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  Fuchs-1984

 

 

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«Nach dem Waschen in Dienstuniform bei mir melden», sagt Weidauer am nächsten Morgen im Flur zu mir. Ich frage nicht, warum, sondern halte mich an das militärische Ritual, stehe kurz still, lege die Hände mit Handtuch und Waschbeutel an die Naht der Schlafanzughose und gebe bekannt, daß ich den Befehl verstanden habe und ihm Folge leisten werde:
«Jawoll, Genosse Unteroffizier, nach dem Waschen bei Ihnen melden!»
Über Weidauers verquollenes Frühgesicht kriecht ein Lächeln:
«In Dienstuniform, nicht im Schlafanzug.»
«Zu Befehl, Genosse Unterfeldwebel, in Dienstuniform!»

Ich renne mit nacktem Oberkörper zum Waschraum.

So war es richtig, so mußte es sein: Stillstehen, sich dem Vorgesetzten zuwenden, den Befehl sinngemäß und sachlich richtig wiederholen, dabei den Dienstgrad des Befehlsgebers erkennen und in der Anrede verwenden ... Was wird er von mir wollen? Zunächst ist die Befürchtung da, etwas falsch gemacht zu haben. Da das immer möglich ist, sich immer etwas finden läßt, ist das eine realistische Möglichkeit... Beeilen, schnell mit kaltem Wasser rasieren. Ein Blick in den Spiegel, da drüben steht Bauer und kratzt an seinen Bartstoppeln herum. Ich drehe mich um, nicke ihm zu, Biellau und Jugel kommen, ich haste ins Zimmer zurück, anziehen, Bett machen, Spind verschließen, sich vor der Tür der Unteroffiziere einfinden. Auf einem kleinen Schild neben der Zimmernummer steht: 
Ufw. Meinel 
Ufw. Weidauer 
Uffz. Pohl 
Uffz. Krause

Noch einmal das Käppi zurechtrücken und den Sitz des Koppels überprüfen, Atem holen, anklopfen. Eine Stimme quäkt von innen:
«Herein!»
Weidauer sitzt auf der Fensterbank, zwei andere liegen angezogen auf den Betten, ihre Stiefel lagern auf den Stahlstreben des Bettgestells. Die Fußsohlen weisen auf mich, pochen auf Distanz wie Hände, die zurückweisen. Ich nehme Haltung an, mache eine «Grußerweisung» und sage:
«Genosse Unterfeldwebel, ich sollte mich bei Ihnen melden.»
Weidauer winkt ab:
«Ganz falsch, noch mal!»

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Einer ruft vom Bett her in spitzem, bösem Ton:
«Raus!»

Ich bin verwirrt, will noch sagen «Aber Sie haben mich doch gerufen», befinde mich jedoch schon wieder vor der Tür dieser uniformierten kleinen Götter. Was ist los? Ach so, ich muß im Raum das Käppi abnehmen und darf nichts sagen, sondern muß warten, bis ich angesprochen werde. Jugel kommt mit Handtuch und Seife vorbei:
«Was ist?»
Ich zeige auf die Tür, er winkt ab, geht weiter.
Ich klopfe erneut.
«Hereinspaziert!»
Ich öffne die Tür, schließe sie, nehme das Käppi ab, stehe stramm, warte. Nach einer Weile sagt Weidauer:
«Schon besser. Nun, Genosse Soldat?»
«Genosse Unterfeldwebel, ich soll mich bei Ihnen melden.»
«So ist es. Ab sofort werden Sie dieses Zimmer reinigen, Feuer machen, kehren, wischen, bohnern, Fenster putzen, Staub wischen! Alles, was nötig ist! Tipptopp. Ist das klar?»
«Jawoll, Genosse Unterfeldwebel!»
«Anfangen!»
«Jetzt?» frage ich verdutzt.
«Wann denn sonst?» ruft es von einem Bett her.
«Draußen ist es kalt», fügt Weidauer hinzu, «also Feuer machen. Wissen Sie, wo Holz und Kohlen sind? Im Keller, wenn Sie runterkommen links! Da muß irgendwo eine Axt stehen. Ausführung!»
«Zu Befehl!»

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Ich setze mein Käppi auf, renne in den Keller. In einem Verschlag finde ich Holz, in einem anderen Kohlen. Kompanieschreiber Fröhlich und ein Soldat machen sich an Heizungsrohren zu schaffen. Als mich Fröhlich sieht, fragt er:
«Für die Unteroffiziere?»
Ich nicke.
Er winkt mich heran:
«Feueranzünder nicht vergessen, den gibt's da vorn.»

Unter der Treppe finde ich einen Papiersack, in dem sich kleinere Packungen Feueranzünder befinden. Jetzt kommen noch andere Soldaten und halten Ausschau nach Holz und Kohlen. Auf der Treppe treffe ich Karausche mit einem Eimer und sage ihm, was ich ab heute tun muß. Er nickt:

«Einteilung der Dienste, ganz klar. Andere müssen Waschraum und Flur machen. Jeder hat sein Revier. Ich hole Kohlen. Feuer machen ist sinnlos, gibt bloß Sauerei mit der Asche. Habe dein Bett noch geradegezogen ...»

Ich bedanke mich und frage:
«Machst du den Fußboden?»
«Ist schon erledigt. Muß einen Abschnitt im Flur sauberhalten. Heute nur kehren.»
Weg ist er.

Vor dem Zimmer der Unteroffiziere bleibe ich stehen, weiß nicht, ob ich klopfen muß, ob Grußerweisung gefordert ist ... Immerhin bin ich beschäftigt mit Reinigungsarbeiten, habe im Zimmer der Unteroffiziere zu tun ... Außerdem bin ich ziemlich bepackt, ich müßte mich verrenken ... Ich klopfe, warte auf das «Herein», öffne die Tür und deute ein Strammstehen an.

Weidauer grinst, die anderen sind weg.
«Schon gut, legen Sie das Zeug ab. Sofort Feuer machen!»
Er reibt sich die Hände. «So eine Kälte. Große Holz-

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stücke mit? Nein? Noch mal gehen! Erst Feueranzünder und Späne, dann paar große Holzscheite hinterher. Die machen schnell die Bude warm und brennen lange. Die anderen sollen Kohlen nehmen, das Holz ist für uns. Achten Sie darauf. Wenn Sie einen erwischen, bei mir melden! Die Kohlen nur zum Nachlegen. Holz holen!»

Ich hole Holz, finde auch große Stücke, feuere an, kehre dann die Stube, rutsche auf Knien vor den Betten herum, um die Scheuerleisten an der Wand zu erreichen. Weidauer verläßt das Zimmer, dreht sich an der Tür um:
«Machen Sie das ordentlich, Fuchs!»

In seinem Blick liegt etwas Ganovenhaftes, leicht Wohlwollendes. Ihm scheint nicht unrecht zu sein, daß ich dieses Zimmer säubere. Wählte er mich aus? Als ich vorhin die anderen beiden mit Stiefeln auf den Betten liegen sah und üben mußte, wie man das Zimmer eines Vorgesetzten betritt, hatte ich das Gefühl, nur schikaniert und erniedrigt zu werden. Aber das war das übliche Spiel. Jeder hat sein Revier. Weidauer wird an mich gedacht haben in Erinnerung eines Trainingsanzugs ...

Das Holz brennt, es wird warm.
Im Flur befiehlt ein Pfiff «Raustreten zum Frühstück!»
Ich muß noch Besteck und Trinkbecher aus dem Spind holen.
Karausche steht abmarschbereit im Flur an der «Linie».

Mein Bett sieht vorbildlich aus, keine Falte. Manfred Karausche hat es geglättet. Danke, Manfred Karausche! Auf der Lagerstraße fällt mir ein, daß heute der Frühsport ausfiel. Es regnet. Die Wolken liegen fast auf den Dächern der flachen Häuser. Große Pfützen haben sich gebildet. Zwei Soldaten aus dem 1. Zug werden zurückgeschickt, weil sie nach Meinung eines Unteroffiziers ungeputzte Stiefel haben. 

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Wir warten. Ein kalter schwerer Regen fällt. Das Wetter kann den Frühsport verhindern. Ein Winter kann eine Armee aufhalten. Die Natur kann sich bemerkbar machen. Bald wird es schneien.

«Im Gleichschritt! Marsch! Links, links, links zwo, drei, vier.»

Durchnäßt sitzen wir im Essenraum und löffeln die heiße, süße Grießsuppe. Sie schmeckt. Als die Tischdienste abräumen wollen, postiert sich vorn am Ausgabeschalter Stabsfeldwebel Flörchinger, der Spieß:
«Mal herhören!»

Er spricht alle im Raum an, auch die erste und zweite Kompanie.

«Kleine Einlage in Sachen Post!» Breitbeinig steht er da mit seinen enganliegenden Offiziersstiefeln, den «Ohrenhosen», seinem spitzen Gesicht und der oben kreisrund und straff gespannten Schirmmütze, die wie ein grüngefärbter Heiligenschein aussieht, wenn man ein wenig sarkastische Phantasie aufbringt nach dem Genuß dieser enormen Grießsuppe. «Ich ziehe mal wie in der Ziehung der Lottozahlen was heraus.»

Ich strecke mich und kann sehen, wie er in einen Stapel Karten und Briefe faßt mit seinen langen dünnen Fingern.

«Hier zum Beispiel», er hält einen mit roten Herzchen bemalten Umschlag hoch, «das ist zwar Liebe, aber nicht gestattet. Neutrale Umschläge ohne Gemälde, wenn ich bitten darf. Anschrift und als Absender ...» er zieht einen anderen Brief hervor, «nur Name, Postleitzahl, Ort und Postfach! Postfach! Nicht <Ausbildungslager>, <Grenztruppe> oder ähnliches. Da können Sie auch gleich die Namen der Ausbilder dazuschreiben und eine Lageskizze der Gebäude ans Nato-Hauptquartier schicken! Das ist verboten!»

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Alle lachen.

«Ist das klar, Dröske? Und ...» er hebt noch einmal den bemalten Liebesbrief hoch, «Stiefelbauer?»
Grölendes Lachen, einige fallen fast unter die Tische.
Flörchinger genießt seine Vorstellung.

