Kampf der Ideologien im Zweiten Weltkrieg
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Auf dem Boden dieser in weiten Teilen Europas herrschenden Tendenz kam Adolf Hitler (1889-1945) im Deutschen Reich am 30. Januar 1933 an die Macht. Seine politischen Ideen gründeten in der Ideenwelt des 19. Jahrhunderts, besonders auf der materialistischen Weltanschauung Ernst Haeckels (1834-1919), dem sog. Darwinismus, der ja auch Karl Marx (1818-1883), ähnlich wie der Idealist Hegel, wesentlich beeinfluß hat.
Während aber Karl Marx die Geschichte als einen ununterbrochenen Klassenkampf auffaßte, sah Hitler sie als Rassenkampf. Dabei stützte er sich auf den französischen Grafen Gobineau (1816-1862) und den Engländer Houston Stewart Chamberlain (1855-1927), die im Rassenkampf die treibenden Kräfte der Gesellschaft erblickt hatten. Hier machten sich atavistische Kräfte spürbar. Ebenso stark wirkten auf ihn die Gedanken der Anfangsjahre des 19. Jahrhunderts von der Einigung aller Menschen deutscher Sprache in einem großdeutschen Reich und eng damit verknüpft die Vorstellungen Karl Haushofers (1869-1946) von den Deutschen als einem »Volk ohne Raum«.
Ähnlich wie im Nationalsozialismus in Deutschland, bei dem der »Einzelne nichts, das Volk alles« war, trat auch in dem in der Sowjetunion seit 1917 zur Macht gekommenen materialistischen Marxismus-Leninismus das Individuum ganz zurück. Es handelt ohne freien Willen, triebhaft und milieubedingt, wobei die ökonomischen Verhältnisse und die Klassenkampflage die Hauptrolle spielten.
Lenin (1870-1924) nannte die Freiheit des Einzelnen sogar ein »bürgerliches Vorurteil«. Er forderte die Diktatur des Proletariats und wurde mit seiner Lehre von der Partei-Elite, ohne es zu wollen, von entscheidender Bedeutung für die Entstehung des Faschismus und Nationalsozialismus.
Sein Nachfolger Stalin (1879-1953) verwandelte dann die Diktatur des Proletariats in eine Diktatur seiner eigenen Person. Wie Lenin strebte er die Weltrevolution an. Im Klassenkampf anstelle des Rassenkampfs lag der wichtigste Gegensatz zu Hitler. Nicht der Frieden war also in beiden Ideologien das ausschlaggebende Moment, sondern der Kampf. Nach dieser Devise verlief auch ihre Politik.
Ganz anders waren die Verhältnisse bei den westlichen Demokratien, die sich staatsphilosophisch auf die Gedanken des Grafen Montesquieu stützten. Ihr auf den Wert des Einzelnen bezogenes Programm kann am besten mit der Forderung nach den vier Freiheiten beschrieben werden, die der amerikanische Präsident Franklin Delano Roosevelt (1882-1945) im Januar 1941 verkündete: Freiheit der Rede und Meinung sowie des Glaubens und Freiheit von Not und Furcht.
Daneben hatte dieses Programm einen puritanisch-christlichen Anstrich und einen kämpferischen, gegen Deutschland gerichteten Tenor, der schließlich in die Parole vom Kreuzzug gegen Deutschland einmündete, so wie Deutschland den Kreuzzug gegen den Bolschewismus verkündet hatte. Schon diese Darstellung der weltanschaulichen Standpunkte der verschiedenen Mächte, die später den Krieg gegeneinander führten, zeigt, daß dabei nicht wie im Ersten Weltkrieg allein machtpolitische Interessen ausschlaggebend waren. Hier handelte es sich um fundamentale ideologische Gegensätze. Da aber im kommenden Zweiten Weltkrieg die Kriegsführung ausschließlich in den Händen der Politiker lag und die militärische Führung tatsächlich auf die operative Führung beschränkt blieb, artete der Krieg, je länger er dauerte, zu einem ideologischen Krieg mit all seinen Greueln und Grausamkeiten aus. Der religiöse Kreuzzug wurde zum profanen.
Die beiden Großmächte Frankreich und Großbritannien hatten die Wiedereinführung der Wehrpflicht 1935 in Deutschland, die Rheinlandbesetzung 1936, den Anschluß Österreichs 1938, die Besetzung des Sudetenlandes im gleichen Jahr, sogar den Einmarsch in die Tschechoslowakei im Frühjahr 1939 und die Rückgliederung des Memelgebiets kurz darauf tatenlos hingenommen. In Großbritannien verfolgte die Regierung von 1935 bis 1937 eine Politik des »appeasement« (Beschwichtigung). Durch Verhandlungen suchte sie den Krieg zu vermeiden, weil sie die Rüstungskosten scheute und maßvolle Revisionsforderungen Deutschlands einsah.
Unter dem Außenminister Anthony Eden kehrte man nach einer kurzen Zeit der Politik der »kollektiven Sicherheit« wieder zur Appeasement-Politik zurück, die erst 1938, nach dem Münchner Abkommen und der Besetzung der Rest-Tschechoslowakei durch Hitler, aufgegeben wurde. Im Jahr darauf entschlossen sich die Briten, die allgemeine Wehrpflicht einzuführen und die aggressive Außenpolitik des Deutschen Reiches durch Garantie-Erklärungen einzudämmen. Der Abschluß eines britisch-französisch-sowjetischen Beistandspaktes scheiterte an der deutsch-sowjetischen Annäherung.
Ähnlich verhielt man sich 1936 in Frankreich. Dort schlug der Kommunistenführer Maurice Thorez (1900-1964) zur Überwindung der faschistischen Gefahr vor, eine »Volksfront« aus der Sozialistischen Republikanischen Union, den Kommunisten und den Sozialisten zu bilden. Unter Leon Blum (1872-1950) wurde ein solches Volksfrontkabinett, allerdings unter Ausschluß der Kommunisten, Wirklichkeit. Diese Volksfrontregierung arbeitete den Plänen Hitlers geradezu in die Hand, als sie die Modernisierung des französischen Kriegsgeräts durch die Einführung der 40-Stunden-Woche verhinderte.
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Volksfront und Appeasement-Politik der Engländer hatten sich von den ständig wiederholten Friedensbeteuerungen Hitlers in Sicherheit wiegen lassen. Dieses Nachgeben gegenüber den Forderungen Hitlers stärkte dessen aggressive Außenpolitik, so daß er schließlich auch auf Gebiete Anspruch erhob, in denen keine Deutschen wohnten.
Hätten dagegen die beiden Westmächte schon bei der Rheinlandbesetzung militärisch eingegriffen, so wäre Hitler nichts anderes möglich gewesen als nachzugeben, da er zu jener Zeit sich auf keinen Fall in kriegerische Verwicklungen mit Frankreich und Großbritannien hätte einlassen können. Der Welt wären auf diese Weise Millionen und Abermillionen von Toten erspart geblieben. Diktatoren oder totalitären Staaten gegenüber ist die Politik der Friedenserhaltung fast um jeden Preis das schlechteste Mittel. Wahrscheinlich hätten damals, im Jahr 1936, schon militärische Demonstrationen der Großmächte ausgereicht, um Hitler in seine Schranken zu weisen.
Der dann unausweichliche Zweite Weltkrieg war militär- und machtpolitisch gesehen lediglich eine Fortsetzung des Ersten Weltkrieges. Doch durch das Hereinspielen ideologischer Momente, die dann das ganze Kriegsgeschehen beherrschen sollten, nahm der Krieg bis dahin unbekannte Dimensionen an. Er wurde nicht nur zwischen den kämpfenden Heeren, sondern auch gegen die Zivilbevölkerung ausgetragen. Entscheidend dabei war der ideologische Kampf zwischen dem nationalsozialistischen Deutschland und der marxistisch-leninistischen Sowjetunion. Die Auseinandersetzung Deutschlands mit den westlichen Demokratien hatte dagegen weniger einen ideologischen als einen machtpolitischen Akzent.
