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Es hat getaut. In der Nähwerkstatt gegenüber brennt Licht, als wir vom Frühsport zurückkommen. Mittwoch ist heute, der neunte Tag. Gestern nach der Wachablösung, nach dem Abendessen, sollten wir Trainingsanzüge anziehen. «Duschen, zugweise», sagte Pohl. «Frische Unterwäsche mitnehmen. Eigentlich selbstverständlich, aber manchen muß man das sagen. Handtücher und Seife dazu.» 

Duschen, nackt ausziehen ... Wo wird es sein? Im Stabsgebäude? Sind die Unteroffiziere dabei? fragte ich mich. Pohl, Weidauer? Ohne Badehose ... 

Ich fürchtete mich, dachte an die ärztliche Untersuchung, an Schwabe, der früh im Zimmer herumstolzierte mit seinem langen Schwanz ... Vergleiche wird es geben, sagte ich mir, Besichtigungen ... Du mit deinem Pimmel, Rippen zum Klavierspielen, Biellaus fetter Arsch und seine kurzen Beine ... solche Reden ahnte ich. Noch schnell aufs Klo gehen, kurze Massage, an Kannengießers Wandbild denken im Heizungskeller, nein, nicht an Eva ... gar nichts denken ... fühlen? Kann ich was fühlen? Ganz schnell, unten sind die Füße zu sehen. Einen haben sie schon beim Onanieren erwischt. Welche aus seinem Zimmer schlichen sich an, spritzten mit dem langen Wasserschlauch die Filzlatschen naß und kletterten außen hoch, sahen von oben in die Kabine. «Nicht mal in Ruhe scheißen kann man!» Das war sein Ruf, seine schrille, hilflose Antwort. Aufs Klo setzen, die Beine anziehen und die Tür zuhalten. Das ist schwer, fast eine akrobatische Leistung. Leise sein, nicht lachen, nicht stöhnen, nicht jammern. Besser nachts, aber da ist man müde. Und auch nicht sicher vor Störungen. Bin ich ein Schwein? Ein Wichser? Ein Schwuler? So hockte ich da vor dem Duschen. 

Schwabe legte sich Sonntag abend in Emmrichs Bett, als der nach dem Stubendurchgang noch einmal auf den Flur ging. Das Licht war schon aus. «Gerd», flüsterte Schwabe mit verstellter Stimme, «Gerd», und streckte die Arme aus, als Emmrich zurückkam im Schlafanzug und in sein Bett steigen wollte. Emmrich erschrak, machte einen Satz zum Lichtschalter. Wir johlten, lachten, die Stahlbetten bogen sich und kreischten mit. Schnell, schnell, mit Klopapier abwischen ... Es ging zum Duschen ... Das ist geheim und nicht die Liebe. Aber schön, einen Augenblick lang schön. «Hände auf die Bettdecke.» Auf den Flur raus mit Handtuch und Seife. Es ging in ein Haus gegenüber dem Küchengebäude, zehn Minuten duschen, abtrocknen, anziehen. Viel Dampf, schlechte Sicht, Jugels Rücken waschen, Witze, Bemerkungen, aber doch eher freundliche, unter heißem Wasser, nackt waren wir alle, im Laufschritt zurück. Stuben- und Revierreinigen. Schlafen...

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Das war gestern abend. Das Zimmer ist kalt. Verschnupft bin ich, hätte die Haare trockenreiben müssen. Aber ich war zu müde nach dem Wachestehen.
Der Schnee ist weg. Mild ist es draußen, windig, schwarz. Eine nasse Dunkelheit. In der Nähwerkstatt brennt Licht. Glöckner kommt ans Fenster und lehnt seine Stirn gegen die Scheibe. So kann er lange stehen, wenn kein Befehl kommt.
Ein Pfiff.
Wieder raustreten, vorher Koppel umbinden, Käppi aufsetzen, Stiefel an, alle Jackenknöpfe schließen, Hose straff in die Stiefel ziehen ...
Oberleutnant Patsch und Flörchinger kontrollieren die Kragenbinden. Etwa die Hälfte des Zuges muß in die Zimmer zurück und neue einknöpfen. Auch Kahn wird zurückgeschickt. Als er wieder auf dem Flur steht, bemerkt Flörchinger, daß er ohne Kragenbinde zurückgekommen ist. Flörchinger stellt ihn zur Rede. Kahn sagt:
«Ick habe keene andere, allet dreckig.»

Flörchinger schiebt Kahn ins Zimmer. Nach kurzer Zeit rennt Soldat Kahn an uns vorbei in den Waschraum, Seife, eine kleine Handbürste und eine Kragenbinde in der Hand.
Flörchinger sieht ihm nach und ruft:
«Schrubben, aber dalli! Mit sauberer Kragenbinde kommen Sie zurück!»
Wir müssen stehen und warten.
Nach etwa fünf Minuten kommt Kahn aus dem Waschraum. Seinen Kopf hält er sehr gerade. Flörchinger kontrolliert noch einmal und nickt:

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«Kleine Kühlung kann nicht schaden im Sommer.» Kahn hat die nasse Kragenbinde eingeknöpft.
Nach dem Frühstück befiehlt Flörchinger «das Reinigen der Außenreviere». Die Unteroffiziere teilen ein. Pohl fragt:
«Wer hat die Fahrerlaubnis?»
Einige melden sich. Er winkt sie aus der Reihe.
«Hierher... Wer hat die Eins? Ein Schritt zurück. Und wer die Vier? Zwei Schritte zurück ... Wer hat Abitur? Biellau, aha, gut, sehr gut... Fuchs, Dominiak ... So.»

Er sieht uns bedeutungsvoll an.
«Klasse Eins schrubbt Klo und Waschraum. Vier wischt den Flur, aber gründlich. Und unsere Herren Oberschüler, die besonders Schlauen, heben die Kippen auf am Zaun! So! Je zwei einen Eimer ... ach so, da fehlt einer. Na, sagen wir mal ... Jugel! Sie sind doch auch nicht dumm. Gehen Sie mal noch zu den Oberschlauen. Erstklassige Sauerei, sieht man erst, wenn der Schnee weg ist: Alles wird aus den Fenstern geschmissen. Das unterbleibt ab sofort! Zigaretten, Streichhölzer, Papier, schwupp, aus dem Fenster ... Keinen Krümel will ich nachher mehr sehen ... Vor allem vorn an der Straße, wo die Zivilisten vorbeigehen! Der Spieß kommt da immer vorbei, der sieht alles. Ab!»

