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 Zitate reichen nicht. Aber sie trösten. Hinzufügen, was ich sehe und höre. Bekennen, festlegen, ohne zu kleben. Das Versteck­spielen beenden. Plauen ist vorbei ... Kein Versteck haben. Ich kann mit Specht reden, mit den anderen, aber nicht darüber. Das ist geheim, meine Sache, mein Risiko. Specht ahnt etwas. Reinhold Lammke war mein Freund, er wollte Schriftsteller werden. Ist Feldwebel geworden.

Zwei Irrenhäuser fallen mir ein: Stadtroda und Rodewisch. Dazu Bautzen und Cottbus. Anfälle von Angst. Ich vermisse Öfen. In den Baracken ist Dampfheizung. Bei Bobrowski heißt es «Anfälle von Trunksucht / Sie kommen / wie das Schweigen / kommt». Kein Alkohol. Manchmal eine Flasche Greizer Bier, dünn, schnell ausgetrunken. Das Etikett gelb. Die leeren Flaschen werden noch am selben Abend eingesammelt.

Literatur als Spleen, Spionage und <Verrat von militärischen Geheimnissen>. Was denn für militärische Geheimnisse? Alle wissen Bescheid, wie viele waren schon dabei, kennen diese Kasernen und Lager... Hunderttausende ... Aber sie halten die Klappe, schweigen... Die Prosa der Gesellschaft... Die neue Zeit nackt... Nun wissen wir, was gemeint ist.

Der Philosoph und der Regen. Er redete gern, zum Beispiel sagte er: 

«Philosophisch betrachtet muß nicht jede Entscheidung, die notwendig ist, gleich allen gefallen oder als richtig erkannt werden. Richtig und falsch sind höchst diffizile Kategorien. Natürlich kann man einen Plattenabend durchführen, das ist möglich, er kann eine kulturelle Bereicherung darstellen, aber durchaus. Kann, wiederhole ich, kann, muß nicht, muß gar nicht. Er kann eine ideologisch-politische Bereicherung sein unter gewissen Bedingungen. Und diese gilt es zu analysieren. Sie hängen mit dem Inhalt zusammen. Also werden wir konkret, die Wahrheit ist konkret, wie Lenin sagte, äh, dieser Satz geht bekanntlich auf Hegel zurück, jawohl, so steht es in den Philosophischen Heften: Welche Platten, welche Gedichte? An Gedichte war doch auch gedacht, wenn ich richtig informiert bin  ... Welche Lieder und Musikstücke werden ausgewählt, das ist das Entscheidende in diesem Zusammenhang, danach wissen wir mehr. Ich trage nun mal die Verantwortung, daß nichts passiert, bin als Politstellvertreter in diesem Ausbildungslager eingesetzt und lege Wert darauf, helfend, beratend tätig zu werden. Man ist ansonsten kein Unmensch und selber Student in universitären Zusammenhängen, durchaus kein Unmensch, auch wenn man vorher aktiv gedient hat in verantwortlichen Positionen, Auftrag ist Auftrag, hier im Lager gelten nun mal andere Gesetze, wir sind nicht im <Rosenkeller> beim Jazzabend, das ist ein militärisches Lager, damit wir uns richtig verstehen... Ich bin nicht so, möchte gar nicht unbedingt den Vorgesetzten herauskehren, der Ablauf des Plattenabends würde mich interessieren, rein diskussionsmäßig, man kann sich mit mir über alles unterhalten, das könnte meine Seminargruppe bestätigen, über alles.

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Tja, gibt es einen Plan, ich habe nun mal die Verantwortung und auch Weisungsbefugnis, jawohl, auch das trifft zu... Im zivilen Bereich bin ich sehr für Diskussion, aber hier trage ich Uniform, bin Offizier, ihr seid Soldaten. Ich bin der Vorgesetzte, ein nicht sehr hübsches Wort in anderen Zusammenhängen, sozusagen geistig betrachtet, ich weiß das, allerdings, so ist nun einmal die Situation. Und der muß man sich stellen, die objektive Realität hat Priorität, jawohl, Priorität... Ich muß solche Termini nicht erklären, nein, bestimmt nicht... die Kommilitonen der Psychologie sind gebildet... Tja, was wollte ich sagen, unter welchem Motto steht der Plattenabend? Das möchte ich ganz konkret wissen...»

 

Die beiden Veranstalter sahen sich an.
Das Gespräch fand statt in einem mittelgroßen Bürozimmer, vier hölzerne Stühle und ein Tisch, das Regal an der Wand leer, kein Telefon, keine Akten, ein eher unbenutzter Raum, der nur aufgeschlossen wurde für ein Gespräch ... an der Wand zwei Bilder, Ernst Thälmann und eine Schneelandschaft.

Der einmal ein Bärtchen getragen hatte über der Oberlippe, Specht mit Namen, sagte zu dem philosophischen Oberleutnant von der Sektion Marxismus-Leninismus, der eine Brille trug und schon etwas älter war, dreißig, fünfunddreißig, schwarze Haare, starker Bartwuchs, bestimmt mußte er sich zweimal am Tag rasieren, einen goldenen, breiten Ring trug er an der rechten Hand, vielleicht hatte er zwei reizende Kinder, Mädchen, und eine reizende Frau, Specht sagte zu diesem Oberleutnant:

«Na, ein Plattenabend, wie soll ich sagen ...»
«Gibt es denn eine tragende Idee, ein Leitmotiv...

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irgendeine politische Zielsetzung, ihr müßt euch doch was dabei gedacht haben...»
«Ja», sagte Specht, «wir wollten Platten auflegen, Musik hören...»
«Nun ja», unterbrach der Philosoph, «das habe ich schon verstanden, aber welche Platten, welche Musik?»
«Lieder von Brecht, dazwischen paar Gedichte lesen...»
«Aha, Brecht, ausgezeichnet, natürlich... welche Gedichte?»
«Das ist auch ein Gedicht, wurde vertont, das Lied vom ertrunkenen Mädchen...»
«Was?» fragte der Offizier recht scharf.
«Das Lied vom ertrunkenen Mädchen.»
«Ist das von Brecht?»
«Ja.»
«Aha, gut, ja... was noch?»
«Die Gruppe <Konvergenz>», sagte Specht ernst und keineswegs fragend, er nannte einen feststehenden Programmteil. Der Philosoph beugte sich vor, er hatte nicht oder sehr gut verstanden:
«Welche Gruppe?»

