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Kriege der imperialistischen Nationen 

 Anmerk   

 

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Wenden wir uns wieder dem geschichtlichen Geschehen zu, das sich nun mehr und mehr in den Materialismus verstrickt. Rudolf Steiner sagt in diesem Zusammenhang, man solle nicht leichten Herzens abfällige Urteile über das fällen, was in dem Aufeinanderprallen von Staaten in der Weltgeschichte geschieht. 

»Man bedenkt auf diesem Gebiete viel zu wenig, daß die Kräfte des Werdens, aber auch die Kräfte des Zerstörens, des Abbauens da sein müssen im Weltengeschehen. Ist es denn beim einzelnen Menschen anders? Indem wir unsere Fähigkeiten im Laufe unseres Lebens entwickeln, bauen wir unseren Leib ab, zerstören wir unseren Leib; und ich werde Ihnen ... zeigen, was für ein tiefer Zusammenhang besteht zwischen unserem seelischen Leben und der Belladonna, dem Stechapfel, den Giften, die Sie draußen in der Welt finden. Das sind allerdings Wahrheiten, die in die Tiefen der Dinge hineingreifen. Aber man muß den Mut haben, diese Wahrheiten auch in der Weltgeschichte geltend zu machen. Daher ist es viel besser, zu verstehen, als zu urteilen nach irgendwelchen sogenannten Normen. Das Verurteilen von Staaten und Völkern, das steht in der Regel auf recht schwachen Füßen. Man muß sich schon deshalb, um endlich in die geistige Welt aufsteigen und dort etwas erkennen zu können, daran gewöhnen, ohne Kritik, die auf ein ganz anderes Feld gehört, einfach die Tatsachen zu betrachten; erst dann versteht man, welche Kräfte in die Weltenentwicklung eingreifen.«225

Die Eroberung des indischen Subkontinents durch die Ostindische Handelskompanie der Engländer wurde schon erwähnt. Seit dem Ende des 18. Jahr­hunderts bestand nun zwischen Indien und China unter Beteiligung der englischen Ostindischen Gesellschaft ein sehr reger Handelsverkehr. In China hatte sich wahrscheinlich durch Vermittlung der Araber seit dem 17. Jahrhundert die Sitte des Opiumrauchens verbreitet.

Die Engländer erkannten sofort, daß sich dadurch Chancen für die Ausweitung ihres Handels boten, und legten in Bengalen, aber auch im übrigen Indien, Mohnkulturen zur Gewinnung von Opium an.

Schließlich verlieh das Britische Empire von England aus der Ostindischen Handelskompanie das Monopol zur Einführung von Opium in China. Als die Chinesen nun selbst die außerordentlich schädlichen Auswirkungen des Opiumrauchens bei ihren Landsleuten bemerkten, verboten sie 1794 das Rauchen dieses Giftes. Die Wirkung dieses Verbotes war bei der Bestechlichkeit der chinesischen Bürokratie der damaligen Zeit jedoch außerordentlich gering, und die Opiumeinfuhr stieg von einigen tausend Kisten 1773 auf 30.000 Kisten Opium im Jahr 1837.

Welche gewaltigen Geldsummen dadurch nach Indien und in die Hände der Engländer flossen, ist jedem klar, der den heutigen Drogenhandel beobachtet. Schließlich stellten die Chinesen den Opiumhandel unter Todesstrafe und verfügten die Beschlagnahme aller Opiumschiffe.

Nach einigem Hin und Her, bei dem die Engländer sogar versuchten, den Opiumhandel mit den weniger streng beobachteten amerikanischen Schiffen durchzuführen, wurden die finanziellen Verluste der Engländer so groß, daß man sich zum Krieg entschloß. Er dauerte von 1840 bis 1842, und England ging als klarer Sieger aus ihm hervor. Es gewann Hongkong und zwang China, dem Opiumhandel fünf Häfen zu öffnen. Darüber hinaus hatte China 97½ Millionen Kriegsentschädigung zu zahlen.

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Rein wirtschaftliche, materielle Gründe führten zu diesem Krieg.

»Wir stehen beim Beginne des englisch-chinesischen Krieges 1840 am Ausgangspunkt gerade jener Zeit, von der wir oftmals gesprochen haben. Ich habe Ihnen gerade dieses Jahr angegeben als dasjenige, wo der Materialismus seine Hochflut erleidet. Es ist gut, solche Dinge in ihrer Entwicklung zu begreifen. Und wie gesagt: ebenso wie es ein Unsinn wäre, irgendwie englische Kultur oder englisches Leben, englische Zivilisation zu unterschätzen, so wäre es ein Unsinn, zu glauben, daß so etwas hätte ausbleiben können in dem ganzen Zusammenhang der englischen Entwicklung. Es gehört dazu. Und ein moralisches Urteil über die Sache zu fällen, ist vollständig unrichtig. Denn da würde man in den Fehler verfallen, die Gesamtheiten, Gruppen, so zu beurteilen, wie man den Einzelnen beurteilt. Das ist aber gerade dasjenige, was unmöglich ist.«226

In unserem Zusammenhang müssen wir uns aber die Frage stellen, woran es denn gelegen hat, daß das vergleichsweise kleine Großbritannien mit seinen geringen Truppenzahlen das gewaltige Chinesische Reich mit seinem unendlichen Menschenreservoire innerhalb von zwei Jahren zum Nachgeben zwingen konnte. Die Antwort ist sehr einfach. England verfügte über ein hervorragendes, mit modernsten Waffen ausgerüstetes Heer, dem China nichts Gleichwertiges entgegenstellen konnte. Eine Vernachlässigung der Rüstung, wie sie damals in China vorlag, mußte zur Niederlage und zu unendlichem Leid für die Bevölkerung führen.

Über die weiteren geistesgeschichtlichen Auswirkungen dieser Niederlage und des Opiumrauchens ist in dem zitierten Buch nachzulesen.

Hand in Hand mit dem Materialismus, für den im 19. Jahrhundert vor allem wirtschaftliche Gründe Kriegs­ursachen waren, gingen das Hegemoniestreben und der Imperialismus einzelner Mächte. Aus dem Krieg gegen Napoleon war vor allem das zaristische Rußland als stärkste europäische Kontinentalmacht hervorgegangen.

Die Politik des nunmehr regierenden Zaren Nikolaus I. (1825-1855), des Sohnes Alexanders I. (1801-1825), stützte sich auf die orthodoxe Kirche und den großrussischen Nationalismus. Seine Außenpolitik zielte auf die Unterdrückung aller revolutionären Bewegungen in Europa, auf eine russische Expansion im Mittleren Osten und die Aufteilung der Türkei. Anlaß zum Ausbruch des Krimkrieges bot ein Streit griechischer und römischer Mönche um die heiligen Stätten in Jerusalem, in den sich Nikolaus I. einschaltete und damit dem nach der europäischen Vormacht strebenden französischen Kaiser Napoleon in. (1852-1870) die Gelegenheit gab, gegen ihn Stellung zu beziehen. Von England unterstützt lehnte die Türkei das russische Ultimatum ab, das Schutzrechte für die orthodoxen Christen forderte. Nun rückten russische Truppen in die Donaufürstentümer ein.

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Die Türkei erklärte daraufhin im Oktober 1853 Rußland den Krieg. Das veranlaßte wiederum Frankreich und England, in der Ostsee gegen das Zarenreich offensiv zu werden. Es kam aber lediglich zu einer strategisch recht wertlosen Wegnahme der Aaland-Inseln. Österreich machte ebenfalls mobil und rückte in die Donaufürstentümer Moldau und Walachei ein, blieb aber dann Gewehr bei Fuß stehen. Wenn die Engländer und Franzosen Rußland jetzt noch treffen wollten, mußten sie entweder durch Deutschland vorgehen oder zusammen mit der Türkei auf der Krim landen. Einen Vormarsch durch Deutschland hätte die starke russophile Partei in Preußen nicht ohne Krieg gestattet.

So ersparte allein die militärische Stärke Preußens den deutschen Ländern einen neuen Krieg. Auch das Ende des Krimkrieges wurde durch die militärische Stärke eines Landes herbeigeführt, das am kriegerischen Geschehen selbst nicht teilgenommen hatte. Der Krimkrieg endete nämlich weniger durch eine klare Waffenentscheidung als vielmehr durch ein im Dezember 1855 an Rußland gestelltes österreichisches Ultimatum. Der Friede wurde 1856 in Paris geschlossen, obwohl keiner der kriegführenden Staaten am Ende seiner militärischen Kraft war. Als Folge dieses Krieges wurde das Schwarze Meer neutralisiert und ein europäisches Protektorat über die türkischen Christen errichtet. Darüber hinaus aber wurde noch einmal der russische Einfluß auf die Geschichte und die Geschicke Europas eingedämmt.

In diesen entscheidenden Jahren der »Hochflut des Materialismus«, wie Rudolf Steiner es ausdrückte, die sich dem Geschichtsbewußtsein des durchschnittlichen Europäers so oft entziehen, wurde durch den Opiumkrieg China für die westliche und damals entscheidende Welt geöffnet; es rückte näher an die restliche Welt heran. Rußland mußte sich noch einmal mit seinen alten Grenzen begnügen. Weit im Westen aber, auf dem amerikanischen Kontinent, wurde die Eroberung und Erschließung des, von Weißen noch nicht besiedelten oder in mexikanischer Hand befindlichen Territoriums vom Atlantischen bis zum Pazifischen Ozean, von der heutigen kanadischen Grenze bis zum Rio Grande del Norte begonnen, eine Entwicklung, die für die kommende Zeit symptomatisch ist, weil sich damit das Schwergewicht des geschichtlichen Geschehens, das seit der Renaissance ausschließlich in Europa gelegen hatte, allmählich nach Übersee verlagerte. Zusammenrücken und Erschließen des Fernen Ostens und des Kontinents im Westen durch neue Technologien des Verkehrs- und Militärwesens gingen mit dieser Verlagerung des politischen Schwerpunktes Hand in Hand.

Wie wir gesehen haben, blieb den Engländern und Franzosen im Jahr 1853 als strategische Möglichkeit nur noch die Landung auf der Krim. Dort war das Zarenreich zu verwunden. Bisher hatten europäische Heere, von Kolonialkriegen abgesehen, stets die unmittelbare Konfrontation mit Landstreitkräften auf dem zunächst gelegenen Teil des Kontinents gesucht.

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Zum ersten Mal führten die verbündeten Westmächte nun ein weit ausgreifendes Unternehmen durch, das nur mit Hilfe der Marine gelingen konnte. Das sollte das Denken der britischen Generalstäbe revolutionieren und später ihr realistisches Kriegsbild vom Ersten Weltkrieg beeinflussen. Die Kontinental­mächte übersahen dagegen die Konsequenzen nicht und traten daher mit einem falschen Kriegsbild in den Ersten Weltkrieg ein. Landungen an offener Küste durchzuführen, war, wie die Geschichte zeigte, nicht allzu schwierig, kritisch aber blieb dagegen die Aufrechterhaltung einer geregelten Versorgung.

Zwei Dinge waren für solche weit ausgreifenden Operationen über See nötig, die eigene Seeherrschaft und die Unabhängigkeit von Wind und Wetter. Letzteres war durch die neuen Dampfschiffe möglich geworden. Wenn sie zunächst auch noch keine Lasten transportieren konnten, so vermochten sie doch, die dazu fähigen Segelschiffe in Schlepp zu nehmen. Damit war die geregelte Versorgung mit Menschen und Material zu jeder beliebigen Zeit möglich. Für die Führung über See hinweg boten die neuen Telegrafenlinien Möglichkeiten, um die ständige Verbindung zwischen Regierung und Operationsheer sowie zwischen Feldherr und untergeordneten Truppenführern aufrechtzuerhalten. Auf dem Land aber nützte man die ersten Eisenbahnlinien aus, um Truppen und Material in einer nie vorher gekannten Größenordnung und Schnelligkeit zu den Häfen zu bringen. Bei der Belagerung von Sewastopol auf der Krim bauten britische Pioniertruppen sogar die erste Feldbahn, mit der das Material zum Schanzen und die Munition herangebracht werden konnten.

Auf dem Gefechtsfeld selbst erwiesen sich besonders die französischen Zuaven und Turkos als Meister des zerstreuten Gefechts, die mit ihren weittragenden und zielsicheren Perkussionsgewehren allen anderen Infanterietruppen überlegen waren. Beim einfachen Schloß dieser Art Gewehre saß am Zündloch ein Ansatz, darauf wurde ein Zündhütchen mit Knallpulver aufgesetzt. Beim Durchkrümmen des Abzuges fiel ein Hammer auf das Zündhütchen und entzündete die darin befindliche Zündmasse durch Schlag (Percussion). Durch den im Ansatz befindlichen Zündkanal hindurch wurde so die Schießpulverladung entzündet und das Geschoß durch den Lauf zum Ziel getrieben.