Mit Eimern ziehen wir los. Jugel und ich gehen zum Zaun an die Straßenseite, unter unsere Fenster.
«Da sieht uns keiner», sagt Jugel.
«Und durch die Fenster?»
«Sind doch alle unterwegs ... die Dienstzimmer sind auf der anderen Seite.»
Zuerst versuchen wir die Kippen und Papierfetzen mit Stöckchen aufzuspießen. Aber das ist sehr umständlich. Also nehmen wir doch die Hände.

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Abgebrannte Streichhölzer finden wir, Flaschenverschlüsse. Sogar einen Briefumschlag, auf dem nur eine Adresse steht, die durchgestrichen wurde.

«Sollte vielleicht ein Liebesbrief werden», sagt Jugel.
«Hast du Kinder?» frage ich ihn.
«Nein, aber meine Frau ist schwanger. Im März ist es soweit, wenn alles klar geht... Ich weg ... Das paßt ihr gar nicht, kannst du dir denken. Man möchte doch dabeisein. Hat sowieso Schwierigkeiten mit ihren Eltern. Wohnt bei meinen, eigene Wohnung haben wir nicht... Alles zum Kotzen hier», sagt Jugel. Er sieht mich an:
«Und du?»
«Na ja», sage ich, «geht mir auch so. Familie habe ich nicht, das ist bei mir etwas anders ... Eine Freundin ...»
«Ist klar, auch nicht viel besser. Für keinen. Ob ledig oder verheiratet. Wie man sich länger verpflichten kann, kapiere ich nicht. Die werden überredet ... oder das Geld lockt sie ...»
«Ist das eigentlich viel?»
«Vier-, fünfhundert werden's schon sein. Später mehr.»
«Mich haben sie vor der Musterung gefragt, im Wehrkreiskommando. Ein älterer Offizier. Ich hab nein gesagt, dann hatte sich's auch. Bei anderen ging es stundenlang. Dafür in der Schule ... Der Direktor wollte jeden rumkriegen.»

Ich finde einen Kugelschreiber ohne Mine, die Feder ist noch drin. Soll ich ihn aufheben? Ach, wozu ...
«Wenn ich das hier sehe», Jugel zeigt auf das Kompaniegebäude und den Zaun, vor dem wir stehen, «kann ich eigentlich nur sagen: Es gibt Atombomben! Und wir turnen rum und tun so, als könnten wir den Krieg gewinnen! Die Kapos spielen sich auf, machen Witze.

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Das vorhin mit dem Abitur und der Fahrerlaubnis ... Pohl, dieser Pisser, dieser jungsche Kerl! Was bildet der sich ein! Pisser! Bei Pickel habe ich es auch verschissen. Der kann mich nicht ausstehen. Kam neulich in unser Zimmer, abends, wollte 'ne Meldung. Ich habe mir Zeit gelassen, Hartmut auch ... Bauer meine ich ...»
«Weiß schon.»
«Aber was soll man machen. Der Einberufungsbefehl flatterte ins Haus. Im Betrieb die Verabschiedung, die Frau heult, schon ist man hier ...»
«Stimmt. Und verweigern...»
«Bedeutet Knast.»
«Genau weiß ich es auch nicht. Aber es gibt einen Dienst ohne Waffe. Hab ich in der Kirche gehört. Ich kenne keinen, aber es muß so was geben. <Spatentruppe>...»

«Ich geh nicht in die Kirche», sagt Jugel, «aber hab auch nichts gegen Christen, ganz und gar nicht.»
«Ich war manchmal in der <Jungen Gemeinde>.»
«Na ja, wer dran glaubt. Da wird auch getanzt, habe ich gehört.»
«Und diskutiert auch viel. Ein Pfarrer war in Ordnung.»
«In der 2. Kompanie soll's einen geben, der hat beantragt, sonntags zur Kirche zu gehen. Haben sie abgelehnt, weil noch keiner in Ausgang darf.»

«Wann kann man eigentlich raus?» frage ich.
«Na bald, denke ich, nach vier Wochen. Ich hab was von <Gruppenausgang> gehört. Mit Unteroffizier. Na, prost Mahlzeit. Mit Weidauer oder Pohl in die Kneipe, das kann was werden ...»
«So übel ist Weidauer nicht.»
«Na ja, übel. Aber Pohl! Ich meine nur: Hier die Gesichter den ganzen Tag. Und dann draußen auch noch.

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Das meine ich. Wenn wir allein rauskönnen, sage ich meiner Frau Bescheid, die soll kommen. Meine Eltern haben ein Auto, die sollen sie fahren.»

Wir reden und fingern nach nassen Kippen. Es sind wirklich viele. Wahrscheinlich wurden sie abends geraucht, wenn der Eimer schon ausgeleert war vor dem Stubendurchgang. Dann sollte alles sauber bleiben im Spind.

Ich sehe auf die Straße, luge durch die Latten. Die Fenster der Nähwerkstatt liegen zu hoch ... von oben kann man besser beobachten.
«Eine Hübsche haben sie», sagt Jugel, «Bauer hat sie gesehen. Sitzt immer nur an der Maschine. Darf wahrscheinlich nicht ans Fenster kommen.»
«Wieso?»
«Vermute ich. Weil man kaum jemand sieht. Vielleicht spinnt Bauer auch bloß rum. Der redet manchmal kariert ... <Salem>.» Jugel bückt sich. «Die ist von mir. Ich bin der einzige im Zimmer, der die raucht. Oder von Bauer, der schlaucht immer. Na ja, ich will nichts sagen, er gibt auch, wenn er hat... Sag mal, mit dem Buch neulich, wie hieß das, <Wolkolamsker Straße>» ...

«Die Wolokolamsker Chaussee!»
«Ja, richtig. Was du vorgelesen hast... Wie findest du denn das?»
«Kriegsbeschreibung. Nicht sehr gut. Einige Stellen besonders.»
Jugel nickt.
«Und im Politunterricht, da hast du einwandfrei gesprochen. Könnte ich gar nicht. Ich wollte dich fragen: Wie ist denn deine Meinung, politisch, also allgemein?»
«Wie meinst du das?»
«Na, du bist doch kein Hundertprozentiger?»
«Nein.»

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«Gut, klar, so siehst du auch nicht aus ... aber bist du dafür?»
«Wofür?»
«Na, für den Staat, für den Sozialismus.»
«Für den Sozialismus bin ich. Das ist kompliziert ... für den richtigen.»