Zur Eindämmung der bolschewistischen Gefahr und des sowjetischen Imperialismus hatten Deutschland und Japan 1936 den Antikominternpakt gegründet. Ihm schlossen sich Italien 1937 und Spanien im März 1939 an, obwohl letzteres dann später neutral blieb. Die Gründung dieses Paktes war Hitlers Antwort auf den 7. Kongreß der Komintern im Jahr 1935, auf dem die Bekämpfung des Faschismus durch die Kommunisten im Bund mit den Sozialdemokraten (»Volksfront«) und die Zusammenarbeit mit den bürgerlichen Parteien beschlossen worden war. Allerdings scheiterte diese Volksfrontpolitik aufgrund der erfolgreichen nationalsozialistischen Außenpolitik sowie der Tatsache, daß Stalin seine Gegner in den Moskauer Schauprozessen und durch andere Maßnahmen liquidieren ließ und im Spanischen Bürgerkrieg die kommunistisch-antifaschistische Regierung unterlag.
Stalin hatte in der Zwischenzeit den Marxismus-Leninismus ergänzt. Seine für unser Thema wichtigsten Thesen waren die Pflege des russischen Patriotismus und die ideologische Rechtfertigung des Nationalismus. Durch den russischen Patriotismus sollte die Liebe zur Union der Sowjetrepubliken, der Heimat der Werktätigen, geweckt und erhalten und dadurch das sozialistische Vaterland gesichert und gestärkt werden.
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Die Sowjetunion wurde dabei zu einer Völkerfamilie unter der Führung des »großen russischen Brudervolkes«. Sie war gleichzeitig die Trägerin des Fortschritts, wie Stalin es ausdrückte. In seinen »Sprachbriefen«, die allerdings erst 1950 erschienen, rechtfertigte Stalin den Nationalismus ideologisch, indem er die Sprache zum Symbol der historischen Kontinuität des russischen Volkes und der schöpferischen Rolle des sozialistischen Sowjetstaates erklärte. Damit begründete er zugleich den Führungsanspruch der Sowjetunion über andere Völker.
Obwohl diese Gedanken erst 1950 schriftlich fixiert wurden, beherrschten sie doch unausgesprochen Stalins Politik auch der vorhergehenden Zeit. Der internationale Anspruch des Bolschewismus wurde dabei trotz der Betonung des Nationalen aufrechterhalten, ja sogar besonders herausgestellt. Mitten im Krieg und in höchster Not appellierte dann Stalin an die Heimatliebe des russischen Volkes, die russische Geschichte und sogar an die Kirche. Letztere hatte sich in ihrer Organisation stets als russische Nationalkirche verstanden und gab sich daher ohne weiteres dazu her, durch ihre Popen die Waffen des atheistischen Staates segnen zu lassen. Mochte die Kirche dies vielleicht aus politischen Gründen und unter Zwang getan haben, so ist doch nicht zu leugnen, daß gerade dieser Appell Stalins besonders wirkungsvoll war.
Noch immer erwies sich ein großer Teil der christlichen Bevölkerung Rußlands als zutiefst gläubig. Dies war ja auch der Grund, weshalb sie zu Anfang des Krieges 1941 die deutschen Truppen als Befreier begrüßt hatte und betend vor den Kreuzen ihrer Panzer niedergekniet war. Überall zeigte man den ersten, in die Ortschaften eindringenden deutschen Truppen die zu Waffenlagern, Pferdeställen oder Heustadeln umgewandelten Kirchen und jubelte wie befreit auf, als diese von der deutschen Truppe sofort wieder zum Gottesdienst freigegeben wurden.
Als sich die Lage zwischen Deutschland und Polen zuspitzte und Deutschland im Frühjahr 1939 den deutsch-polnischen Nichtangriffspakt kündigte, glaubte die Sowjetunion, nun sei der Augenblick gekommen, in dem sie ihre alten national-russischen Forderungen im Westen, d.h. in Polen und im Baltikum, durchsetzen könnte. Sie schloß daher am 23. August 1939 mit dem Großdeutschen Reich einen Nichtangriffspakt ab, in dessen geheimem Zusatzprotokoll die beiderseitigen Interessensphären in Osteuropa festgelegt wurden. Damit waren auch für Deutschland die Voraussetzungen für den Angriff auf Polen geschaffen. Als die Kämpfe der Deutschen Wehrmacht gegen die polnische Armee dann fast beendet waren, marschierte die Rote Armee am 17. September 1939 in Ostpolen ein und beanspruchte das ostpolnische Gebiet bis zum Bug für sich.
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Heute erklärt dagegen die Sowjetunion, sie wäre nur in Polen einmarschiert, um dem deutschen Vordringen nach Osten Halt zu gebieten und wenigstens einen Rest des polnischen Volkes vor dem deutschen Zugriff zu schützen. Doch am 29. November 1939 hatte Stalin erklärt: »Nicht Deutschland hat Frankreich und England angegriffen, sondern Frankreich und England haben Deutschland angegriffen.« Und am 25. Dezember telegrafierte er seine zynische Formulierung über die »Freundschaft der Völker Deutschlands und der Sowjetunion, die durch Blut zementiert« worden sei. Auch als Frankreich niedergeworfen wurde, bat der damalige sowjetische Außenminister Molotow den deutschen Botschafter zu sich, um ihm »die wärmsten Glückwünsche der sowjetischen Regierung für die glänzenden Erfolge der deutschen Streitkräfte« auszusprechen.237
Sicher waren einander die beiden Diktatoren Hitler und Stalin nicht zugetan. Beide rechneten fest mit einer künftigen kriegerischen Auseinandersetzung. Hitler wollte zuerst den Feind im Westen unterwerfen. Als ihm das mit England jedoch nicht gelang, wandte er sich 1941 gegen die Sowjetunion und befand sich damit in jenem Zweifrontenkrieg, den er nach eigenen Worten doch unbedingt hatte vermeiden wollen. Stalin dagegen wollte abwarten, bis Deutschland in einem, wie er vermutete, langen und blutigen Krieg gegen die Westmächte so stark geschwächt war, daß er erfolgreich eingreifen konnte.
Auf mögliche Angriffsabsichten der Sowjetunion deutet u.a. die Rede Stalins vor den Absolventen der sowjetischen Militärakademien am 5.5.1941 hin, über die sowohl der deutsche Botschaftsrat Hilger als auch der britische Korrespondent in Moskau, Alexander Werth, nach dem Krieg nähere Einzelheiten mitteilten.
»Einen ersten Aktenhinweis auf die Stalinrede bildet ein Schreiben des Chefs der Abteilung Fremde Heere Ost im Generalstab des Heeres über die <voneinander unabhängig verfaßten Berichte> dreier kriegsgefangener sowjetischer Offiziere, die >übereinstimmend< folgendes zum Ausdruck brachten:
>1.) Aufruf, sich zum Krieg gegen Deutschland bereitzuhalten. 2.) Ausführungen über Kriegsvorbereitungen der Roten Armee. 3.) Die Ära der Friedenspolitik der Sowjetunion ist vorüber. Ausdehnung der Sowjetunion mit Waffengewalt nach Westen ist nunmehr notwendig. Es lebe die aktive Angriffspolitik des Sowjetstaates! 4.) Der Kriegsbeginn steht in nicht allzu ferner Zeit bevor. 5.) Ausführungen über die großen Siegesaussichten der Sowjetunion im Krieg gegen Deutschlands.
Einer der drei Berichte enthält die bemerkenswerte Äußerung, daß der mit Deutschland bestehende Friedensvertrag >nur eine Täuschung und ein Vorgang sei, hinter dem man offen arbeiten könne<...
Botschaftsrat Hilger berichtete in dem selben Sinne am 22.7.1943 über seine Unterredung mit Generalleutnant Masanov folgendes: >Masanov zeigte sich über die Rede Stalins auf dem Bankett im Kreml am 5.5.1941 genau unterrichtet. Obwohl er selbst bei der Veranstaltung nicht anwesend war, zitierte er den Ausspruch Stalins über die Notwendigkeit, sich auf einen Angriffskrieg vorzubereiten, fast wörtlich und brachte anschließend die eigene Überzeugung zum Ausdruck, daß Stalin den Krieg gegen Deutschland noch im Herbst 1941 entfesselt hätte<.«238
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Für die Sowjetunion kam der deutsche Angriff also nicht so überraschend, wie es meistens hingestellt wird. Der Aufmarsch ihrer Truppen war im wesentlichen abgeschlossen. Darüber hinaus war Stalin mehrfach von den Engländern, denen es gelungen war, den deutschen Funkschlüssel zu knacken, über Hitlers Absichten unterrichtet worden.239
Jeder der beiden Diktatoren sah in dem anderen den ideologischen und machtpolitischen Todfeind, obwohl sie einander gegenseitig bewunderten.240 Beide waren Diktatoren, und beide bevorzugten Gewaltmittel zur Lösung aller Probleme. In beiden Ländern war die Todesstrafe das übliche Mittel zur Beseitigung persönlicher oder politischer Feinde, und in beiden Ländern gab es Konzentrationslager mit allen ihren entsetzlichen Begleiterscheinungen.