«Und noch was zu den Postkarten. Die kann ja nun jeder Briefträger lesen. Wenn dann steht», er hält eine Karte weit von sich, entziffert, «<hoffentlich komme ich bald hier raus. Urlaub nicht in Sicht>, tja, da kann ich nur sagen: Vorsicht. Sonst müssen wir den Militärstaatsanwalt einschalten. Das ist ganz hart an der Grenze. Und was den Urlaub angeht: Sie sind erst paar Stunden hier, nicht übertreiben! Manche haben schon drei, vier Monate gewartet und noch länger. Ihr seid nicht zur Kur hier! Wir kontrollieren, was in den Zivilbereich rausgeht. Denken Sie daran ...» Er sucht im Postkartenstapel. «So was liest man dann schon lieber: <Liebe Mausi, das Essen ist gut. Sei mir treu, einmal sehen wir uns wieder. Vergiß Deinen Putzi nich.> ... Unterschrift ... Ach, das lasse ich lieber, Postgeheimnis!»

Wieder dröhnendes Lachen.

Briefe und Karten werden kontrolliert und vorgelesen in Mannschaftsspeiseräumen, Flörchinger demonstriert, daß auch Intimes beäugt und verwendet wird je nach Anlaß und Laune ... und? Lachen, Geblöke, das sich ausschüttet über den Postsünder, über den mit den roten Ohren und den zitternden Händen am Nachbartisch.

«Stiefelbauer!»
Einige wiederholen diesen Namen und erzeugen neue Lachsalven.
«Stiefelbauer!»
Flörchinger winkt ab:

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«Ruhe jetzt! Ein letztes Wort: Wer gegen die Vorschriften verstößt, wird bestraft. Der sieht dann seine Mausi entsprechend lange nicht und kann sie später am Arm eines anderen bewundern. Und wer dumme Bemerkungen über das Lager macht, über Vorgesetzte, oder Informationen weitergibt», seine Stimme wird leise und fast freundlich, «der wird verhaftet, das ist ganz einfach, der bekommt ein Verfahren. So, wegtreten! Unteroffizier, lassen Sie ausrücken!»

Känguruhn brüllt:
«Tischdienste, abräumen! Die anderen ausrücken, draußen antreten ohne einen Mucks!»
Im Hinausgehen sehe ich, wie Flörchinger die Briefe- und Kartenbündel in seiner Aktentasche verstaut.
Ob er auch meinen Brief an Eva gelesen hat?

Etwas Taubes, Sprachloses ist in mir. Schnell den Löffel unter den Hahn halten, hier gibt es heißes Wasser. Und dann raus, draußen antreten. «Wenn er ihn gelesen hat, na und», sage ich mir, «stand ja nichts drin.» Und doch weiß ich, daß wieder eine Brücke zerstört wurde, unter diesen Umständen die letzte. Auch dem Briefpapier kann ich mich also nicht anvertrauen, nicht einmal andeutungsweise. Die können aus allem etwas machen. Ich habe keine Möglichkeit, andere, die draußen leben, wissen zu lassen, was hier geschieht.  
In der Marschreihe frage ich Jugel: 
«Ob sie alles lesen?»
Er zuckt mit den Schultern, schüttelt den Kopf.
«Glaube ich nicht. Aber in den sogenannten Briefkasten kann man nichts reinstecken, das ist klar. Höchstens Weihnachtskarten, <Alles Gute, Deine Frieda>. Später, wenn welche rausgehen, kann man vielleicht was mitgeben. Die sollen es im Ort einstecken.»

Jugel hat wieder seine schmalen Augen.

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«Die ankommende Post werden sie auch kontrollieren», sage ich.
«Stichproben ... und wenn sie einen auf dem Kieker haben ... man kann eben nichts schreiben. Wie im Knast.»

Wir marschieren am Stabsgebäude vorbei, keine Kommandos sind zu hören. Zu hören sind unsere Stiefel, die durch Pfützen stapfen, und der Regen, der nicht nachgelassen hat. Känguruhn läßt uns allein marschieren, er hat eine Abkürzung genommen. Es ist kurz nach sieben.

Im Flur werde ich von Weidauer angesprochen, soll noch Holz aus dem Keller holen, dicke Scheite. «Organisieren», das war sein Wort. Also suche ich in den Ecken herum und finde tatsächlich eine Kiste, in der ist, was Weidauer haben will. An anderen Stellen sind die Vorräte schon geschrumpft. Als ich das Brennholz nach oben trage, treffe ich Oberleutnant Patsch, unseren Kompaniechef. Er fragt: «Was machen Sie denn?» Ich sage es ihm. Er schüttelt den Kopf, spitzt seine runden, großen Lippen und geht weiter. Ich lade das Holz im Zimmer der Unteroffiziere ab, die sich anderswo aufhalten. Vielleicht im Clubraum, Kaffee trinken ... In «unserem» Zimmer putzt Karausche Stiefel. Wir sprechen kaum. Was kommt als nächstes, wie wird der heutige Vormittag aussehen? Diese Frage ist nicht zu beantworten. Auf dem Dienstplan, der im Flur hängt, steht, mit Schreibmaschine fein säuberlich untereinander getippt:

6 Uhr          Wecken
6.10–6.30  Frühsport
6.30–6.45  Morgentoilette
6.45–7.20  Frühstück
7.30–7.45  Morgenappell
7.45–12.00  Ausbildung

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Gestern wäre auch ab 22 Uhr Nachtruhe gewesen, da schälten wir Kartoffeln bis nach Mitternacht. Und das Raustreten auf den Flur, ist das der Morgenappell? In den zurückliegenden Tagen schien das so zu sein. Oder hat der Tagesablauf noch gar nicht richtig begonnen?

Die Uniform ist feucht vom kurzen Marsch zum Essenraum. Ich frage Karausche, der Kohlen, Feueranzünder und etwas Holz geholt hat, warum er kein Feuer machte. Er antwortet unwillig, das habe er schon gesagt, «wegen der Asche, es gibt nur mehr Arbeit und Minuspunkte beim Stubendurchgang. Die Uniform wird schon trocken, nur etwas Bewegung ... Bei dem Wetter machen sie bestimmt keine Ausbildung im Freien. Außerdem haben wir noch nicht alle Sachen erhalten.» Ich frage, was noch fehlt. «Der Schnuppersack, die <Truppenschutzmaske>, die fehlt noch. Und der <Jumbo>.» Ich frage nach, was das ist. «Schutzbekleidung. Soll helfen gegen Strahlung und chemische Waffen. Ich habe da zwar meine Zweifel, aber das gehört zum Marschgepäck. Müssen wir alles mitschleppen. Und anziehen, wenn der Befehl kommt. Hoffentlich sind die Planen einigermaßen intakt. Wenn die ' Druckknöpfe versaut sind, brichst du dir die Finger.»

Ich höre ihm zu, weiß aber nicht recht, wovon er redet. Was Karausche sagt, beruhigt mich nicht. Er kommt mir wie ein Ausbilder vor, der aus irgendwelchen Gründen unter den Lehrlingen gelandet ist. Meine innere Unruhe bleibt, das Auf-dem-Sprung-Sein. Immer kann etwas geschehen. Als heute morgen Wecken war, wollte ich mich waschen und dann kurz bei Jugel reinsehen. Das kann nicht verboten sein, hatte ich kurz vor dem Einschlafen gedacht. Die Zimmer der anderen Soldaten muß man doch ohne Erlaubnis der Vorgesetzten und ohne den Zirkus der «Grußerweisung» betreten dürfen. Ich wollte «Guten Morgen» sagen und sehen, wie es Jugel hat. 

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Er erzählte mir, daß sie zu viert wären, andere zu sechst. Nur Karausche und ich sind zu zweit. Warum wohl? Weil ich später gekommen bin? Oder will man uns beide isolieren? Oder soll Karausche ein Auge auf mich werfen? Diese Fragen kann ich nicht beantworten. Bei Jugel wollte ich reinsehen, einfach so. Und was war? Weidauer hält mich an und teilt mir eine Neuigkeit mit: Ich muß das Zimmer der Unteroffiziere reinigen und Feuer machen. Ständig sind Überraschungen möglich. Eigene Pläne scheitern. Wie und woran soll ich mich orientieren? Karausche weiß vieles, ist aber auch auf die «Befehlsausgabe» angewiesen. Und er ist kein Freund. Ihn nervt meine Ahnungslosigkeit. Und er spürt wohl auch meinen heimlichen, hilflosen Widerstand gegen diese Lagerwelt. Er ist auch nicht gern hier, er wird an seine Familie denken und daran, daß er bei der Kampfgruppe mitgemacht hat, weil er um die Armee herumkommen wollte. Jetzt ist er doch hier und muß sich mit achtzehnjährigen Abiturienten und «jungschen» Unteroffizieren abgeben, die vom Leben keine Ahnung haben, von der täglichen Maloche in der Fabrik und den Sorgen eines Familienvaters. Sein Protest scheint zu sein: alles besser zu wissen. Jedem zu zeigen, daß er schon kann, was er hier lernen soll. Ich ahne, was in Karausche vorgeht, aber er ist mir nicht nahe.

Reinigen, putzen, Betten glattziehen, marschieren, essen, warten, daraus bestehen weite Teile des Tages. Vieles ist neu, es hat gerade erst begonnen, aber das Wiederholende, Langweilige, Zähe des Alltags läßt sich bereits spüren. Das Gefühl, kontrolliert, reglementiert, verfolgt zu werden, ist sehr stark. Auch eine diffuse, wenn Vorgesetzte auftauchen, konkret werdende Angst ist da. Ich reagiere nach wie vor mit Horchen, Aufmerksamsein, mit genauer Beobachtung der Lage. 

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Auch kann ich miterleben, wie prompt, wie still und äußerlich willig ich Befehle ausführe. «Holz holen!» Ich renne in den Keller. «Im Gleichschritt! Marsch!» Ich marschiere los, die Beine tanzen nicht aus der Reihe. Kaum bin ich im Zimmer und sehe Karausche hantieren, überlege ich mir, was ich tun kann, tun muß, um die «Ordnung» herzustellen. Damit es keine «Folgen», keine «Anschisse» gibt. 