Das Zielen wurde dadurch wesentlich erleichtert, weil sich der Rückstoß verringerte und die irritierende doppelte Zündflamme beim Entzünden des Pulvers auf der Pfanne des Steinschloßgewehrs und der zweiten Flamme beim Entzünden der Treibladung entfiel. Obwohl es sich bei diesen Gewehren durchweg um Vorderlader handelte, die nur im Stehen oder im Knien geladen werden konnten, schoß man mit ihnen doch auf Entfernungen bis zu 450 m bei gezogenem Lauf und bei glattem bis auf 225 m.

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Da die Artillerie im Kartätschschuß nur etwa 250 m weit wirken konnte, waren somit bereits in den Kriegen von 1848 in Italien und Ungarn sowie 1848/ 1850 gegen Dänemark Batterien durch Gewehrfeuer aus ihren Stellungen geschossen worden. Im Krimkrieg wurden dann recht häufig die Geschützbedienungen durch Gewehrfeuer außer Gefecht gesetzt oder die Batterien zum Stellungswechsel gezwungen. Diese Mängel konnten erst nach dem Krieg durch Vervollkommnung der glatten Geschütze bei der weitschießenden zwölfpfündigen Granatkanone abgestellt werden. Schließlich begann man, das Prinzip der gezogenen Gewehre auf Geschütze ähnlicher Konstruktion anzuwenden. Noch später kam man auf dem gleichen Weg zum Hinterlader. Bei den Gewehren hatte Preußen dies bereits 1835 erreicht, dessen Armee das Zündnadelgewehr von Dreyse besaß, das sich auch im Liegen laden ließ und mit dem man noch auf sehr viel weitere Entfernungen schießen und treffen konnte.

Ein Ereignis besonderer Art aus dem Krimkrieg zog die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf sich. Noch im 18. Jahrhundert hatte die zivile Bevölkerung, besonders die gebildete Gesellschaft, Schlachten und Kriege als ein außergewöhnliches Schauspiel angesehen, zu dem man sich in der Kutsche hinfahren ließ, um zuzusehen. Das Schicksal der Verwundeten und Sterbenden ließ selbst die Damen kalt, die doch sonst so leicht in Ohnmacht fielen. Ein bezeichnendes Licht auf die Zustände im britischen Heer des Krimkrieges — es stand damit allerdings nicht allein — wirft die Tatsache, daß, während sich die einfachen Soldaten mit Läusen, Hunger und Krankheiten plagen mußten, die Offiziere in den Gefechtspausen bei Balaklawa und in Anwesenheit von Damen aus London ganz im Stil der vergangenen beiden Jahrhunderte Pferderennen durchführten.

Wohltuend stach davon das Beispiel von Florence Nightingale (1820-1910) und anderen ab, die sich bemühten, die entsetzlichen Zustände in den Lazaretten von Skutari, einem Stadtteil von Konstantinopel, zu verbessern. Dieser Gesinnungswandel setzte sich fort, als sich am 25. Juni 1859 der Schweizer Schriftsteller und Philanthrop Henri Dunant (1828-1910) auf dem Schlachtfeld von Solferino befand, das von über 22.000 Toten und Verwundeten bedeckt war. Er hörte das Stöhnen und Schreien der meist unversorgten Verwundeten und war davon so tieferschüttert, daß er den Plan zur Einrichtung des Roten Kreuzes faßte. 1864 trat das Internationale Komitee des Roten Kreuzes in Genf ins Leben. Dort wurde auch die Genfer Konvention abgeschlossen, die ab 1906 »zur Verbesserung des Loses der Verwundeten und Kranken der im Feld stehenden Heere« dienen sollte. 1929 dehnte man sie auf den Seekrieg und die Kriegsgefangenen aus und erweiterte sie 1949 vornehmlich auf die Nichtkombattanten.

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Durch die Tat dieses Mannes, Henri Dunant, wurde das Schicksal der Opfer des Krieges wesentlich verbessert. Lediglich die Sowjetunion schloß sich dem Abkommen über die Kriegsgefangenen nicht an, was seine schweren Auswirkungen vor allem im Zweiten Weltkrieg haben sollte.

Betrachten wir überhaupt das Schicksal der Gefangenen und Verwundeten, so ist festzustellen, daß die Antike, gleich um welches Volk es sich dabei handelte, mit ihnen unbarmherzig verfuhr. Gefangene und Verwundete wurden ebenso wie der »unbrauchbare« Teil der Bevölkerung versklavt oder getötet. Nach den Anschauungen der Zeit hatten sie ihre Lebenskraft und ihr Heil verloren, waren keine Menschen mehr, sondern nur noch Sache. Das blieb so bis weit ins Mittelalter hinein, obwohl sich die Anschauungen über Gefangene und besonders über deren Lebenskraft und Heil in der Zwischenzeit geändert hatten. Gefangene, die durch ihre Familien über die notwendigen finanziellen Mittel verfügten, konnten losgekauft werden.

Doch vor allem das Christentum und das Gebot der Nächstenliebe ließen bereits im Mittelalter mildere Formen erkennen. Man versorgte die Verwundeten und gab die Gefangenen nach einer gewissen Zeit frei. Allmählich gehörte es zu den seltenen Ausnahmen, wenn man Gefangene tötete. In der Zeit der Söldnerheere dagegen steckte man Gefangene, soweit sie nicht Offiziere waren, die auf Ehrenwort entlassen wurden, einfach in die eigenen Reihen, gleich welcher Nation sie angehörten. Von der Zeit der Nationalkriege an war das nicht mehr möglich, denn die Gefangenen hätten sich gegen ihr eigenes Volk nicht verwenden lassen. So behielt man sie bis zum Friedensschluß in Lagern und entließ sie dann in die Heimat.

Verwundete wurden von den eigenen Truppen und den fremden gleichermaßen versorgt. Doch reichten die Sanitätsdienste zunächst nicht aus, so daß die Verwundeten auf die Hilfe der ansässigen Bevölkerung angewiesen waren, die sie allerdings nicht allzu selten ausplünderten anstatt sie zu versorgen. Dennoch hatten sich die Verhältnisse seit der Verbreitung des Christentums und humanitärer Ideen bis zum 19. Jahrhundert derart gewandelt, daß es nur noch des Aufrufes und der Gründung durch Henri Dunant bedurfte, um jene große Organisation des Roten Kreuzes ins Leben zu rufen und zu aktivieren. Erst als im Zweiten Weltkrieg Ideologien das Kriegsgeschehen beherrschten, kam es, vorwiegend in Sowjetrußland und 1941 auch in Deutschland, zu einer unmenschlichen Behandlung der gegenseitigen Kriegsgefangenen; in Deutschland, weil man mit einer solchen Masse russischer Gefangener nicht gerechnet hatte, sie nicht ausreichend versorgen konnte und z.T. auch als »Untermenschen« betrachtete, in Rußland, weil man den Klassenfeind, als den man auch jeden deutschen Soldaten ansah, physisch vernichten wollte und jede andere Haltung als auf dem »verlogenen Prinzip christlicher Nächstenliebe« beruhend ansah.227

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Um die weitere geschichtliche Entwicklung zunächst in Europa zu verstehen, muß noch einmal bis zum Wiener Kongreß der Jahre 1814/15 zurückgegangen werden. Dieser Kongreß hatte folgende politische Prinzipien verfolgt: die Restauration, d.h. die Wiederherstellung des Zustandes von 1792, die Legitimität, die vor allem Talleyrand zur Rechtfertigung der Ansprüche der Dynastie des Ancien Regime verfolgte, und die Solidarität der legitimen Fürsten zur Abwehr revolutionärer Ideen und Bewegungen. In der Kongreßakte von 1815 wurde das Gleichgewicht der fünf europäischen Großmächte wieder hergestellt.

Frankreich behielt seine Grenzen von 1792 und wurde zusätzlich von einem »Kreuz mittlerer Staaten«, Schweden und Norwegen in Personalunion, dem neuen Königreich der Niederlande mit Belgien und Luxemburg und dem durch Savoyen vergrößerten Königreich Sardinien-Piemont, kontrolliert.

Großbritannien in Personalunion mit dem neuen Königreich Hannover beherrschte mit Malta, Ceylon, der Kapkolonie und Helgoland unangefochten die Meere. Österreich verzichtete auf die habsburgischen Niederlande und seine Besitzungen am Rhein, dafür bekam es Dalmatien, die Lombardei, Tirol, Salzburg, Teile von Oberösterreich, Ostgalizien wieder zurück und erhielt das Gebiet der früheren Republik Venedig.

In Toskana, Parma und Modena wurden Nebenlinien des Hauses Habsburg-Lothringen wieder eingesetzt. Im Sinne der Heiligen Allianz wachte Österreich im übrigen Italien über den Bestand der monarchischen Ordnung. Immer mehr wuchs damit der Vielvölkerstaat aus Deutschland hinaus, wenn er auch noch immer die führende Rolle im Deutschen Bund beanspruchte und auch von den meisten Deutschen als Führungsmacht angesehen wurde.

Preußen, das ursprünglich ganz Sachsen beansprucht hatte, begnügte sich mit Teilen dieses Landes und erhielt dafür die Rheinprovinz und Westfalen. Obwohl es damit wirtschaftlich und konfessionell gespalten war, wuchs es doch mehr nach Deutschland hinein; von jetzt ab übernahm es die »Wacht am Rhein«. Traditionell hatte Österreich diese Aufgabe erfüllt, entzog sich ihr aber durch die erwähnte Aufgabe Vorderösterreichs, ein Schritt, der folgenschwer für das Entstehen eines deutschen Reiches werden sollte. Der Kongreßakte mußte eine Neuordnung Deutschlands entsprechen. Die Patrioten aller deutschen Stämme wünschten ein freiheitliches, liberal-demokratisches und geeintes Deutsches Reich mit dem habsburgischen Kaiser an der Spitze. In etwa sollte es dem mittelalterlichen Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation entsprechen. Doch der preußisch-österreichische Gegensatz und der fürstliche Partikularismus ließen keine starke Reichsgewalt zu. Erschwerend wirkte sich bei den beiden deutschen Großmächten aus, daß ihr Staatsgebiet entweder nur zum Teil zum alten Reich gehörte oder von fremder Bevölkerung bewohnt wurde.

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Tatsächlich blieben dann Ost- und Westpreußen sowie Posen einerseits und Galizien, Ungarn, das Lombardo-Venetianische Königreich und Dalmatien außerhalb des Deutschen Bundes. Dagegen waren fremde Fürsten, der König von England für Hannover (bis 1837), der König von Dänemark für Holstein und der König der Niederlande für Luxemburg, Bundesfürsten. Ein neues Kaisertum entstand nicht. Zur Enttäuschung der Patrioten kam es nur zu einem Bund von 35 Fürsten und 4 freien Reichsstädten zur »Erhaltung der inneren und äußeren Sicherheit Deutschlands«.

Dieser Deutsche Bund stellte ein Bundesheer auf, das seinem Charakter nach jedoch kein Einheitsheer, sondern ein Koalitionsheer war, wie wir es heute etwa in der Nato vertreten sehen. Seine Führung war einerseits dadurch erschwert, daß es keine ständige Führungsspitze im Frieden gab. Andererseits wurde sie dadurch vereinfacht, daß die Angehörigen des deutschen Bundesheeres alle einer Sprache angehörten und eine annähernd gleiche Mentalität besaßen.

In fast allen Teilen dieses Bundesheeres gab es zwei verschiedene Heeresteile, die wir nach preußischem Muster in die Linie (aktives Heer) und die Landwehr (im Kriegsfall einzuberufende Reserveeinheiten) einteilen wollen. Die Linie war zweifellos das schlagkräftigere Instrument und hatte sich als solches im Krieg gegen Napoleon I. profiliert. Sie erreichte unter ihren Berufsoffizieren und -unteroffizieren eine weit höhere Qualität als die Landwehrbataillone unter ihren gewählten Offizieren und Unteroffizieren.