«Konvergenz», antwortete der Gefreite und legte sein Käppi auf die Tischplatte. Der Oberleutnant spitzte den Mund, lächelte etwas, ich bin nicht so, konnte das heißen, aber was für eine Gruppe, <NSW>? Der Name soll wohl eine Anspielung sein? Specht verstand und setzte nach einer kleinen Weile hinzu: «Kommt aus Prag, dort habe ich auch die Platte gekauft.»

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«So, aus Prag», lenkte der eifrige Frager ein, «also CSSR, einverstanden ... wann, wenn ich fragen darf, in welchem Jahr wurde sie gekauft?»
«Sommer einundsiebzig.»
«Und wann produziert?»
«Weiß ich nicht», sagte Specht, «müßte ich nachsehen ...»
«Vielleicht 1968...»
«Keine Ahnung», sagte Specht, «ist das wichtig?»

Der Oberleutnant richtete sich auf, strahlte, triumphierte, war in seinem Element. «Nun», sagte er, «das meine ich doch ...» Und das hieß, alle drei wußten es, in Prag produziert mit Namen <Konvergenz>... ich bin nicht so... aber wenn es um die Konterrevolution geht ... Das ist meine Aufgabe ... habe ich es doch geahnt, Wachsamkeit war angebracht ... Konvergenz, nein, diese Theorie ist widerlegt ein für allemal ... Plattenabend schön und gut, eine kulturelle Aktivität ist durchaus willkommen, aber auf die Tendenz, die Wirkung, die Auswahl kommt es an ... daran möchten wir doch denken, nicht wahr ... und woran habt ihr gedacht, na...

«Die Konvergenztheorie, wenn das eine Anspielung sein soll, ist längs widerlegt. Es wird keine Annäherung von Kapitalismus und Sozialismus geben ... Es gibt Veröffentlichungen dazu, nicht nur Broschüren, wobei ich jetzt nichts gegen die betreffenden Veröffentlichungen des Dietz-Verlages, des Verlages unserer Partei, sagen will, das sind zweifellos wertvolle und richtungweisende Arbeiten, auch in Form von Broschüren ... Als Gesellschaftswissenschaftler ... als Student dieses Fachgebiets, habe ich natürlich noch Zugang zu anderen Quellen, die Spezialbibliothek im

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zweiten Stock steht uns zur Verfügung ... Ich will euch kein Wissen absprechen, aber das war doch etwas kurzsichtig ... wir sind nicht im Rosenkeller ... Prag ... achtundsechzig ... da steckt doch was dahinter ... seid ihr Genossen?»

«Es ist eine Instrumentalplatte, Klassiker werden nachgespielt, ziemlich modern, Jazz... neue Interpretationen ... Altes und Neues, daher der Name...»
«Soso...» Der uniformierte Philosoph blickte verändert, die Brille saß fest, die Schirmmütze hatte er auf den Tisch gelegt, das kleine schwarze Dach glänzte. «Dann habe ich natürlich keine Bedenken, instrumental, neue musikalische Ausdrucksformen aus der Tschechoslowakischen Sozialistischen Republik, wir sind für Fortschritt und künstlerische Entfaltung, besonders wenn Anregungen aus Bruderländern kommen ... ausgezeichnet ... was noch?»
«<Floh de Cologno, <Pleitegeier>.»
Jetzt sah Specht den Oberleutnant triumphierend an, seine spitze Nase, unter der sich ein schwarzes Bärtchen befunden hatte, war direkt auf seinen Gesprächspartner gerichtet, das Wort <Geier> sprach er besonders akzentuiert aus...

«Sehr gut!» konterte der, «habe ich zu Hause! Ein ausgezeichneter Vorschlag. Harte Kritik am westdeutschen Alltag, hervorragend ...!»
«Wir steh'n am Rande und kucken zu...»
«Wie?»
«Ist ein Lied.»

Specht machte es Spaß, so zu reden. Er kannte die Feinheiten, kannte das Spiel, wußte, wogegen man etwas haben konnte, wogegen nicht.

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«Das ist ein Lied, <Wir steh'n am Rande und kucken zu, wir tun nichts und kucken zu. Wie einer fertiggemacht wird, wie einem Unrecht geschieht, wir tun nichts und kucken zu.. .> Das ist ein Lied.»

«Aha, ja, ich erinnere mich ... und das wollt ihr vorspielen ...» Er hatte wieder seinen wachsamen, lächelnden Blick. Specht nickte. «Wir wollen westdeutschen Alltag zeigen ...»
«Aha, ja, sehr gut...»

Specht nickte ernst und willig mit dem Kopf. Der Philosoph redete gern und lange, aber jetzt schwieg er. Wußte er, was Specht dachte? Wahrscheinlich. Die wählen das Lied aus, wird er gedacht haben, um es auf hier zu beziehen. In der Ansage weisen sie ausdrücklich darauf hin, daß es sich um westdeutschen Alltag handelt. So ausdrücklich, daß alle grinsen müssen. So werden sie es machen. Das dachte der uniformierte Geisteswissenschaftler. Nur so konnte man sein Lächeln verstehen. Aber was ließ sich gegen die DKP-Band <Floh de Cologne>, bei Amiga erschienen als Langspielplatte, sagen? Gar nichts. Das mußte er schlucken. Die konnten singen, was sie wollten im Vaterland der Werktätigen. Wenn die Ansage noch dazu korrekt ist, zumindest auf der verbalen Ebene, von den Untertönen wollen wir mal nicht sprechen, die lassen sich auch überhören, warum Ärger provozieren ... sollen sie doch vergleichen. Aber heimlich! Dafür kann er sorgen, daß nicht noch irgendwelche Reden geschwungen werden. Da läßt sich nichts machen, wenn welche so am Rande stehen, raffinierte Kerle, diese Psychos. Man muß aufpassen, das hat die Partei ganz richtig erkannt. Verdeckt machen sie es, aber nicht mehr lange. Reingucken kann keiner, solange sie nur Platten vorspielen, die bei uns erschienen sind ...

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Reingucken möchte unser Philosoph gerne, reinreden. Er ist überzeugt, manchmal geht er auf die Stuben und führt politische Gespräche, «unter uns, in aller Offenheit», wie er sagt. Irgendwie wollen die ihn verscheißern, denkt er. Und das stimmt auch. Diese beiden Programmgestalter wollen schlau sein, wollen <was machen> in dieser Langeweile. Noch ist die Prüfung aber nicht beendet.