Ich bin willig. Bauer und Jugel mucken hin und wieder auf. Wenn man in ihre Gesichter sieht, kann man wenig Gehorsam entdecken. Da ist eher Spott und Wut und ein gequältes Mitmachen, garniert mit Bemerkungen und Mundwinkelsignalen. Bauer geht mitunter direkt auf Kollisionskurs, stiernackig, bäurisch, kurz vor dem Jähzornanfall. Biellau fürchtet um sein Leben, er rennt mit seinen kurzen Beinen hinter der Kompanie her und will Schritt halten. Erkältet, fiebrig, kurzatmig. Beim Essen vorneweg, gierig mit den Augen. Er scheint auch den Clown zu machen auf seiner Stube, Dominiak lacht und stöhnt immer, er fühlt sich offenbar verantwortlich und blamiert. Solche wie Biellau können mit einem Schluckauf umkippen und weg sein, ganz weg. «Hatte was mit dem Herzen», heißt es dann, «wurde zu spät erkannt.» 'J Solche kleinen klugen Muttersöhnchen mit Abitur sind am schlimmsten dran in solchen Schleiferlagern. Auf seiner Stube ist noch ein anderer, nicht viel größer als er, ich weiß seinen Namen nicht. Hat rotbraune Haare und Sommersprossen. Lacht immer, ist Maurer und war bei der «Freiwilligen Feuerwehr» in seinem Dorf. Das hat er gleich am ersten Tag, als wir herumstanden vor dem Stabsgebäude, erzählt. «Habe schon ganz andere Brände gelöscht», hat er lachend gesagt und eine Handbewegung gemacht: rechte Hand führt Glas zum Mund. Der läuft eben, so schnell er kann, macht Pausen, hetzt nicht herum beim Frühsport, hat keine Angst in den Augen.

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Seine kräftigen Hände verschwinden häufig in den Hosentaschen. Das ist eine Angewohnheit, so wird er auch auf dem Bau herumgestanden haben bei Wind und Nieselregen, zwischen Bierflaschen, Ziegelsteinen und in Zeitungspapier eingewickelten Frühstücksbroten. Er ist anders als Biellau, er leidet weniger. Biellau wird ein Buch von Thomas Mann gelesen haben und Orgelmusik lieben. Sein Bruder hat das studiert. Auf den Zeugnissen stehen nur gute Zensuren. In den Aufsätzen hat er geschrieben, was die Lehrer hören wollten, was der Lehrplan vorschrieb, was der letzte Parteitag vorgab. Nicht dumm, nicht platt wird er seine «ganz persönliche Meinung» geschrieben haben. Und nach der Abiturfeier, nach Bekanntgabe der Prädikate, nach Empfang seiner Zeugnismappe und dem Buchgeschenk mit Widmung, Stempel und Unterschrift des Direktors für «sehr gute» oder gar «ausgezeichnete Leistungen», wird seine Mutter gesagt haben: «Siehst du, es war doch richtig, daß du in die FDJ gegangen bist. Alles andere bringt nichts ein in diesem Staat.» Das wird sie leise und glücklich zu ihm gesagt haben in der Küche. Aber seine guten Zensuren nützen ihm hier gar nichts. Und das steht auch in seinen Augen: Was ist denn los? Ich habe doch alles gemacht... Das könnt ihr doch nicht mit mir machen, ich war doch ein guter Schüler, im Gesamtverhalten und Staatsbürgerkunde hatte ich eine Eins ... habe mir nichts zuschulden kommen lassen ... bei Klassenfahrten habe ich mich immer in der Nähe des Lehrers aufgehalten und habe nicht mitgelärmt abends in der Jugendherberge ... was ist denn los ... Das galt plötzlich nicht mehr soviel wie vorher. Auf schnelle Beine kam es an, auf Armmuskeln, auf Bettenbau und Gleichschritt. Und nach den Blicken im Waschraum zu urteilen: auf Bartwuchs, auf einen langen Schwanz, auf Brustbehaarung, auf das Foto einer

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hübschen Freundin mit möglichst großem Busen ... Auch seine Vorimmatrikulation für das Medizinstudium in Berlin beeindruckte hier kaum einen. «Was denn, der will Arzt werden ... na, da kann ich ja nicht mal meine Schwiegermutter mit gutem Gewissen hinschicken», solche Reden eher. 

Biellau hat eine schwache Gesundheit, er ist klein und oft erkältet. Wenn er niest, tränen seine Augen. Außerdem spricht er eine Mischung aus Hochdeutsch und starkem vogtländischem Akzent, eine sehr melodische Singsang-Abart des Sächsischen, die den meisten Unteroffizieren hier fremd ist. Bartlos, x-beinig, mit nach vorn gekämmten Haaren, nein, das kann nicht gutgehen. Wenn er läuft, kreiseln die Stiefel an seinen Füßen, als wollten sie sich selbständig machen. Nicht einmal sie gehorchen ihm. Nicht einmal sie hat er «im Griff». Das Aufstehen fällt ihm schwer, er möchte wahrscheinlich diese Welt gar nicht sehen und weit weg sein. Dominiak mit seinem Randberliner Mundwerk wird ihn immer anstoßen nach dem Morgenpfiff und dann mit schnellen Schritten und kopfschüttelndem Gekicher losgehen und die Tür offenlassen zum Flur, auf dem die Unteroffiziere auf und ab gehen. Solche wie Biellau kann keiner leiden. Aber sie werden gebraucht. Man sieht sie an und fühlt sich gleich besser: so mickrig, so unmöglich ist man selber zum Glück nicht. So braucht einer den anderen. Das ist die Psychologie des Kasernenhofes, ein Teil von ihr. Jeder reagiert auf Dressur und Druck auf seine Art. Ich bin folgsam und beobachte das Geschehen, halte innerlich Distanz und komme mir so nicht ganz und gar feige vor. Ich sammle Material, ohne zu wissen, wofür. Wofür ich Brennholz sammle, «organisiere», das kann ich sagen: für Weidauer und drei andere Unteroffiziere, die es warm haben wollen in ihrer Stube. Die nicht frieren wollen, wenn sie mit den Stiefeln auf

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den Betten liegen und «raus» brüllen. Ich habe noch etwas vor. Was, weiß ich nicht. Ich sehe hin, registriere, mucke nicht auf, bin nicht wie Klammer. Was hat Klammer erreicht? Zum Gespött hat er sich gemacht, zum Opfer. Nein, das ist nicht alles. Das ist nicht alles, was Klammer erreicht hat. Und ich weiß es. Nicht jeder ist wie Klammer. Es gibt auch Arschkriecher. Vorn an der Treppe, neben Biellaus Zimmer, liegt Sprill oder Priel aus Zschopau, Karausche kennt ihn. Mittelgroß, dunkelblond, mit drahtigen, gewellten Scheitelhaaren, die aussehen wie vom Friseur mit Zangen unter der Haube geformt. Gestern abend, kurz vor dem Raustreten zum Kartoffelschälen, war ich noch einmal kurz auf der Toilette. Da hörte ich, wie Sprill oder Priel aus Zschopau zu Weidauer sagte: «Genösse Unterfeldwebel, die Treppe sieht schon wieder so schweinisch aus, müßte die nicht noch einmal gewischt werden? Ich würde das machen, Genosse Unterfeldwebel.» Weidauer hat nur irgendwas geknurrt, ich war schon an der Waschraumtür, konnte seine Antwort nicht genau hören.

Auch das gibt es: völlige Unterwerfung, Anbiedern. Und, wohlgemerkt, keine Spur Ironie war dabei, keine wohldosierte Übertreibung angesichts einer wirklich sauber gewischten, gerade gekehrten und überdies gebohnerten Steintreppe. Warum machte Sprill oder Priel so etwas? Weidauer ist auf sein Angebot nicht eingegangen. Er hat ihn stehenlassen.

Die Trillerpfeife. Raustreten. Der Morgenappell findet im Flur statt. Weidauer kündigt einen Stubendurchgang mit Spindbesichtigung in unserer Abwesenheit an. Aus diesem Grund sollen wir die Schrankschlösser nur einhängen und nicht verschließen.

Dann werden wir in ein Nebengebäude geführt, in ausgebaute, gutbeleuchtete Kellerräume. In Regalen ist militärisches Gerät verstaut.

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Zuerst drückt man uns eine zusammengeschnürte Rolle in die Hand, einen Schutzumhang, einen «Jumbo», eine «Nato-Plane», wie sie Karausche nennt. «Wird am Marschgepäck befestigt», weiß er.

Einige Unteroffiziere stehen herum, auch Pohl und Krause, die mit in Weidauers Zimmer wohnen. Pohl ist achtzehn oder neunzehn, stämmig, mit breiten Backenknochen. Ein großes Kind, das nicht weiß, wohin mit seiner Kraft und den neuen Schulterstücken des Unteroffiziers.

Jetzt winkt er den 3. Zug zu einem hölzernen Wandschrank, öffnet ihn, Kartons mit Gasmasken, mit «Trup-penschutzmasken», abgekürzt «TSM», werden sichtbar. Der Reihe nach müssen wir vortreten und erhalten eine Maske, bestehend aus hellgrauem Gummizeug und zwei großen, runden, eingesetzten Glasaugen. Etwas Glitschiges, Totes, Fischiges geht von dieser «Schutzbekleidung» aus. Meine ist innen feucht, in der von Jugel klebt etwas wie Mehl, wie Puder.

Pohl sagt:
«Die ersten vier aufsetzen, mal sehen, ob die passen. Es gibt verschiedene Größen. Unten, wo der Schlauch rankommt, zuhalten, dann atmen. Wenn das geht, ist sie zu groß. Wenn nicht, paßt sie. Also los!»

Wir ziehen ungeübt und mit verkniffenem Ekel den «Schnuppersack» über unsere Köpfe. Pohl begutachtet den Sitz der Masken mit Interesse. Durch die runden Augengläser sehe ich, wie er auf mich zutritt und die Atemöffnung verschließt. Die Luft wird knapp, ich beginne zu zappeln und sehe verschwommen, hinter dem angelaufenen Glas der Sichtscheiben, Pohls lachendes Gesicht. Ich zerre an seiner Hand, er läßt los. 

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Ich reiße das widerliche «Atemschutzmittel», Bauer sagt «Gummiware», herunter und kann miterleben, wie auch andere auf die gleiche Weise getestet werden.

Pohls vergnügtes Jungmännergesicht werde ich wohl nicht so leicht vergessen, als mir die Luft ausging unter der muffigen, verklebten Gummihaut. Auch andere läßt er zappeln. Er denkt sich offenbar nichts dabei. Es ist ein Scherz, eine kleine Zeitverzögerung. Ein notwendiger Test: «Die Maske muß sitzen, oder wollen Sie bei Kampfgas verrecken?» Diesen Satz sagt er ab und zu. Er stimmt schon, dieser Satz. Und doch erklärt er nicht das kurze Aufleuchten in Pohls Gesicht, wenn er anderen die Luft abdreht. Dieses Zuhalten war wohl auch an ihm ausprobiert worden. Jetzt darf er zuhalten, jetzt ist er der «Uffz.», und die anderen hecheln nach Luft.

