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Am nächsten Morgen trillert die Pfeife schon gegen fünf. Mit Marschgepäck und Kalaschnikow werden wir auf dunkelgrüne «W50» gesetzt, und ab geht die Fahrt. Die Maschinenpistolen stellen wir auf den Boden und halten sie mit den Knien fest. Die Plane wird heruntergelassen, Weidauer hat sich am Ausstieg postiert. Er wickelt sich in eine Decke und schließt die Augen.

Es ist eine Fahrt ins Ungewisse. Keiner von uns Soldaten weiß, wohin es geht. Und Weidauer? Er sagt nichts, döst. Man kann nur warten. Wir unterhalten uns kaum, das Motorengeräusch ist zu laut. Der Fahrer muß ein Ziel haben, bestimmt sitzt ein Offizier neben ihm, der muß Bescheid wissen. Karausches Vermutung ist «Schießen». Er will Munitionskisten gesehen haben, die in einen anderen Lkw geladen wurden. Nach etwa einer Stunde halten wir an, fahren wieder los, wenden, bleiben erneut stehen.

Weidauer fährt hoch, öffnet gähnend die Plane. Es ist kurz nach halb sieben.

Eine matte, gelbe Straßenbeleuchtung, parkende Autos und einige Häuserwände, abbröckelnde, weißlichgraue Fassaden sind zu sehen. Das schwarze, glänzende Geländer einer Brücke ... Jeder beugt sich vor, will erfahren, was los ist und wo man sich befindet. Die kutschierte Fuhre, die irgendwohin gekarrt wird, sucht Sinn und Orientierung. Manche fanden sich schon in anderen Ländern wieder ... «Das hier ist eine Stadt und kein Schießplatz, Karausche! Du mit deinen Prognosen!» «Wartet's doch ab!» Sind wir etwa die nachrückende Truppe, die eine Gegend vor dem Klassenfeind schützen soll, wie es denen vor einem Jahr erging? Die dachten vielleicht auch, sie fahren zum Schießplatz...

Aber diese Straße kennst du doch! Ist denn das möglich? Das ist die Burgstraße in der Nähe des Unteren Bahnhofs! Das ist Reichenbach im Vogtland!

«Das ist Reichenbach, hier komme ich her, paar Straßen weiter, stell dir das vor ...» sage ich zu Jugel, der mich ungläubig ansieht. «Wirklich! Auf der anderen Seite steht ein großes Bürogebäude, die HO-Verwaltung, da arbeitet meine Mutter ...»

Ich beuge mich vor, halte die Maschinenpistole fest... Habe ich nicht das Recht auszusteigen? Ich wohne doch hier! Auf völlig unerwartete Weise bin ich nach Hause zurückgekehrt. Aber unpassend, vor der Zeit, das fühle ich. Dieser Aufenthalt hat nichts mit mir zu tun.

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Jetzt hören wir Patsch reden, zwei Türen schlagen, der Motor wird gestartet, schnell fahren wir an. Zu Jugel, der angestrengt nach draußen späht, sage ich:

«Das ist Reichenbach, hier komme ich her ... Da drüben arbeitet meine Mutter. Vielleicht sehe ich sie, halb sieben, da ist sie unterwegs ...»

Er rät mir, den Platz zu wechseln, näher an den Ausstieg zu rücken. Die Plane ist noch nach oben geschlagen. Weidauer wickelt sich gerade wieder in seine Decke ein. Wir fahren die Robert-Wilke-Straße entlang, sind in der Altstadt, drei Minuten vom Mühlgraben entfernt, in meinem Viertel... Ich verrenke mir den Hals. Wenn ich nun meine Mutter sehe? Sie wird nicht achtgeben, wenn ein dunkelgrüner Lkw vorbeifährt. Immer fahren dunkelgrüne Lkws vorbei. Militär, das kennt man. Soll ich «Mutti» rufen, wenn ich sie sehe? Die anderen werden lachen...

Weidauer zerrt die Plane vom Wagendach, es ist wieder dunkel.
«Verfahren», ruft er uns zu.
Jugel sagt:
«Laß doch den mal rausgucken, der wohnt hier.»
Aber Weidauer reagiert nicht.
«Na los», sagt Jugel zu mir.
«Laß, ich will gar nicht ...»
Jugel ist ärgerlich: «Wenn ich zu Hause wäre ...»
Er zieht den Kopf ein und fummelt an seinem Koppel herum. Nach etwa einer halben Stunde müssen wir absitzen.

«Plauen», weiß Karausche, «was ich gesagt habe. Den Schießplatz kenne ich. Wird auch von den Freunden benutzt.»
Es wird langsam hell. Wir dürfen eine Zigarette rauchen. Vier andere Lkws sind schon vor uns eingetroffen. Zu sehen sind Bäume und lange Holzwände, dicke Stämme, nebeneinander in die Erde gesetzt. Überall liegen Patronenhülsen.

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«Gehst du mit zum Schießplatz?» war eine oft gehörte Frage in Gotha, während der Ferien. Lange hatte ich Angst und ging nicht mit. An einem Nachmittag im August ging ich mit. Unser Anführer hieß Paul, vierzehnjährig, groß, kräftig, «der Stärkste» in unserer Runde. Sein Vater war Betriebsleiter, seine Mutter machte den Haushalt und sprach russisch. Für uns war Paul «ein Russe» mit deutschem Namen. In Leningrad geboren, kam er vor zwei Jahren in die Siedlung scheu und wütend, immer zu Prügeleien bereit. Nachmittags saß er zu Hause und mußte Gedichte von Goethe abschreiben auf Weisung seines Vaters. Das tat er nicht gern. Lieber kam er auf die Straße und zeigte uns seine Schätze: ein Kofferradio, ein Bajonett, Uniformmützen und eine «richtige Pistole», die «innen leer ist», wie er versicherte. Wir nickten, starrten fasziniert auf das dunkel-schimmernde Metall des Laufs und befürchteten, erschossen zu werden.

Pauls Bruder hieß Serjoscha und war zwei Jahre jünger. An diesem Nachmittag gingen wir also die Lessingstraße hoch, über die Reinhardsbrunner, an der Wagenhalle vorbei. Wir kamen an einen Zaun, dahinter sollte der Schießplatz sein. Ich sah eine Bude und mehrere Bretterwände. Wenn man durch die Zaunlatten schielte und im Gras suchte, konnte man Patronenhülsen entdecken. Kleine, kurze, «von Pistolen», wie Paul wußte. Er stieg als erster über den Zaun, wir anderen folgten. Ich hatte wieder Angst. Wir grapschten nach den Hülsen, stopften sie in die Taschen der Lederhosen. Dann hörten wir Schritte. Paul stand schon auf dem Zaun, rief «los!» und war verschwunden. Bei uns dauerte es länger, ich blieb an einer Lattenspitze hängen, fiel zurück, wollte mich wieder hochziehen, die Armkräfte versagten ... Da wurde ich von hinten gepackt.