Der deutliche Leistungsabfall der Landwehr hatte im Krieg nur durch die hohe Moral der Truppe etwas aufgefangen werden können. Daraus entstand der erste Gegensatz zwischen Linie und Landwehr. Dieser Gegensatz wurde durch politisch unterschiedliche Anschauungen verschärft. Mit der einsetzenden Restauration gingen auch Bestrebungen zur teilweisen Restaurierung der Armee im Sinne der alten stehenden Heere Hand in Hand. Der weitaus größte Teil des Berufsoffizierskorps fühlte sich noch immer, wie in alter Zeit, seiner jeweiligen Krone persönlich verpflichtet. Die Preußen schätzten ihr Land und sein Königshaus höher als etwa ein einiges Deutschland. Allerdings war das keine Einzelerscheinung in Preußen. Aus Briefen Radetzkys geht z.B. hervor, daß er die Einheit und Größe Deutschlands von ganzem Herzen wünschte, aber unter keinen Umständen war er bereit, dafür etwa die Teilung Österreichs in einen zum Bund gehörenden deutschen und einen nicht zum Bund gehörenden fremdstämmigen Teil zugunsten einer noch weitergehenden Staatseinheit hinzunehmen. Was über Jahrhunderte dem überwiegend adligen Berufsoffizierskorps als Vasallentreue gegenüber dem Landesherren anerzogen worden war, ließ sich nicht von heute auf morgen beseitigen. Ganz anders dagegen war die Haltung der Landwehr und ihrer Offiziere. Sie war durchdrungen von den liberal-demokratischen und großdeutsch-nationalen Ideen, für die sie ins Feld gezogen war.

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Ein guter Teil ihrer tüchtigsten Offiziere hatte beim Lützower Freikorps gedient und gründete als Reaktion auf das verhaßte »System Metternich« unter den »Reichsfarben Schwarz-Rot-Gold« und der Devise »Ehre, Freiheit, Vaterland« 1815 an den Universitäten die über alle innerdeutschen Landesgrenzen hinausgehenden Deutschen Burschenschaften. Ihr im Jahr 1817 abgehaltenes Wartburgfest endete mit der Verbrennung der für sie enttäuschenden Bundesakte und reaktionärer Schriften und Symbole.

Da traten Ereignisse ein, die, wie so oft in der Geschichte, an sich gute Ideen in Mißkredit brachten. Dies traf hier um so mehr zu, als die Erinnerungen an die fürchterlichen Auswüchse der Französischen Revolution noch sehr lebendig waren. Radikale Gruppen unter Karl Follen drängten zur Tat. Der Student Sand ermordete den Dichter Kotzebue, den er für einen Agenten der schlimmsten aller reaktionären Fürsten, des Zaren, hielt. Nach Sands Hinrichtung ergingen 1819 auf Metternichs Veranlassung die Karlsbader Beschlüsse.

Die Burschenschaften wurden verboten, die »Demagogen« verfolgt, Presse und Universitäten überwacht. Schlimmer aber noch, daß Sands Tat viele ursprüngliche Anhänger der erwünschten Neuerungen abstieß. Der Widerwille gegen die radikalen Methoden wuchs, als nach dem polnischen Aufstand von 1830 immer mehr Polen als Initiatoren revolutionärer Umtriebe in allen Teilen Deutschlands und im Ausland auftauchten. Ihnen schlössen sich als Folge des Dekabristenaufstands von 1825 auch Russen an. Der Begründer des Anarchismus, Michail Bakunin (1814-1876), nahm persönlich an den Aufständen in Polen, Sachsen und Böhmen 1848/49 teil. Besonders die großdeutsch-national denkenden Männer wurden von diesen Umtrieben abgestoßen. Ein weiterer Teil schloß sich nach der Abdankung des als Reichsverweser eingesetzten volkstümlichen Erzherzogs Johann (1782-1859) im Dezember 1849 wieder dem eigenen Königshaus an.

Diese Haltung verstärkte sich nach der Ablehnung des vom Präsidenten der Deutschen National­versammlung Heinrich Freiherrn von Gagern (1779-1880) eingebrachten Vorschlages vom »engeren im weiteren Bund« durch den österreichischen Ministerpräsidenten Fürst Felix Schwarzen-berg (1800-1852). Dieser forderte die Aufnahme des gesamten Habsburgerstaates in den Deutschen Bund. Da man aber die nichtdeutschen Volksteile Österreichs nicht im Deutschen Bund haben wollte, siegte in dieser Zeit des übersteigerten Nationalgefühls die kleindeutsche Richtung, die eine Lösung der deutschen Frage unter Ausschluß selbst der Deutschen in Österreich und unter preußischer Führung anstrebte.

So kam es, daß sich das Berufsoffizierskorps der Linie geistig nicht an die von den meisten Landwehr­offizieren vorher vertretenen Ideen anschloß, sondern umgekehrt und allmählich die Landwehr an diejenigen der Linie.

KRIEGE DER IMPERIALISTISCHEN NATIONEN   342


Das hatte Auswirkungen auf die Haltung des gesamten deutschen Bürgertums bis ins 20. Jahrhundert. Lagen die Konfliktstoffe anfangs ausschließlich im ideellen Bereich, wobei die Krone und das adlige Offizierskorps für ein stehendes Heer eintraten und die liberalen Kräfte für eine allgemeine Volksbewaffnung zur Abwehr äußerer Feinde plädierte, so verschoben sie sich jetzt mehr auf das rein militärische Gebiet. Dennoch verlor der ideologische Hintergrund nie ganz seine Bedeutung. An der Notwendigkeit, eine Armee unter Waffen zu halten, zweifelte damals aufgrund der geschichtlichen Erfahrungen, die Deutschland seit dem Dreißigjährigen Krieg immer nur als Schlachtfeld fremder Mächte gezeigt hatten, keine der beiden Seiten. Die ständigen Bedrohungen der deutschen Grenzen, besonders durch Frankreich, das seine alten Ziele, die Gewinnung Oberitaliens und des linken Rheinufers, niemals aufgegeben hatte, erweckten im gesamten deutschen Volk eine kriegerische Abwehrbereitschaft, die erst am Ende des 19.Jahrhunderts allmählich in ein Hegemonialstreben umschlug.

Bevor dies aber geschehen konnte, mußte der Kampf um den Führungsanspruch in Deutschland und damit um die Gründung eines neuen Reiches entschieden werden. Das Parlament in Frankfurt hatte dieses Problem auf friedlichem Weg nicht lösen können, obwohl es von bestem Willen getragen war. So erklärte Bismarck den Deutschen Bund für aufgelöst und allen seinen Staaten den Krieg. Sein Ziel war es, Österreich aus diesem Bund hinauszudrängen. Die Entscheidung fiel 1866 bei Königgrätz. Den Sieg errang Helmuth Karl Graf von Moltke als Chef des preußischen Generalstabs unter Anwendung der Erkenntnisse, die der Generalstab auf die beschriebene Weise als erster in Europa errungen hatte. Am einschneidendsten waren die drei folgenden Neuerungen:

1. Der Verlauf der Eisenbahnlinien und deren Leistungsfähigkeit bestimmten die operativen Möglichkeiten der Kriegsführung; bereits seit 1863 - und nicht zuletzt aufgrund der Erfahrungen aus dem sich auf dem Höhepunkt befindenden Sezessionskrieg in Amerika — gründete Moltke darauf seine Planungen.

2. »Direktiven und nicht Befehle« mußten bei Heereskörpern, deren Aufmarsch sich auf oft weit getrennten Bahnlinien und mehreren Straßen zum Konzentrationspunkt vollzog, den Unterführern, besonders den Kommandierenden Generälen, freie Hand bei der Durchführung des Auftrages lassen; sie hatten in Zukunft lediglich im Sinne des Ganzen zu handeln. Das war die Geburtsstunde der in der Folge so überaus erfolgreichen Auftragstaktik.

3. »In der Anordnung getrennter Märsche unter Berücksichtigung rechtzeitiger Versammlung« erkannte Moltke das Wesen der Strategie. Dabei mußten sich zwangsläufig und in erhöhtem Maße, um mit Clausewitz zu sprechen, »Friktionen« ergeben.

V. KRIEGE UM DIE FREIHEIT DER PERSON   343


Daher nannte Moltke die Strategie auch »ein System der Aushilfen« und erklärte folgerichtig, sie sei nicht lehrbar. Jedes System, auch das für die Umfassung, hat er im Gegensatz zu dem späteren berühmten Chef des Generalstabs, Schlieffen, abgelehnt.

Was ist nun diese erwähnte geheimnisvolle Auftragstaktik? Im Gegensatz zu der sonst überall üblichen Befehlstaktik, bei der der Soldat genau vorgeschrieben bekommt, was er in allen Einzelheiten zu tun hat, und bestraft wird, wenn er anders handelt - das bekannteste Beispiel hierfür bietet das Drama »Der Prinz von Homburg« von Heinrich von Kleist -, erhält in der Auftragstaktik der Soldat wie der Offizier nur die Mitteilung darüber, was von der nächsthöheren Führung beabsichtigt ist. Wie er zur Erfüllung dieses Auftrags im einzelnen beiträgt, ist seine Sache.

Er hat nach seiner Beurteilung der Lage im kleinen oder großen Rahmen selbständig zu handeln. Geht er vom Befehl aus besserer Einsicht in die örtliche Lage ab, so steht auch das in seinem Ermessen. Allerdings kann er bei einem Scheitern des Gesamtplanes, das er durch sein Verhalten wesentlich verursacht hat, zur Verantwortung gezogen werden. Das hat gar nichts mit »Kadavergehorsam« zu tun. Dieses Wort stammt aus dem Sprachgebrauch der Jesuiten, deren Angehörige so bedingungslos gehorchen sollten wie ein Kadaver. Im Ersten Weltkrieg wurde es aus Propagandagründen von den Feinden Deutschlands auf die Manneszucht im deutschen Heer umgemünzt. Wer die Befehlstaktik befolgt, und das tun in mehr oder weniger strengem Sinn die Heere aller nicht deutschsprachigen Länder, befolgt Kadavergehorsam, nicht aber der, dessen oberster Grundsatz in der Auftragstaktik besteht. Je schlechter im Lauf eines Krieges die Ausbildung zwangsläufig wird, um so mehr wird auf der unteren Ebene die Auftragstaktik eingeschränkt. Auch sie ist ein echtes Symptom des ichbewußten Menschen der fünften nachatlantischen Kulturepoche. Im übrigen hat die Industrie die Auftragstaktik als »kooperatives Management« nach Vorbild des deutschen Generalstabs im gesamten Westen eingeführt.

Aufgabe des Feldherrn war es nun nach Erteilung der Aufträge an seine Unterführer nicht mehr, den Aufmarsch seines Heeres vom berühmten Feldherrnhügel aus zu überwachen. Er stützte sich nur noch auf die genauen Berechnungen seines Generalstabs, das neue technische Mittel der Eisenbahnen und auf den Telegraphen. Die drei Symptome der fünften nachatlantischen Epoche, das Nationale, die Freiheit der ichbewußten Einzelpersönlichkeit und die Ausnutzung der naturwissenschaftlichen Erkenntnisse, traten hier zusammen.

KRIEGE DER IMPERIALISTISCHEN NATIONEN   344


Fig. 10  Feldzug in Frankreich 

Dies sollte sich bei Moltkes strategischem Meisterwerk, dem Krieg gegen Frankreich 1870/71, zeigen (s. Fig. 10). Dieser Krieg entsprang u.a. Frankreichs Furcht vor einer preußischen Hegemonie in Europa. Die spanische Thronkandidatur führte trotz Verzicht des Prinzen Leopold von Hohenzollern-Sigmaringen zur Krise.

Aus Prestigegründen forderte Napoleon III. (1808-1873) eine Garantie des Verzichts. Er erklärte den Krieg, als Bismarck (1815-1898) die »Emser Depesche» in gekürzter Form veröffentlichte. Wider Frankreichs Erwarten traten die süddeutschen Staaten voller nationaler Begeisterung an die Seite Preußens und des damals bereits bestehenden Norddeutschen Bundes unter Führung Preußens. Altes Prestigedenken gemischt mit nationalem Bewußtsein auf beiden Seiten waren die Ursachen dieses Krieges.

Der Sieg der Deutschen gegen das kaiserliche französische Heer war der Sieg des auf der Höhe seiner Zeit stehenden Generalstabschefs und seines Stabes. Ihnen waren die ersten Kapitulationen von Massenheeren der modernen Geschichte bei Sedan und Metz zu verdanken. Sie waren von großer operativer Bedeutung, beendeten aber den Krieg nicht. Es ist verständlich, daß diese beiden Siege in Deutschland später überbewertet wurden. Aber in Kriegen, an denen die Völker mit Leidenschaft teilnehmen, genügen solche Siege allein nicht, wie das Beispiel von 1870/71 und die großen Kesselschlachten von 1941 gegen die Sowjetunion noch zeigen sollten.

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In solchen Kriegen kommt es darauf an, auch das feindliche Industriepotential und die Verkehrs­verbindungen zu zerschlagen, also die Versorgung des Feldheeres unmöglich zu machen, und den Widerstandswillen der gesamten Bevölkerung zu brechen. Der Sieger von 1870/71 überschätzte die rein militärische Entscheidung. Beim Besiegten aber erkannte man, wie groß die Kräfte eines einigen Volkes selbst nach zwei so gewaltigen Niederlagen noch sind. Das beeinflußte wesentlich die französische Kriegsführung im Ersten Weltkrieg.