«Gedichte auch?»
«Ja, von Brecht, Kunert, Sarah Kirsch...»
«Sarah Kirsch... da war doch was...» Der Oberleutnant überlegte. Specht stellte sich dumm, vielleicht wußte er wirklich nichts. Aber irgendwas wird er schon gewußt haben. Und sein Bekannter, der so gut wie nichts sagte und den der Autor recht gut kennt, wußte auch etwas. Unser Philosoph grübelte, kramte etwas hervor:
«In der Jungen Welt stand was, es ging um Naturgedichte, negative Tendenzen ...»
«Naturgedichte nehmen wir nicht», Specht wußte wieder weiter, «nur Liebesgedichte.»

«Ach so», der Oberleutnant lächelte, «ziemlich literarisch, euer Programm, warum nicht, Lenins Einstellung zur Literatur war ja durchaus positiv. Auch klassische Musik hörte er gern, Beethoven zum Beispiel ...»
«Klaviersonaten haben wir auch dabei...»
«...ja, gut... Lenin klagte allerdings darüber, daß Kunst den Menschen weich stimmt. Es komme jedoch darauf an, zu handeln, den trägen Zauderern auf die Köpfe zu schlagen ... Klaviersonaten also auch. .. man

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muß auf die Auswahl achten, damit keine Unklarheiten entstehen. Kultur ist wichtig, politisch, natürlich auch als Abwechslung, Bereicherung des Lebens. Wir haben die Rolle der Kunst im Klassenkampf nie unterschätzt! Einen Plattenspieler habt ihr?»

«Den von der Bibliothek», sagte Specht.
Der Plattenabend fand statt, draußen regnete es, was soll man auf der Stube hocken, viele kamen. Auch Theologen und zwei Philosophen, Soldatendienstgrade im Gegensatz zu unserem Politstellvertreter, allerdings in einer Seminargruppe mit ihm. Die religiösen und weltlichen Vertreter schliefen im gleichen Zimmer drüben in der Kompaniebaracke. Sie diskutierten angeblich nächtelang und vertrugen sich.

Nach jedem Beitrag gab es starken Beifall. Besonders laut klatschten die Chemiker und Technologen, die eigentlich nur Fachbücher lasen, allen voran Pilz, Schenck und Schonwald. Der ranghöchste Marxist saß in der ersten Reihe und hörte aufmerksam zu. Manchmal lächelte er sein Lächeln, manchmal spitzte er den Mund und nickte heftig. Er hatte das Programm genehmigt, nun lief es ab, Diskussion war nicht vorgesehen, also saß er und hörte. Seinem Gesicht konnte man entnehmen, Specht und der andere entnahmen es: Ich weiß schon, warum die klatschen. Ich bin nicht so, rede mit jedem, meine Seminargruppe kann das bestätigen, zwei sind ja im Raum, von Dummsdorf bin ich nicht, auch nicht dogmatisch, ihr nehmt das hier als eine Abwechslung, na schön, bißchen sticheln auf der verdeckten Ebene ... Aber hart an der Grenze ist es. Ein falsches Wort ...Wenn ich auch nur ein falsches Wort höre ... Er hörte kein falsches Wort.

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Die beiden sagten nur ganz kurz den nächsten Beitrag an, legten die Platten auf oder lasen etwas vor aus mitgebrachten Büchern, <alles bei uns erschienen>, sprach aus ihren Mienen, <wer was einzuwenden hat, soll es sagen>. Der stets gesprächsbereite Oberleutnant sagte nichts.

Die Platten drehten sich, die Seiten raschelten, die Handflächen schlugen aufeinander, auch die harte Kritik am westdeutschen Alltag war gut zu hören. Die Philosophie-Gefreiten sahen ihre Kommilitonen von der theologischen Fakultät vergnügt an, einer trug einen Seidenschal in der Halsöffnung des grauen Armeetrainingsanzuges, er hatte sich schick gemacht, wollte vielleicht am liebsten auch einen Vollbart haben wie das vordenkende Vorbild aus dem vorigen Jahrhundert mit den sympathisch-aufsässigen Augen und der patriarchalischen Kopfhaltung, der war leider oder Gott sei Dank nie Soldat, nur sein Freund interessierte sich für Militärisch-Strategisches, mehr theoretisch allerdings, vorindustriell, neben dem Verfassen von kritischen Schriften und dem Leiten eines kleineren Betriebes... zwanzig, dreißig Zuhörer waren es beim Plattenabend in Seelingstädt, beschwingt gingen sie weg, nicht mehr lange sollte das hier gehen, bald ist Weihnachten, im neuen Jahr wieder normaler Studienbetrieb, Jena, eine Dissertation war eingetroffen vor einigen Jahrzehnten, Karl Marx und der uniformierte Philosoph ... pack deine Platten weg, Stefan Specht, die Vorstellung ist zu Ende ... Auch der Oberleutnant verließ den Raum. Eine Woche später mußten welche von der dritten Kompanie Wache stehen. Diensthabender Offizier unser Philosoph. Bei der Vergatterung paßte ihm etwas nicht, er ließ die angetretenen Soldaten eine halbe

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Stunde im Regen stehen, die Watteanzüge waren klitschnaß, mit ihnen sollten sie noch zwei Tage im Freien herumstehen, auch nachts und gegen früh, wenn man die Kälte besonders spürt.

Er trug einen Regenmantel und verschwand ab und zu im Wachlokal.

Im strömenden Regen ließ er uns stehen. Da haßten wir ihn. Es war ein verquälter, plötzlicher Haß, wie er aufflackert bei Menschen, die gewöhnt sind, vieles hinzunehmen: In die Fresse schlagen und umbringen, töten wollten wir ihn, als er uns im Regen stehen ließ bei der Vergatterung. Stumm warteten wir in Reih und Glied, bis er ein Zeichen gab.

Was ich aufschreibe, darf ich nicht einmal denken. Und vorlesen, anderen zu lesen geben? <Ich> ist nur der <Ich-Erzählen, nicht ich, könnte ich sagen. Der Philosoph erkennt sich wieder ... Das einzige, was ich mir einreden kann ist der Hinweis auf die literarische Absicht. «Es sind alles nur Bilder», behauptete Kafka. Er war Angestellter in einem Büro, schrieb über Schlösser und verschlossene Zimmer, über Amerika ... Ich bin Soldat, unterliege harten Gesetzen, alles läßt sich gegen mich wenden. Woher kommt das, jeden Tag in Hefte kritzeln ... ich führe nur etwas aus ... Das Thema, die Beobachtungen sind stärker als die Angst des Autors um sich selbst. Specht weiß etwas. Ich vertraue ihm. Wer Brecht so genau gelesen hat, kann kein Zuträger sein. Und Die Maßnahme! Brecht ist auch schrecklich. Carola Neher ... sein Verhältnis zur Sowjetunion, zum Stalinismus, sein Schweigen ... Er ist immer irgendwie fein raus. Oder täuscht das? Tucholsky und Borchert sind mir näher.