Jugel sieht mich an. Wir stehen am Zaun. Dicke, dichtgereihte Holzlatten, über zwei Meter hoch, oben noch mit Stacheldraht umwickelt, überragen uns. Auf der Straße fährt ein gelber «Wartburg» vorbei.
«Und was ist der richtige Sozialismus?» fragt Jugel.
«Das ist schwer zu sagen ...» Jugels direkte Art zu fragen, das ging mir schon bei Bauer so, verunsichert mich. Ich möchte mich lieber nicht festlegen.
«Der Staat hier?» Jugel bohrt weiter. «Ulbricht?»
«Das kommt darauf an ...» sage ich, «wie man es betrachtet.»
Wir sind allein, kann ich ihm trauen? Wir haben noch nie länger zusammen gesprochen ...
«Das in Prag ist schiefgegangen», sagt er. «Ich war zweimal da, 67 und 68, im Mai. Hat mir gefallen. Irgendwie offener war es, freier. Die Leute haben geredet. Nicht soviel Angst... Jetzt sind die Panzer da.»
«Ja.»
Jugel stößt mit der Stiefelspitze an ein völlig lädiertes Tempotaschentuch, nimmt ein Stöckchen und hievt es in den Eimer.

«Meine Meinung», sagt er plötzlich und lehnt sich mit einer Schulter an den Zaun, «ist die: Beschissener geht's nicht mehr. Ich sehe das im Betrieb, wo ich war. Keine Rechte, nur <rabotschie>. Gewerkschaft ist Blabla, die taugt gar nichts, plappert alles nach, was von oben kommt. Das kannst du alles vergessen. Gut, wir machen auch was, arbeiten muß sein. 

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Organisieren geht auch hin und wieder, sonst käme man nie an bestimmte Sachen ran, Kleinigkeiten, meine ich. Aber von wegen <volkseigener Betrieb>! Wir haben doch nichts zu melden. Ist doch alles Lug und Trug. Nach dem Westen schielen die Funktionäre. Und lassen uns nicht mal reisen. Ich habe Verwandte drüben. Denen darf ich jetzt nicht mal schreiben. Reisen können wir bis zum Rentenalter vergessen. Und auch dann noch Kann-Bestimmung! Nee, nee. Ich dachte, ich muß ausrasten, als ich mitbekam, wo wir uns befinden. Jetzt soll ich auch noch an die Grenze ...»

Jugel pocht mit der Stiefelsohle an den Eimer.
«Diese ganze Scheiße hier. Müller, Leutnant Müller, hat mich im Waschraum angegiftet...»
«Ich weiß, war dabei.»
«Pickel, Pohl, Känguruhn, Münchow ... hoffentlich liegt der noch im Krankenhaus und winselt ... so ein Pack!»
Jugel schlägt mit der Faust an den Zaun.
«Einen Haß habe ich», sagt er, «einen Haß ...»
Er brennt sich eine Zigarette an, reicht mir die Schachtel. Ich greife zu, er gibt mir Feuer, wirft das Holz in den Eimer.

«Können wir gleich wieder wegwerfen», sagt er und lacht. «Die wollen uns hier kleinkriegen, alle einen Kopf kleiner machen, mindestens. Marschieren, rotieren, Betten glattziehen, im Gelände rumspringen. Wer weiß, was sie sich heute noch ausgedacht haben. Diese Woche Vereidigung in Saalfeld ...»
«Diese Woche? In Saalfeld? Da wohnt meine Schwester. Das ist ziemlich weit. Wie kommen wir da hin?»
«Keine Ahnung ... dauernd Überraschungen. Das macht mich fertig. Schlimmer als Knast. Klammer, den hast du doch auch gesehen am ersten Tag, der Blonde, lange Haare, mit Gitarre, der ist aus meiner Gegend ...»

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Ich nicke.
«... den lassen sie hier nur auflaufen. Wahrscheinlich, weil er so ankam. Hätte ich auch nicht gemacht. Provozieren ist sinnlos, ich war auch vorher beim Friseur. Sonst schnippeln die einem noch alles ab ... Warst du vorher?»
«Ja, hier noch mal.»
«Ich weiß ... Klammer ist Christ, der glaubt dran, echt. Das achte ich. Und zu dem sagen sie, er hetzt die Leute auf... Der läßt sich eben nichts gefallen, diskutiert rum. Na und? Ist das verboten? In der Verfassung steht, jeder Bürger hat das Recht auf freie Meinungsäußerung. Und? Pustekuchen. Klammer wird nur rumgescheucht. Obwohl er schon ruhiger geworden sein soll, wie ich hörte ... Die machen, was sie wollen, diese Arschlöcher ... das stört mich.» Mit zwei Fingern schnipst er die Zigarette durch den Zaun auf die Straße. «Im Zimmer kann man nicht reden. Nur mit Bauer. Bei Kahn bin ich unsicher. Wenn sie den fragen, quatscht der los, vielleicht nur aus Bequemlichkeit. Na, weiß man nicht ... Jedenfalls platze ich bald ... In meiner Abteilung haben alle gedacht wie ich. Einer war in der Partei, aber nicht verkehrt ... Hier kennt man keinen. Immerzu die Schnauze halten, das geht auch nicht.»

Ich nicke, will etwas sagen. Bin erschrocken und erleichtert über Jugels Reden. Er vertraut mir.
«Wir müssen eben sehen, wie wir durchkommen.»
Er nimmt den Eimer, wir gehen langsam zu den Mülltonnen.
Im Flur treffen wir Dominiak. Er hat Kehrschaufel und Besen in der Hand und weint.
Ich frage ihn, was los ist. Mit der Schaufel fuchtelt er herum:

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«Ein Drückeberger soll ich sein! Hinter dem Ofen soll ich mich versteckt haben! Aber das stimmt nicht, wirklich, ich lüge nicht, das war anders ...»

Wir erfahren, daß er beim Kippenauflesen von Weidauer ins Haus gerufen wurde, er bekam einen Schlüssel und sollte Feuer machen in der Kantine, die erst gegen zehn öffnet. Er ging hin, kramte hinter dem Ofen, suchte Holz. Plötzlich stand Leutnant Meier neben ihm und brüllte: «Statt Außenreviere zu reinigen, verstecken Sie sich hier! Eine Frechheit, das wird Folgen haben», und so weiter. Dominiak kam nicht zu Wort, wurde ins Kompaniegebäude gescheucht, landete wieder bei Weidauer, der grinste und schickte ihn in die Kantine zurück. Jetzt weiß Dominiak nicht, was er machen soll: «Gehe ich zurück, lauert vielleicht Meier auf mich ...» Er hat Angst, die Tränen laufen, zwischen Befehl und Befürchtung schwankt er, Kehrschaufel und Besen in der Hand, das Käppi tief in die Stirn gezogen.