Auch Moltke selbst glaubte, der Krieg sei nach Sedan gewonnen. 

Doch die in Paris gebildete republikanische »Regierung der Nationalen Verteidigung« war in Übereinstimmung mit der öffentlichen Meinung gewillt, den Kampf fortzusetzen. Gambetta (1838-1882), Innenminister der neugegründeten französischen Republik und genialer Organisator, der mit einem Ballon aus dem belagerten Paris entflohen war, wollte nun ein Massenheer im Stile der »Levee en masse« von 1793 aus dem Boden stampfen. Als militärischer Laie verfiel er dem Rausch der Zahl. Außerdem überschätzte er die seelische Kraft der Massen.

Friedrich Engels, der zu Anfang des Krieges die deutsche Seite vertreten hatte, dann aber aus ideologischen Gründen die Partei der französischen Republik ergriff, beging in seiner Beurteilung der Lage den gleichen Fehler. Wie Gambetta verkannte er völlig die Tatsache, daß rasch aufgestellte und ungenügend gefestigte Truppen der »Levee en masse« in schwierigen Lagen und bei Rückschlägen auseinanderfallen. Und das trat auch tatsächlich ein.

Engels nannte diesen Krieg, bei dem zum ersten Mal in der Kriegsgeschichte alle wehrhaften Männer zu den Waffen kamen und die gesamte Bevölkerung dem Feind schadete, wo sie konnte, einen »Volkskrieg«. Er unterschied ihn scharf vom »revolutionären Krieg«, bei dem es um den »Machtkampf der Arbeiterklasse« geht. Eine typische Erscheinung des Volkskrieges in diesem Sinne war der Einsatz der Franctireure. Sie gingen auf die 1868 gegründeten Schützengesellschaften zurück. Meist operierten die Franctireure in Gruppen von etwa 50 Mann und umgaben die französischen Armeen mit einem Schleier, den die deutsche Kavallerie nur schwer zu durchdringen vermochte. 

Zusätzlich kamen von ihnen wichtige Aufklärungsergebnisse. Teile führten auch im Rücken der Deutschen den Kleinkrieg. Manchmal trugen die Franctireure Abzeichen, an denen man sie als Kombattanten erkennen konnte, meist aber kämpften sie, wie vor allem die »Franctireurs de 1a presse«, in Zivil und ohne Abzeichen. Die letzteren wurden nach Kriegsrecht standrechtlich erschossen, wenn die Deutschen ihrer habhaft wurden. Im ganzen waren die Leistungen der Franctireure jedoch so gering und ihr undiszipliniertes Auftreten gegenüber der eigenen Bevölkerung so ekelerregend, daß Gambetta sie Mitte Januar 1871 auflöste und in die Armee eingliederte.

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Auch die »Internationale Brigade« Garibaldis (1807-1882), des italienischen Freiheitshelden und Revolutionärs, bildete davon keine Ausnahme. Die französische Regierung versuchte, diesen Mißständen bei der »Levee enmasse« durch sog. Kriegsdelegierte zu begegnen. Als französische Vorläufer der sowjetischen politischen Kommissare unserer Zeit sollten sie die Moral der Truppe wieder aufrichten und ihrer Zuchtlosigkeit entgegenwirken. Das Ergebnis entsprach jedoch keineswegs den Erwartungen. Trotz schwerer Kämpfe gegen das französische Massenheer behielten die Deutschen die Oberhand. Als am 1. Februar 1871 die französische 1. Loire-Armee unter Bourbaki die Grenze zur Schweiz überschritt und dort interniert wurde, war der Krieg für die Deutschen beendet.

Was sich mehrere Generationen patriotischer Deutscher gewünscht und ersehnt hatten, trat am 18. Januar 1871 ein. Das deutsche Kaiserreich wurde in Versailles gegründet und König Wilhelm I. von Preussen zum deutschen Kaiser ausgerufen. Auf die Franzosen wirkte das genauso demütigend wie die späteren Bedingungen des Friedensvertrags. Der Schrei nach Revanche ließ nicht lange auf sich warten.

Wurden bisher auch die Fehler aufgezeigt, die Friedrich Engels bei der Beurteilung des neu aufgestellten französischen Massenheeres beging, so erkannte er doch völlig richtig, zu welchen Leistungen eine Nation in einem Volkskrieg fähig ist. Das war richtungsweisend für die Zukunft. Moltke dagegen erkannte die sich hier ergebenden Möglichkeiten nicht. Er sah in dieser Art der Kriegsführung lediglich eine unnütze Kriegsverlängerung mit weiterem Blutvergießen und noch größeren Opfern für das französische Volk. Er war vom Sieg seines Qualitätsheeres über das französische Massenheer überzeugt.

Nun ist diese Überlegenheit des Qualitätsheeres wohl offensichtlich. Aber im Verlauf eines längeren Krieges nimmt die Qualität auch des besten Heeres durch die Verluste naturgemäß ab. Andererseits wächst die Qualität des Massenheeres ständig, wenn es Zeit hat, die nötige Kriegserfahrung zu erwerben. Beide Heere können schließlich die gleiche Qualität besitzen. In einem solchen Fall kann dann die größere Zahl den Ausschlag geben. Bei den Franzosen wäre es daher darauf angekommen, den neu aufgestellten Armeen Zeit zur Festigung und zum Sammeln von Erfahrungen zu geben. Durch eine dem Guerillakrieg angepaßte Kriegführung etwa wäre das möglich gewesen. Aber die französische Regierung gab diesem Heer Aufträge, die aktive Truppen kaum hätten erfüllen können. Sein Versagen sagt damit nicht viel über seinen tatsächlichen Wert aus. Massenheere müssen anders geführt und eingesetzt werden als Qualitätsheere. Nur dann können sie ihre Aufgaben erfüllen. Im Fall des neuen französischen Massenheeres war das aber nicht Schuld der Generäle, sondern der Politiker.

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Volkskriege im Sinne von Friedrich Engels können nur dann geführt werden, wenn die Massenheere von Berufssoldaten geführt werden, sie der Unterstützung der gesamten Bevölkerung sicher sein dürfen, ihre Kleinkriegsverbände im Sinne der Gesamt­kriegs­führung diszipliniert kämpfen, die Versorgung durch fremde Mächte gesichert ist und ein schlagkräftiger, außerordentlich beweglicher Kern von Qualitätstruppen die wichtigsten Operationen unternimmt. 

Engels hatte den größten Teil dieser Voraussetzungen erkannt. Das wichtigste dabei ist aber die moralische Größe, die erst die Bevölkerung eines Landes zur Führung eines Volkskrieges befähigt. Diese moralische Größe war im 19. Jahrhundert und in der folgenden Zeit das Nationale. Daher hat es Volkskriege in dieser Form auch erst in der fünften nachatlantischen Epoche gegeben.

Im Zusammenhang mit der Gründung des Deutschen Reiches, die man in dieser Form bedauern mag oder nicht, man muß sie aber als Tatsache hinnehmen, wurde zum ersten Mal auch von einem deutschen Militarismus gesprochen, ein Ausdruck, den Rudolf Steiner »die allergräßlichste Phrase, die jemals geprägt worden ist«, nennt.228  Und im Hinblick auf die Revanche-Forderungen Frankreichs und die drohende Koalition zwischen Frankreich, England und Rußland fährt Rudolf Steiner fort: 

»Können Sie sich vorstellen, daß man in Mitteleuropa an die <friedlichen> Absichten Westeuropas glauben sollte, wenn man nicht eine, sondern viele, viele solche Tatsachen von diesem Kaliber zur Kenntnis nehmen mußte? Es kommt eben, wenn man diese Dinge beurteilen will, mancherlei in Betracht. Es kommt in Betracht, daß wenn man dieses Mitteleuropa im weiteren Sinn betrachtet, es das Allerunsinnigste ist, so ohne weiteres von mitteleuropäischem Militarismus zu sprechen; denn dieser Militarismus ist für ein zwischen zwei Militärstaaten eingeschlossenes Land die selbstverständliche historische Folge gewesen, um eben bestehen zu können zwischen den beiden Militärstaaten.

Menschen, die jeden Wirklichkeitssinnes bar sind, können allerdings fragen: Sind denn nicht allerlei Abrüstungsvorschläge gemacht worden? — Man prüfe nur einmal diese Abrüstungsvorschläge! Man braucht ja irgend etwas, was man erreichen will, nicht unbedingt auf einem Wege zu erreichen, man kann es auf verschiedenen Wegen erreichen.

Selbstverständlich wäre es gewissen Leuten — ich sage nicht: den Völkern, sondern gewissen Leuten — in Westeuropa recht lieb gewesen, das, was sie erreichen wollten und wollen, nicht durch einen Krieg erreichen zu müssen, in dem Hunderttausende von allen Seiten ihr Blut vergießen müssen, sondern sie hätten vorgezogen, sich nachher — verzeihen Sie den trivialen Ausdruck — die Finger ablecken und sagen zu können: <Wir haben Frieden gemacht!>

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Eines der Mittel für die westeuropäischen Politiker von einem gewissen Schlage war der Abrüstungs­vorschlag, der in die Welt gesetzt worden ist, denn er war nur dazu da, um eben auf einem andern Wege zu erreichen, was man erreichen wollte. Nachdem der Abrüstungsvorschlag nicht zur Wirklichkeit geworden war, mußte dieser Weg als ungangbar aufgegeben werden. Hätte man Mitteleuropa ohne Krieg einschnüren können durch Abrüstungen, so hätte man es selbstverständlich lieber getan ohne Krieg; aber es war nur ein anderer Weg, um dasselbe zu erreichen.

Man darf sich nicht täuschen lassen durch Worte, man darf sich nicht täuschen lassen durch Illusionen; sondern man muß sich klar sein über das, was die Leute wollen. Und da muß man immer wieder und wiederum die gesund denkenden Menschen, die wirklich das wollen, was sie sagen, in Schutz nehmen, selbst wenn sie unter dem Einfluß von Haß und allerlei anderen Gefühlen identifiziert werden mit denjenigen Menschen, die dies oder jenes herbeiführen.«229  

Man sollte auch heutige Abrüstungsvorschläge so unter die Lupe nehmen und auf die Goldwaage legen, wie dies Rudolf Steiner in den genannten Vorträgen 1916 für seine Zeit getan hat, und diese Vorschläge nicht nur deshalb gut heißen, weil sie mit dem Wort Abrüstung verbunden sind.

Wir haben uns damit dem Ersten Weltkrieg genähert, müssen uns aber zunächst gewissermaßen der Peripherie des europäischen Blickfeldes, Nordamerika, Asien und Südafrika, zuwenden, wo große Ereignisse die Zukunft der Menschheitsentwicklung vorbereiteten. Nach der Unabhängigkeitserklärung der dreizehn ersten Kolonien von Großbritannien, die alle im Osten des nordamerikanischen Kontinents lagen, und der Gründung der Vereinigten Staaten von Nordamerika dauerte es nicht einmal drei Jahrzehnte, bis die erste amerikanische Expedition die Rocky Mountains überwandt und den Pazifik erreichte. Bereits unter Präsident James Monroe (1817-1825) wurden im Westen der alten Kolonien vier neue Staaten gegründet und Straßen und Kanalverbindungen in einem Ausmaß angelegt, wie es in Europa nur in den fortschrittlichsten Ländern geschah.

In diese Zeit fielen auch die ersten Spannungen zwischen den sog. freien und den Sklavenstaaten der USA. 1820 wurde die Sklaverei nördlich des 36. Breitengrades verboten. Sieht man diesen Akt mit der Landnahme und Landkultivierung zusammen, so zeigen sich schon zwei wesentliche Merkmale dieses neuen, zumeist aus Angelsachsen bestehenden Volkes: die praktische und, wenn man so will, materialistische Hinwendung zum Boden und das idealistische Sendungsbewußtsein zur Befreiung versklavter Menschen, die doch nach der Erklärung der Menschenrechte alle gleich sein sollten. Ergänzt wurde dies durch die sog. »Monroe-Doktrin« von 1823.

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Anlaß hierzu gab die Absicht der Heiligen Allianz zwischen den führenden Herrscherhäusern Europas, die vor allem vom russischen Zaren beherrscht war, die spanische Herrschaft in Süd- und Mittelamerika wiederherzustellen. In dieser Doktrin erklärten die Vereinigten Staaten, sie beabsichtigten keine Einmischung in europäische Angelegenheiten, wünschten andererseits aber auch keine Interventionspolitik europäischer Mächte. Die Doktrin hatte für das ganze 19. Jahrhundert und für den Anfang des 20.Jahrhunderts eine außerordentlich hohe Bedeutung für die lateinamerikanischen Staaten, die ja zur Zeit ihrer Verkündigung um ihre Unabhängigkeit kämpften.