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 Schreiben als letzte Gegenwehr. Meine Aufzeichnungen demontieren jeden persönlichen Schutz. Wer das liest, weiß, was ich denke. Ausreden sind sinnlos. Die <Schwierigkeiten beim Sagen und Schreiben der Wahrheit> beachten? Ich kann unter diesen Umständen keine Geschichten erfinden. Es macht mir große Mühe, Namen zu ändern oder wegzulassen. Irgend etwas verhindert jeden Umweg. Vielleicht bin ich müde, die Enttäuschung über mich ist groß. Wenn ich <tarne>, kann ich den Druck nicht loswerden. Ich will die Schuld loswerden, die ich fühle. Ein anderer Druck steigt, eine Gefahr vergrößert sich. Gleichgültig? Egal? Anfälle von Angst. Das Papier in die Mülltonnen werfen? Bahnschienen. Lieber schreiben, es riskieren. Ich will es riskieren.

Wer über die NVA schreibt, schreckliche Abkürzung, muß mit dem Militärstaatsanwalt rechnen ... Werden meine Erzählungen Leser finden? Wird einer jemals öffentlich von <Erzählungen> sprechen, von <Prosa>, nicht von <Zeug> und <Machwerken>? Wer die Angst, das Uniformierte, das Geduckte, Mitmachende beschreibt, kann der mit freundlichen, diskussionsbereiten Lesern rechnen (die Stasi meine ich jetzt nicht)? Was ich beschreibe, hat noch Macht. Wenn es vorbei ist, vielleicht dann. Und im Ausland? (Der nächste Paragraph, Verbreitung außerhalb der Landesgrenzen! Ich habe keine Ahnung, kenne niemanden, habe nichts unternommen!) Überall gibt es Armeen... Ein fernes, kleines Interesse... Geschmackssache... Feuilletons ... Osteuropa...

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Etwas Helles, Hüpfendes. Einen sah ich im Juni auf der Treppe des psychologischen Instituts stehen. Er stand da nicht allein, zehn, zwanzig Leute warteten vor dem Haus, zukünftige Studenten, die Zulassungen in der Tasche hatten, im Herbst sollte es losgehen. Man wollte ihnen vorher etwas erzählen über <Studieninhalte und Organisationsformen>, die Post brachte ein Schreiben mit Text, Datum und Zeit: «10 Uhr c.t.» 

Im Lateinbuch nachschlagen, im Duden, das kleine Latinum reicht also nicht ... «cum tempore - mit dem akademischen Viertel, eine Viertelstunde nach der angegebenen Zeit», merk dir das, erweiterter Oberschüler und zukünftiger Student! Eine Viertelstunde später wollte ich lieber nicht kommen mit dem Zug aus einer kleinen Stadt, vom Westbahnhof rannte ich die Hauptstraße hinab, Holzmarkt, Paradiesbahnhof, wer kennt sich aus bei diesen Namen, die Straße nach Kahla heißt Kahlaische Straße, durch die Neugasse fährt eine Straßenbahn, lieber zu Fuß, wer weiß wohin, links ein Park mit dicken grünen Rohren hinter Bahndamm und Eisenschienen, ist das die Strecke nach Saalfeld, wo die Schwester wohnt? «'ne alte Villa vorn rechts», weiß einer mit schwarzem Schal, mürrisch spricht er... ein Akademiker?... das akademische Viertel... da stehen welche.

 

«Universität», sagte meine Mutter mit einer Betonung, «das ist mehr als Hochschule, nicht?» Sie hatten mich genommen, keine Ablehnung, das war wichtig, sehr wichtig, eine Zusage, das Studium gesichert trotz längerer Haare und unbedachter Fragen im Staatsbürgerkundeunterricht. Mein Deutschlehrer, Altphilologe, ironisch, sehr kurze Haare, parteilos, links, den

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ich leiden konnte und dessen steile Schrift ich nachahmte, hatte zur Psychologie geraten in einer Hofpause und etwas später auf der kopfsteingepflasterten Ackermannstraße vor der Schule, die Eltern träumten weiter von Medizin. «Bloß nicht Pädagogik», sagte er, «dann kommt die Mühle, Lehrpläne, Parteilehrjahr, zu Hause Frau und Kind, Verpflichtungen... Schriftsteller wollen Sie werden... Talent liegt vor... man wird sehen ... bloß nicht Pädagogik...»

Wahrscheinlich wollte er auch einmal Schriftsteller werden, das blieb geheim, alle wollten es einmal werden, streng war er, geduldig, wenn ich neueste Werke vorlas in der Mittagspause im Biologiekabinett mit dem Knochenmann neben der Tafel, fast leer die Schule, er hörte zu und korrigierte nebenbei Aufsätze mit Füllfederhalter und roter Tinte, zog Striche, machte Kreuze und Wellenlinien, schrieb Buchstaben an den Rand, <A>, <I>, <Sb>, das ging schnell, gut hörte er zu und sah auf, wenn ihm etwas gefiel, noch Tage später kam er auf einzelne Zeilen zurück, machte Vorschläge, verwies auf Bücher und brachte sie mit, «bloß nicht Pädagogik», sagte der Lehrer.

Die Treppe vor dem Institut hatte sechs, sieben Stufen, dann kam ein Absatz, links die Eingangstür, zur Straße hin dunkelgrüne Knallerbsenbüsche, ein alter gezackter Eisenzaun, zwei Meter hoch, ein Tor, das offenstand, hohe Bäume, ein schöner Tag, hell, sonnig.

Er stand auf dem Treppenabsatz und rauchte, hatte längere Haare und einen Bart, die schwarze Baskenmütze halb in die Stirn gezogen, fast wie Che Guevara, den man nicht nennen durfte, er galt als <linksradikal>, fast so sah er aus. Seine Augen, er sah hin.

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Eine Menge Leute standen herum, junge, sehr junge und etwas ältere. Auch zwei Herren, die Mienen machten wie Buchhalter oder Abteilungsleiter mit Brille und Schlips.

Es war der Blick und seine gierige Art zu rauchen. Ein Herausforderer, alles oder nichts ...