Bauers Maske ist zu groß. Pohl hantiert mit beiden Händen. Bauer, oder besser das, was von Bauer zu sehen ist, also Bauers kahler, großäugiger Gummischädel, dreht sich hin und her. Sein Zeigefinger tippt an die Stelle, wo seine Stirn vermutet werden darf. Bauer bekommt gut Luft. Pohl zieht ihm schließlich die Maske ärgerlich vom Kopf und sucht eine andere, kleinere.

Bauer verbeugt sich:
«Dankeschön, Genosse Unteroffizier!»
Pohl grinst und verzichtet auf eine erneute Kontrolle. Er wendet sich den nächsten Anproben zu.
«Wunderbar», sagt Bauer und besieht sich die neue Maske. Er zieht ein Taschentuch hervor und reibt an den Scheiben der neuen Errungenschaft herum.

Nach dem Anprobieren erhalten wir noch Tragetaschen und Filter, die sich mit einem Luftschlauch am Gummiteil der Maske verschrauben lassen. Pohl befiehlt, alle Utensilien in der Tasche zu verstauen und den zusammengerollten Umhang mitzunehmen.

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«In Zweierreihen antreten, zurück zum Kompaniegebäude!»
«Jetzt kann uns nichts mehr passieren», sagt Jugel, «jetzt kann der Krieg beginnen. Den ersten haben wir verloren und den zweiten, da werden wir auch den dritten gewinnen.»
Bauer und ich lachen. Jugel fügt hinzu:
«Rumscheuchen werden sie uns, bis wir schwarz werden mit diesen Scheißfrommsern!»

Bauer winkt ab:
«Es gibt Tricks, weiß ich von meinem Bruder. Dann bekommt man Luft.»
«Hoffentlich», sagt Jugel.
Auf der Lagerstraße holt uns Weidauer zurück.
«Die Hälfte vergessen!»
Aus Kartons erhalten wir noch «Schutzstrümpfe», «Schutzhandschuhe» und «Entgiftungspäckchen». Einige fragen, wozu das gut sein soll.
«Erst mal mitnehmen, alles andere später», ist die Antwort.
Bepackt traben wir in die Stuben zurück.
Im Flur ruft Bauer halblaut:
«Gas... Gas!»

In den Unterkünften müssen wir die Schutzplanen ausrollen, die Schutzstrümpfe und Schutzhandschuhe klein zusammenfalten und in die Planen einwickeln. Das klappt nicht gleich. Wir hocken im Flur, rollen, falten, schnüren, verschließen und öffnen erneut alle Knöpfe und Bänder, beginnen von vorn ... Karausche hilft mir. Ich habe das Gefühl, den Verstand zu verlieren. Die «Schutzausrüstung» kommt mir wie meine eigene Zwangsjacke vor ...

Pohl kommt angelaufen mit der Trillerpfeife:

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«In voller Ausrüstung, mit Sturmgepäck und Schutzkleidung, auch Truppenschutzmaske und Stahlhelm, hier auf dem Flur antreten! Marsch, marsch!»

Wir zerren die Sachen vom Schrank, treten an, rennen auf die Straße und werden auf ein kleines Wiesenstück hinter dem Kompaniegebäude geführt. Das böse, nervende Kapitel der «Schutzausbildung» beginnt. Der Lange Karl berichtete davon. Wir hörten ihm zu und verstanden kein Wort. Jetzt sollten wir es begreifen. Weidauer gibt Schneeschuhstöcke aus, das sollen die Maschinenpistolen sein.

«Gas!» schreit Pohl. «Gas!» Seine Augen leuchten wieder. Er führt die Aufsicht, hat nur ein Koppel umgebunden, hat keine Schutzausrüstung dabei. Ihn betrifft der feindliche Angriff mit chemischen Waffen nicht.

Wir setzen die Gasmasken auf und zerren wie wild an den Schutzplanen herum. Es gibt ein großes Durcheinander. Ich kann kaum etwas sehen, die Scheiben beschlagen sofort...

«Masken ab! Hersehen!»

Pohl und Weidauer winken Karausche zu sich.

«Genösse Karausche, Sie haben ja Erfahrung, machen Sie das den jungen Genossen mal vor! Aber schön langsam ... Sonst verschlucken die ihre Schnuppersäcke noch...»

Pohl lacht, hält die Hand vor den Mund, kichert weiter. Karausche beginnt sofort mit der Vorführung. Mit ernstem Gesicht, die Stirn gerunzelt, halb wütend, halb erfreut, rollt er seine Schutzplane zusammen, setzt den Stahlhelm auf, steckt die Maske in die Tragetasche, nimmt den Schneeschuhstock und nimmt Haltung an.

«Können wir?» fragt Weidauer.

Karausche nickt, die Lippen zusammengepreßt, die Kinnspitze leicht erhoben.

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Pohl kommandiert:
«Befehl gilt nur für Soldat Karausche! Soldat Karausche: Gaaas!»

Karausche legt den Schneeschuhstock ab, öffnet den Stahlhelm, reißt ihn vom Kopf, er rollt auf die Wiese, zerrt die Maske aus der Tragetasche und zieht sie sich über.

Weidauer beschreibt laut, was Karausche macht:

«Stahlhelm auf, Sturmgepäck vom Rücken nehmen, Splinte aus den Ösen des Umhangs ziehen und Plane entrollen ... Jawoll, so ist es richtig. Zusehen! Nachher muß es jeder können! Die Kapuze kommt über den Stahlhelm und wird unter dem Kinn zusammengebunden. Die Plane hängt jetzt als Mantel, als Umhang um den Schultern. Toller Nerz, was? Besonders zu empfehlen bei radioaktiver Verseuchung ... Dann die Schutzstrümpfe, die lange Haltegurte haben, überstreifen, über die Stiefel ziehen. Gurte am Koppel einhängen ... Das vergessen manche ... Dann verlieren sie beim Rennen den ganzen Kram, sehr unangenehm ... Jawoll, Karausche, so ist es richtig. Jetzt die Arme durch die Ärmel des Umhangs nach außen stecken und den Umhang bis zum Bauch zuknöpfen ... Das ist schon das neue Material, Druckknöpfe. Manche werden noch welche mit Schlaufen haben. Die sind manchmal sogar praktischer. Wenn die Druckknöpfe neu sind und klemmen, kann man sich den Daumen ausrenken...»

Weidauer sieht zu Pohl, sie zwinkern sich zu:
«Hast du mir das nicht erzählt? In der Ausbildungskompanie letztes Frühjahr? Zur Abschlußübung hat einer die Druckknöpfe nicht zugebracht. Drückt und drückt... Knacks, Daumen ausgekugelt. Beide!»

Wir lachen. Karausche, der wahrscheinlich nicht hört, was Weidauer erzählt, lockert gerade seine Maske und reibt an den Gläsern herum.

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«Ausgekugelt. Hat wie wild geschrien. Saniwagen, Krankenhaus. Das kann vorkommen ... aber wie ich euch einschätze, wird wohl keiner solchen Einsatz zeigen», beendet Weidauer seine Story. «Na, Karausche, wie weit sind wir denn ... Gut, sehr gut! Den hinteren Teil des Umhangs zwischen den Beinen durch am Saum fassen, keine schweinischen Gedanken, auf den Urlaub warten, da könnt ihr's machen ...»

Wir lachen wieder.

Bauer ist noch bei dem geschilderten Unfall: «Was hat er gesagt? Ausbildungskompanie? Das waren die Scheiß-pfeffis! Das kann ich mir denken! Drücken und drücken, aus Dienstgeilheit, aus Schiß, und dann passiert es! Geschieht dem Knaben recht...» kommentiert er halblaut.

«Den Zipfel nach vorn ziehen, die Knopflochschlaufe, dieses Ding da, jawoll, am Koppel befestigen! Da ergeben sich zwei Dreiecke, die werden innen eingeknöpft, damit alles fest sitzt. Was noch herunterhängt, nein, das meine ich nicht, das andere meine ich, die Plane ... was noch herunterhängt, um die Beine wickeln, um die eigenen, und zuknöpfen! Dann die Arme durch die Ärmel wieder nach innen ziehen, die Schutzhandschuhe anziehen. Nicht woanders herumfummeln! Verstanden, Karausche? Soldat Karausche macht so was nicht, ich weiß. Was so ein Familienvater ist ...» Weidauer zwinkert mit den Augen, ruft:
«Genosse Karausche, verstehen Sie was?»

Karausche nickt und gibt irgendwelche Laute von sich. Seine Arme wühlen sich ins Freie und fingern nach der Maschinenpistole, nach dem Schneeschuhstock.

«Sehr richtig! Die Waffe nicht vergessen! Sie ist das Wichtigste ...» Weidauer wendet sich an uns: «So, meine Herren, jetzt wollen wir mal. Planen einrollen, Helme auf, Tragetaschen verschließen, antreten!»

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Wir üben das Anlegen der Schutzausrüstung. Ich verfitze mich in den Gurten und Schnüren, weiß nicht, welche Zipfel ich wodurch ziehen muß. Und stehe dann doch da, eingemummelt und nach Luft ringend, mit Schneeschuhstock und Truppenschutzmaske ...

Durch die angelaufenen Scheiben sehe ich fast nichts, höre aber Rufe, wir sollen wohl die Masken absetzen.

Es ist jemand gekommen.
Pohl und Weidauer stehen stramm.
Ein dünner, mittelgroßer Offizier ist gekommen mit «Ohrenhosen» und einer Tragetasche, da ist wohl auch eine «TSM» verstaut. Wer ist das?
«Zu Befehl, jawoll!» höre ich die Unteroffiziere rufen. Jetzt rennen sie zum Eingang des Kompaniegebäudes.
Der Offizier mustert uns, er hat eine Schirmmütze auf.
«Nun, Genossen? Klappt es schon einigermaßen? Aller Anfang ist schwer ... Ich bin Oberleutnant Patsch, Ihr Kompaniechef.»

«Aha», höre ich Bauer hinter mir sagen. Jemand kichert, vielleicht weil er den Namen «Patsch» hörte. Auch ich muß mir das Lachen verbeißen. Patsch hat ein breites Gesicht und sehr große, gleichmäßige Zähne, ein Pferdegebiß. Ein wenig erinnert er an Fernandel, den Fernsehhelden, den gutwilligen französischen Priester ...