Damals waren die Vereinigten Staaten aber noch so sehr mit der Erschließung und Eroberung ihres eigenen Gebietes befaßt, daß sie sich ein Eingreifen in Europa nicht vorstellen konnten. Ungefähr 20 Jahre später annektierten sie Texas, wobei wiederum nicht die Armee, sondern in typisch angelsächsischer Weise zivile Organisationen und Gruppen den Vorreiter gespielt hatten. Nach dem siegreichen Krieg von 1846/48 gegen Mexiko mußte dieses Land Kalifornien, Arizona und Neu-Mexiko sowie offiziell Texas abtreten. Im Norden gewannen die USA den größeren Teil des Oregon-Gebiets aufgrund eines Vertrages mit Großbritannien. Im gleichen Jahr, in dem der Krieg gegen Mexiko ausbrach, bauten die USA den Illinois-Michigan-Kanal, durch den die Besiedlung des fernen Westens eingeleitet wurde.

Den Anlaß für die rasche Besiedlung des ungeheuren Gebiets im Westen bot aber nicht nur der Landhunger der in großen Zahlen einströmenden Europäer, die sich nun besonders aus Iren und Deutschen zusammensetzten, sondern vor allem der Goldfund Sutters und anderer im Sacramentotal, der die Einwohnerzahl allein von San Francisco von 1000 im Jahr 1845 innerhalb von zehn Jahren auf 100.000 ansteigen ließ. Der typisch materialistische Traum unzähliger Amerikaner vom schnellen Reichtum schien in Erfüllung zu gehen.

Zwischen 1820 und 1860 war die Bevölkerung der Vereinigten Staaten von 9,6 auf 31,5 Millionen angewachsen. In etwa entsprach sie jedoch im Verhältnis zu dem riesigen Gebiet nur der Bevölkerungszahl der k.u.k.-Monarchie jener Zeit. Von den 31,3 Millionen lebten 22 Millionen im Norden und nur etwas mehr als 9 Millionen im Süden, wovon noch 2/5 Negersklaven waren.

Wie wir gehört haben, kam es über die Sklaven zu heftigen Auseinandersetzungen in den Vereinigten Staaten selbst, die nur vorläufig geschlichtet worden waren. Doch die freien und die Sklavenstaaten entfremdeten sich immer mehr, so daß die Union in Gefahr war, auseinanderzufallen. Eine Lösung mußte gefunden werden. Hier griff man nun zu einem Mittel, das sich schon zu Beginn des Unabhängigkeits­krieges bewährt hatte: zur Propaganda. Im Auftrag gewisser Kreise des Nordens schrieb Harriet Beecher-Stowe 1852 ihren berühmten Roman »Onkel Toms Hütte«.

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Diese Form des Umgangs mit dem Problem der Negersklaven in den Südstaaten hatte eine ungeheure propagandistische Wirkung in den Nordstaaten, die zwei Jahre später durch die Gründung der Republikanischen Partei, die die Befreiung der Negersklaven auf ihre Fahnen geschrieben hatte und die Bevölkerung geistig auf eine gewaltsame Lösung des Problems vorbereitete, noch verstärkt wurde. Obwohl die Menschlichkeit gebot, den Sklavenhandel unter allen Umständen zu unterbinden und den bereits Versklavten die Freiheit zurückzugeben, ist dieses Mittel, die lügnerische Propaganda dazu zu Hilfe zu rufen, zwar typisch, aber auch mehr als bedenklich.

Der Norden war dem Süden industriell weit überlegen. Das Verhältnis der für die Kriegsindustrie wichtigen Fabriken war 3,5:1 zugunsten des Nordens, und auf 6 Fabrikarbeiter im Norden kam nur einer im Süden. Ähnlich stand es um die Eisenbahnlinien, die in einem so unerschlossenen Land noch größere Bedeutung besaßen als in Europa. Hier lag das Verhältnis bei 2:1 für den Norden. Der Süden konnte sich lediglich auf seine doppelt so starke Landwirtschaft stützen, die das Weltbaumwollmonopol besaß.

Diese Wirtschafts- und Verkehrsstruktur brachte es mit sich, daß der Süden der Vereinigten Staaten vor allem exportorientiert war. Dabei drang jedoch der Norden zum Schutz seiner Industrieerzeugnisse auf Schutzzölle, während der Süden auf dem Freihandel bestand. Von ausschlaggebender Bedeutung aber für den kommenden Krieg war die Tatsache, daß sich die Kriegsflotte in der Hand des Nordens befand, während der Süden aufgrund seiner überwiegend landwirtschaftlichen Ausrichtung über mehr Handelsschiffe verfügte, die aber höchstens als Blockadebrecher eingesetzt werden konnten. Bei dem herrschenden Baumwollmonopol kamen auch die ausländischen Kaufleute, vor allem Engländer, von sich aus in die zahlreichen Häfen, um die Waren abzuholen. Das Baumwollmonopol war aber nur mit den billigen Negersklaven aufrechtzuerhalten. Im Zug der weltweiten Kampagne zur Abschaffung der Sklaverei kam es zur Selbständigkeitserklärung von elf Südstaaten, die sich schließlich zur Konföderation zusammenschlossen.

Der 1861 zum Präsidenten der Vereinigten Staaten gewählte Abraham Lincoln (1809-1865) setzte sich entschlossen für die Erhaltung der Union ein. Die Kriegsursachen sind also wieder einmal symptomatisch. Abgesehen vom primären Ziel der Erhaltung der Union, waren wirtschaftliche Gegensätze eine der wichtigsten Kriegsursachen. Begleitet wurden diese materialistischen Gründe von dem neuen, diesmal ideologisch bedingten »Kreuzzugsgedanken«, die Sklaverei im Sinne der Forderungen der Menschenrechte abzuschaffen.

Den ideologischen Grund haben auch Karl Marx und Friedrich Engels als solchen erkannt. Für sie stellte aber der Kampf der Union einen »Befreiungskampf der Arbeiterklasse« dar.

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Sie haben den Krieg in vielen Presseberichten beschrieben und waren gemäß ihrer eigenen Theorien davon überzeugt, daß der Zusammenbruch der »Sklavenhaltergesellschaft« im Süden folgerichtig zur proletarischen Revolution in Europa führen müsse. Ihre Theorien wurden durch die Wirklichkeit widerlegt.

Als der Krieg dann 1861 ausbrach (s. Fig. 11), erwiesen sich die Südstaaten den schlecht ausgebildeten, aber zahlenmäßig meist stärkeren Truppen der Nordstaaten überlegen und besiegten sie überall auf den Schlachtfeldern. Erst in der Schlacht von Gettysburg vom 1.-4.Juli 1863 konnte die Angriffskraft der Südstaaten gebrochen werden, und sie erlitten ihre erste und entscheidende Niederlage. 

Die tiefere Ursache hierfür lag aber dann, daß die Nordstaaten 1862 nach dem mißlungenen Vorstoß auf die feindliche Hauptstadt Richmond in Virginia auf die für sie einzig mögliche Art der Kriegführung umschalteten. Sie proklamierten den Abnutzungskrieg (war of attrition), vornehmlich auf Drängen General Grants. Dabei sollte durch einen Vorstoß entlang des Mississippi von Norden über Memphis, Vicks-burg und Port Hudson — alles wichtige Festungen und Versorgungsstützpunkte der Konföderierten - New Orleans genommen werden. Es gelang bereits am 1.5.1862 von See her, während Vicksburg erst im Juli kapitulierte. Damit war das konföderierte Heer aber von seiner Verpflegungsbasis, den Rinderländern, Arkansas, Louisiana und Texas, abgeschnitten.

Ein solcher Abnutzungskrieg schloß die Vernichtung aller Lebensmittel und Kriegsbedarfsgüter überall dort ein, wo die Heere der Union hinkamen. General Sheridans berüchtigte Verwüstung des Shenandoah-Tales im Jahr 1864 sowie die Verwüstung des Raumes von Vicksburg und Port Hudson am Mississippi im Stil von Melacs Plünderung der Pfalz im 17. Jahrhundert sind dafür hervorstechende Beispiele. Daß man dabei die Regeln des Völkerrechtes nicht immer beachtete, sei am Rande vermerkt. Für den Norden wurden unter diesen Gesichtspunkten die Wegnahme und Zerstörung der feindlichen Depots, Magazine und Eisenbahn­knotenpunkte, also das Abschneiden der Versorgung, wichtiger als die Vernichtung des feindlichen Heeres, während der Süden nach der Wiederaufnahme seines ursprünglichen Angriffsplanes durch General Lee immer die Vernichtung der feindlichen Streitkräfte als Ziel ansehen mußte.

Im Europa des vorigen Jahrhunderts hat man die Leistungen des konföderierten Generals Lee meist höher eingeschätzt als diejenigen seines Gegners Grant, weil Lee noch immer im Sinne Napoleons I. das »Marcher aux canons« und das rücksichtslose, kühne Entscheidungssuchen auf dem Schlachtfeld besser verstand als sein Gegner. Man vergaß darüber, daß auch Grant diese Art der Schlachtenführung beherrschte, vor allem, daß seine Kriegführung zwar weniger glänzend, dafür aber um so wirksamer war.

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Mit einem an Kampfgeist und militärischem Können unterlegenen Heer hat er dennoch den Sieg errungen. Grant hatte eine Art der Kriegführung gefunden, bei der man mit einem taktisch unterlegenen Heer und gleichzeitiger numerischer, technischer und industrieller Überlegenheit den Feind schlagen konnte. Das war völlig neu in der Geschichte des Kriegswesens und hätte vor allem die deutsche Führung im Ersten und Zweiten Weltkrieg warnen sollen.

Auch das beste Heer kann heute einen technisch und industriell überlegenen Feind, der nach den Grundsätzen des Abnutzungskrieges kämpft, nicht mehr schlagen. Dazu gehört aber immer der Wille, den Krieg bis zur totalen Erschöpfung des Feindes fortzuführen. Ganz Europa ist an dieser Schlußfolgerung vorbeigegangen. Aber diese neue Art der Strategie prägte das Bild sowohl des Ersten als auch des Zweiten Weltkrieges. Das Material sollte den Menschen erdrücken.

Auch zeigten sich im Amerikanischen Sezessionskrieg die ersten Ansätze zum totalen Krieg des 20. Jahrhunderts, wenn auch nicht in der von Ludendorff ersonnenen Form. Noch immer ließ sich die europäische Fachwelt blenden von Armeen, die, vorzüglich ausgebildet, versorgt und geführt, Vernichtungs­siege auf dem Gefechtsfeld errangen. So bestimmte das Kriegsbild von 1859, 1866 und 1870/71 das Denken der meisten europäischen Heerführer beim Ausbruch des Ersten Weltkrieges, ein Fehler, der unendlich viel Blut kostete und die Niederlage der Mittelmächte in sich barg.

Als Ausnahmen können nur einige weitsichtige Männer in England genannt werden, die sich aufgrund der geographischen Lage ihres Landes und gestützt auf die Erfahrungen einer starken Seemacht die Erkenntnisse diese ersten »totalen« Krieges zunutze machten. Dennoch darf nicht vergessen werden, daß man sich mit dieser Art der Kriegführung ganz dem Materialismus ausliefert. Kommen noch idealistische Züge wie die Sklavenbefreiung hinzu, soweit sie sich auf die lügnerische Propaganda stützt, so ist die doppelte Umfassung gegeben.

Großartige technische Erfindungen und der weitere Ausbau einer bereits in ihren Kernstücken während des Sezessionskrieges bestehenden gewaltigen Industrie ermöglichten es den USA, bald ihr Handelsvolumen weit über das hinaus auszudehnen, was man in Europa kannte. Dies machte zum Schutz des Handels eine gewaltige Kriegsflotte nötig, die ihrerseits wiederum Häfen und Stützpunkte in Übersee benötigte. All dies nahmen die Vereinigten Staaten in der gewohnten Tatkraft dieser Nation in den nächsten Jahrzehnten in Angriff, wobei sie besonderen Wert auf den Bau von Panzerschiffen legten, deren Überlegenheit über hölzerne Schiffe sich bereits während des Krieges gezeigt hatte.

Noch im gleichen Jahr 1865, in dem der Bürgerkrieg in den USA mit dem Sieg der Nordstaaten unter Wiederherstellung der Union endete, begann man auch mit der technischen Erschließung des gesamten Kontinents.

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Innerhalb von vier Jahren wurde die erste Transkontinentalbahn, die Central Pacific, gebaut und vollendet, und 1867 kauften die USA Alaska und die Aleuten von Rußland, eine Maßnahme, deren Bedeutung erst ganz im 20. Jahrhundert erkannt wurde.