Das war im Frühsommer neunundsechzig, ein Güterzug donnerte auf der anderen Straßenseite vorbei, die Platten des Gehweges bebten. Später beim Rausgehen redeten wir ein paar Worte, eine Assistentin hatte referiert, die wie sechzehn aussah und <Frau Doktor Wolf> hieß. Ein paar von uns waren <vorimmatrikuliert> für Herbst einundsiebzig, sie sollten erst einmal für anderthalb Jahre eine Uniform anziehen. Ihnen blieb der Sommer, die Zeit bis November, bis zur Einberufung ... und die Zeit danach, wenn alles vorbei war und das Studium endlich beginnen konnte, das Studentenleben, die schöne, freie Zeit danach ...

Er zündete sich im Treppenhaus eine Zigarette an, behielt die Schachtel in der Hand, rückte seine verwegene Mütze zurecht, war einer von den Vorimmatrikulierten. «Du auch?» fragte er. Ich nickte. Uns beide hatte es also erwischt. «Na ja», sagte er, «dann haben wir's weg.» Ich stimmte ihm zu, wir lächelten, nickten, machten Bewegungen mit Hand und Schulter, das hieß <Mein Beileid> und <nichts zu machen> ... <bis dann also, bis danach, wir sehen uns wieder>. Und es hieß auch: Wenn nichts dazwischenkommt, achtzehn Monate sind lang, wer weiß, was uns erwartet ... Was uns erwartete, wußten wir nicht, woher auch, wir waren achtzehn, hatten gerade die Oberschule beendet, die einen waren für die Beatles, die anderen für die Rolling Stones. 

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Es gab Erzählungen von Älteren, vom Langen Karl zum Beispiel, der schon bei der Marine gedient hatte. Schreckliche, lachhafte Stories gab es, wir hatten mit halbem Ohr zugehört, man muß ja alles erst selbst erleben. Ganz ahnungslos waren wir nicht, ein wenig wußten wir schon, wo wir lebten, kannten Fahnenappelle und die vormilitärische Ausbildung in den Ferien, den Kampf um die zwei, drei Millimeter Haarlänge über den Ohrspitzen, etwas wußten wir schon. Auch die Panzer waren an uns vorbeigefahren im August achtundsechzig. Ganz ahnungslos waren wir nicht mehr.

Wieder fuhr ein Zug vorbei, einige Mädchen hakten sich unter, gingen mit großen, gleichen Schritten davon. Auch der Vorimmatrikulierte mit dem aufsässigen Blick war losgegangen, rauchend, die Schachtel in der Hand, die besagte Mütze auf dem Kopf, auf nach Bolivien, die Mot.-Schützen liegen in Erfurt und Neubrandenburg, mal sehen, was auf dem Befehl steht! Dann werden andere Mützen aufgesetzt, Käppis und welche aus hartem Material, runde, haltbare Mützen, Helme! Losgegangen war er, sein Zug fuhr vom Saalbahnhof.

Zwei Jahre später, Ende August einundsiebzig, sah ich ihn wieder. Reisetaschen standen unter den Knallerbsenbüschen, nun sollte das Studium wirklich beginnen. Er lehnte am Eisentor, eine Zigarette zwischen den Fingern, ich erkannte ihn sofort: die Haare kürzer, der Bart begann gerade nachzuwachsen, der Blick etwas anders ... und die Mütze fehlte. Er sah mich an, wahrscheinlich so, wie ich ihn ansah: prüfend, vergleichend, war etwas geschehen? Ja, es war etwas geschehen, an ihm konnte ich es sehen. Die Augen hatten sich verändert.

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Meine hatten Unterfeldwebel Weidauer gesehen und Stabsfeldwebel Firle. Und die Halden von Johanngeorgenstadt und die Polnische Sturmbahn und den Sportplatz in Rudolstadt. Windisch, Obenauf. Und die Herzteile oben im Postenpilz. Und Ausgang und Urlaub. Und daß draußen alles weitergeht, wenn man drin ist. Etwas Helles, Hüpfendes war in seine Augen gekommen, vielleicht eine Frage, ein Zweifel, eine Antwort, die er jetzt wußte. Vielleicht wußte er jetzt die kleine, verrückte, läppische, grauenhafte, alltägliche Antwort.

Gierig zog er an seiner Zigarette, gab mir die Hand.
«Wie geht's?»
«Es geht.»
«Wie war's?»
«Vergiß es.»

So redeten wir, das war unsere Begrüßung. Harry Folkert hieß er und kam aus Dessau, seine Eltern Pädagogen, an die polnische Grenze hatten sie ihn gesteckt, «in die Spinnerkompanie, es gab Vorkommnisse, wäre fast schiefgegangen mit der Beurteilung», sagte er. Ich fragte nicht nach, erzählte nicht von Plauen, nicht vom gutmütigen Hauptmann, der mich gerettet hatte, nicht von Biellau und Müller. Ich nickte, freute mich, daß ich einen kannte, es war der erste Tag.

Wir waren dann in einem Zimmer, zusammen mit zwei anderen, im Studentenwohnheim Zwätzen, das war eine Baracke, er trank ziemlich viel. Ab und zu deutete er an, daß es noch etwas zu berichten gäbe. Etwas wollte er mir bei Gelegenheit noch erzählen. Lange, gelockte Haare hatte seine Freundin auf dem Foto, das er im Schrank liegen hatte, wie ein Engel sah sie aus in Märchenfilmen. Sie arbeitete als Verkäuferin und hielt Ausschau nach einem besseren Job. 

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«Im Strafvollzug suchen sie noch Leute, gute Bedingungen, sie überlegt», sagte er mit komischer Stimme. In den Strafvollzug wollte also seine Freundin mit den gelockten Haaren. «Ich bin dagegen», fügte er hinzu. Das hätte er nicht noch sagen müssen, das hatte ich schon gehört, daß er dagegen war. Wir redeten anschließend über Dostojewski. Er fand Leskow besser, ich Tschechow, aber natürlich waren das alles blödsinnige Vergleiche. Geheiratet sollte werden, er trank noch mehr, mit einer Studentin von der Technologie wurde er gesehen, sie hatte lange glatte Haare, ab und zu ging er kegeln.

Ausbilder ist er in Seelingstädt, mit einem breiten roten Band auf den Schulterstücken läuft er herum. Wie die Postenführer an der Grenze, die haben allerdings grüne Bänder. Er kam später, mit den anderen, zur Wache hatte man ihn nicht eingeteilt. Einer ist schon Feldwebel, der andere Ausbilder, nur Specht ist geblieben.