Rußland kannte darüber hinaus noch seit Jahrhunderten die Deportation unliebsamer Gegner nach Sibirien oder nach den nördlichen Gebieten am Eismeer, wo die dorthin Verbannten nur zu oft den Tod durch Zwangsarbeit, Unterernährung und Kälte erlitten. In Sowjetrußland forderte die Kollektivierung der Landwirtschaft nach Churchills Angaben etwa 10 Millionen Menschen.241
Die große Säuberungsaktion in der Roten Armee forderte das Leben von etwa 60.000 hohen Offizieren.242 12.000 polnische Gefangene, meistens Offiziere und Reserveoffiziere, wurden bei Katyn im Gebiet von Smolensk ermordet. Ältere Bücher hatten die deutschen Truppen dieses Massenmordes bezichtigt, diese Behauptung läßt sich jedoch nicht aufrechterhalten.243
Und mehr als zwei Millionen Menschen, darunter Frauen, Kinder und Greise, wurden von Roosevelt und Churchill nach 1945 den Henkern der GPU ausgeliefert.244 Mit welcher Unmenschlichkeit und Rücksichtslosigkeit Stalin gegen seine eigenen Soldaten vorging, zeigen die Aussagen über das Schicksal derjenigen, die in deutsche Kriegsgefangenschaft gerieten.
»<Der Militäreid, der Artikel 58 des Strafgesetzbuches der RSFSR und sonstige Dienstvorschriften>, so das Reglement für den inneren Dienst..., ließen keinen Zweifel daran, daß eine Gefangengabe... als <Überlaufen zum Feind>, <Flucht ins Ausland>, <Verrat> und <Desertion> in jedem Falle mit dem Tod bestraft werde.
<Gefangenschaft ist ein Verrat an der Heimat. Es gibt keine abscheulichere und betrügerischere Tat>, so heißt es, <den Verräter an der Heimat aber erwartet die höchste Strafe — die Erschießung>.
Aller Indoktrination und aller Strafandrohung zum Trotz waren es im Gesamtverlauf des Krieges jedoch bekanntlich rund 5,24 Millionen, in den ersten Kriegsmonaten bereits 3,8 Millionen sowjetische Soldaten, die den Kampf einstellten und sich von den Deutschen und Verbündeten gefangennehmen ließen — ein aus der Sicht der Sowjetmacht ungeheuerlicher Vorgang.«245
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Dann spiegelt sich die auf die Spitze getriebene Haltung im ideologischen Krieg wider, wenn auch der Gegner, das Deutsche Reich, solche Bestimmungen den eigenen Soldaten gegenüber nicht kannte, die das Pech hatten, in feindliche Gefangenschaft zu geraten. Dafür aber waren sich die Gegner darin einig, daß Feinde ihres Regimes, wenn sie nicht physisch vernichtet wurden, in Arbeits- oder Konzentrationslager gehörten.
Hatte Stalin schon zur Zeit der großen Säuberung, der Tschistka (1936-1938), 8 Millionen Menschen inhaftiert, von denen sich 5 bis 6 Millionen in den Straflagern Nordrußlands und Sibiriens befanden, so verdoppelte sich diese Zahl in den Jahren 1940 bis 1942. Hitler ließ seinerseits bei der »Endlösung der Judenfrage« 4 bis 6 Millionen europäische Juden und 70.000 Kranke (bis August 1941) zur »Ausmerzung lebensunwerten Lebens« umbringen.246
Nun sollen auf keinen Fall diese Schreckenszahlen vergleichend nebeneinandergestellt und gegeneinander aufgerechnet werden. Insgesamt betrugen die Menschenverluste in diesem Zweiten Weltkrieg 55 Millionen Tote, 35 Millionen Verwundete und 3 Millionen Vermißte. Unter den Toten befanden sich 20 bis 30 Millionen Zivilisten.247
Zum ersten Mal in der Geschichte des Krieges waren damit rund die Hälfte aller Umgekommenen Zivilisten. Der englische General Füller hatte tatsächlich recht, wenn er sagte, seit dem 19. Jahrhundert sei das Kriegführen vom Schachbrett der Könige in das Schlachthaus des Volkes und auf die Ebene, so dürfen wir hinzusetzen, der profanen, ideologisch bedingten Kreuzzüge verlegt worden. Im Kampf um das vermeintlich Gute ist auf der Welt schon immer mehr Blut geflossen als zur Vernichtung des Bösen.
Während die Siegernationen nach dem Krieg mit Kriegsgerichten oder auch nationalen Gerichten die Schuldigen bei den Besiegten aburteilten, unterblieb dies bei den Siegernationen, so daß z.B. noch heute ein Teil der für die Verbrechen Stalins Verantwortlichen in hohen oder höchsten Stellen sitzt.248
Bezeichnend ist aber auch die Haltung des Westens und der Neutralen der damaligen Zeit diesen furchtbaren Ereignissen gegenüber. Den Alliierten waren sowohl die Verbrechen Stalins als auch Hitlers vollauf bekannt. Sie empörten sich über diejenigen Hitlers und nutzten sie für ihre Propaganda aus, um dem gesamten deutschen Volk später eine Schuld anlasten zu können, verbündeten sich aber ohne Bedenken mit Stalin, der Hitler in nichts zurückstand, weil sie glaubten, nur so könnten sie den gefährlichsten Gegner besiegen und ihre alte Machtstellung behalten oder zurückerobern. Keiner der europäischen Mächte ist dies im übrigen gelungen; das Ende des Zweiten Weltkrieges war auch das Ende des britischen Weltreiches. Für die damals Neutralen sei nur das Beispiel der Schweiz und Schwedens herausgegriffen.
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So wehrte sich die Schweiz gegen die unbegrenzte Aufnahme deutscher Juden, die durch Flucht ihrem entsetzlichen Schicksal zu entgehen versuchten. Schweden dagegen lieferte ohne Bedenken deutsche Fahnenflüchtige aus, gestattete den Erztransport für die deutsche Kriegsindustrie durch sein Land und über seine Häfen, so lange das Deutsche Reich noch auf der Höhe seiner Macht war. Nach dem Waffenstillstand scheute es sich aber nicht, nach Schweden geflohene deutsche Soldaten und Zivilisten an die Sowjetunion auszuliefern.
Mit dieser Einbeziehung der Zivilbevölkerung in das Kriegsgeschehen kam ein neues Element in die Kriegsführung. Wenigstens z.T. gehört dazu auch der subversive oder Partisanenkrieg. Nichtkombattanten griffen besonders im Osten und auf dem Balkan in die Kämpfe ein. Nach dem damals noch geltenden Kriegsrecht mußten sie erschossen werden, wenn sie in die Hände des Gegners fielen. Überzogene Repressalien wie Massenexekutionen waren dagegen völkerrechtlich zweifelhaft. Nach dem Krieg sind viele deutsche Soldaten deshalb von den Siegern mit dem Tod bestraft worden. Es war ein Racheakt, denn selbst die Amerikaner ließen jeden erschießen, der als Nichtkombattant mit der Waffe angetroffen wurde. Bestraft wurde dafür aber kein amerikanischer Soldat.
Wie kam es aber, daß ein Partisanenkrieg dieses Ausmaßes möglich war? Schon früher hatte es ähnliches gegeben, in Spanien zur Zeit Napoleons, in Frankreich nach der Vernichtung des regulären französischen Heeres 1870 und in Belgien 1914. Aber niemals war es zu einer solchen Massenbewegung gekommen. Der Grund lag nicht allein im Haß auf die deutschen Besatzungstruppen, der sich im übrigen sehr in Grenzen hielt, auch nicht allein im Haß auf die den Truppen folgenden Nazi-, SS-Sicherheits- und Polizeiformationen. Es kam dazu, weil dieser Krieg schon im Frieden planmäßig und durch eine geheime feste Organisation für die Partisanenkriegführung vorbereitet worden war, die vom Generalstab geführt wurde. Sie stand unter Militärgesetzen. Wer sich ihr verweigerte, wurde erschossen.