Noch bevor auch der letzte Zipfel des heutigen Gebiets der USA im Jahr 1890 besiedelt war, baute die amerikanische Kriegsmarine ihren ersten Flottenstützpunkt auf Honolulu aus. 1893 übernahmen die Vereinigten Staaten nach dem Zusammenbruch der französischen Panamakanal-Gesellschaft die Vorarbeiten und vollendeten den Kanal bis 1914. Dieser Kanalbau sollte von ungeheurer Bedeutung nicht nur in handelspolitischer Sicht, sondern auch in bezug auf das Verlegen von schweren Marineeinheiten aus dem Pazifischen in den Atlantischen Ozean und umgekehrt werden. Heute befindet sich das Kanalgebiet zwar wieder unter der administrativen Verwaltung der Regierung von Panama, aber es ist gar nicht daran zu zweifeln, daß es in einem Verteidigungsfall wieder in die Hände der USA übergehen müßte. Nur so wäre es möglich, die Zweite bzw. Dritte Flotte je nach Lage durch Unterseeboote und schwere Einheiten zu verstärken.

Ganz im Geist der Zeit und den europäischen Mächten vergleichbar, begannen die Vereinigten Staaten kurz vor der Jahrhundertwende mit einer imperialistisch geprägten Politik. Zwischen 1895 und 1898 prägten große Aufstandsbewegungen die Lage auf Kuba, das damals noch zu Spanien gehörte. Nach der noch unaufgeklärten Explosion eines amerikanischen Panzerschiffs im Hafen von Havanna griffen die Vereinigten Staaten militärisch ein. Im Friedensschluß wurden Kuba und Puerto Rico an die USA abgetreten, die damit unbestritten die Vorherrschaft im Golf von Mexiko und in der Karibischen See besaßen, wenn auch Kuba später den Besitzer wieder wechseln sollte. Die USA nahmen während dieser Zeit Einfluß auf die Herrschaftsstrukturen im Pazifik und gliederten sich die Hawaii-Inseln ein. Nach der spanischen Niederlage 1898 annektierten sie die Philippinen und Guam. 

Auch der östliche Pazifische Ozean wurde damit von den USA beherrscht, vor allem nachdem man sich mit Japan geeinigt hatte, das inzwischen auf dem Weg zu einer Großmachtstellung war — im Jahr 1900 wirkte es bereits als Großmacht mit den anderen Interventionsmächten aus Europa an der Niederschlagung des Boxeraufstands in China mit. Alle diese imperialistischen Erwerbungen und Vorgehensarten stellten ein klares Abrücken von der Monroe-Doktrin dar. Es sollte nicht mehr lange dauern, bis die USA den Charakter einer Supermacht erlangt hatten. Gestützt auf die ungeheuren eigenen Rohstoffquellen und Bodenschätze sowie auf die Kraft ihrer Industrie, geo-strategisch durch die Erstreckung über einen ganzen Kontinent und die Beherrschung zweier Weltmeere begünstigt, hatten die USA bald schon die Position Großbritanniens übertroffen. Die Frage sollte bleiben, ob es der Machtverführung ganz erliegt, die diese Stellung mit sich bringt.

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Noch einmal wollen wir herausstellen, daß diese gesamte Entwicklung nur aufgrund des Ausgangs des amerikanischen Bürgerkrieges von 1861 bis 1865 möglich geworden war. Niemand hat dies klarer erkannt als Ludwig Dehio, der sagte: 

»Wir finden sie [die Vereinigten Staaten] jetzt im Bürgerkriege wieder, bedroht von keinem äußeren Feinde, aber der inneren Uneinigkeit, in Gefahr, alles Erreichte zu verlieren. Behauptete sich nämlich die Spaltung, dann war es mit dem bevorrechtigten insularen Dasein vorbei: kontinentale stehende Heere mußten dann unterhalten werden. Vorbei war es mit dem Fernbleiben von der europäischen Politik: Verbündete mußten gesucht werden, wo man sie fand. Ja es war vorbei überhaupt mit dem Machtanstieg des jungen Erdteiles, mit seiner Tendenz zur Vereinheitlichung im geschlossenen Raum. Die Tendenz zur Zerklüftung, zur Bildung eines Staatensystems im geöffneten Räume, mußte sich anbahnen, das Verhältnis der Neuen zur Alten Welt rückläufig werden und die ausgewanderte Macht gleichsam über den Ozean heimkehren. Dann würde innerhalb des Angelsachsentums Englands Stern wieder emporsteigen, und diese verführerische Aussicht wurde während des Sezessionskrieges auf der Insel von weiten Kreisen offen begrüßt. Aber sie überschnitt sich mit einer anderen und für England bedenklichen Aussicht. Auch Frankreichs Stern mußte unter solchen Umständen wieder emporsteigen, Napoleon [Napoleon III.] die Möglichkeit gewinnen, die Beseitigung der französischen Herrschaft in Kanada nach 100 Jahren durch ihre Aufrichtung in Mexiko wieder ausgleichen.

So führt uns die Betrachtung seines amerikanischen Unternehmens dicht heran an eine wahrhaft weltgeschichtliche Wasserscheide. Daß sie nicht überschritten wurde, dafür sorgte der wohlbegründete und klare Sieg der Nordstaaten, der verhinderte, daß der Strom der amerikanischen Geschichte sich ein neues Bett suchte. Die Staaten, sobald sie wieder >Vereinigte Staaten< geworden waren, zeigten sich stark genug, um mit bloßer Drohung den Kaiser von dem Boden ihrer Rieseninsel zu vertreiben. Sie bedurften dabei nicht der Verbindung mit England, wie in ähnlicher Lage zu Monroes Zeiten. War doch Frankreich diesmal gleichzeitig auch in Europa bedenklich engagiert. Und so wuchs aus dem drohenden Verfall die Geltung der dritten Weltmacht erst recht in neuem gewaltigem Aufstiege empor.«230

 

Für uns ist dieser Ausgang des amerikanischen Sezessionkrieges in seiner ganzen Bedeutung und seinen Auswirkungen ein weiteres Symptom dafür, daß die Angelsachsen in der fünften nachatlantischen Epoche die führende Rolle erringen mußten, um die weltgeschichtliche Entwicklung voranzutreiben.

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Der Sieg der Angelsachsen, zunächst auf den Britischen Inseln und in Übersee, dann auch auf dem amerikanischen Kontinent, brachte notwendigerweise auch den Sieg ihres Wirtschaftssystems mit sich. Das ganze 19. Jahrhundert hindurch waren wirtschaftliche Gründe ausschlaggebend für die kriegerischen Verwicklungen, wie wir es bereits auf der Krim und in Nordamerika beobachten konnten.

 

Ein weiterer, meist wenig beachteter, in unserem Zusammenhang aber außerordentlich wichtiger Krieg brach 1899 in Afrika aus. Dort führten die Buren bis 1902 einen Volkskrieg im Sinne Engels gegen die Engländer. Auch dieser Krieg hatte wirtschaftliche Ursachen; es ging um die Gold- und Diamantenlager in der Nähe von Johannesburg. Immer mehr Briten sickerten in die Burenrepubliken Transvaal und Oranjefreistaat ein, so daß die Buren bald eine drohende Haltung gegen die »Uitlanders« einnahmen.

Das war der gewünschte Anlaß zum Krieg, der mit dem Verlust der Selbständigkeit der beiden Burenrepubliken endete. Durch diesen Krieg vermehrten sich Kaufkraft und Reichtum Großbritanniens in einem unerhörten Maß. Darüber hinaus aber beherrschten von nun an Briten das so überaus wichtige Seegebiet um das Kap der Guten Hoffnung, den Südatlantik und den Indischen Ozean. Selbst nach der Bildung der selbständigen Südafrikanischen Republik hat sich für die geostrategische Lage des Angelsachsentums daran nichts geändert.

Im Verein mit Australien im Osten und den Falklandinseln im Westen bei Kap Hoorn waren alle wichtigen Seestraßen in angelsächsischen Händen. Der Burenkrieg selbst ist ein Symptom für das Überhandnehmen des Materialismus und die Beherrschung des Schlachtfeldes durch die moderne Technik. Zum ersten Mal zeigte sich in diesem Krieg die furchtbare Wirkung der Maschinengewehre, mit denen Buren wie Briten z.T. schon ausgerüstet waren. Naturgemäß hatten darunter die Briten mehr zu leiden, da sie fast immer die Angreifenden waren. Ihre Infanterie ging anfangs noch wie die Preußen bei Gravelotte in Kompaniekolonnen vor und strebte den Einbruch mit dem Bajonett an. Wo aber Maschinengewehre schossen, erstarb jede Bewegung, wenn sie nicht zum Schweigen gebracht werden konnten.

Schon vor dem Krieg gegen die Buren hatte das britische Heer diese neue Waffe erprobt. 50 englischen Soldaten gelang es 1893 am Sambesi mit Hilfe der Maschinengewehre, die wiederholten Angriffe von 5000 Eingeborenen abzuwehren.

Ähnlich erfolgreich wirkten ganze vier Maschinengewehre bei der Erstürmung des Malakanda-Passes im afghanischen Feldzug von 1895, und ähnlich vernichtend schlugen die an Zahl weit unterlegenen Briten mit 20 Maschinengewehren und 38 Geschützen, unterstützt von Kanonenbooten auf dem Nil, im Sudanfeldzug von 1898 einen Angriff zurück, bei dem die Eingeborenen 12.000 Tote und 16.000 Verwundete auf dem Schlachtfeld zurückließen.

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Den Europäern war damit eine Waffe in die Hand gegeben, der die eingeborenen Krieger in allen anderen Weltteilen nichts Gleichwertiges entgegenzusetzen hatten. Die Überlegenheit der europäischen Heere stieg damit ins Unermeßliche. Es blieb allerdings abzuwarten, was geschehen würde, wenn Heere aufeinander­treffen, die beide mit den gleichen Maschinenwaffen ausgerüstet sind.

Das Maschinengewehr und die modernen Mehrladegewehre brachten aber noch etwas anderes und ebenfalls Typisches mit sich. Vor der Erfindung dieser Waffen hatte der einzelne Kämpfer auf dem Schlachtfeld den Feind noch mehr oder weniger klar vor sich gesehen; die Maschinengewehre aber zwangen den Gegner in die Erde, in Schützengräben, Schützenlöcher und Schützenmulden, wo er, vor allem wenn die Farbe seiner Uniform sich nun auch noch dem Gelände anpaßte, also eine Tarnfarbe war, nur noch in seltenen Augenblicken, meist nur, wenn er sprang, gesehen werden konnte.

Der Soldat kämpfte von nun an gegen einen »unsichtbaren« Gegner, den er, von einzelnen Scharfschützen abgesehen, mit der Masse seines Feuers niederhielt und niederkämpfte. Auch das verlagerte den Schwerpunkt auf die materielle Seite des Kampfgeschehens. Der Schritt vom Massenfeuer der Infanterie zum Massenfeuer der Artillerie war nicht mehr weit.

Als die Buren der materiellen Überlegenheit der Briten nicht mehr gewachsen waren, griffen sie zum Mittel des Kleinkrieges, das sich schon in Spanien gegen Napoleon I. gut bewährt hatte. Diese Art der Kampfführung entsprach ganz dem Wesen der burischen Miliz, die in der Hauptsache aus Jägern bestand. Gegen sie fand erst Lord Kitchener (1850-1916), der Organisator des britischen Massenheeres im Ersten Weltkrieg, ein Mittel. Bei dieser Art der Kriegführung zeigte es sich nämlich, daß ganz im Sinne des Materialismus und des Intellektualismus richtige Organisation überragende taktische und operative Kenntnisse übertraf.

Trotz heftiger Kritik im Ausland ließ er die Farmen und Dörfer der Buren niederbrennen, um die Möglichkeiten ihrer Versorgung einzuschränken. Frauen und Kinder zog er in Konzentrationslagern zusammen — der Begriff stammt aus diesen Zusammenhängen. Das hatte allerdings zunächst eine Wirkung, die er sich nicht wünschte. Die Buren glaubten, der Sorgen um ihre Angehörigen ledig zu sein, und verstärkten den Kleinkrieg, bis Gerüchte über Hunger, Krankheiten und Tod in den Konzentrationslagern sie anderer Meinung werden ließen.

Kitchener schränkte die Bewegungsfreiheit der Buren durch ein wohldurchdachtes Blockhaussystem ein. Dazu legte er zunächst eine Kette von Blockhäusern zum Schutz der Bahnlinien an. Von dort aus dehnte er das System auf das offene Land aus, das wie in Pferche aufgeteilt wurde.