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 Ein Mann, an dessen Gesicht ich mich nicht erinnern kann, hielt mich am Oberarm fest und führte mich wortlos ins Innere der Bude. Ich trabte mit, wehrte mich nicht. Mit einer hellen Stimme fragte er in gebrochenem Deutsch: «Was du machen hier?» Ich zuckte mit den Schultern, griff dann in meine Taschen und zeigte ihm die Patronenhülsen. Er lächelte kurz, schüttelte den Kopf, holte ein Blatt Papier und einen Stift. «Hier nix für Deutsche!» sagte er, «du mir Namen sagen, deinen und andere, Zaun kaputt, bezahlen. Ihr schon öfters hier, jetzt Strafe!» Ich zögerte, sagte dann meinen Namen. «Und andere, dawai!» Der Mann vom Schießplatz sah mich streng an. War er ein Soldat, ein sowjetischer Offizier?

Ohne große Überlegung nannte ich Namen von welchen aus meiner Klasse. Sie wohnten nicht in dieser Stadt, ich war ja nur in den Ferien hier, damit konnte man wenig anfangen. «Und Haus von dir?» Die falschen Namen hatte er notiert, ich wurde mutiger und änderte noch den Wohnort und die Straße meiner Großeltern, gab «Sundhausen» an, wo die Panzerspuren waren, und eine «Kirchstraße 20». Er nickte, sah mich noch einmal prüfend an. Ich zitterte. Er führte mich zum Zaun zurück, an die Stelle unseres Einstiegs. «Wo du herkommen, jetzt auch gehen.» Ich kletterte hoch, er schob von hinten. Ich sprang ins Freie und rannte weg. Meine Freunde warteten an unserem Treffpunkt in der Siedlung, unter der Leina-Brücke. Sie fragten, machten mir Vorwürfe, weil ich mich «schnappen ließ». Ich erzählte ihnen, was geschehen war. Paul schüttelte den Kopf und fuchtelte mit seiner Pistole: «Von wegen andere Namen, wir werden sehen, wir werden ja sehen ...»

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Gegen neun ist unsere Gruppe an der Reihe: Wir erhalten zehn Schuß scharfe Munition und den Auftrag, sie ins Magazin zu füllen. Als ich die Patronen in den Händen halte, bewege ich mich ganz vorsichtig. Sie teilen die einfach aus ... Ich schiele zu Karausche, er drückt gerade die letzte Patrone ins Blechgehäuse seines Magazins. Ich vergleiche, wie er das Magazin hält, wohin die Geschoßspitzen zeigen...

In einem kleinen Tal, das von Holzstämmen und -brettern begrenzt wird, müssen wir «im Anschlag liegend aufgelegt» auf schwarze, menschenähnliche Umrisse zielen, auf «Pappkameraden». Kreise sind aufgezeichnet, die höchste Zahl liegt in der Herzgegend. Oberleutnant Patsch führt das Kommando. Er geht zu jedem einzelnen und überprüft die Waffe, läßt durchladen ohne Magazin und befiehlt dann, zur Seite tretend, «Magazine einlegen! Durchladen! Feuer frei!» Etwas Ernstes, Stolzes ist in seiner Stimme, als er «Feuer frei» sagt. Auch eine verdrehte Verbundenheit, der ich mich nicht entziehen kann: «Ich vertraue euch. Ihr schießt jetzt auf diese Scheiben und nicht auf mich.» Etwas davon ist in seiner Stimme, ein wenig Angst und ein wenig Mut. Ich ziele auf die «Pappkameraden» ...

Wir sollen drei einzelne Schüsse abgeben.

Ich ziele und denke an die Pioniernachmittage im Werkraum, Luftgewehrschießen, Kimme und Korn, lang lagen wir auf zusammengerückten Schulbänken und wollten alle immer nur die Zehn treffen.

Abdrücken ist ganz leicht. Die Kalaschnikow schlägt an die Schulter, man muß sie richtig festhalten. Gar nichts Besonderes, es geht auch sehr schnell. Patsch befiehlt, die Waffen zu sichern, aufzustehen und die Läufe nach oben zu halten. Drei Unteroffiziere rennen an die Scheiben und prüfen die Ergebnisse. Anschließend erteilen sie kurze Ratschläge: «nicht verkanten», «höher halten» oder «mehr nach links unten zielen». Patsch sagt:

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«Jede Waffe ist anders. Man muß sie kennenlernen, auch ihre Macken. Dann trifft jeder Schuß ins Schwarze.»

Wieder müssen wir uns hinlegen, zielen und drei weitere Schüsse abgeben. Ist es auch so, wenn man auf Menschen schießt? Die «Pappkameraden» scheinen zu wachsen und noch schwärzer zu werden. Ihre Köpfe bewegen sich, wenn ein Schuß sie trifft. Allein, daß sie nicht umkippen, beweist, daß es sich um Schießscheiben, um Attrappen handelt.

«Drei Schuß Einzelfeuer, danach umstellen auf Dauerfeuer. Einen Feuerstoß abgeben ...» ordnet Patsch an. «Alles rausrotzen» nennt es Weidauer, der hinter mir steht.

Ich habe getroffen.

Es sind Zehnerscheiben, gezählt werden die letzten sieben Schüsse, die ersten drei wurden von den Unteroffizieren bereits mit schwarzer Folie überklebt ... Auf den kleinen runden Löchern klebt schwarze Folie... Ich habe 42 Ringe, einer aus dem 1. Zug hat 49. Er soll Sonderurlaub bekommen.

Ich habe gut gezielt.
Bauer hat 40 Ringe. Als wir vorhin warteten, sagte er noch zu mir und Bauer: «Keine Lorbeeren, denkt an die Grenze. Hat mir mein Bruder geraten ...»

Jugel hat 41, Karausche 43. Biellau 18. Dominiak 22. Er schüttelt den Kopf, reibt sich die Augen:
«Ich brauche eine Brille, war alles verschwommen vorn, alles verschwommen.»