Im Grunde ist diese Art der Kriegführung nichts anderes als die konsequente Fortsetzung der Ludendorffschen Idee vom totalen Krieg. Damit wurde das für den Menschen tödliche intellektuelle Denken, eine Frucht des naturwissenschaftlichen Zeitalters und des Materialismus, bis zur letzten Konsequenz getrieben und führte zur Vernichtung ganzer Rassen und Klassen, je nach marxistischem Klassenkampf oder nationalsozialistischem Rassenkampf. Anfangs operierten die Partisanen ausschließlich überfallartig in kleineren Gruppen, die sich nur zum Kampf selbst rasch vereinigten und nach dem Überfall wieder in die Berge und Wälder verschwanden. Überall zeigte es sich, daß sie nur dort Erfolg hatten, wo sie die volle Unterstützung der Bevölkerung besaßen, in ihr »wie der Fisch im Wasser schwammen«, wie Mao Tse-tung dies ausdrückte.
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Außerdem mußten ihnen alle Versorgungsgüter, meist aus der Luft, von regulären Truppen zugeführt werden. Immer waren ihnen aber endgültige Erfolge erst sicher, wenn sie sich in der Endphase ihres Kampfes mit den vordringenden regulären Truppen vereinigen konnten. Ihr Erfolg hing also in jedem Fall von dem der Truppen ab. Eines der Mittel zu ihrer Bekämpfung bestand weniger aus drakonischen Strafen als vielmehr in einer gerechten Behandlung der Zivilbevölkerung ohne Terror, woran es oft mangelte, ein anderes im Aufbau von Jagdkommandos, die sie auf die gleiche Weise bekämpften wie sie selbst die feindlichen Truppen. In einem möglichen zukünftigen Krieg dürfte solchen Partisanenverbänden eine noch wesentlich größere Bedeutung zukommen als im Zweiten Weltkrieg, vor allem dann, wenn in diesem Krieg ABC-Waffen eingesetzt werden sollten. Es ist durchaus möglich, daß auch die Kampfweise der regulären Truppen sich der ihren angleicht.
Eigentlich müßte man nach dem Gesagten annehmen, im Zweiten Weltkrieg wäre auf beiden Seiten, wenn nicht mit großer Begeisterung, so doch mit abgrundtiefem Haß gegeneinander gekämpft worden. Diese Annahme ist falsch. Von Kriegsbegeisterung kann auf keiner Seite gesprochen werden. Im Gegensatz zu 1914 zogen die Streitkräfte aller in den Krieg verwickelten Staaten lediglich in den Krieg, weil sie glaubten, damit ihre Pflicht dem Volk und dem Vaterland gegenüber zu erfüllen. Auch in Deutschland war dies nicht anders.
Wie sehr der deutsche Soldat aber vom Bewußtsein dieser Pflichterfüllung durchdrungen war, zeigt allein die Tatsache, daß er beinahe der ganzen übrigen Welt sechs Jahre lang trotzte. Drakonische Strafandrohungen allein hätten keineswegs ausgereicht, um ihn zu dieser Haltung zu zwingen. So ist auch die Leistung der deutschen Soldaten im Zweiten Weltkrieg in der militärischen Fachliteratur des Westens anerkannt worden. In bezug auf den Haß zwischen den Gegnern kann, soweit es sich um Soldaten handelt, etwa das gleiche gesagt werden wie für die Begeisterung: Von wenigen Ausnahmen abgesehen, spielte der Haß für die Erhaltung oder Steigerung der Kampftüchtigkeit so gut wie keine Rolle.
Das Wort vom »armen Schwein dort drüben« galt auch für den Zweiten Weltkrieg. Leider gab es aber verhältnismäßig zahlreiche Ausbrüche von Haß gegen einzelne Besatzungssoldaten oder Gefangene. Echter Haß traf dagegen fast überall die Vertreter des nationalsozialistischen Regimes und die Truppen der Waffen-SS. Daß sich im Siegestaumel Ausschreitungen und Greueltaten der Zivilbevölkerung an Gefangenen oder sich ergebenden deutschen Soldaten nicht vermeiden ließen, liegt an der Verhaltensweise von Massen, die stets anders reagieren als der einzelne.
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Wenden wir uns nach dieser Betrachtung des neuen ideologischen Elements im Kriegsgeschehen kurz dem Verlauf des Krieges zu. Schon der Erste Weltkrieg hatte klar gezeigt, daß die Wirtschaftskraft und die verfügbaren Rohstoffquellen der kriegsführenden Staaten von entscheidender Bedeutung sind. Vorausschauend waren durch den Vierjahresplan in Deutschland Schwerpunkte bei Kohle, Erz, Buna, Zellwolle, Kunststoffen und synthetischen Fetten geschaffen worden. Der Bedarf an Rohstoffen war 1939 für ein Jahr gesichert. Die Vorräte an Kautschuk reichten für 2 Monate, an Magnesium für 4 Monate, an Kupfer für 7 Monate, Aluminium für 12 Monate, Manganerz für 18 Monate und Kobalt für 30 Monate.
Völlig abhängig war das Deutsche Reich anfangs von der gerade für die Luftwaffe sowie motorisierte und gepanzerte Verbände so nötigen Treibstoffeinfuhr. Durch Verträge mit den europäischen Erdölländern oder durch deren militärische Besetzung mußte hier Unabhängigkeit gesichert werden, oder die schnellen Verbände der Deutschen Wehrmacht blieben liegen. Auf allen diesen Gebieten sowie auf denen des Roheisens, Rohstahls, des Brotgetreides und der Futtergetreide war das Deutsche Reich von Anfang an hoffnungslos unterlegen. Bei den Lebensmitteln mußte von Kriegsbeginn an strenge Rationierung über die schlimmsten Engpässe hinweghelfen. Im Bereich der Kriegsindustrie konnte auf die Dauer eine noch so straffe Zusammenfassung und Umstellung auf die Kriegsproduktion die Unterlegenheit nicht ausgleichen.
Merkwürdigerweise setzte Hitler erst 1940 einen Reichsminister für Bewaffnung und Munition ein, der alle Anstrengungen unter seiner Leitung zusammenfaßte. Großbritannien hatte das bereits mit Kriegsausbruch getan und zog vor allem seine führenden Wissenschaftler zu Forschungen auf dem Gebiet des Kriegswesens, im weitesten Sinne des Wortes, zusammen. Darüber hinaus mußten in Deutschland neue Quellen für die Finanzierung der Rüstung und des Krieges gefunden werden. Eine Kriegswirtschaftsverordnung deckte den plötzlich erhöhten Geldbedarf, dazu kamen sog. Mob-Kreditaktionen, Wehrmachtverpflichtungsscheine und drastische Einsparungen. Die Einnahmen des Reiches betrugen dadurch im ersten Kriegsjahr 61 Milliarden Reichsmark, die Ausgaben 63,5. Etwas mehr als 41 Milliarden davon erhielten die Streitkräfte.
Im Gegensatz zu den meisten in der Presse gemeldeten Angaben, zeigt auch ein Stärkevergleich, daß Deutschland von Anfang an unterlegen war; diese Unterlegenheit nahm im Lauf des Krieges noch bedeutend zu. So verfügte Deutschland über 97 Infanterie-, 5 Panzerdivisionen und eine Kavalleriebrigade, die damaligen Feindmächte Polen, Frankreich und Großbritannien zusammen aber über 146 Infanteriedivisionen, eine Panzerdivision, 6 Kavalleriedivisionen und 11 Kavalleriebrigaden. Ingesamt standen also 103 deutschen 164 feindliche Großverbände gegenüber.