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Die Maschen des Blockhaussystems wurden immer enger gezogen, so daß die Lebensadern der Briten, die Bahnlinien als ihre Versorgungslinien, völlig gesichert waren. Darüber hinaus trieben berittene britische Jagdkommandos die Buren in das von ihnen gewünschte Gelände und vernichteten sie. So brach in Afrika der Kleinkrieg der Buren zusammen. Messen wir ihn an den Voraussetzungen, die für die erfolgreiche Führung eines solchen Kleinkrieges gegeben sein müssen und die wir schon geschildert haben, so müssen wir feststellen, daß er durch die Buren von vornherein nicht zu gewinnen war. Obwohl der Krieg vom gesamten Volk willig und sogar mit Erbitterung geführt wurde, fehlten die Führung durch Berufsoffiziere — das zeigte sich besonders am Mangel eines realistischen Kriegs- und Operationsplanes —, die regelmäßige und ausreichende Versorgung mit allen Gütern durch eine fremde Macht und schließlich das Eingreifen zusätzlicher, noch intakter eigener oder fremder Streitkräfte.

Trotz der Niederlage der Buren war es für das britische Heer schwer, den großen Krieg nicht nur zu beenden, sondern auch alle Kampfhandlungen gegen die Kleinkriegskämpfer zu einem erfolgreichen Ende zu führen. Bisher hatten alle europäischen Heere die Kleinkriegführung nicht allzu ernst genommen. Sie taten es auch bis zum Zweiten Weltkrieg nicht. Im Burenkrieg aber wurde deutlich, wie wirkungsvoll eine solche Art der Kriegführung sein kann, wenn dafür die Grundlagen vorhanden sind. Einige wichtige Grundsätze, wie z.B. den der ständigen Offensive von sehen der Guerillakämpfer, hatte schon Friedrich Engels in seinen theroretischen Schriften erkannt. Lenin baute sie zunächst im Hinblick auf die Gliederung von Partisanenverbänden aus, lehnte den Partisaneneinsatz aber später aufgrund der üblen Erfahrungen des russischen Bürgerkrieges wieder ab. Der große Theoretiker des Partisanen- und Guerillakrieges sollte im 20. Jahrhundert Mao Tse-tung werden, der ihn auch in der Praxis erprobte und siegreich bestand.

Kennzeichnend für die gesamte imperialistische Politik, die den Einsatz militärischer Mittel zum Erreichen ihrer Ziele keineswegs scheute, und zugleich richtungsweisend für das 20. Jahrhundert in geostrategischer Beziehung sollte ein neuer Krieg in Ostasien werden. Das innenpolitisch zerrissene und in seiner Entwicklung weit hinter Europa zurückgebliebene Riesenreich des Zaren strebte in Fortsetzung der Politik Peters des Grossen im 19 Jahrhundert nach den Dardanellen im Nahen Osten, nach Persien und Afghanistan im Mittleren Osten sowie nach Sinkiang, der Äußeren Mongolei, den Amur- und Küstenprovinzen und nach Sachalin im Fernen Osten. Im Nahen und Mittleren Osten wurden seine imperialistischen Machtbestrebungen durch Österreich-Ungarn und Großbritannien vorerst begrenzt.

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Im Fernen Osten dagegen gründete es 1858 die Amurprovinz, die zu China gehört hatte, und 1860 die Küsten­provinz mit dem Hafen Wladiwostok. Schon dieser Name ist bezeichnend, denn er bedeutet »Beherrsche den Osten«. 1875 erwarb Rußland durch die Abtretung der Kurilen an Japan die Insel Sachalin. 1896 intervenierte es zugunsten des von Japan bedrängten China, das ihm dafür Bahnkonzessionen in der Mandschurei zugestand. Zwei Jahre vorher hatte Rußland einen Pachtvertrag für die wichtige Hafenfestung Port Arthur auf der Halbinsel Liaotung abgeschlossen. Als es dann aber in Überschätzung der eigenen Kraft Japan in Korea provozierte, kam es 1904 zum Krieg, der das ganze innere Gefüge des Zarenreiches zutiefst erschütterte. Kriegsursachen waren aber zweifellos die imperialistischen Bestrebungen Rußlands.

 

Wie aber konnte Japan es sich erlauben, dem gewaltigen russischen Reich zu trotzen? Das europäische Interesse an Japan, das so ganz außerhalb jenes Gebiets lag, in dem scheinbar seit dem 16. Jahrhundert die weltpolitischen Entscheidungen fielen, erwachte mit einem Bericht, den Engelbert Kaempfers über seine Japanreise 1690-92 verfaßt hatte. Später wünschten dann die europäischen Walfänger Kohle- und Wasserstationen für ihre Dampfschiffe in japanischen Häfen. Während der ganzen ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts scheiterten jedoch alle russischen und amerikanischen Versuche dieser Art völlig.

Erst im Jahr 1854 kreuzte der amerikanische Commodore Perry mit seinen überlegenen Kriegsschiffen vor Tokio auf und zwang die Japaner, den Vertrag von Kanagarwa mit Konzessionen für zwei Häfen zu unterschreiben. Sie bestanden aus Zollrechten, eigenem Gericht und eigenen Beamten. Weitere Handelsverträge mit europäischen Mächten folgten und bewirkten die völlige Öffnung Japans. Fremdenfeindliche Reaktionen führten zu Beschießungen japanischer Häfen und zur Demütigung des japanischen Volkes. Das Shogunat verlor sein Ansehen, und der letzte Shogun dankte 1867 ab.

Wieder einmal hatte die Wehrlosigkeit eines Volkes gegenüber überlegenen modernen Kampfmitteln zum Nachgeben gezwungen. Doch die Öffnung Japans hatte für die europäischen und amerikanischen Mächte Auswirkungen, die man nicht erwartet hatte. Während der »Erleuchteten Regierung« des Kaisers Mutsuhito (1867-1912) entstand das moderne Japan, das klar erkannt hatte, daß sein Bestand gefährdet ist, so lange es sich Europa nicht anpaßt. Der dazu notwendige Wandel vollzog sich in drei Abschnitten. Zunächst wurde die alte Feudalstruktur überwunden, so daß der Kaiser das 1869 verkündete »Programm der neuen Ära« absolutistisch verwirklichen konnte. An die Stelle der alten Feudalordnung mit ihren Lehen traten neue Verwaltungsbezirke. Der Adel wurde mit Staatspensionen abgefunden. Das Ausreiseverbot wurde aufgehoben und das Auslandsstudium staatlich gefördert. Der Staat ging noch weiter und berief europäische Berater ins Land.

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Kurz darauf wurden die allgemeine Wehrpflicht eingeführt und das Heer nach französischem und preußischem Vorbild neu gegliedert. Es folgten die allgemeine Schulpflicht sowie eine Neuordnung des Polizei-, Presse-, Rechts-, Post-, Eisenbahn-, Gesundheits- und Finanzwesens. Der zweite Schritt bestand in der Verarbeitung der inneren Reformen. Nach der Errichtung von Parteien und Provinzparlamenten wurde ein Oberhaus aus den Mitgliedern des Hof- und neu geordneten Landadels gebildet. Dieser Maßnahme folgte die Berufung des ersten, noch vom Kaiser ernannten Ministeriums und eines geheimen Staatsrates.

Danach entwarf Fürst Ito Hirobumi 1889 die Verfassung für eine konstitutionelle erbliche Monarchie mit einem unabsetzbaren Kaiser an der Spitze der Staatsgewalt, Ober- und Abgeordnetenhaus von je 300 Mitgliedern und einer Selbstverwaltung der Städte und Gemeinden nach preußischem Muster. Der dritte und letzte Schritt bestand in dem Aufstieg zur imperialen Großmacht. Dabei förderte ein starker Bevölkerungsanstieg die Industrialisierung.

Der Anschluß an die Weltwirtschaft gelang dank des Lerneifers, der Anpassung, Disziplin und Bedürfnis­losigkeit des Volkes weit schneller als erwartet. Das Interesse der Industrie richtete sich auf auswärtige Rohstoffe, besonders auf die Kohle, und auf Absatzmärkte. Dagegen verfolgten Armee und Marine imperiale Ziele. 1875 griffen japanische und chinesische Truppen im koreanischen Tonglak-Aufstand ein, was schließlich zum chinesisch-japanischen Krieg von 1894/95 führte.

Die nach europäischem Muster ausgebildeten und bewaffneten japanischen Streitkräfte zeigten sich den rückständigen chinesischen weit überlegen und eroberten unter anderem Dairen, Weihaiwei, Shantung und Seoul. Bei Friedensschluß trat China Formosa und die Pescadores-Inseln ab, leistete eine große Kriegsentschädigung und erkannte die Unabhängigkeit Koreas an. Korea trat 1897 unter russischen Schutz.

Noch im Jahr des Friedensschlusses begann Japan mit dem Aufbau einer Kriegsflotte aus vier Panzer­kreuzern und acht Schlachtschiffen. Am Boxeraufstand nahm es bereits als Großmacht an der Seite der europäischen Mächte teil. Um dem russischen Vordringen in Ostasien zu begegnen, schloß Japan 1902 ein Schutzbündnis mit Großbritannien ab.

 

Diesem selbstbewußten Japan trat nun ein Rußland entgegen, das zwar 1874 die allgemeine Wehrpflicht mit sechsjähriger Dienstzeit eingeführt hatte, die aber nicht vom allgemeinen Volkswillen getragen war, wenn auch die Leibeigenschaft bereits 1861 aufgehoben worden war. Schon 1856 veranlaßte weitere Reformen, deren Durchführung sich bis 1874 hinzog, brachten nicht die erhoffte soziale Entspannung. Mangelnde Landzuteilungen an den wachsenden Bauernstand und seine Verschuldung gegenüber den Grundherren führten bei steigenden Steuerlasten ebenso zu weiteren Unruhen wie die zunehmende Industrialisierung.

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Die Masse des Volkes, die Bauern, hielt aber trotzdem weiter am »gottgewollten« Zarentum fest. Anders verhielt es sich dagegen mit der geistig führenden Schicht, der »Intelligenzija«. Sie spaltete sich in Narodniki (Volkstümler), Nihilisten und Sozialisten. Auch in Rußland gingen nämlich Revolutions­bewegungen von der Intelligenz aus und nicht von den Arbeitern und Bauern, die sich erst 1917 der revolutionären Bewegung anschlossen.

Aus recht verschiedenen Gründen lehrten die Angehörigen der Intelligenzija, der Patriotismus sei überholt, Krieg ein Verbrechen oder ein Anachronismus, die kriegerischen Tugenden verdienten keine Achtung und die Armee hemme den Fortschritt. Dieser Auffassung schloß sich auch die Masse des Landadels an. Als der Krieg gegen Japan entbrannte, sehnte die Intelligenzija die Niederlage herbei. Sie zersetzte die Truppe, zettelte Unruhen an, beging Sabotageakte und verleumdete in der Presse die Soldaten. Der Erfolg dieser Handlungen war die Niederlage, der sich ein noch schlimmerer Krieg mit noch höheren Blutopfern und die blutigste Revolution anschlossen, die Europa je gesehen hat. Der Militärdienst aber blieb bestehen, und zwar in einem Ausmaß, wie ihn das zaristische Rußland nie erlebt hatte. In Japan aber kämpfte das ganze Volk geschlossen für den Sieg. Wenn es das nicht mit der Waffe tun konnte, so war es in religiöser Inbrunst und mit seiner Arbeitskraft dabei.

Dieser zwiespältigen Lage im Innern Rußlands, die nicht ohne Parallelen zur augenblicklichen Situation im Westen ist, entsprach die Stellung der Armee. Die Offiziere waren meist wenig gebildet und kaum angesehen. Der gesamte Militärdienst litt unter Formalismus und »Gamaschendienst«. Nachteilig wirkte sich vor allem bei den Offizieren aus, daß Beförderungen im Truppendienst nur zögernd ausgesprochen wurden. Sie drängten daher in die Stäbe oder in die Verwaltung.

Die gering geachtete Stellung der aktiven Offiziere wirkte sich auch auf die Reserveoffiziere aus, so daß an ihnen bald ein fühlbarer Mangel herrschte. Man half sich mit einer zu raschen Beförderung der Einjährig-Freiwilligen. Sie bewährte sich naturgemäß nicht. Diese Verhältnisse führten dazu, daß ein großer Teil der Off iziere seinen Beruf mehr als »Job « denn als Berufung ansah. Selbst beim russischen Generalstab und an der Militärakademie sah es nicht viel besser aus. Formalismus und scholastische Methoden beherrschten auch da das Denken. Kriegsspiele waren eine Seltenheit. So kam es, daß der französische General Negrier nach seinem Besuch bei der russischen Armee sagte: »Die russische Armee hat nicht eine einzige Lehre der letzten Feldzüge annehmen wollen.« Die starre Befehlstaktik verschlimmerte die Zustände noch mehr. Aufgrund des übertriebenen Bürokratismus waren die russischen Stäbe viel zu groß. Außerdem gesellte sich noch eine große Zahl ziviler »Ratgeber« zu ihnen.