Wir haben gut gezielt. Vielleicht ist es auch nicht leicht, schlecht zu zielen. Heimlich denkt man: «Ich will nicht weniger Ringe haben als der und der.» Eine Leistung soll erbracht werden, die Ringe werden gezählt. Habe ich ein schlechtes Gewissen? Ja. Aber das macht jetzt keinen Unterschied mehr. Ich bin hier. Was soll ich tun?

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Bauer redet von der «Schützenschnur», die «eigentlich gar nicht schlecht ist». Ich frage ihn, was das ist. Er erklärt mir, wie sie aussieht: eine silberne, geflochtene Kordel, die man über der linken Brusttasche der Ausgangsuniform trägt. Es gibt auch «Eicheln», sagt er, «zusätzlich».

«Die <Schützenschnur> ist 'ne Auszeichnung für gute Schießergebnisse. Sieht gar nicht schlecht aus. Habe ich bei meinem Bruder gesehen. Trotzdem muß man aufpassen, lieber nicht ganz so gut sein. <Schützenschnur> geht noch, auch <Qualispange> für fachliche Sachen, Autofahren, Funken und so was. Da gibt's drei Stufen. Wer die Geländeprüfung besteht mit dem Lkw, so was. Auch nicht schlecht. Ist ja nicht für Dienstgeilheit, sondern für Leistungen.
Scheiße ist nur die <Panzerplatte>, Belobigung für den <Besten Soldaten>. Kannst du sofort vergessen. Hoffentlich bleibe ich verschont. Die wird manchmal ausgeteilt an Festtagen. Auszeichnungen muß man nämlich tragen. Sonst lassen die einen nicht in Urlaub, kann vorkommen. Da wird kontrolliert. Auf der <Panzerplatte> ist so ein braves Jüngelchen abgebildet mit Stahlhelm, langes Kinn und so weiter. Ja nicht. Aber eine <Schützenschnur> ... Verkaufen manche vorm Heimgang, auch <Qualispangen>, für eine Flasche Kräuterbitter. Kommt vor, hat mir mein Bruder erzählt. Da sind manche scharf drauf ...»

«Du», sagt Jugel.
Bauer schüttelt den Kopf: «Ich doch nicht! Wie kommst du denn darauf. Weiß ich von meinem Bruder. Der hat das hinter sich. Was hat denn das mit mir zu tun?»
Jugel winkt ab und hält uns eine Schachtel Zigaretten hin, «Salem», die rote Packung. Bauer greift zu, ich lehne ab. Kurze Zeit später kommt das Zeichen:
«Aufsitzen!»
Die Motoren der Lkws werden gestartet.

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Kaum sind wir ins Lager zurückgekehrt, wird unsere Gruppe zur Wache abkommandiert.
«Waffenreinigen, dann in voller Ausrüstung fertigmachen!» ordnet Pohl an.

In einem Nebengebäude erhalten wir Winterbekleidung, eine dick gefütterte graue Uniformjacke, an der wir noch Schulterstücke befestigen müssen, eine ebensolche Hose, dazu Filzstiefel, Handschuhe, eine Pelzmütze mit schwarzrotgoldenem DDR-Emblem und einen «Strumpf», der sich unter den Stahlhelm ziehen läßt und die Ohren warm halten soll.

Es ist wieder kälter geworden und schneit.

Wir sprechen kaum, stürzen von einem Ereignis zum anderen. Post gekommen? Nein, nicht. Schwabe hat zwei Briefe, Emmrich ein Päckchen, das er sofort im Schrank verstaut. In Flörchingers Zimmer mußte er es öffnen. Auf dem Tisch liegt ein «Neues Deutschland», ich überfliege die Seiten, Glöckner die Sportergebnisse. Am letzten Wochenende, erfahre ich von ihm, fand ein Länderspiel gegen Italien statt, Qualifikation zur Fußballweltmeisterschaft, 0:3 verloren.

«Zu Hause», sagt Glöckner, «hätte ich mir das angesehen, dazu ein Fläschchen Bier. Aber hier ...»

Dreiviertel fünf stehen zwölf Soldaten des 3. Zuges in voller Montur vor dem Stabsgebäude zur «Vergatterung». Schwer hängt die Munitionstasche am Koppel, drei volle Magazine, in jedem 30 Schuß. Der «Offizier vom Dienst», ein Oberleutnant, den ich bisher nie gesehen habe, belehrt uns. Ich höre nicht zu, sehe die erleuchteten Fenster des Gebäudes, die Schneeflocken unter den Lampen. An Weihnachten muß ich denken, an die Schulzeit, die Abende, an das warme Gelb von Kirchenfenstern, an den Stadtrand, den Eichelweg, der zur Randsiedlung führt.

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«Es ist eine Auszeichnung und eine besondere Verantwortung, als Wachmannschaft eingeteilt zu werden noch vor der Vereidigung», höre ich den Oberleutnant sagen.

Neben uns stehen vier Soldaten des 2. Zuges, die als «Feuerwache» vorgesehen sind. Unteroffizier Pohl ist der «Wachhabende», Dominiak sein Stellvertreter, der auch als «Aufführender» fungieren soll.

Wir wissen nicht, was gemeint ist, hören das strenge, vom Oberleutnant gerufene Wort «Vergatterung!» und stapfen ab Richtung Tor. Bauer redet etwas von «Verpflegung» und daß er Hunger hat.

Vor dem «Wachlokal», einem Gebäudeteil, der über eine Außentreppe zu erreichen ist, finden «Ablösung» und «Übergabe» statt. Einige müde Gefreite, die offenbar sehnsüchtig auf uns gewartet haben, stehen vor der Treppe, formieren sich jetzt und übergeben das Revier an Pohl, der nur abwinkt, dann aber doch eine Meldung verlangt und uns anschließend die Räumlichkeiten zeigt: Zum Tor hin gibt es ein Fensterchen, das sich von innen öffnen läßt, ein Gewehrständer steht in der Ecke, ein Schreibtisch mit «Wachbuch» und Telefon. «Äußerst wichtig!» sagt Pohl, «immer rangehen, es könnte der OvD sein.» An der Wand einige Stühle und Hocker, im Nebenraum Pritschen mit sich feucht anfassenden alten Decken, das ist der «Ruheraum». «Geschlafen werden darf im Prinzip nicht», erläutert Pohl. An der Decke eine Glühbirne, höchstens 25 Watt. In beiden Zimmern stehen Kanonenöfen, Holz und Kohlen sind vorhanden.