Weidauer und Pohl kommen angerannt mit Stahlhelm, Marschgepäck und Gasmaske. Sie nehmen wieder Haltung an. Oberleutnant Patsch erläßt ihnen das Ergreifen der Schneeschuhstöcke, aber mitüben müssen sie jetzt.

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«Genossen Soldaten», ruft er, «Schutzausrüstung ablegen, Schutzplanen einrollen, Ausgangsstellung!»
Wieder beginnt das große Zerren und Rascheln, das Entkleiden und Verstauen, Patsch sieht zu. Als wir fertig sind und wieder in Reih und Glied stehen, befiehlt er mit Blick auf die beiden Unteroffiziere:

«Kompanie, Gas!»

Pohl und Weidauer zerren ihre Masken hervor, ich sehe noch, wie Patsch seine Schirmmütze abnimmt und auch eine «TSM» überstreift. Sie sieht anders aus als unsere, hat in der Mundgegend eine runde Apparatur. Als ich gerade die inzwischen schweißnasse Gummihaut über das Gesicht ziehen will, höre ich noch eine leicht quäkende, aber durchaus hörbare Stimme sagen:

«Genossen Soldaten, hier spricht der Kompaniechef. Achten Sie auf die Zeit. Im Gefecht zählt jede Sekunde ...»

Patsch kann also sprechen. Das runde Ding vor dem Mund ist eine Sprechvorrichtung. Das haben die Unteroffiziere nicht, sie haben solche «Schnuppersäcke» wie wir. Wir können nicht sprechen. Wir können nur dumpfe Laute erzeugen wie Karausche vorhin, ein hustendes Uhen oder heiseres, unverständliches Bellen. Wir tragen offenbar «einfache» Truppenmasken. Patsch kann reden, kann Befehle geben. Wir brauchen solchen Luxus nicht...

Wieder habe ich die Plane um die Schulter geworfen und um die Beine gewickelt. Halt... die Gummischuhe habe ich vergessen ... und die Bänder am Koppel einhängen ...

Ich sehe mich um. Das Atmen geht schwer, aber es geht. Ich bin nicht mehr so aufgeregt wie am Anfang. Ich sehe Patsch stehen, das, was von ihm zu sehen ist. Seine Schirmmütze liegt im Gras.

Ach so, die Waffe, den Schneeschuhstock muß ich noch in die Hand nehmen. Das Wichtigste ... Wie Rüssel hängen die Luftschläuche an uns herunter. Zweibeinige Elefanten sind wir. 

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Oder entsprechend aussehende Insekten, die noch dazu in Scharen auftreten. Die Befehle gibt Patsch durch seine besondere Maske. Er hat Pohl und Weidauer in die Unterkünfte gescheucht, sie müssen auch üben. Das wird ihnen nicht passen... Unser Kampf unter diesen Umhängen hat nichts mit Sprache zu tun. Wir haben nichts zu sagen. Wenn wir etwas sagen wollen, wird es ein unverständliches Husten oder Bellen, zuletzt geht einem die Luft aus. Man muß mit ihr haushalten unter einer Truppenschutzmaske. Nicht sprechen, nicht rufen, nicht erbrechen. Das könnte den Luftschlauch und den Filter verstopfen. Auch keine Gedichte aufsagen von Celan, Brecht oder Bobrowski...

Oberleutnant Patsch rudert mit den Armen. Er hat seine Sprechmaske abgenommen. Auch die Gesichter von Pohl und Weidauer sind wieder zu sehen. Biellau hustet. Er stampft dabei mit einem Fuß auf wie ein ungezogenes Kind. Er ist erschöpft, die Haare kleben an der Stirn. Wie ich aussehe, kann ich nicht sagen. Wir mußten nicht rennen. Patsch weist an, nur die Masken abzunehmen.

«Genossen Soldaten», sagt er, «das sind ihre ersten Erfahrungen mit der Schutzbekleidung. Schutzmaske und Umhang schützen Gesicht, Atemwege und Körper vor radioaktivem Staub ...» Er spricht zutraulich, beruhigend, auch werbend, wie ein Vertreter für Haarwuchsmittel und Büchsenöffner. «Aber nicht nur vor radioaktivem Staub, auch vor chemischen Kampfstoffen und biologischen Kampfmitteln schützt die Truppenschutzmaske und unsere Schutzbekleidung. Natürlich muß man sie richtig anziehen, keine Hautstellen unbedeckt lassen.» Aus der Innentasche der Uniformjacke zieht er eine zusammengefaltete Karteikarte. Er öffnet sie wie ein kostbares Buch. «Und noch etwas: Manche sagen <Gasmaske> anstatt <Schutzmaske>. 

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Es gibt neben Gas noch andere Sächelchen, wir sind nicht mehr im Ersten Weltkrieg! Haben Sie das verstanden? Fragen Sie ruhig. Ich beantworte Ihre Fragen, auch wenn wir uns nicht in den Schulungsräumen befinden, sondern auf dem Feld der Praxis...»

Die letzten Worte scheint er besonders gern gesagt zu haben. «Feld der Praxis», er macht eine kleine Pause, sieht auf die Karteikarte:
«Und jetzt noch einige Angaben, die Sie sich merken sollten: Ich teile Ihnen die Radien mit, außerhalb derer Soldaten bei Erddetonationen von Kernwaffen kampffähig bleiben. Haben Sie mich verstanden? Sie bitte da vorn, ja Sie ...» Er zeigt auf Bauer, der sich nach mir und Jugel umsieht.
«Ja, also, Sie sagten eben etwas von Waffen, von Kämpfen ... Ich nehme an, Atombomben ...» stottert Bauer.

Patsch setzt noch einmal an, er spricht laut und belehrend, dabei durchaus wohlwollend:

«Ich teile Ihnen die Ra-di-en mit, außerhalb derer Soldaten bei Erdde-to-nationen von Kernwaffen kampf-fä-hig, ich wiederhole, kämpf-fä-hig bleiben: in offenem Gelände 1600 Meter, in Gräben 1250 Meter, in Panzern 1100 Meter, in Unterständen 700 Meter, in Unterständen schweren Typs 550 Meter.»

Oberleutnant Patsch hebt den Kopf, sieht uns an und fährt dann heftig fort, ganz frei, keinen Blick wirft er auf die Karteikarte:
«Nicht vom Gegner einreden lassen, alle gehen hops in modernen Kriegen! I wo! Prägen Sie sich diese Meterangaben ein, jeder hat eine Chance! Das wurde wissenschaftlich errechnet. Ansonsten sofort in Deckung gehen, längs, nicht quer zur Druckwelle, Augen schließen und unbedeckte Körperstellen schützen. Nähe leicht brennbarer Stoffe meiden! Sehen Sie, Genossen Solda-

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ten, das sage ich immer gleich am Anfang: Sie haben eine Schutzausrüstung! Was glauben Sie, wie die Zivilisten im Ernstfall herumtanzen ... Wir können solche Situationen meistern! Keine Weinerlichkeit, keine pazifistische Stimmung bitte! Sonst gehen wir der psychologischen Kriegsführung des Gegners auf den Leim. Merken Sie sich das ...»

Oberleutnant Patsch rückt seine Schirmmütze zurecht.
«Genosse Unterfeldwebel, noch einige kleine Marschübungen, dann einrücken lassen.»
«Zu Befehl, Genosse Oberleutnant!» brüllt Weidauer.
«Kleine Marschübungen ...» höre ich Bauer stöhnen. «Auch das noch!»
Weidauer stellt sich in Positur, Patsch ist hinter dem Kompaniegebäude verschwunden.
«Achtung! Gas! Waffen aufnehmen! Marschordnung!»

Wieder ziehen wir die Masken über die Köpfe, nehmen die Schneeschuhstöcke in die Hand und tappen hinter Weidauer und Pohl her. Sie beschleunigen das Tempo. Nach einigen Schritten merke ich, wie die Luft knapp wird. Ich zerre am Luftschlauch und schiebe zwei Finger zwischen Kinn und Maskengummi. In der Brust hämmert es, vor den Augen drehen sich dunkle Kreise. Ich verschlucke mich, bohre mit den Fingern und bekomme Luft. Komische Geräusche höre ich. Wohin rennen wir denn? Am Zaun lang? Jetzt halten wir an, ich öffne den Stahlhelm und ziehe den verfluchten Schnuppersack vom Gesicht. Das ist ein Keuchen und Husten. Münder, aufgesperrt wie Schnäbel hungriger junger Vögel, saugen die Vormittagsluft ein. Auch Flüche sind zu hören. Dominiak setzt sich auf die Erde. Ein paar hundert Meter haben gereicht.

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Weidauer lacht.

«Na, na, nicht schlappmachen. Das üben wir noch. Dann kommt die Kondition. Reine Gewöhnungssache ...»

Da rennt einer weiter, hat die Maske noch auf, jetzt dreht er sich um, taumelt, sucht. Ist das Biellau? Er gibt Geräusche von sich, ein hustendes, dumpfes Bellen, jetzt wirft er den Stahlhelm weg, breitet die Arme aus, zerrt dann an der Maske, wieder sind Töne vernehmbar, es sind wohl doch Worte, nur unverständliche, abgedämpfte, abgewürgte. Das ist Biellau. Er reißt die Maske vom Kopf, öffnet den Mund, ist jetzt ganz still, bewegt nur die Lippen. Mit einer Hand hält er sich am Zaun fest.

Weidauer sieht zu ihm hin. Pohl ruft irgend etwas.

Nach einer kurzen Pause hält Pohl ein «Entgiftungspäckchen» hoch.

«Ja nicht verlieren», sagt er, «wir machen noch eine Unterweisung. In der Tragetasche lassen. Nur auf besonderen Befehl oder im Ernstfall entnehmen. Die Fläschchen haben verschiedene Farben. Wir sagen noch, wann was zu probieren ist. Keine Schnapsideen, nur dann, wenn's wirklich haarscharf kommt...»

Haarscharf? Bei Nervengas? Bei Vergiftungen? Sind das Schmerzmittel? «Entgiftungspäckchen», wie das klingt. Ans Abkratzen muß ich denken, ans Sterben, an den Tod. Nicht an irgendeinen, an meinen eigenen. Aber den kann ich mir nicht vorstellen. Dieses Päckchen und sein Inhalt bedeuten vielleicht den Unterschied zwischen Leben und Tod ... Ich rutsche in diese Begriffe, in diese Vergleiche. Das ist eine Kriegssprache, die nur ab und zu harmlos klingt. Das wuchert, nimmt überhand. Erst SchutzBekleidung, dann noch Herumrennen, «kleine Marschübungen», wie Patsch sagte, der sich verdünnisiert hat mit seiner sprechenden Maske.