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In den Hauptquartieren herrschte ein unangebrachter Luxus, weiter hinten eine ausgesprochene Etappenwirtschaft, obwohl die Intendantur im allgemeinen zur Zufriedenheit aller arbeitete. Das aber war allein das Verdienst des Kriegsministers und späteren Oberbefehlshabers in der Mandschurei Aleksej Nikoläje-wrscH Kuropätkin (1848-1925), der wohl ein glänzender Organisator, aber kein guter Feldherr war. Im Gegensatz zu den Japanern war die Masse der russischen Soldaten Analphabeten. Sie verstanden den Krieg nicht, kämpften aber mit der gewohnten russischen Standfestigkeit. Waren allerdings ihre Offiziere gefallen, so gaben sie sofort jeden Widerstand auf. Da die Truppe die Lage im großen nie kannte, war sie für Paniken recht anfällig. Auch konnte ein merklicher Qualitätsunterschied zwischen den russischen und den nichtrussischen Truppen des Zaren festgestellt werden.

Erfolg oder Mißerfolg hingen bei beiden Armeen noch in weit höherem Maße als früher von der Versorgung ab. Die weit ab von den Industrie- und Bevölkerungszentren kämpfende russische Feldarmee in der Mandschurei war ganz auf den Nachschub über die Transsibirische Eisenbahn angewiesen. Nach Ausbruch der Kämpfe wurden anfangs täglich drei Züge mit Verstärkungen über die am Baikalsee noch unterbrochene Bahnlinie herangeschafft. Durch den Bau von Ausweichstellen wurde die Zahl auf zwölf Züge erhöht. Als die Strecke um den See dann fertig war, steigerte sich die Leistung der Bahn auf achtzehn Züge in beiden Richtungen. So vermochten sich die Russen mit Hilfe der Bahn ständig zu verstärken. Je länger also der Krieg, um so wahrscheinlicher mußte es werden, daß Rußland ihn gewann.

Der gesamte Nachschub der Japaner hing naturgemäß, einschließlich des Ersatzes an Mannschaften, vom Transport über See ab. Die japanische Transportflotte konnte nicht mehr als zwei bis drei Divisionen auf einmal auf den Kriegsschauplatz bringen. Zur Einschiffung benötigte sie drei Tage, zur Ausschiffung fünf. Dadurch traf ein neuer Transport immer erst zwei Wochen nach dem vorangegangenen ein. Darüber hinaus mußte die gesamte Ausrüstung und Verpflegung über See transportiert werden. Erst ab August 1904 durfte die japanische Führung mit der Ernährung der Truppe aus dem Land rechnen, weil dann die neue Ernte reif war. Von der Beherrschung der See hing daher der Erfolg oder Mißerfolg ihres Feldzuges ab. Die Japaner verfügten in ihrer Flotte über 29 moderne Schiffe, einschließlich 6 Schlachtschiffen, die mit 95 älteren Schiffen aller Typen verstärkt werden konnte. Das waren zusammen 124 Kriegsschiffe. Die zahlreichen japanischen Werften waren zwar in der Lage, Reparaturen durchzuführen, nicht aber Neubauten. Demgegenüber bestand das russische Pazifik-Geschwader aus 72 Schiffen, von denen einige von der Seefestung Port Arthur nach Wladiwostok entsandt worden waren.

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Doch die Pazifische Flotte konnte, wenn auch erst nach beträchtlicher Zeit, durch weitere Einheiten aus den europäischen Gewässern verstärkt werden. Das mußten die Japaner unter allen Umständen zu verhindern suchen. Die Durchführung der Operationen hing also auf beiden Seiten in der für die Zeit typischen Weise von der Leistungsfähigkeit der Industrie und der Technologie ab.

Daraus geht hervor, daß Japan so schnell wie möglich die absolute Seeherrschaft im Gelben Meer zu erringen, Truppen in Korea und auf der Halbinsel Liaotung zu landen hatte und eine Entscheidungsschlacht in der Mandschurei suchen mußte, um Rußland friedensbereit zu machen. Allen bisher üblichen Regeln zum Trotz eröffnete der japanische Admiral Togo noch während der in Gang befindlichen Verhandlungen am 8. Februar 1904 überraschend das Feuer auf die vor Port Arthur liegenden russischen Schiffe. Zum ersten Mal in der Neuzeit begann ein Krieg ohne Kriegserklärung. 

Ein Begegnungsgefecht am 10. Februar endete mit dem Rückzug der russischen Flotte in den Hafen von Port Arthur. Damit hatten die Japaner die Seeherrschaft im Gelben Meer errungen. Da es ihnen aber nicht gelungen war, die russischen Schiffe vor Port Arthur zu vernichten, wirkten sie als »fleet in being« (Flotte, die durch ihr reines Vorhandensein wirkt) und fesselten starke japanische Seestreitkräfte, die sicher gebraucht werden würden, falls sich die russische Pazifik-Flotte durch die Baltische Flotte verstärkte. Noch bevor dies geschehen konnte, mußte daher Port Arthur um jeden Preis genommen werden, damit dieser Stützpunkt und die darin befindlichen Schiffe ausgeschaltet oder zum Kampf gegen eine Übermacht gezwungen werden konnten. Es gelang am 3. Januar 1905 nach unsäglichen Opfern auf beiden Seiten. Die russische Flotte, die mehrfach versucht hatte, aus dem Hafen auszubrechen und den Durchbruch nach Wladiwostok zu erzwingen, wurde stets unter starken Verlusten zurückgeworfen und ging schließlich im Hafen von Port Arthur zugrunde.

Inzwischen hatten sich die auf der Halbinsel Liaotung befindlichen japanischen Kräfte mit den über den Yalu aus Korea vorgehenden vereinigt und die Russen bei Liaojang zum Rückzug gezwungen (s. Fig. 12). Nach kurzer Zeit aber ging der anfängliche Bewegungskrieg in den ersten größeren Stellungskrieg der Geschichte über, als auch die Japaner sich vor den Russen eingruben und beide Heere sich wochen-, ja monatelang untätig verhielten. In Europa glaubte man, diese Untätigkeit und das Erstarren der Fronten auf die Unerschlossenheit des Landes zurückführen zu müssen. Die Wirkung der Mehrladegewehre und vor allem der Maschinengewehre zog man dabei nicht gebührend in Betracht. Der im Ersten Weltkrieg bald einsetzende Stellungskrieg überraschte daher die Führer der Heere. Sie waren in keiner Hinsicht darauf vorbereitet.

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Fig. 12  Kriegsschauplatz im Russisch-Japanischen Krieg

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Da die Russen sich aber ständig über die Transsibirische Eisenbahn verstärken konnten, wurden ihre Kräfte in den Kämpfen südlich Mukden immer stärker, während die Japaner trotz ihrer Siege Zeichen von Erschöpfung zeigten. Es trat dadurch ein Stillstand ein. Im übrigen verboten die einsetzende Schneeschmelze und damit verbundene Ungangbarkeit der Straßen und Wege alle größeren Bewegungen.

Den Russen blieb nur noch die Hoffnung, die Lage durch einen Sieg der Baltischen Flotte unter Roschenstwenskij wieder stabilisieren zu können. Aber mit der Seeschlacht vom 27. und 28. Mai 1905 in der Straße von Tsuschima versanken alle ihre Hoffnungen mit den 30 von 47 Schiffen in den Fluten des Meeres. Nicht die Zahl der Schiffe, sondern die Entschlossenheit und das Können der Männer, die auf ihnen fuhren und kämpften, hatten die Schlacht entschieden.

Rußland besaß trotz allem noch sehr starke Landstreitkräfte und hätte den Krieg fortsetzen können. Aber das Zarenreich wurde von revolutionären Unruhen erschüttert und war kriegsmüde. Den Japanern hingegen fehlte es vor allem an Geld zur weiteren Kriegführung. Als der amerikanische Präsident Theodore Roosevelt und das Deutsche Reich sich vermittelnd für einen Frieden einsetzten, willigten beide kriegführenden Staaten in Friedensverhandlungen ein. Im Frieden von Portsmouth erhielt Japan Süd-Sachalin, Port Arthur sowie das Protektorat über Korea und die südliche Mandschurei.

Am wichtigsten war aber, daß zum ersten Mal in der Geschichte der Neuzeit europäische Truppen von asiatischen geschlagen worden waren. Die Wirkung auf die Farbigen in aller Welt blieb nicht aus.

Material und Technologie hatten das Kriegsgeschehen beherrscht und sollten es auch in den beiden folgenden großen Weltkriegen tun. Weit mehr aber als in allen anderen Kriegen erwiesen sich die moralischen Faktoren als für den Kriegsausgang entscheidend. Während die Japaner mit geradezu religiöser Inbrunst für Kaiser und Vaterland kämpften, wußten die einfachen russischen Soldaten überhaupt nicht, wofür sie ihr Leben geben sollten, und folgten nur in gewohnter Weise ihren Offizieren. 

Kleinmut und Pazifismus der russischen Intelligenz aber schufen die Voraussetzungen für Aufruhr und Revolution und schließlich die Niederlage ihres Volkes. Ihre Ziele aber erreichte diese Intelligenzija nicht, im Gegenteil, sie mußte sich nach der Revolution von 1917 einem ebenso rigorosen System wie dem zaristischen unterordnen und Militärdienste in einer Weise leisten, die das Zarenreich nie gekannt hatte. Die Parallele zur Französischen Revolution und dem Kaiserreich Napoleons liegt auf der Hand.

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Als Folge des russisch-japanischen Krieges mußten die weißen Großmächte von nun an mit einer gelben Großmacht rechnen, die mit Heer, Marine und Industrie allein schon durch ihr Vorhandensein einen bemerkenswerten Faktor im Kräftespiel der Mächte darstellte. Griff Japan aber in Verfolgung der damals bei allen Großmächten üblichen imperialistischen Politik nach den asiatischen Rohstoffquellen, die es unbedingt benötigte, so waren Konfliktstoffe gegeben, wie sie sich vor allem im Zweiten Weltkrieg auswirken sollten.

Eine weitere gelbe Macht meldete ihren Wiedereintritt in die Weltgeschichte an. Der Opiumkrieg hatte China der westlichen Welt geöffnet. Bald zerstörten billige Industriewaren aus dem Westen das traditionelle Handwerk und Gewerbe in China, was einen sozialen Verfall und einen sinkenden Lebensstandard in den dichtbesiedelten ländlichen Gebieten verursachte. In den rasch wachsenden Hafenstädten entstanden schließlich ein Proletariat und eine revolutionäre Intelligenz, der modernes westliches Denken vermittelt wurde. Schließlich führte der russisch-japanische Krieg 1905 zu einer Erneuerung und Modernisierung des Heeres.

Noch im gleichen Jahr gründete der Arzt Sun Yat-Sen (1866-1925) die Nationale Volkspartei, den Kuomintang. Ihr Programm der drei Prinzipien, des nationalen Eigenlebens, der Demokratie und der Existenzsicherung für alle, wurde insbesondere von Studenten und Missionsschülern aufgenommen und verbreitet. Im Jahr 1912 führte die Revolution der Jungchinesen zur radikalen Erneuerung Chinas. Der letzte Vertreter der Mandschu-Dynastie dankte 1912 ab. In Nanking rief Sun Yat-Sen die Republik aus, überließ aber dem Schöpfer des neuen chinesischen Heeres, General Yuan Shih-Kai, die Präsidentschaft, um das Militär zur Erhaltung der Reichseinheit zu gewinnen. 

Doch trotz dieser Reformen blieb China militärisch noch so schwach, daß es sich 1915 den »21 Forderungen« Japans beugen mußte, nach denen ganz Nordchina zum japanischen Einflußgebiet wurde. Wiederum hatte militärische Schwäche zu untragbaren Verlusten für ein Land geführt. Die Folge dieses Nachgebens sollten darüber hinaus zunächst unaufhörliche und entsetzliche Bürgerkriege und schließlich der chinesisch-japanische Krieg von 1937-1945 sein.

Am Ende dieser Periode stand die kommunistische Diktatur unter Mao Tse-tung. Das Land rückte nach dem Zweiten Weltkrieg in die Reihe der Großmächte auf und gehört heute sogar zu den Atommächten. Die Ergebnisse dieser Entwicklung sind noch nicht abzusehen, zumal es mehr als fraglich erscheint, ob gerade die weniger starken Atommächte wie China, Indien und wahrscheinlich auch Israel, Südafrika und Brasilien sich einem etwaigen Vertrag zur Bannung der Atomwaffen zwischen der Sowjetunion und den USA anschließen würden. 

Zudem ist bei allem Streben nach einer Bannung dieser schrecklichen Waffen eines nicht mehr rückgängig zu machen: die Kenntnis von deren Herstellung. Das ist eine Tatsache, auf die im Schlußkapitel noch einmal zurückgekommen werden muß. 

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