Jugel rät ihm, zur Kantine zu gehen und die Tür von innen zu verschließen:
«Du hast doch einen Schlüssel. Dann machst du in Ruhe Feuer, nimmst dir gleich Holz und Papier mit... Und wenn du fertig bist, hockst du dich wirklich 'ne halbe Stunde hinter den Ofen. Das hast du voll verdient. Beobachten des Feuers, Brandschutz und so weiter ... Wenn Jutta kommt, um so besser, dann hast du sogar nette Unterhaltung als Drückeberger ...»
Dominiak schüttelt den Kopf, lächelt kurz, nickt, zögert noch, geht aber dann los.

Kurz vor zehn müssen wir die Uniformjacken wechseln. Diensthose und Käppi anlassen, aber die «bessere Jacke anziehen», lautet die Weisung.

Es geht in die Turnhalle des Stabsgebäudes, wo ich am Sonntag Volleyball spielte, zum Fotografieren. Paßbilder sollen gemacht werden für den «Dienstausweis». Mein Personalausweis wird irgendwo bei den Akten liegen.

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Mit vierzehn zum «Volkspolizeikreisamt» zu gehen und einen Ausweis zu beantragen, das war etwas! Schon die Ankündigung dieses Gangs und der Bericht über das Ausfüllen der Formulare löste Bewunderung bei den jüngeren Kindern der Straße aus. Endlich erwachsen! Endlich ein amtliches Papier mit Stempel und Schutzhülle! Und die eigene Schrift unter dem Paßbild! So wichtig war man geworden ... «Zeig mal deinen Ausweis ... Mensch, wie siehst du denn aus ... soll ich dir mal meinen zeigen? Der wurde zehn Tage eher ausgestellt! Ätsch!» Solche Gespräche fanden statt in Fluren und auf Parkbänken ... Vorher, in der vierten Klasse, erhielten wir neue «Pionierausweise». Ein Fotograf kam in die Schule, einzeln wurden wir zur Tafel gerufen und mußten uns auf einen Stuhl setzen mit Blick zur Kamera. Das war ein Theater! Jedes Blitzlicht löste Geheul und Lachen aus, Zurufe ... auch die Pionierleiterin konnte uns nicht beruhigen. 

Nach vierzehn Tagen wurden kleine Tüten verteilt. Die Paßbilder! Erwartungsvoll zog ich meine heraus und erstarrte. Schnell unter die Bank, in den Ranzen! Wegstecken! «Was ist denn?» wurde ich gefragt. «Ach nichts», sagte ich. Auf den Bildern war ein «Junger Pionier» zu sehen, ohne Zweifel war ich das, mit Halstuch, aufgerissenen Augen und offenem Mund. Sehr rund, sehr offen gähnte dieses Loch, umgeben von Lippen und gekrönt von zwei ziemlich großen, gerade gewachsenen Schneidezähnen ... Das sollte ich anderen zeigen und in den Pionierausweis kleben? Nein, das konnte ich nur schnell wegstecken. Als meine Eltern die Blitzlichtporträts in meiner Schultasche fanden, lachten sie und erinnerten mich beim Abendessen: «Denk daran: Mund zu!»

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 Ein Pech und eine Schande. Ich war sehr unglücklich. Am nächsten Tag erhielt ich Geld und ging mit meiner älteren Schwester zum Fotografen Dembitzky am Karl-Marx-Platz. Fest preßte ich meine Lippen zusammen, als wir die Treppe hochgingen. Mund zu! Ja nicht vergessen: Mund zu!

Die Aufnahmen in dieser Turnhalle gehen schnell und ohne Blitzlicht. Helle Lampen sind aufgestellt, die Blickrichtung wird angegeben, Käppi abnehmen, auf den Stuhl setzen, stillhalten, «klick» ... «der nächste ...»

«Bitte» wird nicht gesagt, «der nächste» wird gesagt. Wir sind beim Militär und nicht beim Fotografen Dembitzky oder im Fotoatelier Frohs. Es werden Fotos für den «Dienstausweis» gemacht. Aus dem Pionier, dem Schüler, ist ein Soldat geworden. Ein schmucker Soldat mit kurzen Haaren, so kurz, daß er sie nicht mehr zu kämmen braucht. Andere kämmen sich jetzt. Ich muß mich nicht kämmen. Dem Friseur mit den Siegelringen an den Fingern habe ich gesagt: «Oben so kurz wie hinten.» Also habe ich fast «Igel», nicht ganz, aber fast. Mein Lehrer Hawel hatte solche kurzen Haare. Freiwillig, er wollte das so. Ich wollte beim letzten Friseuraufenthalt wohl auch noch etwas mitbestimmen, als ich die Anweisung gab «oben so kurz wie hinten». «Freiwillig» sagte ich das, obwohl ich eigentlich nichts mehr zu sagen hatte in diesem Stuhl, mit dem gelben Wachstuchcape um den Hals. Der Anschnitt, der Bereich Hals-Hinterkopf und die Zonen um beide Ohren, das waren Gebiete, über die bestimmt wurde von militärischer und friseurmeisterlicher Seite. Das waren besetzte, verlorene Gebiete. Aber oben, um Wirbel und Scheitel, da hatte ich offenbar noch ein Wörtchen mitzureden. Glöckner, der mich hinterher tröstete mit den Worten «steht dir», diesen mitfühlenden, gutherzigen, hingesagten Worten, ließ seine Wirbel- und Scheitelpartie unangetastet.

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«Oben lassen», sagte er. Und so geschah es. Glöckner kämmt sich jetzt, auch Dominiak und Biellau, der neben mir steht und vorhin zuwinkend «na» sagte, als wir in die Halle kamen.

«Für den privaten Bedarf» können wir eine Bestellung aufgeben und uns in eine Liste eintragen mit Namen und Zahl. Ich bestelle vier Fotos. Eva werde ich keines davon schicken ... Aber meinen Eltern und meiner Schwester ... Eva werde ich eines von den anderen schicken, von denen «davor», die im Spind liegen ...