«Mal herhören!» Pohl schließt die Außentür. «Jeder ist für seine Waffe und die ausgegebene Munition selbst verantwortlich. Zu beachten sind die Sicherheitsbestimmungen. Daß mir kein Unfall gebaut wird! Sind schon die dümmsten Dinger passiert!

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Ist das klar? Auch auf den Pritschen nichts liegenlassen, keine Koppel ablegen ... verstanden? Es gibt Kontrollen und vielleicht auch Alarm. Mit dem Telefon, das habe ich schon gesagt. Auf Posten nicht rumhängen, nicht hinsetzen und so weiter. Das ist streng verboten! Wachvergehen werden mit am härtesten bestraft. Wenn einer kommt, anrufen: <Wer da?> Dann hat der sich auszuweisen. Mit der Parole, wenn eine ausgegeben wurde. Und mit der Taschenlampe ins Gesicht leuchten. Lampen hängen dort drüben, wer rausgeht, eine mitnehmen. Im Postenbereich hat nur der Posten was zu sagen, solange Unklarheiten bestehen. Auch der OvD muß erst erkannt werden. Lieber Fremde in Stellung gehen lassen. Kommt einem was verdächtig vor, Waffe schußbereit machen, ruhig bleiben, anrufen. Nicht unnötig Hektik machen, ist das klar? Heute beim Schießen habt ihr gesehen, wie das geht. Wachsam sein, aber nicht bei jedem Pieps durchdrehen. Klar?»

Wir nicken.

«Ach so, bei Alarm oder Gefahr mit dem OvD telefonisch in Verbindung treten, wenn ich zufällig nicht da sein sollte. Ich bin ja ansonsten da. Das hier ...» Er tritt zur Wand, zeigt auf eine Vorrichtung aus Pappe oder Kunststoff. «Das ist eine Art Winkelmesser. Wenn jemand eine helle Erscheinung sieht, keine Sternschnuppe, was richtig Helles, Grelles, was nach Atomexplosion aussieht, diesen Winkelmesser von der Wand nehmen, so anfassen und anlegen», er macht es vor, «es funktioniert wie ein Gradmesser, wie ein Zirkel, Arm ausstrecken. Atompilz der Höhe nach erfassen und hier unten die Zahl ablesen. Die dem OvD durchgeben. Schnell natürlich, da zählen Sekunden. Der weiß dann, was er zu tun hat. Hängt mit der Entfernungsberechnung beim Einsatz von Kernwaffen zusammen. Genauer weiß ich es auch nicht ...»

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Wir sehen Pohl verdutzt an, einige wohl auch mit aufkommendem Entsetzen. Bauer platzt heraus:
«Wie bitte? Das kann doch nicht wahr sein...»
Pohl fragt zurück: «Was denn?»
«Atompilz? Winkelmesser?»

«Kann doch vorkommen.» Pohl lächelt jetzt. «Das gehört zur Ausbildung. Genauer kann ich es auch nicht sagen ... Man darf eben nicht die Nerven verlieren ... Bevor die Strahlen kommen, bleibt noch Zeit ... wurde uns so gesagt ... Wir haben außerdem die Schutzausrüstung. Das hier», er hängt das wundersame Gerät an die Wand zurück, «gehört zur Ausstattung. Es soll die Entfernung berechnen ...»

«Ob da noch Zeit ist ... Mann ... wenn ich mir das vorstelle ...»
«Soldat Bauer», Pohl wird wütend, «so sind die Vorschriften! Was soll denn das? Wolln Sie hier ...» er sucht nach Worten, «stänkern oder wie?»
Bauer wehrt mit beiden Händen ab, schüttelt den Kopf.
«Keineswegs, ich wollte mich nur erkundigen. Damit ich alles richtig mache im E-Fall ...»
Wir grinsen. Bauer fingert an seiner MPi herum und sagt dann noch:
«Alles klar, Genosse Unteroffizier!»
Pohl faltet einen Zettel auf.
«So, die Einteilung.»

Drei von uns sind zuerst an der Reihe. Ich soll zwei Stunden als Posten am Tor stehen, zwei andere an verschiedenen Abschnitten des Zauns.
«Und was ist mit dem Essen?» fragt Bauer.
«Wird gleich geholt. Wir müssen erst mal raus. Die warten schon.»

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 Pohl geht zur Tür, dreht sich dann noch einmal zu Bauer um und sagt:
«Halten Sie sich mal etwas zurück, sonst werde ich eklig.»
Bauer steht stramm:
«Zu Befehl, Genosse Unteroffizier!»

Wir drei ersten Wachen müssen draußen antreten, ein volles Magazin einlegen und werden von Pohl und Dominiak «aufgeführt».
Der Gefreite, der unter dem Postenpilz in Tornähe steht, stöhnt, als wir kommen:
«Wird Zeit...» Dann macht er Meldung: «Posten am Tor ohne besondere Vorkommnisse zur Übergabe bereit ...»
Er geht an mir vorbei und verschwindet mit den vier anderen. Weg sind sie.

Ich bin allein, bin Posten am Tor und habe scharfe Munition bei mir. Zum erstenmal seit acht Tagen bin ich allein. Es schneit, zwei Grad minus werden sein. Ich atme tief, sehe auf meine Spuren im Schnee und warte. Ob die zwei Stunden schnell vergehen? Die Straße draußen ist leer, auch keine Autos sind zu sehen. Die Filzstiefel halten warm, ich trage Handschuhe. Die Taschenlampe habe ich vergessen ... Aber ich brauche sie auch nicht, da drüben steht eine Lampe, eine Peitschenlampe, es ist sehr hell... Ich bin allein und überrascht von dieser Stille ... Singen könnte ich plötzlich und weinen. Was ist los mit mir? Als Posten am Tor, mit Stahlhelm und Kalaschnikow, will ich singen und weinen? Weil ich allein bin? Weil sich das Tor öffnen läßt? Weil ich es nicht öffnen werde? Weil draußen eine Straße ist, die wegführt, weg von hier? Was ist denn ... ich bleibe doch. Ich bin doch die Wache. Ich weiß doch gar nicht, was ich fühle. Ich bin doch eingeteilt zum Wachdienst, was eine Ehre ist, und vergattert ...

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Starker Schneefall hat eingesetzt. Ich stehe unter dem Postenpilz. Meine Stiefelspuren wachsen zu. Acht bis zehn Zentimeter sind es schon. Viertel nach sieben. Noch fünfzehn Minuten, wenn die Ablösung pünktlich kommt und meine Uhr richtig geht. Ich habe großen Hunger. Ob in der Küche noch was zu bekommen ist so spät?