Ich kann mir fast denken, war er mir noch erzählen wollte. Etwas über die Spinnerkompanie an der polnischen Grenze, wo es fast schiefgegangen wäre mit der Beurteilung.

<Einbinden> haben sie es vielleicht genannt, <Grenzen zeigen>, <rannehmen und dämpfen>, dann <einbinden>. Ich habe Glück gehabt, wie es aussah. Danke, betrunkener Hauptmann. «Man geht nicht mit denen», hatte die Gothaer Großmutter gesagt, «ich bete für dich.» Gelächelt habe ich. Habe es aber gehört und mir gemerkt. Wer etwas anderes gehört hat, was ist mit dem.

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Ich gehe mit ihnen, bin hier, habe Uniform an. Ja, das ja. Aber doch nicht ganz. Was du aufschreibst, geht nicht mit ihnen. Geht gegen sie. Und gegen dich. Ob es Vergebung gibt... einen Bericht... Erzählungen, Bilder... wenn das hier gutgeht? Oder einen Fall, einen Reinfall... wo nur noch beten hilft... Vielleicht hilft beten. 

Kehren.
Heute Stubendienst. Schonwald Flur, Pilz Toilette: <Reviere>. Hoffentlich kein Stubendurchgang. Nur eine Lampe mit 40er Birne. Gelb ist alles, grau, staubig, klebrig. Wischen? Keine Lust. Mit dem Lappen leicht überbohnern. Dann sieht es <nach was aus>. Hier muß Tünche her. Kragenbinde wechseln. Hefte wegstecken. Ich lese kaum, morgen Schuhcreme kaufen. Briefmarken. Wieder keine Post. Marianne. Warum habe ich kein Foto mit. Musik hören. Radios sind verboten. Rauchen. 
Müde.
Schencks Schweißfüße.
Gerüche: <Karo>, Wolldecken, wenn sie etwas feucht sind morgens. Spechts <after shave>. Bohnerwachs.

 

O Tannenbaum. Der Reserveleutnant der Infanterie Reinhold Schnecke war ansonsten Assistent der sozialpsychologischen Wissenschaften, hervorgetreten mit neuen Vorschlägen zum Thema Kommunikation zwischen Menschen, ein recht gemütlicher Mann, Mitte Dreißig, mit großem Gesicht und Knollennase.

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 Auf der Institutsetage konnte man ihn in Pantoffeln umhergehen sehen, einer Art lederner Hausschuhe, bald sollte er die Bezirksparteischule in Gera besuchen. Nun hatte es ihn in diese Ortschaft verschlagen und ihm kam die Aufgabe zu, die Kompanie der Reservisten ins Lager zurückzuführen, also einen Zehn-Kilometer-Eilmarsch zu befehligen, die <Schlußeinlage> der Übung.

Fast zwei Tage hatten wir im Wald herumgelungert und gefroren, es war der vierte Dezember, noch zwölf Tage, zwölf lange letzte Tage im Lager Seelingstädt.

Leutnant Schnecke schnaufte wie wir, er hatte allerdings weniger Gepäck, auch keine MPi, nur eine Pistole baumelte im braunen Futteral an seinem Koppel. Unsere Flüche und blöden Witze, wenn Frauen, tiefe Pfützen oder Kuhställe in Sicht kamen, ließ er kommentarlos geschehen. Still und fürsorglich trabte er neben uns her, gab dem überholenden Verkehr mit einer kleinen Taschenlampe grüne oder rote Lichtsignale, wir sollten die Baracke ohne Verluste erreichen, es war dunkel, gegen sieben oder acht abends. Als Wissenschaftler experimentierte er an einer Wand, die er zwischen miteinander Sprechende stellte. Sie konnten einander nur hören, nicht sehen. Seine Arbeit kann eingesehen werden in der Universitätsbibliothek Jena, zweiter Stock, Turmgebäude, Seitenschrank rechts unter <Dissertationen>. Dr. Schneckes Kommunikationswand war ein wichtiger Begriff geworden in Seminaren, sogar Prof. Hiebsch erwähnte sie in seiner Einführungsvorlesung über die <Grundlagen der Psychologie>

Schnecke trabte also neben uns her und regelte den Verkehr. Als wir abgehetzt die ersten Häuser der besagten Ortschaft S. erreichten und das Ende der Veranstaltung nahe war, überraschte uns Leutnant Schnecke mit einem laut gerufenen Befehl:
«Ein Lied!»

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Wahrscheinlich hatte man für unterwegs <Marschgesang> befohlen und er wollte dem eventuell mithörenden Lagerkommandanten, einem Berufsoffizier, der stets mißmutig auf das Studenten- und Akademikerpack herabsah, beweisen, daß Befehle ausgeführt werden von Leutnant Schnecke und seinen Soldaten. Also befahl er ein Lied, doch nichts rührte sich, nur das Schlurfen der Stiefelabsätze wurde lauter. Ein paar Augenblicke vergingen, man konnte schon das Tor des Lagers sehen und oben die Sterne, einige blinkten wie Schneckes Taschenlampe.

Ein Lied hatte er befohlen, aber nicht gesagt, welches. Wahrscheinlich war ihm keines eingefallen. Oder er wollte uns die Auswahl überlassen, weil er eigentlich ein zurückhaltender, höflicher Mensch war.
«Ein Lied», rief er noch einmal, schon ein wenig Leid, nahe Verzweiflung und eine Bitte in den kurzen, einsilbigen Worten ...
«Ich trage eine Fahne!» brüllte einer.
«Du vielleicht, aber ich nicht ...» echote es aus den hinteren Reihen, der Stimme nach Pilz oder Schonwald, wütend, müde.
«Ich trage eine Fahne, und diese Fahne ist rot», nahm Dr. Schnecke den Vorschlag auf, laut sprach er, auch schon nervös: «Ich trage eine Fahne... So singt doch, meine Güte, singt doch endlich...»

Aber es kam kein Gesang zustande, nur Lachen und bissige Rufe: «Sah ein Knab ein Röslein stehn», ein anderer gurgelte: «O Tannenbaum!»

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Da begann etwas, wuchs, dröhnte, keiner hatte «Lied durch» oder «drei, vier» gezählt, einer hatte «O Tannenbaum» gegrölt in diesen nassen Dezemberabend hinein in Höhe des Lagertors, da krähte es los aus vielleicht vierzig Kehlen, die doppelte Zahl der Stiefelsohlen mitgerechnet: «O Tannenbaum, o Tannenbaum, wie grün sind deine Blätter!»