Wir marschieren zurück und wechseln die Uniformjacken. Schwabe will gehört haben, daß man sofort Sonderurlaub bekommt und eine größere Summe, wenn man «in Uniform heiratet».

«Habe ich gehört, ehrlich ... Die richten dann die Hochzeit aus, Essen, Getränke ... bei Offizieren weiß ich das genau, da habe ich selbst schon bedient... Bedingung ist, daß sie in Uniform feiern und zum Standesamt gehen in voller Montur. Auch zum Fotografen ...»

«Offiziere», wirft Glöckner ein, «müssen bestimmt Uniform tragen...»
«Müssen nicht», sagt Emmrich.
«Habe ich so gehört mit der Hochzeit.» Schwabe beharrt auf seiner Auskunft. «Das soll auch für Soldaten gelten. Man muß sich beim Kompaniechef melden, Angaben machen. Dann wird alles veranlaßt...»
«Willst du wohl machen ...» sagt Glöckner.
«Ich?» Schwabe winkt ab. «Ich doch nicht! Wie komme ich denn dazu? Heiraten ... Aber wer kein Geld hat oder gerne mit Uniform rumläuft... Es gibt ja auch Frauen, denen das gefällt...»
Emmrich nickt.

Ein Pfiff im Flur.
«1. Zug in den Fernsehraum! FDJ-Versammlung!»

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Die Unteroffiziere unseres Zuges, auch Patsch und zwei Offiziere, die ich nicht kenne, sind da. Das letzte Mal sahen wir die «Aktuelle Kamera», Demonstration und Militärparade auf dem Roten Platz ...

Es sind Stühle und Hocker herbeigeschafft worden, alle haben Platz. In einem Ständer stehen drei große Fahnen: die schwarzrotgoldene mit Hammer, Zirkel und Ährenkranz, die rote und eine blaue mit Emblem, die des Jugendverbandes.

Ein Unteroffizier als «Vertreter der Bataillons-FDJ-Leitung» hält eine Ansprache. Er trägt «Ohrenhosen», seine Uniform ist aus besserem Material. Ein «Zehnender», er hat sich länger als drei Jahre verpflichtet. Er redet vom «sozialistischen Wettbewerb Operation 70», erwähnt den «ehrenvollen Kampfauftrag der Soldaten der Nationalen Volksarmee» und preist die «historische Verbundenheit mit den anderen Bruderarmeen, vor allem mit der Roten Armee der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken». Nach dem Hinweis auf den 100. Geburtstag Lenins sagt er:

«Heute, liebe Jugendfreunde, findet die Wahl der FDJ-Leitung eures Zuges statt. Wahlen waren und sind stets Höhepunkte im Leben unseres Verbandes, der Freien Deutschen Jugend.» Mit der Hand faßt er sich ans Kinn. Sicher, routiniert spricht er. Er trägt eine randlose Brille mit einem goldenen, zierlichen Gestell. «Ihr habt euch schon einigermaßen kennengelernt und seid in der Lage, diese verantwortungsvolle Aufgabe zu lösen. Als FDJ-Sekretär des Zuges schlagen wir», er sieht auf einen Zettel, «den Genossen Kranz vor.»

Ein kleiner, dunkelhaariger Soldat springt auf. Er lächelt verlegen, macht den Ansatz einer Verbeugung ...

Der Abgesandte der FDJ-Bataillonsleitung sagt: «Genosse Kranz, vielleicht sagst du selbst einige Worte ... man kann sich immer am besten selber vorstellen. Einverstanden?»

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«Jawoll, Genosse Unteroffizier! Ich, wie schon gesagt, bin der Genosse Kranz. 22 Jahre, von Beruf Schlosser. Meine Arbeitsstelle ist das Bahnbetriebswerk Zwickau. Ich bin Kandidat der Partei. So ...» Er sieht sich um, nickt dann dem Unteroffizier zu. «So, Genosse Unteroffizier, das war's. Reicht das?»

«Danke, Genosse Kranz. Wenn jemand noch Fragen hat, kann er sich melden.»

Kranz sitzt wieder auf seinem Stuhl. Er sieht gar nicht aus, wie seine Stimme klingt. Fest klingt sie, sicher, sächsisch. Der Unteroffizier sieht wieder auf seinen Zettel:

«Dann lese ich jetzt die anderen Kandidaten vor: Als stellvertretender FDJ-Sekretär Jugendfreund ...» Er stutzt. «Dom ... jak ... Dominiak, ja, richtig. Agitation Jugendfreund Emmrich. Kultur Jugendfreund Fuchs. Als Kassierer Jugendfreund Karausche ... Bitte steht doch mal auf, daß wir euch sehen können... danke... so ist gut...»

Mein Name wurde genannt, also stehe ich auf. Kultur, das geht schon. Auch in der Schule war ich zwei Jahre Wandzeitungsredakteur. Nicht nur Ulbricht- und Leninehrungen gestaltete ich, da konnte man kostenlos Bildmappen aus dem Sekretariat abholen ... auch Gedichte, Brecht, Volker Braun, Sarah Kirsch, Enzensberger, ausgewählt zum Friedensthema, heftete ich an... eine Wandzeitung über Picasso ... Kultur, das geht schon ...

«Alles klar? Ihr kennt euch ja bereits ...» Der Unteroffizier spricht leutselig, wie ein Moderator, ein Unterhalter. «Gibt es Anfragen an die Kandidaten? Andere Vorschläge? Na, nicht ängstlich sein ... wir können diskutieren ... jawoll ... dahinten, bitte, Jugendfreund, steh mal auf, daß wir dich besser sehen ...»

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Bauer steht auf.
«Nur als Anfrage, als meine Meinung ... Emmrich als Agitator, Soldat Emmrich, meine ich, also, das sehe ich nicht ganz ein. Der kann doch gar nicht reden. Ich stelle mir das so vor: Ein Agitator muß reden können. Zum Beispiel Soldat Fuchs, der kann reden ... meinetwegen auch Soldat Dominiak... aber Emmrich...»
«Bitte, das sind Einwände und neue Vorschläge ... Wobei zu sagen wäre», der Unteroffizier sieht wieder auf den Zettel, «Jugendfreund Dominiak ist schon als Stellvertreter vorgesehen ... und, wer war noch? Ach ja, Jugendfreund Fuchs...»
«Auch schon», wird gerufen.
«Auch schon, jawoll, für Kultur. Ihre Vorschläge wurden also schon berücksichtigt, Jugendfreund ...»