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An Flugzeugen besaßen die deutsche Luftwaffe 4333 und die feindlichen Luftstreitkräfte 3500; dabei ist aber zu bedenken, daß in Großbritannien die Entwicklung der viermotorigen Bomber bereits vor dem Krieg angelaufen war und die Zahl der Jagdflieger diejenige der deutschen schon Mitte 1940 erreicht hatte. Dies sollte entscheidend werden, sowohl für den Bombenkrieg generell wie für die Schlacht um England im besonderen. Bei den Kriegsmarinen standen 2 Schlachtkreuzern, 2 Schlachtschiffen, 3 Kreuzern, 57 U-Booten und 27 Zerstörern der Deutschen Wehrmacht 3 Schlachtkreuzer, 19 Schlachtschiffe, 83 Kreuzer, 140 U-Boote und 261 Zerstörer der Alliierten gegenüber.249
Zu dieser zahlenmäßigen Unterlegenheit kam aber noch etwas hinzu. Als Hitler am 16.März 1936 die Wiedereinführung der allgemeinen Wehrpflicht verkündete, sollte die neue Wehrmacht aus 36 Divisionen bestehen. Die Aufrüstung war jedoch bereits 1933 personell und materiell begonnen worden. Bis zum Kriegsausbruch 1939 standen knapp sechs Jahre zur Verfügung. Aufgrund der Ausbildung der Reichswehr und bedingt auch des ersten österreichischen Bundesheeres zum »Führerheer«, das beim Anschluß von 1938 in die Deutsche Wehrmacht eingegliedert worden war, konnte die rasche Heeresvermehrung im Hinblick auf das Offiziers- und Unteroffizierskorps ohne größere Schwierigkeiten bewältigt werden. In be-zug auf den Mannschaftsersatz krankte dagegen während des ganzen Krieges die Deutsche Wehrmacht daran, daß ihr wegen des weitgehenden Fehlens voll ausgebildeter Reservistenjahrgänge zumeist nur kurzfristig ausgebildeter Ersatz zugeführt werden konnte.
Ähnliche Schwierigkeiten wie bei dem Mannschaftsersatz ergaben sich auf dem Gebiet der Bewaffnung und Ausrüstung, deren Fehlbestände kaum aus den zusätzlichen Vorratslagern des österreichischen Bundesheeres und nach der Besetzung der Tschechoslowakei auch des tschechoslowakischen Heeres gedeckt werden konnten. Das ergab bei manchen späteren Aufstellungen ein recht uneinheitliches Bild und erschwerte vor allem die Versorgung. Ganz kriegsbereit war die Deutsche Wehrmacht 1939 also durchaus nicht. Ihre Stärken lagen jedoch in dem hervorragenden Offiziers- und Unteroffizierskorps der aktiven Truppe, den überlegenen Führungsgrundsätzen und der richtigen Einschätzung des Kriegsbildes. Gerade bei letzterem muß die militärische Forschung und Erprobung in Manövern stets an der »Spitze des Fortschrittes« stehen, um ein Wort von Clausewitz zu gebrauchen, sonst endet ein möglicher Krieg in der Niederlage des eigenen Volkes oder Bündnissystems.
Während die Feindmächte des Deutschen Reiches einen zukünftigen Krieg nach der Art eines auf feste Stellungen, wie etwa die Maginot-Lime, gestützten Stellungskrieges im Stile von 1918 voraussahen, hatte sich die deutsche militärische Führung die Gedanken Fullers, Harts, Guderians und Eimannsbergers zunutze gemacht.
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Operativ verwendete Panzerkorps hatten in engem Zusammenwirken mit der Luftwaffe, nach Durchbruch durch die feindlichen Befestigungsnamen mit Hilfe von Infanterieverbänden, die gewonnene Operationsfreiheit nutzend, in einem raschen Bewegungskrieg, einem Blitzkrieg, die feindlichen Streitkräfte aufzusplittern, zu umfassen und zu vernichten. Dieses Kriegsbild überraschte den Feind und führte in den ersten Feldzügen des Krieges zu dessen bekannten Niederlagen.250
Polen hatte sich im Hochsommer 1939 allmählich auf einen Waffengang mit Deutschland eingestellt. Aber als der deutsche Angriff am 1. September 1939 begann, befanden sich erst 20½ Infanteriedivisionen und 6 Kavalleriebrigaden in den vorgesehenen Räumen. Da Marschall Rydz-Smigly die gesamte polnische Grenze schützen, zur gleichen Zeit aber wohl auch gegen Ostpreußen und Danzig vorgehen wollte, lagen seine Truppen linear auf die ganze Grenzlänge verteilt, mit Schwerpunkt bei den Armeen »Thorn« und »Posen« sowie bei dem für Danzig bestimmten Eingreifkorps. Diese Aufstellung des polnischen Heeres entsprach einem falschen Kriegsbild, das sich auf die erwähnten französischen Auffassungen stützte.
Allerdings stand der polnischen Armee kein Befestigungssystem im Stile der Maginot-Linie zur Verfügung, was den Fehler beim Aufmarsch noch vergrößerte. Von entscheidender Bedeutung sollte sich später erweisen, daß die Polen so gut wie überhaupt keine Panzerabwehr besaßen. Ein Blick auf die Landkarte genügt (s. Fig. 14), um festzustellen, daß die polnische Führung den deutschen Durchbruchs- und Umfassungsabsichten geradezu in die Hand gearbeitet hatte. So war es auch nicht zu verwundern, daß die polnische Armee in knapp drei Wochen völlig aus dem Feld geschlagen war, zumal am 17. September die Rote Armee der Sowjetunion in Ostpolen einmarschierte und das ostpolnische Gebiet bis zum Bug für sich beanspruchte. Schon vorher hatte die Sowjetunion Militärstützpunkte in den baltischen Staaten Litauen, Estland und Lettland besetzt und damit diese drei Länder praktisch ihrem Reich eingegliedert. Im August 1940 »baten« sie die Sowjetunion um Eingliederung als 14., 15. und 16. sozialistische Sowjetrepublik.
Als die Sowjets dann die gleiche Forderung zur Überlassung von Stützpunkten an Finnland stellten und diese abgelehnt wurde, begann am 30. November 1939 der sowjetische Angriff auf Finnland. Die Empörung der Weltöffentlichkeit über dieses Vorgehen war fast ebenso groß wie über dasjenige Deutschlands, und die Sowjetunion wurde am 14. Dezember 1939 aus dem Völkerbund ausgeschlossen, dem sie erst 1934 beigetreten war. Nach äußerst hartnäckigem finnischem Widerstand durchbrachen schließlich sowjetische Truppen die sog. Mannerheimlinie.
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Um einen Zusammenstoß mit den Westmächten zu vermeiden, die durch eine Landung in Norwegen Finnland unterstützen und die Erztransporte aus Schweden nach Deutschland unterbinden wollten, wurde am 12. März 1940 der Friede von Moskau unterzeichnet, in dem Finnland die Karelische Landenge und Teile Ostkareliens abtrat sowie Hangö an die Sowjetunion verpachtete. Außerdem erhielt diese das Transitrecht im Petsamo-Gebiet.
Von all den Staaten, die in Mittel- und Osteuropa besetzt oder angegriffen worden waren, hatten nur Polen und Finnland sich zum bewaffneten Widerstand entschlossen. Die Tschechoslowakei und die baltischen Staaten hatten kampflos aufgegeben, weil sie das Vertrauen in die Westmächte verloren hatten, bei denen pazifistische Gedanken vorherrschten. Das Ergebnis war ein endloser Leidensweg für diese Völker, der auch heute noch nicht beendet ist.
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Polen und Finnland dagegen kämpften. Trotz der finnischen Niederlage nach außerordentlich tapferem Widerstand, der dem kleinen Volk die Achtung der Weltöffentlichkeit, auch Deutschlands, sicherte, mit dem es traditionell freundschaftlich verbunden war, führte der Kampf dort nicht zur völligen Aufgabe des Volkes, besonders deshalb, weil England und Frankreich mit energischen Schritten drohten und die Sowjetunion die kriegerische Auseinandersetzung mit diesen Mächten vermieden wissen wollte.
Obwohl ein Nichtangriffspakt mit Deutschland bestand und fast freundschaftliche Verbindungen herrschten, sah Stalin, wie wir gehört haben, das nationalsozialistische Deutschland dennoch als den möglichen Hauptfeind der Sowjetunion an. Polen dagegen war ein volkreicher und wohlgerüsteter Staat, dessen Armee es nur an dem richtigen Kriegsbild und einer geübten Führung mangelte. Doch es hatte das Unglück, zwischen zwei noch mächtigeren Militärstaaten zu liegen, die beide aggressive Absichten hegten.