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Biellau lehnt am Zaun, erbricht sich. Ist fertig. Ob ich hingehe? Es wird ihm peinlich sein. Dominiak steht neben ihm. Er kann ihn ins Zimmer bringen, sie wohnen ja zusammen...

Ich habe das Gefühl, diese glitschige Maske, den Zaun und das Lager schon lange zu kennen. Verlangsamte, alt werdende Augenblicke. Ich muß an ein Bild von Otto Dix denken, auf dem auch eine Gasmaske abgebildet war. In der 11. Klasse schrieben wir einen Aufsatz, eine Bildbeschreibung. Ich wählte eine Reproduktion von Otto Dix, schrieb mehrere Seiten gegen den Krieg, ehrlich empört, hinterher zählte ich die Wörter. Sechshundert werden es gewesen sein. Vier Stunden lag eine Schützengrabenlandschaft auf der Schulbank neben dem Federkästchen. Grauenvoller, kaum beschreibbarer Tod in Öl, auf Glanzpapier gedruckt und von Lehrer Werlich zur Bildbeschreibung angeboten. Auch «Mädchen am Strand» von einem DDR-Maler hätte ich nehmen können. Ich wollte aber dieses beschreiben, auf dem auch eine Gasmaske zu sehen war. Am Ende schrieb ich, daß Dix ein «bürgerlich-humanistischer Maler» ist. «Die pazifistische Tendenz seiner Bilder» müsse man heute «dialektisch betrachten». «Dialektisch» habe ich ganz sicher geschrieben und dafür eine Eins bekommen ...

Jetzt trage ich auch eine Gasmaske. Das kommt mir schon beinahe selbstverständlich vor. Alles wird gleich so mächtig, kommt so nahe, so dicht heran. Dann gehört es dazu, berührt die Haut, wickelt sich um die Beine. Ist schon Alltag am ersten, zweiten Tag. Bin ich denn verrückt? Träume ich? Wer auf einer Wiese bei Sonnenschein steht und einen Bombenangriff befürchtet, tickt vielleicht nicht ganz richtig. Hat Ängste, die einer Behandlung bedürfen unter Umständen. 

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Wir stehen auf einer Wiese und bereiten uns auf einen Atomkrieg vor. Jetzt rollen wir die Schutzplanen ein und befestigen sie am Marschgepäck. Biellau ist wieder etwas zu Atem gekommen, Karausche ist schon fertig. Er steht und wartet auf den nächsten Befehl, den Schneeschuhstock in der Hand.

«Einrücken! Skiausrüstung in den Keller. Verantwortlich Soldat Karausche!»

«Zu Befehl, Genosse Unteroffizier!» ruft Karausche zu Pohl hin, der jetzt allein das Kommando führt. Weidauer ist schon vorgegangen.

Im Kompaniegebäude kommt er schlurfend ins Zimmer, sieht so herein, bleibt an der Tür stehen.
Karausche ruft:
«Achtung!»
Weidauer winkt ab, wie er es häufig macht, fragt, ob wir die Masken schon gereinigt haben. Karausche brüllt:
«Jawoll, Genosse Unterfeldwebel, schon erledigt!»
Weidauer lächelt, sieht mich an und bewegt den Zeigefinger, macht das unmißverständliche Zeichen, das auch im Märchen vorkommt bei Hansel und Gretel.
Ich gehe ihm nach mit dem Käppi in der Hand ... Was ist denn nun schon wieder?
Karausche bleibt zurück, etwas unglücklich, wie es scheint, er weiß nicht, was los ist und was er tun soll...

Im gegenüberliegenden Zimmer findet die erste «Gruppenversammlung» statt. Die Stube ist belegt mit vier Soldaten. Ich kenne alle vom Sehen, auf dem Flur, beim «Raustreteniststillgestanden» haben wir uns beäugt.
Als Weidauer und ich ins Zimmer kommen, springen sie auf, ruft einer ruft vorschriftsmäßig «Achtung». 

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Es ist kein Hocker mehr da für den Gast aus dem anderen Zimmer, ich muß einen holen. Karausche ist weg. Als ich zurückkehre, verteilen wir uns zwischen Fenster und Tür. Weidauer schlägt vor, einen kleinen Kreis zu bilden: «Locker und kameradschaftlich», sagt er in seiner zweideutigen Art.

Wir tun, was er vorgeschlagen hat.
Ich rücke ein Stück von den Betten ab, um kein Laken zu berühren, keine Falte zu verursachen.
«Wie wir hier sitzen», sagt Weidauer, «das ist ab heute die 3. Gruppe des 3. Zuges der 3. Kompanie.»
Wir lachen.

«Dreimal die Drei.» Weidauer lacht mit. «Darauf gebe ich beim ersten Ausgang einen aus.» Er liegt mit beiden Ellenbogen auf dem Tisch, die Beine hat er weit von sich gestreckt und übereinandergeschlagen, «locker und kameradschaftlich», wie er es sieht.

Ich sehe mich im Zimmer um. Alles ist wie bei uns auch, die Holzschränke mit den Schlössern, oben das Marschgepäck und die Schutzausrüstung, die Stahlhelme, die glattgezogenen Betten mit dem blau-weißen Karomuster, die graue Tür...

«Drei fehlen noch, Moment», Weidauer zückt ein zerknautschtes Heftchen, in dem in großer, steiler Schrift Namen eingetragen sind, «die Soldaten Strempel, Jugel und Bauer gehören noch zu uns, haben Küchendienst... Also, was machen wir zuerst? Vorstellen am besten, jeder sagt seinen Namen, Beruf, Hobby, zum Kennenlernen ...»

Wir drucksen herum.

«Also fange ich mal an: Unterfeldwebel Weidauer, Gruppenführer. Ich komme hier aus der Gegend, in knapp einem Jahr gehe ich nach Hause ...» Er verzieht sein Gesicht. Das gibt eine Mischung aus Lachen und Grimasse. 

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Wann er nach Hause geht, das ist ihm wichtig. Dunkelrot ist er im Gesicht, um die Nase leuchten helle Flecken. Er sieht sich um:
«Na los, Fuchs, machen Sie mal weiter.»
Ich schlenkere verlegen mit den Armen, sage meinen Namen und daß ich bei der Reichsbahn gelernt habe, «Facharbeiter mit Abitur, zuletzt als Beifahrer tätig» ...
«Welches Hobby?» fragt Weidauer.
«Hobby? Na ... Lesen und Sport.»
Das Wort «Hobby» hasse ich. Meine Mutter sagte immer «Hobby», wenn sie andere auf meine Gedichte hinweisen wollte: «Und dann hat er noch ein kleines Hobby ...»
Aber das war kein «kleines Hobby». In dieser Runde davon anfangen, das geht nicht. «Lesen und Sport», das ist schon richtig.

Die anderen stellen sich vor.
Harald Glöckner, mittelgroß, mit einem älteren Männergesicht, 24 Jahre, von Beruf Techniker in einer Maschinenfabrik. Er spricht leise, unsicher. Sein Mund verzieht sich, als wolle er sich entschuldigen, als wolle er immerzu sagen: «War nicht so gemeint ...» Die Brille gehört zu ihm, ist nicht wegzudenken, ist in sein Gesicht eingewachsen. Einen Bügel hat er mit Pflaster verklebt. Weidauer fragt:
«Schlägerei gehabt?»
Glöckner schüttelt schuldbewußt den Kopf:
«Ist mir runtergefallen.»
Er kommt aus dem Süden, aus Zeulenroda.
Neben Glöckner sitzt aufrecht, beinahe imposant, Peter Schwabe aus Berlin.
«Ich komme aus Berlin, Hauptstadt der DDR», sagt er schmunzelnd und selbstbewußt. «Peter Schwabe mein Name.»

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Das dunkle Haar nach hinten gekämmt, es glänzt, gut sieht er aus mit seinem schmalen Gesicht. Von Beruf ist er Koch. Er nennt noch den Namen des Hotels, in dem er zuletzt gearbeitet hat. Wie er spricht, mit einem säuselnden, dunklen Unterton, akzentuiert, nicht aufdringlich, ein wenig zu leise, aber gut hörbar, das überrascht mich. Im Gang, beim Raustreten, hatte ich mehr auf seine staksigen X-Beine geachtet und die großen Füße, die immer an der «Linie» hin und her rutschten. Da wirkte er unsicher, beinahe täppisch. «Eine Bohnenstange», dachte ich. Jetzt, als ich ihn sprechen höre, kommt er mir wie ein anderer Mensch vor. Und dann noch Koch. Wie kann man Koch werden? Man kann, Schwabe ist Koch. Und schämt sich nicht, im Gegenteil. Von Schwabe geht etwas aus. Was, weiß ich noch nicht.

«Ach so, mein Hobby», er wirft einen Seitenblick auf Weidauer und dreht eine Schachtel «Club» zwischen den Fingern, «kann man rauchen?»

Weidauer nickt, greift selbst in die Hosentasche, läßt sich bereitwillig eine Zigarette anbieten.

«Mein Hobby», Schwabe bedient ein goldenes Feuerzeug und hält es zuerst Weidauer hin, «ich gehe gern gut essen, koche auch zu Hause, liebe meinen Beruf. Und Reisen ...»

Schwabe, so scheint es, kennt die Welt. Zumindest einen Teil von ihr. Ungarn, die Tschechoslowakei, Polen, da wird er überall gewesen sein. Wir anderen kommen uns ein wenig trottlig vor nach seinen Ausführungen.

«Noch jemand? Emmrich?»

Weidauer sieht Emmrich an, der die ganze Zeit auf dem Hocker hin und her gerutscht war. Er hat den anderen bestimmt nicht zugehört vor Aufregung.

«Ja, ich», er hebt die Hand wie ein ängstlicher Schüler, «ich bin dran.»

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Er gibt sich einen Ruck, sein rundes Gesicht mit den roten Pickeln himmelt Weidauer an:
«Landwirtschaft.»
Er massiert seine Handgelenke.
«Hobby?» fragt Weidauer.
Emmrich strahlt, als habe er ein Lob erhalten:
«Modelleisenbahn, große Anlage, viel Geld reingesteckt. Viel Arbeit und Fleiß. Mit meinem Vater zusammen, der ist Rentner, kann nur noch füttern. Eine große Anlage...»