Geräusche von der Straßenseite, eine Kolonne nähert sich, vornweg ein Unteroffizier. Er gibt mir Zeichen, ich öffne das Tor. Es sind die Unteroffiziersschüler. Sie atmen schwer, halten sich an den eigenen Waffen fest, die um den Hals hängen. Einen Marsch haben sie hinter sich, vielleicht sogar eine Übung. Schießen waren sie heute nicht mit. Erschöpft stapfen sie an mir vorbei, sehen nicht her. Leise geht das, wie schallgedämpft. Einer rutscht aus, es scheppert, Metall stößt an Metall...

Ich schließe das Tor.

Was ist denn jetzt? Kommen Nachzügler? Sind noch andere draußen? Rufe höre ich, Geschrei. Was ist denn los? Meinen sie mich? Nein.

Drei kommen nach, von der Halde her, zwei Unteroffiziere und einer mit Gasmaske in der Mitte, ein kleiner Soldat, offenbar auch ein Unteroffiziersschüler mit Sturmgepäck und Stahlhelm. Er stolpert, greift mit den Händen nach der Maske. Die Unteroffiziere schreien wieder los. Jetzt läßt er sich fallen, sie zerren ihn hoch ... er darf die Maske nicht abnehmen.

Ich reiße das Tor auf.
«Was ist denn», frage ich, «was ist denn los?» Leise frage ich, ziemlich leise. Als ob nicht klar wäre, was los ist. Als ob ich nicht sehen würde, was geschieht.
Die beachten mich gar nicht, haben etwas miteinander zu tun, zwei quälen einen dritten ... Jetzt fällt er lang hin, in den Neuschnee.

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Ein Schneemann mit Truppenschutzmaske ist er jetzt, dazu zwei schreiende Männer:
«Hoch! Los jetzt! Hoch! Keine Müdigkeit! Aber bißchen plötzlich!»

Die Maske ziehen sie ihm vom Gesicht, schreien weiter, wollen, daß er aufsteht. Aber er steht nicht auf, sackt immer wieder zusammen. Wie das Pferd, das ich als Kind sah in Sundhausen, das zusammenbrach und den Wagen mitzerrte in den Straßengraben. Der Kutscher hat geschrien und an den Zügeln gerissen. Das große Tier bewegte sich, hob den Kopf, wollte hoch, rollte aber wieder zurück, schaffte es nicht. Da hat der Kutscher angefangen, in den Bauch des Pferdes zu treten. Nach einer Stunde bewegte es sich nicht mehr. Das eine Auge, das ich sehen konnte, stand offen und war auf den Himmel gerichtet, auf die weißen, aufgetürmten Wolken dieses Sommertages. Dann kam ein Lastauto mit einer Seilwinde. Das Pferd wurde abtransportiert.

An der Tür des Wachlokals stehen jetzt welche. Bauer ist da, er hält ein großes Tablett, eine Teekanne darauf, wahrscheinlich hat er Essen geholt ... Er stellt das Tablett auf die Treppe, rennt mit langen Schritten zu den drei Männern hin, ruft:
«He, he, he, was ist denn los?»
Die Unteroffiziere sehen ihn an, packen den kleinen Soldaten, der sich wieder bewegt, und zerren ihn weiter. Ein Husten ist zu hören. Sie lassen Bauer stehen.
«Was ist denn los?» sagt der mit Empörung in der Stimme, geht ein paar Schritte mit, bleibt dann zurück.
«Schikane oder wie?»
Die drei entfernen sich. Die Unteroffiziere reagieren nicht auf Bauer. Das Wort «Schikane» müssen sie gehört haben. Ich stehe etwa zwanzig Meter von Bauer entfernt, darf meinen Postenbereich nicht verlassen ...

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Er fragt mich:
«Was war denn los?» ,
«Weiß auch nicht!» sage ich. |
Die drei sind verschwunden, ich schließe das Tor. Bauer geht ins Gebäude zurück.

Dominiak und Glöckner kommen. Ich werde abgelöst. Glöckner hat den Kopfschützer, den «Strumpf», unter den Stahlhelm gezogen. Es schneit immer noch.

Im Wachlokal steht Essen, Bauer hat es geholt. Er schüttelt den Kopf, flucht:
«Hast du das gesehen? War zwar ein Pfeffie und ist eigentlich selber schuld. Aber der hat ja schon geröchelt, der war ja am Abkratzen ...»

«Wenn Schnee in den Filter kommt, der verschließt alles», sagt Jugel, der es auch gesehen haben muß. Sie fragen mich, was vorher gewesen ist. Ich erzähle ihnen, was ich gesehen habe. Viel mehr als sie habe ich auch nicht gesehen. Ich schenke mir Tee ein, er ist lauwarm. Pohl ist nicht im Zimmer. Bauer kann sich gar nicht beruhigen.

Die Tür geht auf, es ist einer der Unteroffiziere von vorhin.
«Genossen!» sagt er ganz freundlich und mit roten Backen, jung, nicht älter als wir, ein Kind noch, ein Kind in Uniform wie wir auch: «Keine Sorge, Genossen. Wir wissen schon, wie weit wir gehen können. Die Leistungsgrenze war noch lange nicht erreicht. Wir kennen uns da aus. Alles klar? Noch Fragen?»

Er sieht Bauer an, der kopfschüttelnd sagt:
«So rumzuscheuchen, der ist doch bald abgekratzt. Ist er besinnungslos?»
«I wo!» Der Unteroffizier lacht. «Der ist schon wieder quietschvergnügt. Man kann sich auch gehenlassen ...»
Bauer zuckt mit den Schultern.

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«Alles klar», sagt der Unteroffizier, geht zur Tür, «Wiedersehen, Genossen.»

Wir hören ihn die Außentreppe hinunterspringen, er rennt. Bauer sieht aus dem Fenster.

«Schweine», sagt er, «wenn der schon wieder quietschvergnügt ist, fresse ich einen Besen. Wie Markieren sah das nicht aus. Warum kommt der an und quatscht mit uns? Schlechtes Gewissen? Fertiggemacht haben sie ihn. Vielleicht hat er aufgemuckt ...» Nach einer Weile fügt er hinzu, ich esse gerade ein Leberwurstbrot: «Obwohl er selber schuld ist, der Pfeffie. Erst länger verpflichten und dann aufmucken, das geht nicht. Das ist klar.»
Ich nicke.
Wie er im Schnee lag ...
Zwei Stunden kann ich mich jetzt ausruhen, dann zwei Stunden «Bereitschaft», danach wieder raus. Halb zehn, rechne ich, halb zwölf ... Pohl kommt. Ich gehe in den Ruheraum. Dort ist es jetzt warm. Der Kanonenofen glüht. Meine Waffe nehme ich mit. Müde bin ich nicht.