Laut genug, der Lagerkommandant, wenn er in seinem Zimmer weilen und die heimkehrende Truppe hinter der Fensterscheibe erwarten sollte, konnte den Marschgesang ohne weiteres vernehmen, mit und ohne Kommunikationswand, eine marschierende, schlurfende, singende Einheit kehrte zurück von einer Übung, die recht lange gedauert hatte, im Frieden, nicht wahr, kurz vor Weihnachten, wartend, frierend und wütend, «o Tannenbaum, o Tannenbaum...».

«Das geht nicht, aufhören, das geht nicht!» rief Schnecke. Aber es ging, «wie grün sind deine Blätter...» ging, kam voran im Text, «du blühst nicht nur...», warum sollte es nicht gehen, jeder kannte dieses Lied, zumindest die erste Strophe.

Und der junge Wissenschaftler im praktischen, kommunikativen Einsatz, man hatte ihm solch eine Lautstärke bei der persönlichen verbalen Entäußerung gar nicht zugetraut, erneuerte und verschärfte seine Bedenken:
«Das geht nicht, denkt an das Studium!»

So schrie er, eine Angst war zu hören, die Augen, die uns ansahen und von Reihe zu Reihe sprangen, einzelne Gesichter suchten, bettelten: Denkt auch an mich, ich schreibe eine Habil-Arbeit, ich bin nicht so, das müßt ihr doch gemerkt haben, selbst wenn ich hier

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kommandiere und den Vorgesetzten spielen muß und nach Gera gehe zur Parteischule auf Beschluß der Parteigruppe, habe ich jemandem was getan, nein, also, das habe ich nicht, dann tut mir auch nichts, <O Tannenbaum> geht nicht, wenn Marschgesang befohlen wurde bei der Nationalen Volksarmee ...

Wir sangen weiter, böse und laut, inzwischen hellwach, einige sahen sich um, fröhlich und durchgedreht, wir trauen uns was, hört ihr, jetzt singen wir, sollten wir ja, singen, jetzt singen wir ... Vier-, fünfmal wiederholten wir die erste Strophe. Im Büro des Lagerkommandanten brannte Licht. Vielleicht hörte er, ohne zu sehen. Er konnte zum Fenster gehen und nachschauen, wer da anmarschiert kam mit weihnachtlichen Gesängen. In Höhe der Kompaniebaracke beendeten wir unsere Vorstellung. Kein Fenster öffnete sich. Leutnant Schnecke stand auf der Lagerstraße, seine Taschenlampe hielt er mit beiden Händen, sah vor sich hin, sagte nichts. Auch nicht, als wir die Marschordnung verließen und in den Stuben verschwanden.

 

Specht sprang vom oberen Bett und sah uns schuldbewußt an. «Soll ich Tee holen?» fragte er. Ich warf die MPi auf den Holzfußboden, fluchte. Pilz bearbeitete einen Holzhocker mit den Stiefelspitzen, Schonwald riß seinen Spind auf und trank in einem Zug eine Limonadenflasche leer. «Soll ich Tee holen?» fragte Specht noch einmal. Vor der Übung war er zum Lagerarzt gegangen, der hatte ihn krank geschrieben, Angina. «Muß nicht sein», sagte Pilz. Specht ging los.

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Sehnsucht nach Pflanzen, nach Sonne, Wiesen, einer Quelle zwischen Grasbüscheln und Obstbäumen, nach anderen Geräuschen, anderen Farben, einer anderen Sprache. Kitsch? Egal. 

Blumen ... die Dahlien im kleinen Gärtchen hinter unserem alten Mietshaus, vor dem Raumbach und seinen glitschigen Abwasserrohren. Der Flieder in Frankes Garten, lila, daneben der hohe, glänzende Briketthaufen des Kohlenhändlers. Die schwarze, schwere Erde, die der Großvater aus der Gärtnerei Schmidt auf dem Berg holte im kleinen hölzernen Handwagen. An einem Freitag war der stinkende Bach angeschwollen nach einem Gewitter, Hochwasser. Danach gab es keinen Garten mehr, nur noch Lehmbrocken und feuchte, zerbrochene Gartenzäune. Wieder wurde Erde geholt im kleinen Handwagen ... 
«Mit gebreiteten Schwingen
über dem Strom, 
über dem Moorwald steht
der Adler — im Wetterbogen
ein Zeichen mit schwelenden Rändern...» 
Bobrowski, Schattenland Ströme. 

Raumbach hieß mein Strom. Ich komme aus der unteren Stadt, vom Anger, vom Mühlgraben. Sehnsucht nach Blumen, nach Wiesen. Zerstörte Landschaften verfolgen mich, Fabrikschlote, Halden, Bäche, die ihre Farbe wechseln, je nachdem, was im Textilveredlungswerk Unterheinsdorf aus den Rohren kommt. Seelingstädt. Dazu Trillerpfeifen, Einwortsätze, Befehle, Taschenlampen, Eisenbetten.

Marianne. Verstreut Gedichte, <in der Nacht an fremden Wänder>, Lasker-Schüler. Sie in einem Militärlager für Studentinnen auf Rügen? Undenkbar! Wenn doch? Die Stones, ihr harter, böser Rhythmus... kein Radio... die schwarzen Hefte. Gespräche mit Specht. Manchmal Pläne.

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Der Mörder. Hellblonde Haare und ein schmales Gesicht, sehr blasse Haut, Sommersprossen, blaue Augen. Eines Abends stand er im Kasernenflur, trug Filzlatschen, Trainingshosen und den grauen Armeepullover mit dem V-Ausschnitt. «Kommt von der Grenze, war vorher ziemlich lange im Med.-Punkt», hörte ich im Klubraum, «Fischkopf», sagte Hösel, «Wismar, zur Beobachtung hier, Andeutung vom Hauptmann, angeblich Nervenzusammenbruch, soll bei uns bleiben ... ist EK, die wollen vielleicht sehen, wie er sich benimmt...» Und leiser setzte er hinzu: «Is was passiert vorn, einer soll tot sein ... der mit ihm auf Postengang war ... Selbstmord ... Unfall ... irgendwas ... mit seiner Waffe ... mit der vom Fischkopf ... blöde Sache ... der Schreiber hat ihn gefragt ... hat nix erzählt, verheimlicht vielleicht was ... oder ist fertig, die Nerven, Scheißgeschichte. Sonst ist er nicht übel, hat Kaffee ausgegeben und Zigaretten, weiß, was sich gehört ...»