Weidauer nickt. Emmrich sieht die anderen an, erwartet wohl Fragen, wie viele Lokomotiven und so weiter. Das hätte er jetzt alles gern gesagt, auch die Zahl der Weichen und Tunnel, welche Spur, alles hätte er jetzt gern gesagt... Aber keiner fragt.

«Und Ihr Vorname, Genosse Emmrich?» Weidauer läßt nicht locker, es sieht aus, als ob er sich aus irgendwelchen Gründen einen kleinen Spaß mit ihm machen will.

Als Emmrich seinen Namen hört, als er «Genosse Emmrich» hört, will er aufspringen, ist schon auf halber Höhe, setzt sich aber schnell wieder hin, läßt den,Kopf etwas hängen, dann sieht er wieder auf Weidauer und beginnt zu strahlen:
«Gerd, Genosse Unterfeldwebel.»
«Alter?»
«21, gerade geworden.»
«So, so», sagt Weidauer und zieht an seiner Zigarette.

Emmrich war öfters vor mir gelaufen in der Marschkolonne. Wenn man ihn von hinten sah, marschierte da ein großer, kräftiger Kerl, der sich bemühte, alles richtig zu machen. Wenn «links» oder «rechts schwenkt» kommandiert wurde, bog er zackig und überaus prompt in die befohlene Richtung. Er fiel nicht auf. Beim Essen

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sprach er kaum, er schmierte und kaute. Jugel beschimpfte ihn einmal, als wir im Laufschritt auf die Straße rennen sollten. Emmrich stürzte die schmale Treppe hinunter, nahm drei Stufen auf einmal, drängte Jugel ab und überholte ihn. «Idiot», hatte Jugel ihm nachgerufen, «Trampeltier.» Emmrich tat so, als habe er nichts gehört. Während des Marschierens rächte sich Jugel und trat ihm von hinten mehrfach auf die Absätze der Stiefel. Emmrich kam aus dem Tritt, ordnete sich sofort wieder ein und drehte sich nicht um. Er machte einfach weiter.

Jetzt sind wir also zusammen in einer Gruppe.

Daß Jugel und Bauer dazugehören, finde ich gut. Wer Strempel ist, weiß ich nicht. Vom Sehen ist er mir sicher bekannt.

Weidauer blättert in seinem Heft.

«Wir werden uns jetzt öfters treffen ... Unser Ziel ist es, ein vorbildliches Kampfkollektiv zu werden», er überlegt, «ja, also ... dann müssen noch persönliche Verpflichtungen geschrieben werden. Die muß jeder mit Hand schreiben und in seinen Spind hängen, an die Innentür, daß er das immer vor Augen hat. Inhalt gebe ich noch bekannt, es gibt Muster dafür ... Und dann: Zeitungsschau. Einer ist verantwortlich. <Neues Deutschland> lesen und das Wichtigste berichten. Wer macht das? Fuchs? Wie wäre das?»
Ich nicke.

«Ach nein», er blättert wieder in seinem Heft, «Moment, für Sie habe ich eine andere Aufgabe. Sie lesen ja gern ... ein Buch muß gelesen werden», er blättert wieder in seinem Heftchen, «ist von A. Bek, die <Wo-lo-ko ... ko-lam-sker Chaussee>, das können Sie übernehmen. Abschnitte vorlesen, kurze Zusammenfassungen, wir reden dann darüber. Einverstanden?»

Ich nicke.

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«Das Buch bekommen Sie von mir, es gibt genügend Exemplare. Gehört zur Pflichtlektüre eines Soldaten, mußten wir auch lesen auf der Unteroffiziersschule ... Und das mit den Zeitungen, na, wer kommt in Frage ... Glöckner!»

Glöckner zieht seinen Kopf zwischen die Schultern.

«Jawoll», sagt er und fragt nach, woher er die Zeitung nehmen soll.

«Wird jeden Morgen ausgeteilt. Ach so, das hätte ich fast vergessen: Jeder muß freiwillig mindestens eine Zeitung bestellen. <Neues Deutschland> oder <Freie Presse>, <Volksarmee>, <Armeerundschau>. Ist auch gut für das Päckchen ... schon gemerkt?»

Wir nicken.

«Aber deswegen nicht, sondern selbstverständlich wegen der Bewußtseinsbildung!» Weidauer hat wieder sein Ganovengesicht. Er ist keiner von den Überzeugten, das merkt man an diesen Stellen. Freilich zieht er alle Befehle durch und wird auch jeden melden, der aus der Reihe tanzt. Er muß davon ausgehen, daß einer in der Gruppe noch andere Gesprächspartner hat...

«Alles klar, Glöckner? Sie sind unser Zeitungsobmann!»
«Zu Befehl, Genosse Unterfeldwebel!»
Die Gruppenversammlung der 3. Gruppe des 3. Zuges der 3. Kompanie ist damit beendet.
Weidauer geht zum Fenster.
«Hat aufgehört», sagt er und verläßt das Zimmer.
Und was jetzt? Wir stehen da und sehen uns an. So ist es schon: Wir warten darauf, daß uns mitgeteilt wird, was wir tun müssen.
Ich nehme den Hocker und gehe in «mein» Zimmer. An der Tür fragt mich Sdhwabe, wie alt ich bin. Ich sage es ihm.

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Ob der Stubendurchgang schon stattgefunden hat? Ich stehe am Fenster und sehe wieder auf die sandige Lagerstraße hinunter, auf ihre Pfützen, auf ihre Stiefelspuren. Am Eingang des Stabsgebäudes hält ein Kübelwagen, ein Geländewagen, ein Jeep oder wie er heißt im jeweiligen Deutsch. Darf ich hier am Fenster stehen? Es könnte sein, ich werde gesehen und des Herumlungerns bezichtigt. Ich habe das Gefühl, verbotenerweise in diesem Zimmer zu sein. Warum? Weil ich nichts zu tun habe. Vielleicht habe ich einen Befehl überhört oder falsch verstanden. Vielleicht hätte ich im anderen Zimmer bleiben müssen ... Karausche ist nicht da, er kann es mir also nicht sagen. Ob er auch eine Gruppenversammlung hatte? Bestimmt. Das «Neue Deutschland» werde ich bestellen. Jetzt erst sehe ich es: Die Koffer sind weg. Gestern mußten wir unsere Adressen aufschreiben und an den Griffen befestigen. Die Schlösser sollten offenbleiben, wahrscheinlich wollte man sie noch einmal kontrollieren. Die «Zivilsachen» sind weg, meine schwarze, halblange Jacke ... 

Was wird Eva zu meinen kurzen Haaren sagen? Lachen ... Sie hat mich nicht mehr gesehen nach dem «Coiffeur»-Gang. Jetzt wird sie in der Schule sitzen. In der Schule. Dieses Wort kommt mir plötzlich fremd und lächerlich vor. Das Flachsen in den Pausen, die Gänge zum Klo und zur Hofpause, das Grüßen der Lehrer: harmlos und fern. Die Schultanzabende ... Und Hawel, ob er noch auf dem Güterboden der Bahn arbeitet, mein Deutschlehrer, der dann doch die Schule verlassen hatte im Sommer des Jahres 68? Der weggegangen war, weil eine «Kommission» nach der anderen hospitiert und seinen Unterricht kritisiert hatte wegen «ideologisch abweichender Tendenzen». Im weißen Hemd fuhr er mit der Stechkarre die schweren Kisten von einem Güterwagen zum anderen ... stolz, empört und geliebt von vielen Schülern. 

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Er gab nicht klein bei, beschwerte sich, rebellierte, wollte sein Recht. Im Unterricht hatte er die Kleist-Geschichte von Michael Kohlhaas behandelt. «Eine interessante Haltung», hatte er gesagt, «wenig Aussicht auf Erfolg, aber das Gegenteil von Kriecherei ...» Wie er zum erstenmal in die Klasse kam und ein frühes Gedicht von Brecht an die Tafel schrieb, das weiß ich noch genau: «In mildem Lichte Jakob Apfelböck / Erschlug den Vater und die Mutter sein / Und schloß sie beide in den Wäscheschrank / Und blieb im Hause übrig, er allein.» Mit der weißen Kreide in der Hand fragte er: «Nun, ist das ein Gedicht? Weiß auch jemand, von wem das ist? Der schrieb auch <Lob des Kommunismus) ...» Wir waren verwirrt, einer sagte Becher, ein anderer Weinert. Schließlich fanden wir den richtigen Namen. So etwas machte ihm Spaß. Er hatte in Leipzig bei Bloch und Mayer studiert, mußte ein Jahr pausieren wegen «politischer Unklarheiten in der Ungarn-Frage». Ein Jahr später durfte er weiterstudieren. In der Schulbibliothek hatte er es mir gesagt, wir waren allein: «Ich verlasse die Schule.» Da mußte ich weinen und mich umdrehen zu den Regalen. Aufregung entstand, ein Schulstreik sollte beginnen ... Er warnte uns, riet entschieden ab. Ich besuchte ihn zu Hause, er lieh mir Bücher ... Das sah der Direktor nicht gern, es gab Gespräche mit meinen Eltern, Szenen der Angst und der Verwirrung folgten. Gerüchte wurden gestreut, er habe «Mädchen verführt». Schmutzig und gemein versuchte man ihn zu isolieren. Die Staatssicherheit kam in die Schule und klappte ihre kleinen Ausweise auf: «Ihr Hawel ist ein Dubcek-Freund. Er unterstützt die Konterrevolution in der CSSR... Hände weg vom Klassenfeind! Wissen Sie noch nähere Einzelheiten, auch aus seinem Privatleben?»

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Ich wußte keine und besuchte ihn weiter. Als der Einberufungsbefehl für mich kam, als wir uns verabschiedeten, sagte er: «Es wird schwer.» Auch das war Schule. Aber eine andere. Eva sitzt jetzt in der von Übel, in der Schule des Majors, der Biologie unterrichtet. Vielleicht hat sie gerade Deutsch bei Frau Dr. Halbmut, die Thomas Wolfe verehrt, Kafka und Faulkner, die kurz vor der Rente steht und es sich nicht noch verderben will mit der Direktion ... als Germanistin der alten Schule, die in die CDU gegangen ist und auf Vorschlag von Kießling, dem stellvertretenden, ewig lächelnden Direktor, beim Fahnenappell sprechen muß über «die Vorzüge des sozialistischen Wahlsystems». Da steht sie mit einem Zettel und spricht über das gewünschte Thema und verkündet die gewünschten Phrasen. Ernst, mit ihrem alten, großen Gesicht, dem man das Kettenrauchen ansieht. 