Am nächsten Morgen bin ich müde. Mitternacht stand ich am Tor und früh von halb sechs bis halb acht.
Ab halb sechs kamen «Zivilkräfte» und Offiziere von zu Hause, meist mit verschlossenen, mürrischen Gesichtern. Sie zeigten kaum ihre Ausweise, blieben nicht stehen. Ich ließ sie passieren. Einer kam zurück und fragte unvermittelt und scharf: «Wie heiße ich?» Ich wußte es nicht. «Sie müssen hinsehen, Genosse Soldat, was im Ausweis steht! Sonst kann hier ja jeder reinkommen! Merken Sie sich das!» Er ging, sagte nicht seinen Namen.

Auch der OvD kontrollierte nachts. Ich meldete «keine besonderen Vorkommnisse». Er nickte, schlenderte zum Wachgebäude, brüllte plötzlich: «Wache zu den Waffen!»

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Wie aufgeschreckte Hühner rannten kurze Zeit später Bauer, Jugel und die anderen aus der Tür. Pohl kam zuletzt. Der Oberleutnant sah auf die Uhr und verordnete «Üben». Nach zwei nächtlichen Probeläufen war er zufrieden. Ich beobachtete das Treiben und war froh, am Tor zu stehen.

Jetzt ist es kurz vor acht, ich habe ein Brötchen gegessen, etwas Malzkaffee getrunken und liege auf einer Pritsche, will ruhen. Kalt ist es im Raum, die Wolldecken sind klamm. Kein Holz mehr da. Ich drehe mich zur Wand.
Pohl poltert herein:

«Aufstehen, sofort ans Tor!»
Ich fahre hoch, sehe auf die Uhr und sage ihm, daß ich nicht dran bin, es ist erst kurz nach neun ...
«Doch, Wachablösung, außerplanmäßig. Welche vom Regiment kommen. Wenn der Bus da ist, machen Sie 'ne anständige Meldung!»
«Zu Befehl, Genosse Unteroffizier.»

Verschlafen trabe ich mit Pohl ans Tor. Der Schnee blendet mich. Soldat Strempel aus meiner Gruppe wird abgelöst. Er sieht mich erstaunt an, hat aber nichts dagegen, daß ich an seine Stelle trete. Eine «anständige Meldung» soll ich machen ... Strempel hätte vielleicht vor Aufregung nichts rausgebracht. Ich soll die Papiere kontrollieren, «nicht einfach reinlassen», sagte Pohl.

Dreiviertel zehn kommt ein kleiner grüner Bus die Straße hoch. Er fährt langsam, es ist glatt. Etwa zehn Personen sitzen drin, Männer, ihre Schulterstücke blinken. Offiziere. Einer mit vier goldenen Sternen steigt aus. Was ist das, ein Major? Nein, Hauptmann.

Ich stehe stramm, mache Meldung, bezeuge wieder, daß es «keine besonderen Vorkommnisse gab», obwohl gerade ein besonderes Vorkommnis stattfindet.

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Kontrollieren soll ich ... aber wie und was ... Der Hauptmann hält mir ein Schreiben vor die Nase.
«Das ist der Einsatzbefehl», sagt er.
Ich nicke und öffne das Tor. Der Hauptmann sieht mich prüfend an:
«Wissen Sie, wer wir sind?»
«Jawoll, Genosse Hauptmann. Der Bus vom Regiment. »
Er sieht mich erstaunt und unwillig an.
«Ach, das wissen Sie?»
«Jawoll!»
«Woher? Von wem?»
«Der OvD», sage ich stotternd, «der Genosse Unteroffizier...»
«So, so.»
Der Hauptmann dreht sich um und steigt ein. Der Bus fährt langsam an und hält vor dem Stabsgebäude. Er hinterläßt eine gerade Spur.

Ist das eine Inspektion? Eine Überprüfung? Es sieht so aus. Wahrscheinlich sollte keiner wissen, daß sie kommt. Habe ich mich verplappert? Ach was, sage ich mir dann, ich bin bloß der Posten am Tor. Wenn mir Pohl solche Mitteilungen macht ... Ich schiebe es weg, auf den Vorgesetzten. Er trägt die Verantwortung. Ich habe nur einen Befehl ausgeführt, habe nur einem Offizier, noch dazu einem Hauptmann, wahrheitsgemäß geantwortet.

Kurz darauf kommen Dominiak und Emmrich. Ich muß meinen «Postenbereich übergeben», Emmrich löst mich ab. Das geht ja schnell. Dominiak als «Aufführender» achtet diesmal auf eine korrekte Meldung. Er führt mich zum Wachgebäude zurück. Vor der Tür muß ich die Waffe sichern.
«Alles genau nach Vorschrift», sagt Dominiak eifrig, «welche vom Regiment sind da. Es kann Alarm geben.»

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Sein Koppel ist nach oben gerutscht, das Tragegestell ist verstellt. Der große Stahlhelm, Dominiaks schmales, kindliches Gesicht mit der großen Nase, das V verrutschte Koppel, der befehlende Ernst seiner hellen Stimme ... wie er den Unteroffizier spielt, den «Aufführenden» ... «Dominiak», denke ich, «ist doch ein Arsch.»

Pohl bringt vom Stabsgebäude einige Briefe mit. Ich habe Post! Von Eva! Und von meinen Eltern ein dicker Umschlag, den ich zuerst öffne.
Bilder, postkartengroße Fotos von mir! Ich bin darauf zu sehen! Lange sehe ich hin, sehe mich an. Davor, das war davor ... Kein Fassonschnitt, sogar über die Ohrenspitzen ... Die schwarze, glänzende Kutte, ihr Kragen ... Das bin ich... das war ich.

Auf der Rückseite ein großer Stempel: «Fotoatelier Frohs». Natürlich! Wenige Tage vor der Einberufung habe ich mich ja noch fotografieren lassen. Daran habe ich gar nicht mehr gedacht. Jugel sieht herüber, beugt sich vor.
«Eh, wer ist denn das ...»
Es klingt erstaunt.
«Ich.»
Er sieht mich an, dann auf die Fotos. Dreimal ich, vor der Armee. Ernst, zu irgend etwas entschlossen, fast abweisend. Aber auch ahnungslos.

