:
«Aber ich habe kein Schloß.»
«Das gibt's bestimmt in der Kantine. Hier gibt's bestimmt eine Kantine. Die gibt's in jeder Kaserne. Geld hast du doch?»
«Ja.»
«Na also.»

Karausche weiß Bescheid. Er ist immer einen Schritt voraus: im Fluchen, im Strammstehen, im Päckchenbauen, im Auskennen. Ich mache ihm alles nach.

«Nachtruhe», ruft es im Flur. «Licht aus.»
Karausche steht ungeduldig am Lichtschalter:
«Na los, leg deine Unterwäsche zusammen. Morgen früh müssen wir die Stiefel putzen. Beeil dich, sie machen keinen Stubendurchgang, aber noch mal nachsehen werden sie. Ich muß das Licht ausmachen.»
«Wie spät?»
Karausche sieht auf die Uhr:
«Halb zwölf. Morgen um sechs ist Wecken.»
Er horcht an der Tür:
«Es kommt einer, ich mache das Licht aus.»
Ich rücke im Dunkeln meinen Hocker zurecht, ziehe den Schlafanzug an. Draußen im Flur laufen Stiefel. Es regnet immer noch. Die Lampe auf der Lagerstraße bewegt sich. Karausche liegt im Bett und starrt auf die Stahlmatratze über sich.
«Scheiße», sagt er.

«Hunger», sage ich und gehe zum Spind. «Hab noch Brot von zu Hause, willst du was?»
«Nein», sagt er, «an zu Hause darf ich gar nicht denken. Mein Jüngster heißt Michael. Er ist vier.» Karausche spricht verändert.
«Noch klein», sage ich und beginne hastig zu essen.
«Leg dich lieber hin», sagt Karausche, «meistens gehen sie noch mal durch.» Er hat wieder seinen offiziellen, dirigierenden Ton, der sich nicht entscheiden kann zwischen Angst und Befehl, zwischen Ratschlag und Forderung.
«Kindergarten», sage ich und lege mich hin.
«So ist das», sagt Karausche und dreht sich zur Wand: «Nacht.»
«Nacht», sage ich.
«Gleich von der Schule hierher?» fragt Karausche.
«Ja», sage ich, «nach dem Abitur.»
«Willst studieren?»
«Ja.»
«Was denn?»
«Psychologie.»
«Na dann. Hier kannst du studieren. Ich bin mehr praktisch ... Ruhig!» Karausche horcht. «Sie kommen. Hast du dein Brot gegessen?»
«Ja.»
Die Tür geht auf, das Licht an, Weidauer sieht herein, Licht aus, Tür zu.
«Na bitte», sagt Karausche, «keine Beanstandungen. Nicht nur sie kennen sich aus. Militärisch wissen andere auch Bescheid. Daß du das nicht falsch verstehst: Ich will denen nur zeigen, was los ist.»
«Verstehe», sage ich. Karausche dreht sich wieder zur Wand. Er atmet schwer.
Ich schlafe sofort ein. Wie ohnmächtig. Ohnmächtig, das ist das richtige Wort. Traumlos.

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