Untergebracht hatten sie ihn im Zimmer neben dem Fernsehraum, das etwas abseits lag, zwischen den <Bunten>, den Neuen, die jedes Halbjahr ankamen, und den Dienstzimmern der Offiziere, die übrige Mannschaft befand sich auf der anderen Flurhälfte, man mußte am Diensthabenden vorbei. Ins Zimmer des Neuen hatten sie einen <Pfeffi> gelegt, den Nachfolger von Kroll.

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Kroll war degradiert worden, vom Unterfeldwebel zum Gefreiten, eine nette Karriere nach fast drei Jahren «Klinkenputzen unter erschwerten Bedingungen», Kroll über Kroll, irgendwie hing er drin in Schombies Röhrengeschichte, der Amateurfunker und Samstagabend-Ausgänger ... beweisen hatten sie ihm nichts können ... etwas Aufsässigkeit, Saufen, freche Reden in der Kantine, <Heimgang> und so weiter, da waren sie wild geworden. 

Pfeffi Brodel übernahm die Ausgabe im Nachrichtenlager, ein Unteroffiziersschüler und <Zehnender>, <ein blödes Schwein> nach unserer gesammelten Meinung, das stand sofort fest: grüßt die Offiziere unterwürfig, Hösel: «Verrenkt sich seine Glupschaugen vor Schiß» ... verlangt von den Soldaten, auch von den Gefreiten, Grußerweisung. Gefreite läßt er ziehen, wenn sie grußlos vorbeigehen und ihn <stehenlassen>, Soldaten holt er zurück, rennt ihnen sogar nach. Ein <Schleimer>, hat schon eine Stelle, bevor er Uffz geworden ist. Krüger: «Wie der schon aussieht .. .» 

Wie sah er aus? Mittelgroß, untersetzt, stämmig, sehr starke Oberschenkel, die Hose spannte. «Der kann nicht laufen vor Fett», Hösel. Dunkelblonde, wellige Haare, Anfang Zwanzig, gerötete Haut, schwerer Gang, «Marke Bauerntölpel», so Kroll. Post bekam er oft, Briefe mit Herzchen, eine Kinderschrift, Absender ein Ort bei Aue, dort kam er auch her, ich glaube Lößnitz. Eine helle, singende Stimme hatte er. Die Briefe schickte seine Verlobte, ein Bild von ihr stand auf dem Nachtschränkchen, Trenske: «Tussi vom Oberdorf.» Er trug einen breiten Verlobungsring. «Ein Spitzel, legen ihn mit einem zusammen, der Scheiße gebaut hat ...»

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Die Meinungsbildung vollzog sich rasch, keiner von uns hatte mit Brodel gesprochen. Geurteilt wurde nach einigen Beobachtungen und dem gewissen <Gefühl>: nicht <dicht>, verdrängt Kroll, ist neu, sieht so aus, verhält sich so und so. Praktische Folge: Haß, Ablehnung. Im Klubraum keine Bedienung mit Kaffee, er wurde von Treske übersehen. Mußte sich Kaffeepulver einrühren. Keiner sprach mit ihm. 

Witze, Rufe über den Tisch, Feixen. Wenn er irgendwelche harmlosen, guten Seiten gehabt haben sollte: in wenigen Stunden wären sie ihm abgewöhnt worden. Brodel war ein Arsch, das stand fest. Zehn Jahre hatte er sich verpflichtet ... Beim Alkohol-Transport mußte man noch mehr aufpassen, Trenske bei der Wäschefahrt in die Stadt ... Und auf den Sender achten samstags im Klubraum, beim Revierreinigen ... eigentlich lief immer Rias II ... Brodel im Zimmer gegenüber, vielleicht noch Becker OvD ... solche schnüffeln jetzt im Flur rum... Besonders heizte den Haß die Tatsache an, daß er <noch nicht mal Unteroffizier ist>, also noch Schulterstücke trug mit den grünen Schülerstreifen: «Von so einem was sagen lassen ... den lasse ich wegtreten, schlicht und einfach wegtreten!» behauptete Hösel.

In der Kaserne war schon Unruhe, weil der Leiter der Versorgungsstelle, der mit zwei LKWs und drei Untergebenen die Lebensmittel heranzuschaffen hatte, bei Schiebereien erwischt worden war. <Armeebestände> landeten in Fleischereien und Haushalten der Stadt Plauen, aus Großhandelskontoren kamen Delikatessen, die nur bestimmte Kreise erreichten. Wer dahintergekommen war, blieb unklar, einer vom Transportzug hatte etwas gehört, Degradierungen, der Militärstaatsanwalt eingeschaltet ... 

Das wurde leise, ängstlich und auch etwas ehrfürchtig gesagt: «Der Militärstaatsanwalt wurde eingeschaltet...» Ein Reiz ging von diesen Worten aus, eine Macht ... Stimme senken ... auch Hösel machte das mit, der alle möglichen Reden führte ... 

<Säuberung> war angesagt, <Köpfe rollen) — welche haben Fehler gemacht, Schiebungen, Unterschlagungen, es handelt sich um Vorgesetzte, seht mal an ... und was kam dann? Eine Säuberung! Sie bringen es wieder <in Ordnung>, sie <greifen durch>. So war das ... mit uns hatte das nichts zu tun. Tuscheln höchstens, einzelne Witze und eben das Warten auf die Säuberung!

Brodel, das war etwas anderes, der schlich bei uns herum, machte sich wichtig, dieses Arschloch! Da war die Ablehnung da, <nur ein Uffz-Schüler> ...

Der blonde Gefreite von der Grenze hieß Ulrich Bergmann, seine Großeltern sollen Fischer gewesen sein in der Lübecker Bucht. «Möglich», kommentierte Hösel, «ist alles. Bißchen fertig, der Junge, würde ich meinen. Faselt nachts rum, Schreie und so weiter, hat Gruhle gehört, als er auf dem Scheißhaus saß. Der Pfeffi wird lange Ohren machen, falls was zu verstehen ist ... Todesfall... nicht von Pappe ...»

Bergmann lief tags meist mit Kehrschaufel und Besen herum, rauchte viel, wurde langsam <warm>, trank Kaffee im Klubraum, beantragte auch Ausgang, bekam keinen. Die Heimlichen von der ersten Etage hatten ein Auge auf ihn geworfen, man merkte es auf dem Weg zum Essen, wenn einer vorbeikam in Zivil oder Uniform, Bergmann sah weg, grüßte mit abgewandten Augen, irgendwas stimmte nicht, einige von denen mußte er kennen, er erzählte aber nichts, wenn Hösel oder Trenske ihn fragten, winkte ab, schüttelte den Kopf, es hatte keinen Sinn.

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