Nur die frühzeitige, noch im Frieden erfolgte Entscheidung Polens für die eine oder andere Seite hätte es vor dem Untergang bewahren können. Vermutlich verbot der polnische Nationalstolz diesen Ausweg, da er in beiden Fällen mit großen Gebietsabtretungen verbunden gewesen wäre. Außerdem verließ es sich auf England und Frankreich, die eine Garantieerklärung für Polen abgegeben hatten, dann aber nichts zu seiner Unterstützung taten, zwar dem Reich den Krieg erklärten, aber ansonsten in Untätigkeit verharrten. Im Westen kam es nur zu der berühmten »dröle de guerre«. Ein kleinerer Staat, selbst wenn er hoch gerüstet ist, kann sich, wie die Geschichte immer wieder gelehrt hat, zwischen zwei großen Militärstaaten oder Blöcken nicht halten; er muß bei einer bewaffneten Auseinandersetzung zur Beute des einen oder des anderen werden. Auch »immerwährende Neutralität«, wie im Fall des heutigen Österreich, wird kaum ein genügender Schutz sein.
Durch den Sieg über Polen war der Versailler Vertrag nun auch im Osten revidiert. Die Umwandlung Polens in ein Generalgouvernement brachte jenen »Lebensraum« für das »Volk ohne Raum«, den Hitler angestrebt hatte. Nun glaubte er, Friedensfühler im Westen ausstrecken zu können. Doch sie wurden von Großbritannien und Frankreich schroff zurückgewiesen. Damit stand für Hitler der Entschluß fest, auch im Westen die Entscheidung durch einen Angriff zu erzwingen. Vornehmlich schlechtes Wetter, aber auch Bedenken des Generalstabs verhinderten die Durchführung des Plans im Spätherbst 1939.
Die Versorgungslage des Reiches war wesentlich besser als im Ersten Weltkrieg, da Sowjetrußland die meisten Rohstoffe lieferte. Vertraglich wurde dies im Frühjahr 1940 festgelegt. Die britische Blockade erwies sich als verhaltnismäßig wirkungslos.
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Durch den Einsatz der U-Boote, leichten Überwasserstreitkräfte und der Luftwaffe versuchte dagegen Deutschland, die britischen Inseln zu blockieren. Trotz unerwartet hoher Versenkungsziffern, 810.000 BRT 1939 und 4.398.000 brt 1940, gelang dies jedoch niemals vollkommen. Hitler aber glaubte, Großbritannien auf diese Weise in die Knie zwingen zu können. Neben der Sowjetunion lieferte auch Rumänien das so dringend benötigte Öl. Die Erztransporte aus Schweden schienen durch die absolute Beherrschung der Ostsee sichergestellt. Einer etwaigen Besetzung Skandinaviens durch die Westmächte wollte Hitler zuvorkommen.
Trotz des Sieges über Polen und der einigermaßen gesicherten Versorgungslage waren Deutschlands Aussichten, den Krieg zu gewinnen, nicht sehr groß. Selbst wenn Frankreich besiegt würde, blieb noch immer Großbritannien, das den Krieg unter Anspannung aller seiner Kräfte und unter Ausnutzung seiner weltweiten Hilfsquellen durchfechten wollte. Für den Kampf gegen Großbritannien aber war das Deutsche Reich nicht vorbereitet. Es fehlten ihm dazu eine ausreichend starke Flotte und die nötigen Landungsmittel, um den Krieg auf die Insel zu tragen. Großbritannien blieb der Hauptgegner. Ihn mußte man besiegen, wenn man den Krieg gewinnen wollte. Der mit Schwerpunkt gegen dieses Land geführte Handelskrieg der deutschen Kriegsmarine war nicht ausreichend.
Während die Entscheidung im Westen des Kontinents immer wieder verschoben werden mußte, trat Skandinavien in den Mittelpunkt des Interesses. Deutschland hatte dort vorwiegend wirtschaftliche Anliegen. Aus Schweden kam mehr als die Hälfte des deutschen Eisenerzimports und aus Petsamo das kostbare Nickel. Wenn die Ostseehäfen vereist waren, mußte das Erz über den eisfreien Hafen von Narvik transportiert werden. Rein wirtschaftliche, aber auch seestrategische Gründe führten zur Eroberung Norwegens und zur Besetzung Dänemarks. Ganz ähnliche Überlegungen machten Großbritannien und Frankreich.
Während des sowjetischen Überfalls auf Finnland hofften sie, unter dem Vorwand, diesem kleinen Land zu Hilfe zu kommen, Narvik, die Erzbahn und das schwedische Bergbaugebiet um Gällivare besetzen und damit die Lieferungen an Deutschland abschneiden zu können. Allerdings verweigerten die norwegische und die schwedische Regierung ihre Zustimmung zu diesem Plan. Als aber am 10. Januar 1940 zwei deutsche Flieger bei Mechelen notlanden mußten und dabei den Belgiern Teile der Pläne für den Angriff im Westen in die Hände fielen, begannen auch die Engländer und Franzosen mit der ernsthaften Vorbereitung zu einer Landung in Skandinavien. Am 9. April 1940 kamen die Deutschen jedoch ihren Gegnern zuvor.
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Das Unternehmen war von äußerster Kühnheit, da fast die gesamte Kriegsmarine dazu eingesetzt werden mußte. Würde sie bei einem Angriff der weit überlegenen britischen Seestreitkräfte verlorengehen, so müßte damit nicht nur das »Weserübung« genannte Unternehmen scheitern, sondern auch alle deutschen großen Überwasserschiffe für die Dauer des Krieges ausfallen.
Doch das Unternehmen gelang wie geplant. Bei den Kämpfen wirkte sich die Kriegserfahrung der deutschen Heeresverbände aus. Als wichtigstes aber erwies sich die unbestreitbare deutsche Luftüberlegenheit. Von den Flughäfen in Jütland aus griff die Luftwaffe pausenlos in die Kämpfe ein und zwang auch die britische Flotte zum Abdrehen. Wie auf dem Festland hatte es sich gezeigt, daß die Flotte ohne genügenden eigenen Fliegerschutz feindlichen Angriffen aus der Luft nicht gewachsen war. Für das Deutsche Reich bedeutete der siegreiche Abschluß dieses Feldzuges die Sicherung der Erztransporte auf Kriegszeit und die Erwerbung neuer Häfen für den Handelskrieg gegen England. Ab 1941 sollte sich der Besitz dieser Häfen für die Angriffe gegen die Geleitzüge aus den USA nach Sowjetrußland im Eismeer als von entscheidender Bedeutung erweisen. Die britisch-amerikanische Atlantikroute war damit ständig bedroht.
Inzwischen aber reifte die Entscheidung im Westen heran. Dort standen zunächst 120 deutsche 151 alliierten Divisionen gegenüber. Diese Zahl, mit der noch nicht einmal eine Zweidrittelüberlegenheit für den Angreifer gegeben war, wie es die Vorschriften vorsahen, trügt allerdings. In Wirklichkeit hatten die westlichen Alliierten den nun auf 10 angewachsenen deutschen Panzerdivisionen nichts Gleichwertiges entgegenzustellen, obwohl, rein an der Zahl gemessen, wiederum 3700 feindlichen Panzern nur 2500 deutsche gegenüberstanden.
Die Überlegenheit der Deutschen ergab sich aus der Zusammenfassung der Panzer in Großverbänden, die operative Aufgaben gekoppelt mit der Luftwaffe durchführen konnten. Mit diesen Großverbänden vermochten die deutschen Truppen, trotz mancher Zweifel beim Generalstab des Heeres, nach dem genialen Plan des Generalfeldmarschalls von Manstein, der in das Unternehmen »Sichelschnitt« ausmündete (s. Fig. 15), in überraschendem Zugriff die Übergänge über die Maas und den Albert -kanal mit Hilfe von Fallschirmtruppen offenzuhalten. Der Nordflügel der alliierten Kräfte wurde mittels eines Stoßes durch die Ardennen zum Meer hin abgetrennt und vernichtet. In der späteren Schlacht um Frankreich (s. Fig. 16), dem Stoß der deutschen Armeen nach Süden bis zur Schweizer Grenze, erlagen die französischen Armeen der deutschen Führungskunst vollständig. Der Angriff hatte am 10. Mai 1940 begonnen und endete am 25. Juni 1940 mit der Unterzeichnung des Waffenstillstandes.
Noch einmal sah es für einen kurzen Augenblick so aus, als könnte die Brillanz des militärischen Denkens die Masse mit ihrer Materie besiegen.