«Älter siehst du auf den Bildern aus. Nicht schlecht, muß ich sagen. Habe ich gar nicht gedacht.»
«Was hast du denn gedacht?» frage ich.
«Nichts weiter ... Wenn man uns hier so sieht... Ich sah auch anders aus.»
Bauer sieht mir über die Schulter.
«Das bist du? Wirklich? Einwandfrei. Ziemlichen Kanten. Wie man sich doch verändert.».

322


Jugel und Bauer sehen mich mitleidig an, scheint mir. Ich bin verwirrt.

«Fotoatelier Frohs» in der Bahnhofstraße, eine Treppe. Er wollte, daß ich lächle, hielt eine Puppe hoch. Ich lehnte ab, sagte: «Ich komme zur Armee, da wollte ich mich vorher noch mal knipsen lassen. Zur Erinnerung. Lächeln muß ich da nicht.» «Bitte, wie Sie wollen.» Er verzog das Gesicht, war beleidigt, bediente schnell seinen Apparat... «In fünf Tagen.» Meine Eltern holten die Bilder ab. Jetzt liegen sie auf dem Tisch der Wache im Ausbildungslager Johanngeorgenstadt, neben dem Wachbuch und dem Telefon.

Ich packe sie weg. Gehe in den Ruheraum, setze mich auf eine Pritsche und öffne Evas Brief. «Mein lieber Jürgen», schreibt sie und schildert den letzten Schultanzabend, «der ganz toll war.»

Zwei-, dreimal lese ich ihren Brief, betrachte ihre Schrift, will mich freuen und werde plötzlich traurig, leer. Nein, kein Schluchzen kommt. Gar nichts kommt. Hohl bin ich, spröde, zersprungen, matt. Schwer hängen die Filzstiefel an den Füßen. Das Koppel drückt. Diese verfluchte Patronentasche! Ich sehe zur Tür, auf ihre grobe, unregelmäßige Musterung, die unter dem Lack hervorkommt an einigen Stellen. Auf Zahlen, die eingeritzt sind, «501», «506» ... Auf ein Herz mit den Buchstaben «B. K». Wer ist gemeint? Beate König? Barbara Kaufmann? Bernd Kreißig? Was weiß ich. Namen schwirren mir durch den Kopf. Fremde Buchstaben und fremde Namen ...

Der Raum hat keine Fenster. Ich ersticke, gleich ersticke ich.
Kohlen und Holz holen. Etwas tun, bewegen, nicht hocken bleiben.

323


Im Keller der Kompanie treffe ich Kannengießer. 
«Was machst du hier?» frage ich. 
«Heizer», sagt er, «einwandfreier Job.»
Er winkt mich in einen Raum. Ich sehe Rohre, einen Kokshaufen, Schaufeln und Kohlengabeln in der Ecke. Kannengießer hat kurze Haare. Noch immer wirft er seinen Kopf ab und zu nach hinten, um die langen, fettigen Strähnen, die nicht mehr da sind, von der Stirn zu entfernen.

«Früh muß ich anfeuern», sagt er, «um fünf. Ganz schön früh. Na ja, die Diensträume haben Dampfheizung. Auch das Stabsgebäude. Die Leitungen gehen überallhin. Neben der Küche ist noch 'ne Heizung. Tja, Feuer halten, Druck kontrollieren. Und hier», er zieht einen Vorhang beiseite, «kann man abruhen. Einwandfreier Job, kann ich dir sagen ...»

Aus Briketts, Holzstücken und Säcken hat sich Kannengießer ein Lager gebaut.

«Die Tür kann ich abschließen, habe einen eigenen Schlüssel. Wenn ich will, liege ich hier flach und bin nicht da. Ein Leben, sage ich dir. Himmlische Ruhe. Kein Stänkern mehr...»

«Mußt du keine Ausbildung mitmachen?» 
«Doch, ab und zu. Aber wenn ich mich abseilen will, kann ich das. <Materialbeschaffung> sage ich dann, oder <Reparaturarbeiten>. Die wollen es ja warm haben. Und hier», geheimnisvoll lüftet er eine Pappe, «noch was Erfrischendes.»

Eine Seite aus dem «Magazin» ist mit zwei krummen Nägeln an die Ziegelwand gepinnt: junge nackte Frau mit langen Haaren lehnt an einer Birke und hält in der Hand einen kleinen Blumenstrauß. Kannengießer lacht.

324


«Das ist wichtig. Mal 'ne andere Perspektive. Nicht immer nur eine Garnitur, da wird man ja meschugge. Habe ich von meinem Vorgänger übernommen.»
Sorgsam verhängt er sein Keller-Traumbild wieder und zieht den Vorhang zu.
«Das war's. Was meinst du?»
«Klasse», sage ich.

Mit zwei Eimern Briketts und etwas Holz, viel habe ich nicht gefunden, gehe ich zum Wachgebäude zurück.
Meine MPi steht bei Dominiak im Ständer. Er als Aufführender, der gerade Telefondienst hat, darf das ausnahmsweise machen, wie Pohl meinte.

Neu ist auch: am Vormittag nur «Bereitschaft» zu haben, nicht voll verplant zu sein, ohne ausdrücklichen Befehl mit zwei Eimern zum Kompaniekeller schlendern zu können, wenn man es im Ruheraum nicht mehr aushält ... Und mit Kannengießer zu plaudern, dem neuen Heizer...

Von halb zwölf bis kurz vor zwei stehe ich wieder am Tor. Als ich abgelöst werde, marschieren die Kompanien vor dem Stabsgebäude auf. Sie stehen mit dem Blick zur Tür, zur kleinen Veranda, die von zwei Säulen begrenzt wird.

Ist das ein Appell?

Die abgelösten Wachen müssen sich auf Weisung des OvDs ebenfalls einfinden. In Zweierreihen marschieren wir los, die Waffen bleiben im Zimmer des Wachhabenden.

«Auch das noch!» Jugel sieht blaß und übermüdet aus, er hat sich erkältet. Dichte Bartstoppeln schwärzen sein Gesicht. «Ganz schön viele», sagt er mit Blick auf das versammelte Bataillon.

«Stillgestanden! Richtet euch!»