Und hätte sie einer angesprochen auf die mangelnden Wahlmöglichkeiten bei diesem Theater, sie hätte schroff und abweisend geantwortet. «Nein, davon bin ich überzeugt! Bürgerliche Wahlkämpfe darf es hier nicht mehr geben, das ist eine Sache der Vergangenheit. Sehen Sie doch nach Amerika, da kann nur Präsident werden, wer Millionen hat. Und Martin Luther King haben sie erschossen ...» Und dann wäre sie zur Treppe gegangen und hätte sich am Geländer hochgezogen mit hüftlahmen, kleinen Schritten. Auf dem letzten Absatz hätte sie noch einmal nachgesehen, ob der unbequeme Frager weitergegangen ist. Und wenn nicht, hätte er ihren gequälten, verzweifelten Blick gesehen: «Was wißt denn ihr ...» Nach dem Weggang von Hawel in eine Klasse zu gehen und Literatur zu unterrichten, war schwer. Sie bezog sich nicht auf das vorhergehende Jahr, sondern stellte Bücher und Stücke vor. Auch Frisch und Dürrenmatt. Auch Sartre und Borchert. Sie war fair. 

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Einen Aufsatz gab sie mir in ilcr Pause zurück, fast heimlich, mit der Aufforderung, ihn wegzustecken. Ich hatte vom «Absterben des Staates» gesprochen und von «einer künftigen Demokratie, die ohne Repression auskommt...» Sie hatte mir mit rotem Kuli eine «2+» daruntergeschrieben und bei den besagten Passagen Seitenangaben von Marx, Engels und Lenin dazugeschrieben: «MEW Seite». Offenbar wollte sie verhindern, daß in der Direktion jemand mitliest... Den Abituraufsatz schrieben wir im Zeichensaal. Als der zweite aufsicht­führende Lehrer einmal nicht im Raum war, ging sie herum und flüsterte einzelnen Verschiedenes zu. 

Mir sagte sie: «Eine kurze Stellungnahme zu den Augustereignissen wird erwartet ...» Sie meinte den Einmarsch in die Tschechoslowakei. Da sah ich Seidel aus meinem Haus, den sie abgeholt hatten und der «Dubcek» an die Wände geschrieben und dann große Reden geführt hatte in der Milchbar. Seidel saß drei Monate im Gefängnis, kurz vor Weihnachten ließen sie ihn wieder raus. Er besuchte mich, war verändert, war älter geworden, hatte andere Augen. An ihn dachte ich. Auch an Schnur von der Plauenschen Straße, der festgenommen wurde, alles sagte beim ersten Verhör und Zeuge zu sein hatte bei anderen Prozessen. «Gegen die hat keiner eine Chance», das war sein Satz. Und die Panzer sah ich, die durch unser Viertel rollten. Eine Frau winkte, eine Arbeiterin aus Starks Fabrik. Alle anderen starrten nur. Einen Mann hörte ich sagen: «Jetzt sind die Tschechen dran, in zwei, drei Tagen geht das heute, fast ohne Blutvergießen, die Technik», sagte er, «das ist eben die Technik.» Und in Crimmitschau auf dem Bahnhof nachts gegen elf am 22. August, ich kam von meinen Großeltern aus Gotha, schrieb ich an ein Plakat, ganz klein, mit Kuli, keiner wird es bemerkt haben: «Dubcek», diesen Namen, dieses Zauberwort. 

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War das Mut?  Ich weiß nicht. Überwindung hat es gekostet. Von Robert Havemann hatte ich gehört, von seinem Buch «Dialektik ohne Dogma» ... und im Radio Auszüge aus dem Leben eines Iwan Denissowitsch ... Stalin, die Lager, ich war nicht mehr ganz ahnungslos. Aber jetzt sollte ich den Abituraufsatz schreiben und hatte einen guten Rat gehört, einen geflüsterten guten Rat. Und ich erinnerte mich an ein Zitat von Castro, der ja immerhin mit Che Guevara, der so sympathisch aussah mit Bart und langen Haaren, ganz anders als unsere Funktionäre, die untersagten, daß wir seinen Namen erwähnten, Castro, der immerhin mit Che gekämpft hatte gegen ein Unrechtssystem, gegen Unterdrückung und Armut in Amerika ... Castro hatte mit Blick auf die Tschechoslowakei gesagt: «Eine furchtbar schwere Entscheidung, aber leider eine notwendige.» An dieses Zitat erinnerte ich mich im Zeichensaal der Goethe-Schule und montierte es ein. Etwas unklar blieb, wen und was ich genau meinte, vielleicht meinte ich auch die Entscheidungen des neuen Politbüros vom Frühjahr 68 ... Aber nein, es wird schon klar gewesen sein, mein Castro-Zitat, klar, überzeugend und parteilich, denn ich bekam eine Eins. Schule, Schule, Schule, dort drüben steht ein Geländewagen ... und das da unten, das ist die Lagerstraße. Und das, das bist du, Soldat F., du stehst am Fenster und trägst eine Uniform. Das andere ist Vergangenheit. Wann gibt es Urlaub? Weihnachten? In Uniform durch die Straßen gehen ... Wie lange dauert ein Urlaub? Vater war Soldat, war im Krieg. Spind einräumen, Betten bauen, das wird er kennen. Hat er das gern gemacht? Er ist sehr für Ordnung. Kaputt kam er zurück, den Körper voller Splitter. Und seine beiden Brüder tot ... Wann bekommen wir eine MPi und scharfe Munition? Bauer erzählte, daß dieses Lager im vorigen Jahr, bei der «brüderlichen Hilfe», eine Kommandozentrale gewesen ist.

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Sein Bruder wußte das. Alle Soldaten erhielten scharfe Munition. Die Vorgesetzten sollen sofort freundlicher gewesen sein ... Das sind Gedanken in militärischen Stuben, wenn man nicht weiß, was man tun soll... Flörchinger kommt die Lagerstraße herunter. Schnell weg vom Fenster. Den Spind öffnen, ins «persönliche Fach» sehen. Wenn sie den Gedichtband entdecken, werden sie denken: ein Spinner. Aber machen können sie eigentlich nichts, ist ja m der DDR erschienen ... Ob ich noch einmal zum Friseur muß? Flörchinger hat so etwas angedeutet. 

Auf dem Gang sagte er: «Überall sehe ich lange Zotteln...» Und das mit der Post, eine wirkliche Sauerei. Von wegen Briefgeheimnis! Wie hieß der eine? Ach ja, Stiefelbauer. Wieder muß ich lachen. Als Kind konnte ich meinen Namen nicht leiden. «Fuchs im Walde», das sagten einige. Oder «Rotfuchs», weil ich öfters eine rote Pudelmütze trug. Ein Tiername ... Stiefelbauer ist noch schlimmer. Manche machen sich nichts draus. Bauer gefällt offenbar, daß er Bauer heißt. Er sagt seinen Namen laut und deutlich, trumpft fast auf mit ihm ... Die Szene neulich auf dem Flur, als wir die Namen sagen mußten: «Jugel», sagte Jugel. Vorn brüllte einer der Unteroffiziere: «Was denn, General?» Jugel sagte: «Nein.» Er wird angeschrien: «Jugel, das sagt mir gar nichts!» «Soldat Jugel.» Jetzt hatte Jugel kapiert. Dann kam der nächste an die Reihe. Ich hörte zu, die Namen interessierten mich. Da wurde ich angerempelt, sollte den eigenen sagen, sagte* ihn und setzte nach einer kleinen Pause «Soldat» hinzu. Einige lachten. Von vorn kam die scharfe, quäkende Frage: «Wie bitte?» Ich wiederholte vorschriftsmäßig Dienstgrad und Name. Von diesem Augenblick an spürte ich mehr Sympathie. Bauer flachste beim Marschieren: «Na, Fuchs, Soldat?» 

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Ich war jetzt einer von denen, die schon einmal aufgefallen waren ... Wenn ich an die Grenze komme und schießen muß ... Diesen Gedanken dränge ich sofort weg, obwohl er mich immer mehr eingekreist...

Ich stelle mich wieder seitlich ans Fenster.
Mit den Ohren bin ich im Flur.
Nicht daran denken ... Warum war Kannengießer im Zug so erfreut gewesen, als er erfuhr, daß wir wahrscheinlich an der Westgrenze eingesetzt werden ... Will er vielleicht ... Da geht es nicht mehr weiter. Das darf nicht gedacht werden. Hier ist Schluß, hier ist wirklich die Grenze.

 

Jetzt schlagen Türen.
Karausche platzt ins Zimmer.
«Na», sage ich, «auch Gruppenversammlung gehabt?»
Er nickt, nimmt den Stahlhelm vom Spind und zerrt das Marschgepäck herunter.
«Was ist?» frage ich.
«Gelände.»
Und wirklich, da ist der Pfiff schon und die verbale Begleitmusik, die gar nicht mehr so neu klingt:
«Kompanie, raustreten! Volle Ausrüstung!»

Das Tragegestell wird über die Schulter geworfen, an dem Marschgepäck und Schutzplane befestigt sind. Es besteht aus Gurten und breiten Haken, die sich am Koppel einhängen lassen, eine Mischung aus Rucksack und Hosenträger. Ich muß an meine Lederhosen denken, die auch von breiten Trägern gehalten wurden. Speckig mußte der Hosenboden sein, abgewetzt, sonst wurde man ausgelacht. An der Seite befand sich eine Tasche für den «Hirschfänger», den heißersehnten. Der Griff mußte zu sehen sein. Und wenn sogar eine «Blutrinne» auf der Klinge blitzte, ja, dann war das Ansehen auf der Straße gesichert. 

Ein Taschenmesser genügte da nicht, es mußte ein Hirschfänger sein. Schnitzen konnte man mit ihm und «spicken», wie wir sagten: er ließ sich mit einigem Geschick an Bäume und Bretterzäune werfen. Auch das Fingerspiel – die Messerspitze hüpft möglichst schnell zwischen den Fingern hin und her, nach einer Weile werden die Augen etwas geschlossen und das Messer setzt seinen Kriegstanz fort –, auch das wurde geübt. 

Jetzt also wieder das Tragegestell mit Marschgepäck und Schutzausrüstung vom Schrank nehmen ... als ob das vorhin nicht schon genügt hätte ... und in Kürze kommt eine Maschinenpistole mit Seitengewehr hinzu ... kein Schneeschuhstock ... Wir sind ja nicht im Kindergarten, sondern bei der Armee, im Grenzausbildungslager Johanngeorgenstadt im Erzgebirge.

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