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Fig. 15. Operation »Sichelschnitt» in Frankreich 1940
Doch auch die Mittel, die zu diesem Sieg führten, waren rein technischer Art: Panzer, Luftwaffe und Fallschirmtruppen. Darüber hinaus aber ermöglichte den glänzenden Sieg die deutsche Auftragstaktik, die dem Ausführenden bei der Art der Durchführung der ihm gegebenen Aufträge völlig freie Hand ließ. Dazu mußte aber der Führer dieser Panzerverbände nicht mehr wie im Ersten Weltkrieg von weit hinten, sondern von ganz vorne aus über Funk führen, damit er jeden Wechsel der Lage persönlich beurteilen und ausnutzen konnte.
Es war dies der stärkste Ausdruck für den Durchbruch des Persönlichkeitsbewußtseins auf militärischem Gebiet. Und dennoch traute selbst der Chef des Generalstabs des deutschen Heeres diesem Verfahren nicht ganz. Guderian, der die Panzerkräfte von der Maas bis zur Kanalküste bei Abbeville führte, benutzte einen Trick, um die Pläne durchführen zu können, die sich dann als so erfolgreich erwiesen. Während er sich stets vorn bei den Panzerspitzen aufhielt, ließ er den größten Teil seines Gefechtsstandes weit zurück, so daß der Chef des Generalstabes sich niemals völlig über den tatsächlichen Standpunkt seines an der entscheidenden Stelle führenden Generals im klaren war.
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Unverständlicherweise gab Hitler vor der Vernichtung der britischen Verbände, die bei Dünkirchen eingeschlossen waren, den Panzerverbänden den Befehl zum Anhalten. Dadurch gelang es der britischen Führung, wenn auch nicht ihr Material, so doch ihre gut ausgebildeten Truppen nach der Insel zu evakuieren. Weder die deutsche Luftwaffe, die sich nun in schwere Kämpfe mit der gesamten britischen Jagdwaffe verwickelt sah, noch die deutsche Marine, die durch das Unternehmen »Weserübung« geschwächt worden war, vermochten sie daran zu hindern. Allein mit diesen geretteten Männern war es den Briten möglich, ihr neues Heer auf der Insel aufzustellen und zu einem schlagfertigen Instrument auszubilden.
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Als sich der Zusammenbruch des französischen Heeres klar abzeichnete, glaubte auch Italien, die Zeit sei gekommen, sich vor allem das Gebiet um Mentone und Nizza, das die Italiener zum »unerlösten Gebiet« rechneten, einzuverleiben. Militärische Erfolge größeren Ausmaßes hatten die Truppen des Duce gegen die Franzosen jedoch nicht zu verzeichnen. Frankreich aber blieb nichts anderes übrig, als die deutschen Waffenstillstandsbedingungen anzunehmen. Der größte Teil Nord-, West-, Mittel- und Ostfrankreichs mit den wichtigen See- und Flußhäfen sowie den Kohlen und Erzlagern wurde deutsches Besatzungsgebiet, Elsaß und Lothringen zu Reichsgauen.
Das noch unbesetzte Frankreich erhielt unter Marschall Petain (1856-1951) in Vichy eine neue Regierung mit einer Armee in Stärke der ehemaligen deutschen Reichswehr. In England aber stellte General de Gaulle (1890-1970) neue Verbände des Freien Frankreich auf. Auf Anraten Churchills (1874-1965) enterten britische Seeleute die nach England geflüchteten Einheiten der französischen Kriegsmarine, während andere britische Flotteneinheiten die französischen Kriegsschiffe auf der Reede von Mers-el-Kebir angriffen, drei Schlachtschiffe versenkten und mehrere tausend Matrosen töteten. Beinahe hätte dieser Überfall das besiegte Frankreich auf die Seite Deutschlands gebracht. Für Deutschland aber war dieser Teil der Flotte, die auch die Rolle einer »fleet in being« hätte übernehmen können, endgültig verloren.
Auf den ersten Blick erschien die strategische Lage des Deutschen Reiches nach der siegreichen Beendigung des Feldzuges in Frankreich günstig. Im Gegensatz zum Ersten Weltkrieg war bisher die britische Blockade wenig wirkungsvoll geblieben. Rechtzeitige Rationierung der Lebensmittel mit Hilfe von Lebensmittelkarten gewährleistete ebenso eine ausreichende Lebensmittelversorgung der deutschen Wehrmacht und Zivilbevölkerung wie die politische Öffnung des Reiches nach Süden und Südosten. Doch erregte das aggressive und expansive Verhalten der Sowjetunion in diesem Raum wie im Baltikum Hitlers Argwohn, so daß er bereits jetzt die ersten Weisungen für ein gewaltsamen Vorgehen gegen dieses Land an das Oberkommando des Heeres erließ.
Fast zur gleichen Zeit erging nach Ablehnung eines erneuten Friedensangebotes an England die Weisung für den Angriff auf die britischen Inseln unter dem Decknamen »Seelöwe«. Zu diesem Unternehmen ist es nie gekommen, weil die am 8. August 1940 eröffnete Luftschlacht um England verlorenging. Ohne das Ausschalten der britischen Luftwaffe wäre ein Landungsmanöver an der britischen Küste nicht möglich gewesen. Die Entscheidung im Kampf um die Luftüberlegenheit mußte von den Jägern ausgetragen werden, selbst die zu langsamen Zerstörer kamen dafür nicht in Betracht. Die Angaben über die Stärke der britischen Jagdflugzeuge schwanken.
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Als sicher darf jedoch angenommen werden, daß ihre Zahl der deutschen etwa gleich war.251 Dennoch verfügten die Briten von Anfang an über eine örtliche und zeitliche Überlegenheit, die sich auf zwei Tatsachen stützte. Aufgrund der geringen Reichweite der deutschen Jäger konnten diese nur 20 Minuten lang über dem britischen Festland bleiben. Die Briten brauchten also nur zu warten, bis die deutschen Jäger zum Abdrehen gezwungen waren, um sich dann auf die den Jägern unterlegenen Kampfverbände der Bomber zu stürzen.
Andererseits besaßen die Briten bereits Radargeräte, mit denen sie den Luftraum überwachten. Diese erlaubten es ihnen dann, rasch klare Schwerpunkte zu bilden und dadurch örtlich mit überlegener Zahl den Kampf aufzunehmen. Der Versuch der deutschen Jagdwaffe, die britische zum reinen Luftkampf zu stellen, scheiterte, weil die Briten ihn unter diesen Bedingungen befehlsgemäß nicht annehmen durften.252 Darüber hinaus gelang es den Engländern durch die »Ultra« genannte geheime Funkaufklärung, auch ohne die Radargeräte die Einflugschneisen der deutschen Luftwaffenverbände frühzeitig zu erkennen, so daß sie immer mit überlegenen Kräften an Ort und Stelle sein konnten.
Da warfen bei einem Notwurf deutsche Bomber ihre Bomben auf Wohnviertel von London ab. Die Briten antworteten mit Angriffen auf deutsche Industriestädte, die beträchtliche Verluste unter der Zivilbevölkerung verursachten, zumal sich die Briten, sowohl operativ-strategisch als auch technisch, schon im Frieden auf solche Bombardierungen Deutschlands eingestellt und ihre Piloten dafür ausgebildet hatten.253
Deutschland dagegen hatte an eine solche Art des Luftkrieges nicht gedacht und war weder technisch noch strategisch darauf vorbereitet. Aufgebracht über die britischen Bombenangriffe auf deutsche Zivilbevölkerung schwor Hitler daraufhin, »die britischen Städte auszuradieren«, gab den Kampf um die Luftüberlegenheit auf und setzte seine Kampfverbände zu Angriffen auf offene Städte ein. Dieser Rückgriff auf die Ideen Douhets, die oben beschrieben wurden, erwies sich als der schwerste Fehler, ganz abgesehen von der Tatsache, daß die deutsche Luftwaffe zur Durchführung dieser Ideen von vornherein technisch-taktisch nicht in der Lage war.
Auf diese Weise ließen sich die Voraussetzungen für das Unternehmen »Seelöwe« nicht schaffen. Die Briten aber hatten einen klaren und für den Krieg entscheidenden Abwehrerfolg errungen, obwohl die deutschen Luftangriffe gegen Industrieziele noch bis zum Mai 1941 fortgesetzt wurden. Der hohe Verlust an Flugzeugen während der Schlacht um England konnte durch die Leistungsfähigkeit der deutschen Industrie zum größten Teil ausgeglichen werden. Verheerend aber wirkte sich der Verlust an gut ausgebildeten Piloten aus, die bei Abschüssen über den britischen Inseln auch dann ausfielen, wenn sie sich mit dem Fallschirm retten konnten.