Bauer erhebt sich noch einmal, bleibt gekrümmt stehen, will sich wohl gleich wieder setzen:
«Ja, schon ... ich meine bloß. Emmrich, Jugendfreund Emmrich als Agitator, muß denn das sein? Das war meine Meinung. Aber eigentlich ist es auch egal.»
«Egal», sagt der Unteroffizier sofort und scharf, dabei immer noch lächelnd, «egal ist bei uns gar nichts, Genosse Soldat! Wie war doch gleich Ihr Name?»
Bauer steht auf, macht eine Art Grundstellung und verkündet mit etwas zu lauter Stimme:
«Soldat Bauer, Genosse Unteroffizier.»

Emmrich meldet sich, steht auf:
«Also ich», sagt er, sehr rot im Gesicht, die Hände zu Fäusten geballt, «fühle mich dieser ... ehrenvollen Aufgabe ... voll und ganz...»
Jemand ruft:
«Gewachsen...»
«Jawoll, gewachsen. Das möchte ich sagen. Das ist meine feste politische Überzeugung! Ich stehe zu unserem Arbeiter- und Bauernstaat, der uns den Frieden garantiert!»

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Emmrich hat aufgeregt und stockend begonnen, die letzten Begriffe gehen ihm aber flott von den Lippen, Phrasen dreschen kann er. Er setzt sich. Einige lachen. Oberleutnant Patsch nickt. Ein neben ihm sitzender Offizier notiert sich etwas in eine blaue, große Mappe.

«So», der Unteroffizier ist neben die Fahnen getreten. «Noch Fragen, andere Vorschläge? Gibt es Kandidaten, die mit ihrer Nominierung nicht einverstanden sind? Alles klar? Gut! Dann frage ich: Wer ist mit der Wahl dieser Kandidaten für die FDJ-Leitung einverstanden? Den bitte ich um das Handzeichen.»
Die Arme heben sich.
«Danke. Die Gegenprobe: Wer ist dagegen?»
Keiner meldet sich.
«Enthaltungen gibt es nicht, dann beglückwünsche ich die neugewählte FDJ-Leitung zu ihrer einstimmigen Wahl. Ich wünsche ihr Erfolg bei der Arbeit! Im Anschluß müßte der Termin für die erste Versammlung vereinbart werden. Genösse Kranz, bitte übernimm du diese Aufgabe. Der Genösse Kompaniechef wird einen Terminvorschlag machen, er kennt den Ablauf am besten.»
Patsch nickt. Kranz springt auf:
«Zu Befehl, Genösse Unteroffizier! Ich übernehme diese Aufgabe! Ich danke euch allen für das Vertrauen! Ich werde versuchen, wir als FDJ-Leitung werden versuchen, alle anstehenden Aufgaben plangemäß und erfolgreich zu lösen...»

Er stockt, sieht den Unteroffizier an und fährt fort: «Ich werde als Genösse und Arbeiter all meine Kraft zur Verteidigung und Stärkung unserer Republik einsetzen. In diesem Sinne...»

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Patsch und die beiden anderen Offiziere beginnen zu klatschen.
Bauer klatscht mit und fragt halblaut:
«Was denn? <In diesem Sinne>... Was denn?»
Der Unteroffizier beendet die Versammlung und ruft:
«Freundschaft!»

Einige rufen ebenfalls «Freundschaft», Stühle scharren, wir gehen zurück auf die Stuben. «Gratuliere», sagt Bauer lächelnd und drückt mir die Hand. «Wofür?» frage ich. «Du bist gewählt, dafür», sagt Bauer und fügt flüsternd hinzu: «Emmrich ist ein Arschloch, darum habe ich das gesagt.»

Als wir wenig später auf der Lagerstraße stehen, um zum Essen zu marschieren, verläßt der FDJ-Unteroffizier zusammen mit Patsch und den beiden Offizieren das Kompaniegebäude. Sie unterhalten sich, sehen nicht zu uns herüber.

«Da ist doch der Jugendfreund», sagt Jugel.

Ein Soldat, der nicht zu unserer Kompanie gehört, kommt jetzt aus der Tür. Er schleppt drei umwickelte Stangen, die eine gelblich-schwarz, die andere rot, die dritte blau. Es sind die zusammengerollten Fahnen, die vorhin im Fernsehraum standen. Er folgt den Offizieren.

Am frühen Nachmittag verläßt unser Zug das Lager und marschiert unter Führung von Oberleutnant Patsch ins Tal unterhalb des Lagers. Hier haben wir schon die «Fortbewegungsarten im Gelände» geübt. Den Bach geht es entlang «ohne Tritt» bis zu einem kleinen Sägewerk. Vor einem Teich machen wir halt, das Wasser des Baches wird gestaut, das Wehr ist geschlossen. Patsch befiehlt, einen an der Straße liegenden Baumstamm über den Bach zu legen, der an dieser Stelle schon ziemlich breit und tief ist.

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Er besteigt als erster die unsichere Brücke, balanciert, breitet die Arme aus, macht einige Schritte, rutscht ab, versucht sich festzuhalten und fällt ins Wasser. Nur Kopf und Stahlhelm tauchen nicht unter. Spuckend und triefend steigt er ans Ufer.

Wir lachen laut und schadenfroh, brüllen, Weidauer hat sich auf die Straße gelegt und strampelt mit den Beinen. Patsch ist ins Wasser gefallen, der Oberleutnant, der Kompaniechef, der einen Geländemarsch eröffnen wollte mit einem riskanten Gang über einen Baumstamm!

Wir können uns gar nicht beruhigen. Das Wort «patschnaß» macht die Runde. Einer hat es gefunden, um das Geschehen zu kommentieren ... «tolle Nummer ohne Eintritt» ... «lange nicht so gelacht» ... «was unsere Offiziere alles leisten» ... Etwas macht sich Luft und kostet aus, daß da drei goldene Sterne unverhofft in das Wasser eines Gebirgsbaches gefallen sind an einem Novembertag.

Patsch schüttelt sich, grinst, leert die Stiefel und gibt Befehl, den Stamm an einer anderen Stelle überzulegen, weiter oben, wo der Bach noch nicht so tief ist.
Ohne neue Stürze überwinden wir das Hindernis.

Patsch ist naß, er friert, wird sich eine Krankheit holen ... Ob er zurückgeht? Nein, er bleibt. Er weist die Unteroffiziere an, ihre Gruppen getrennt durch den Wald zu führen an einen bestimmten Ort, und übernimmt selbst die erste Gruppe.