325


Major Wildgrube kommt aus der Tür und nimmt die Meldung entgegen. Mehrere Offiziere begleiten ihn. Ich erkenne auch den Hauptmann vom Regimentsbus, der mich am Tor ausgefragt hat. Vier ältere Männer in Kampfgruppenuniformen und mit Maschinenpistolen stehen neben der Treppe. Einer von ihnen tritt vor und sagt:

«Genossen Soldaten! Ihr habt vor einigen Tagen den Ehrendienst bei der Nationalen Volksarmee angetreten. Bereits an eurem Arbeitsplatz habt ihr durch eure Taten das neue Leben in unserer Deutschen Demokratischen Republik mitgestaltet. Jetzt steht ihr euren Mann bei der Landesverteidigung, beim Schutz des Sozialismus. Gebt dem Imperialismus keine Chance! Aus den Händen der Arbeiterklasse sollt ihr heute eure Waffen erhalten. Wir haben sie getragen beim Schutz der Staatsgrenze, beim Errichten des antifaschistischen Schutzwalls. Haltet sie in Ehren! Seid ehrliche, tapfere, disziplinierte und wachsame Soldaten, die allzeit treu unserer Deutschen Demokratischen Republik dienen! Merkt euch die Worte: Das Vaterland darf jedes Opfer fordern! Nichts ist zu kostbar für das Vaterland! In diesem Sinne übergeben wir euch die Waffen!»

Vier Soldaten treten vor und nehmen die Maschinenpistolen in Empfang, die ihnen von den vier Kampfvertretern überreicht werden. Sie machen zackige Bewegungen, man merkt, daß diese Zeremonie geübt wurde.

Die älteren Männer von der Kampfgruppe sehen ganz sympathisch aus. Zwei haben Bäuche, die vom Schnitt ihrer Uniformen und den straffgezogenen Koppeln besonders betont werden. Drei haben graue Haare und ähneln sich wie Brüder. Selbst der Redner mit seinen Phrasen hatte etwas Gewinnendes, Beschwichtigendes, beinahe Tröstendes in der Stimme.

Sie werden bis Mittag gearbeitet haben in ihren Betrieben. Als Einrichter, als Meister. Zu den Lehrlingen werden sie nicht schlecht sein. Sie werden ein Auge zudrücken, wenn einer zu spät kommt.

326


In ruhigem, mahnendem Ton werden sie in der Frühstückspause sagen: «Morgen früh pünktlich sein. Etwas mehr ranklotzen. Anders geht es nicht.» So etwas werden sie sagen, so sehen die da vorn aus, die vier von der Betriebskampfgruppe. Sie stolzieren nicht herum wie die Offiziere mit ihren Schirmmützen auf der Veranda des Stabsgebäudes. Sie tragen Stahlhelme wie wir. Aber sie sagen bestimmt auch: «Was sein muß, muß sein.» Diszipliniert sind sie. Und brav. Diese Väter, diese Kollegen in ihrer militärischen Verkleidung.

Jetzt hält Major Wildgrube noch eine Rede, wie es aussieht.

Er ist groß. Ich überlege, ob er größer als zwei Meter ist. Am ersten Tag, als sie uns abführten im Stabsgebäude, hat er uns nur kurz befragt und dann angeordnet, daß wir unser Abendessen bekommen. Das gefiel dem wütigen Stabsgefreiten gar nicht, der uns zu bewachen hatte.

Jetzt erläutert er, daß wir die Waffentechnik erlernen müssen. Und wie wichtig politisches Bewußtsein ist. Und daß der Feind nicht zögert, in jede Lücke einzudringen. «Schließen wir die Reihen fester, Genossen Soldaten, Unteroffiziere und Offiziere!» Das ist sein Schlußsatz. Als er sich umdreht und auf die Veranda zurückgehen will, rutscht er aus, kann sich aber noch halten. Seine langen Beine wirken für einen Moment dünn und klapprig trotz glänzender Stiefel und ausgestellter «Ohrenhose». Beinahe wäre er hingefallen. Kichern ist zu hören.

Ein hagerer Politoffizier mit stechenden, tiefliegenden Augen hat das Kommando übernommen. Er wartet. Als es ganz still ist, beginnt er leise zu sprechen:
«Genossen Soldaten! Nachdem ihr die Waffen aus den Händen der Arbeiterklasse erhalten habt, komme ich noch zu einem anderen Ereignis. Es ist traurig und schändlich.»

327


Wieder macht er eine Pause.
Ein Soldat wird vor die Front geführt. Zwei Unteroffiziere stehen rechts und links neben ihm, sie tragen Pistolentaschen.
Der Politoffizier zeigt auf den Soldaten:

«Dieser hat es gewagt», sagt er mit jetzt lauter, schriller Stimme, «einen Vorgesetzten anzugreifen! Er hat damit an den Grundfesten unseres Staates gerührt, er hat sich gegen die Arbeiterklasse, gegen das ganze werktätige Volk und unsere Regierung, unsere Partei gestellt! Das ist ein äußerst schweres Vergehen! Möge ihn die harte Strafe der Gesetze unserer Republik und die Verachtung des werktätigen Volkes treffen!»

Er tritt einen Schritt auf den Soldaten zu, der grau, den Kopf eingezogen, dasteht. Mit einer energischen, schnellen Bewegung faßt er nach seinen Schulterstücken und reißt sie ab. An einer Seite muß er zerren und drehen, bis sich die Schnüre lösen.

Ein erschrockenes Raunen geht durch die Reihen, die Köpfe bewegen sich, wollen alles sehen. Wenige Augenblicke später starren wir wieder mit aufgerissenen Augen geradeaus. Der Leutnant hat es befohlen. Die beiden Unteroffiziere führen den Übeltäter ab, sie verschwinden im Stabsgebäude.

Im Weggehen, an seinem Gang erkenne ich ihn: Es ist der kleine Soldat! Der Pfeffie von gestern abend, der mit Gasmaske durchs Tor geschleift wurde und in den Neuschnee fiel! Er ist es! Glatte Soldatenschulterstücke hat er, ohne grüne Streifen. Die werden sie ihm schon vorher abgenommen haben. Er wollte nicht mehr ... hat einen Vorgesetzten angegriffen ... wahrscheinlich einen von den Unteroffizieren, die ihn dann geschleift haben ... oder sie haben es hinterher so gedreht ...

«Was wird mit ihm?» frage ich Jugel.

«Militärstaatsanwalt. Knast. Schwedt. Kann sich auf was gefaßt machen.»
Jugel hustet, schnaubt sich die Nase.

Die Kompanien marschieren ab. Wir stapfen mit unseren Filzstiefeln in die Wachräume zurück. Noch zwei Stunden, dann kommt die Ablösung.

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