Wir wundern uns und ziehen mit Weidauer los.
Nach etwa einer Viertelstunde, kurz vor einer kleinen Lichtung, bleibt Weidauer plötzlich stehen, holt einige Patronen aus der Brusttasche, füllt sie rasch ins Magazin, macht uns Zeichen, still zu sein, lädt seine MPi durch, legt an und schießt zweimal.

«Ein Reh...» sagt er.

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Wir stehen fassungslos und horchen dem Echo nach, das durch den Wald scheppert. Er hat mit scharfer Munition geschossen ... Hat einfach durchgeladen und abgedrückt ...
«Hierbleiben!» befiehlt er und rennt los. Kurz darauf kommt er zurück. «Nicht getroffen ... weiter!»
Hat er wirklich ein Reh gesehen? Oder wollte er uns erschrecken? Man kann doch nicht einfach auf ein Reh schießen ... Weidauer ist kein Jäger. Und hier ist kein Schießplatz. Dafür aber militärisches Übungslände ... Wir gehen im Halbdunkel des Tannenwaldes hinter Weidauer her... Er legte an und drückte ab, leicht und hemmungslos ...
«Der kommt eben von der Grenze», sagt Bauer zu mir, «da nehmen sie es nicht so genau. Jeder hat dort 'ne kleine Reserve in der Hosentasche. Hat mir mein Bruder erzählt.»

Einem Pfad folgen wir, der sich durch den Wald windet. Es ist fast dunkel geworden. Weidauer scheint den Weg zu kennen. Es geht durch eine Schonung, in der noch grobkörnige Schneereste liegen. Die Luft ist mild, fünf, sechs Grad plus.
Wir erreichen eine Mulde, eine kleine Schlucht. Zwischen zwei Tannen hängt ein Kletterseil.
«Warten!» befiehlt Weidauer.
Wir setzen uns auf Wurzeln und Moospolster. Bauer fragt, ob er rauchen darf. Weidauer schüttelt den Kopf.
Nach und nach treffen die anderen Gruppen ein. Als Patsch in seiner nassen Uniform kommt, übernimmt er gleich das Kommando. Wir müssen das Sturmgepäck ablegen und mit Waffen über das Seil hangeln. Biellau schafft es nicht. In der Mitte kann er nicht mehr weiter, krallt sich fest. Weidauer hilft ihm beim Abspringen.

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Dominiak reißt sich die Hände auf. Er wollte besonders schnell von einem Baum zum anderen kommen und ließ das geflochtene Seil durch die Finger rutschen. Ich schaffe es leicht.

Dann arbeiten wir uns durch Unterholz und Gestrüpp, die Zweige knacken, Indianer würden es anders machen. Patsch leuchtet ab und zu mit seiner Taschenlampe.

Ich denke dabei an unsere Spiele im Bürgerholz, am «Russenfriedhof», dem sowjetischen Ehrenmal für die Opfer des Zweiten Weltkriegs. «Räuber und Schanzer» spielten wir dort, das war auch so ein Wald, Schonungen, Gestrüpp, ein «Trigonometrischer Punkt», sehr hoch, auf den man steigen konnte mit einigem Mut, um nachzusehen, wo Feinde lauern.

Wir kommen auf eine Straße. Ich weiß nicht, wo wir uns befinden. Auf einem Schild steht: «Staatsgrenze. Betreten verboten.»
«Die Häuser da drüben», sagt Weidauer, «sind schon Tschechei.»
Wir sehen hinüber, können nicht viel erkennen.

«Tschechei», hat er gesagt. Das klingt nach Hitlers «Resttschechei». Es heißt «CSSR», haben wir in der Schule gelernt. Mein Lehrer Hawel beharrte auf «Tschechoslowakei».
«Das mit der <sozialistischen Republik> wollen wir erst einmal erleben», war seine Meinung, die er aussprach, wenn wir bei ihm zu Hause saßen und er zum Plattenspieler ging und Brechts «Lied von der Moldau» auflegte: «Am Grunde der Moldau wandern die Steine / Es liegen drei Kaiser begraben in Prag. / Das Große bleibt groß nicht und klein nicht das Kleine. / Die Nacht hat zwölf Stunden, dann kommt schon der Tag.»
Dieses Lied hörten wir oft, gesungen von Hilmar Thate. Nach dem August 68 drehte Hawels Frau immer den Apparat leiser: «Die Nachbarn beschweren sich noch wegen der Lautstärke...»

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«Tscheche!» hat Weidauer gesagt. Er ist jetzt «Vize», also im vorletzten Diensthalbjahr. 1968 war er schon dabei. Ob er mit eingefahren ist auf einem Lkw? Er wird die Westgrenze gesichert haben, wird «erhöhte Alarmstufe» gehabt haben. Und Urlaubssperre. Und Angst vor einem Krieg. Vielleicht hat er auch gesagt, wie ich es vom Langen Karl gehört habe: «Sollen die Tschechen doch endlich Ruhe geben. Sonst werden wir in den Schlamassel noch mit reingezogen...»

«Und die vielen Lichter da drüben? Was ist das?» fragt Bauer.
«Alte Festung. Soll ein Frauengefängnis sein.»
«Ein Frauengefängnis, aha», wiederholt Bauer.

Wir marschieren jetzt in Dreierreihen, haben wieder «Schritt aufgenommen» und sehen von erzgebirgisch-deutschem DDR-Gebiet ins Dunkel, über eine unsichtbare Grenze, auf die nur Schilder hinweisen, auf eine alte Festung, ein tschechoslowakisch-sozialistisches Frauengefängnis, wenn stimmt, was Weidauer gesagt hat. Ich starre auf die vielen Lichter. Es sind wahrscheinlich solche Lampen wie bei uns im Lager, große, hohe Bogenlampen. Damit die Wachmannschaft eine gute Sicht hat. An Filme muß ich denken, an den «König des Böhmerwaldes», den ich als Junge sah: Grenzposten bewachen ein Moor, es gibt heimliche Wege, Schmuggler, Flüchtlinge, Spione und einen sympathischen, heldenhaften Genossen Kompaniechef mit Hund, der verwundet wird, zuletzt aber doch siegt. In anderen Filmen wurde gezeigt, wie verfolgte deutsche Antifaschisten Tannenwälder durchquerten und in einsame Försterhäuser rannten, wo ein zuverlässiger Genosse wartete, der Blinkzeichen gegeben hatte. Da gab es noch keinen «antifaschistischen Schutzwall» ...

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Und was blinkt da drüben? Eine Festung? Ein Gefängnis? Die Verbindung «Gefängnis» und «Frauen» berührt mich seltsam. Etwas Brutales, Mittelalterliches, Mörderisches mischt sich mit dem, was bei dem Wort «Frauen» anklingt. Ich denke auch daran: Wer über diese Grenze geht, über diesen Bach da unten springt, bleibt im selben Bereich, im selben «Lager». Diese Staatsgrenze ist keine richtige Grenze, hinter der man in Sicherheit ist, wenn die Flucht gelingt.

Wir biegen ab, marschieren zurück. Kommen am Übungsgelände vorbei, nehmen dann eine Abkürzung.

Gegen 19 Uhr sind wir im Kompaniegebäude, müssen sofort die Waffen reinigen und abgeben. Dann rennen wir zum Speisesaal.
«Beeilung, wir haben Verspätung!» ruft Weidauer.

Zurückgekehrt in die Kompanie, es gab Kartoffelsalat und Bockwurst, schreibe ich einen Brief an Eva. Von unseren letzten Spaziergängen schreibe ich, vom Musikhören in ihrem Zimmer, den roten Vorhängen, dem Kerzenlicht ...

Beim Rückmarsch vom Essen habe ich gesponnen. Zu Bauer habe ich gesagt, daß ich «ein bißchen Schlagzeug spielen kann». «In a white room with black curtains...», den Anfang dieses Liedes habe ich vorgesungen in der Antreteordnung. Und «When I was young», einen anderen Schlager, den ich gern hörte. Bauer hat gestaunt, ich bin gestiegen in seinem Ansehen.
So ist es schon, ich erzähle Geschichten, die nicht stimmen. Rede von Träumen, als wären sie wahr...

Aber das schreibe ich Eva nicht. Es macht mich verrückt, daß ich nichts über dieses Lager schreiben darf, über die Staatsgrenze, über das Frauengefängnis und das

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Schießen in Flauen. Nur Andeutungen, die keiner versteht, der nicht «dabei» war. Sie geht auf Schultanzabende und bereitet sich auf die nächste Physikarbeit vor, kämmt sich ihre Haare, steht vor dem Spiegel. Ob sie auf Post wartet? Ob andere Besucher kommen? Vielleicht Schreiber oder Lutz Kümmel, der nicht eingezogen wurde.

Ich muß ins Zimmer der Unteroffiziere, den Fußboden kehren. Und Feuerung holen ... Von Weidauer erfahre ich, der wieder mit Stiefeln auf dem Bett liegt und raucht, daß am Freitag früh ein Sonderzug vom Bahnhof abfährt nach Saalfeld, zur «Vereidigung». Abends zurück. Mit Ausgangsuniform, Mantel, Stahlhelm und Waffe. Ich soll es in der Gruppe sagen.

«Und morgen?» frage ich.
«Marschübungen, Ex-Ausbildung», sagt er lächelnd, «Paradeschritt üben ... Stiefelspitzen in Koppelhöhe ...»

Zum erstenmal weiß ich, was die folgenden Tage bringen werden. Weidauer hat mich mit etwas Zukunft versorgt, rauchend, nebenbei, auf dem Bett liegend.
Als ich in unser Zimmer zurückgehe, höre ich Fickel schreien. Ist das bei Jugel und Bauer? Ich horche, bleibe in der Tür stehen.
Jetzt kommt Jugel an mit einem Eimer.
«Was ist los?» frage ich ihn.
«Fickel», sagt er leise, «durchgedreht. Brüllt wie am Spieß. Ich soll ihn angeblich nicht vorschriftsmäßig gegrüßt haben. Wahrscheinlich besoffen. Soll den ganzen Ölsockel im Flur schrubben.»
Er geht zum Waschraum, holt Wasser.

Ich nehme aus unserem Besenspind einen Lappen, stelle mich neben Jugel und helfe ihm. Er sieht mich an, sagt nichts. Bauer kommt hinzu, er hantiert mit einem Scheuerhader.

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Leise fluchend vollführt er mit beiden Händen große kreisförmige Bewegungen. Glöckner kommt, fragt, was los ist, holt frisches Wasser. Zu viert bearbeiten wir kurz vor der Nachtruhe den grauen, gleichgültig glänzenden Ölsockel des Flurs.

Weidauer, der in den Waschraum geht, sieht uns fragend an.
«Stuben- und Revierreinigen», sage ich.

Eine Tür schlägt. Unteroffizier Fickel und Kompanieschreiber Fröhlich kommen an. Wir arbeiten verbissen weiter, riskieren keinen Seitenblick.
Fickel stutzt.
«Was soll denn das, Jugel?»
Jugel unterbricht seine Strafarbeit nicht.
«Was das soll?» brüllt Fickel.
«Die Genossen helfen mir», sagt Jugel.
«Sie sollen das machen, Sie, Jugel!»
«Wir helfen freiwillig, Genosse Unterfeldwebel ...» erwidert Bauer.
«Wie? Mit Ihnen hat keiner gesprochen! Das ist die Höhe! Das ist Meuterei! Ich werde ...»
Kompanieschreiber Fröhlich zupft ihn am Ärmel.
«Komm, laß ...» sagt er leise.

Fickel steht wutschnaubend und unentschlossen da. Sein Gesicht ist fleckig. Weidauer kommt aus dem Waschraum. Fickel dreht sich plötzlich weg und geht leicht schwankend zur Treppe. Kompanieschreiber Fröhlich folgt ihm und zeigt uns einen Vogel. Weidauer grinst.

«Geht lieber rein», rät Jugel.
Wir arbeiten weiter. Andere Türen öffnen sich.
«Kopf zu!» ruft Bauer. «Kümmert euch nicht um andere!»

Nach zehn Minuten sind wir fertig. Weidauer hat sich nicht eingemischt, ist in sein Zimmer gegangen. Ob Fickel Meldung macht? War das wirklich verboten, was wir gemacht haben? Meuterei? Jetzt erst merke ich den Schreck, der mir in die Glieder gefahren ist. Jugel sagt «danke». Wir verschwinden in unsere Stuben. Nicht wie Helden, mit eingezogenen Köpfen, auf den nächsten Pfiff wartend, den nächsten Anpfiff.

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