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Abgeschossene britische Piloten dagegen konnten bald wieder eingesetzt werden. Die deutsche Luftwaffe hat sich von diesen Verlusten nie wieder erholt. Damit war das eine Schwert des Blitzkrieges schartig geworden.
Der Krieg gegen Großbritannien verlagerte sich nun wiederum auf die See. Durch den Einsatz von Seeminen, Flugzeugen, Zerstörern, Hilfskreuzern, U-Booten und später auch schweren Einheiten sollten die britischen Zufuhren aus Übersee abgeschnitten werden. Ziel war es, die feindlichen Seeverbindungen und den Handelsverkehr zu unterbrechen, feindliche Seestreitkräfte aber, selbst wenn sie unterlegen waren, nur dann anzugreifen, wenn dies zur Erfüllung der Hauptaufgabe notwendig war.
Ein häufiger Wechsel des Operationsgebiets sollte zur Aufsplitterung der feindlichen Seestreitkräfte führen. Naturgemäß konnte sich dieser Plan nur bei langer Kriegsdauer auswirken. Dieser Handelskrieg wurde zunächst nach der Prisenordnung geführt. Die unerwartet großen Erfolge der anfangs einzeln eingesetzten deutschen U-Boote, nachdem Deutschland das Seegebiet um England zum Operationsgebiet erklärt hatte, wurden bereits erwähnt. Neben dem Operationsgebiet Atlantik war Großbritannien im Mittelmeer zu treffen.
Würde es der starken italienischen Flotte gelingen, die zunächst schwachen britischen Seestreitkräfte dort zu schlagen, und dem italienischen Heer, Britisch-Somaliland und Ägypten mit dem Suezkanal zu erobern, so würden die britischen Versorgungswege trotz der bald einsetzenden amerikanischen Lieferungen um das Kap der Guten Hoffnung so lang, daß die Versorgung der Insel ernstlich in Frage gestellt wäre, zumal die deutschen U-Boote von den französischen Atlantik- und Kanalhäfen aus nun einen verkürzten Anmarschweg zu den Seerouten besaßen. Auch konnte die deutsche Luftwaffe von französischen Flugplätzen aus verstärkt in die Seekriegsführung eingreifen. Doch die italienische Flotte vermochte es vor allem wegen des Fehlens von Flugzeugträgern und ausreichenden Luftstreitkräften nicht, ihre Aufgabe zu erfüllen. Keine der beiden klassischen Teilstreitkräfte, Heer und Marine, konnte in diesem Krieg ihre Aufgaben mehr ohne die dritte, die neue Luftwaffe, erfüllen. Es ist symptomatisch für die Zeit, daß ohne die technisch fortgeschrittenste aller Teilstreitkräfte keine Operation mehr mit Erfolg durchgeführt wurde.
Das japanische Eingreifen Ende 1941 ermöglichte es dem Deutschen Reich, den Zufuhrkrieg gegen Großbritannien auf alle Weltmeere auszudehnen. Daran nahmen zunächst außer den U-Booten auch die Überwasserstreitkräfte mit gutem Erfolg teil. Doch war ihrem Einsatz insofern eine Grenze gesetzt, als sie wie die britischen Schiffe ihren Auftrag nur bei genügender Sicherung aus der Luft erfüllen konnten. Wagten sie sich, wie etwa die »Bismarck«, ohne diesen Schutz weiter in die offene See, so liefen sie Gefahr, wie z.B. das gerade fertiggestellte Schlachtschiff, von trägergestützten Flugzeugen versenkt zu werden (Mai 1941).
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Die deutschen U-Boote dagegen konnten mit ihrer neuen Rudel-Taktik auf allen Weltmeeren ständig wachsende Erfolge verzeichnen. Dabei lagen einzelne Boote an den Schiffahrtsrouten auf der Lauer und riefen, sobald sie einen feindlichen Geleitzug erkannten, alle in der Nähe liegenden U-Boote zum gemeinsamen Angriff herbei. Erst als es den Engländern und Amerikanern gelang, durch Einsatz von Radar, lückenloser Luftaufklärung und »support-groups« aus Zerstörern und U-Boot-Jägern einen wirkungsvollen Geleitschutz aufzubauen, sanken die deutschen Erfolgsziffern, trotz der Erfindung des U-Boot-Schnorchels und des akustischen Torpedos.
Obwohl der deutsche Zufuhrkrieg eine schwere Versorgungskrise in Großbritannien auslöste, darf doch nicht übersehen werden, daß die Neubauten von Frachtern in Großbritannien und in den USA ab 1943 die deutschen Versenkungsziffern bei weitem überstiegen. Die Schlacht um den Atlantik endete mit einem klaren Sieg der westlichen Alliierten. Im übrigen zeigt nichts deutlicher als die Versenkungs- und Neubauzahlen, auf welch ungleichen Waffengang sich Hitler eingelassen hatte, vor allem nachdem auch die USA und fast die ganze übrige Welt in den Krieg gegen ihn eingetreten waren.
Das vornehmlich amerikanische Industriepotential vermochte nicht nur alle Verluste auszugleichen, sondern konnte darüber hinaus auch die Verluste aller übrigen gegen Deutschland kämpfenden Staaten, einschließlich der Sowjetunion, ersetzen. Das galt nicht nur für Schiffe, sondern für alle Waffen, Ausrüstungsgegenstände und Lebensmittel gleichermaßen. Daß das Deutsche Reich dieser materiellen Übermacht nicht schneller erlag, ist allein der Tapferkeit und dem Opfermut seiner Soldaten und der Zivilbevölkerung sowie seiner vorzüglichen militärischen Führung zu verdanken. Den Ausschlag aber gab wieder, wie im Ersten Weltkrieg, das Material.
Die Kämpfe auf dem Balkan und in Nordafrika boten das gleiche Bild wie die Kämpfe in Frankreich. Auftragstaktik und das »Tandem« Panzer/Flugzeug erfochten die Siege auf dem Schlachtfeld. Nur der Angriff auf Kreta brachte etwas Neues. Zur Sicherung des Seeweges von Griechenland nach Rumänien und Bulgarien sowie, um britische Luftangriffe auf die rumänischen Ölfelder bei Ploesti zu verhindern — das hing mit der damaligen Reichweite der Flugzeuge zusammen —, entschloß sich die deutsche Führung, die Insel Kreta angesichts der britischen Seeherrschaft durch Fallschirmjäger aus der Luft zu nehmen. Die Insel lag nur 120 bis 240 km von den deutschen Luftbasen auf Griechenland und den anderen Inseln entfernt, während die Engländer einen Anmarschweg von etwa 700 km aus Ägypten, 1000 km von Malta und 500 km von Marsa Matruh aus hatten.
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Dazu war die deutsche Luftüberlegenheit überwältigend. Das Unternehmen kam für die Briten durch »Ultra« nicht überraschend. Aber sie sorgten nicht einmal für eine ausreichende Flugabwehr. Auf deutscher Seite lag die Führung des Unternehmens in den Händen des Oberbefehlshabers der Luftflotte 4. Den Angriff gegen die auf Kreta stehenden rund 29.000 Mann britischer Commonwealth-Truppen und rund 10.000 Griechen sollten die 4. Fliegerdivision (Fallschirmjäger), die 5. Gebirgsdivision und von See her Marineverbände mit insgesamt 24.000 Mann durchführen.
Das Unternehmen gelang vom 20.-27.5.1941, wenn auch unter so schweren Verlusten, daß es in diesem Umfang nicht mehr wiederholt wurde. Dennoch blieb es das erste triphibische Unternehmen der Kriegsgeschichte mit Großverbänden. Den Briten, die durch Rommels Vorstoß bis Agedabia keine Verstärkungen auf die Insel werfen konnten, gelang es lediglich mit Hilfe der Flotte, 15.000 Mann zu retten. Ein weiterer Einsatz der britischen Flotte verbot sich angesichts der deutschen Luftüberlegenheit und des Verlustes von mehreren Kreuzern, Zerstörern und der Beschädigung eines Schlachtschiffes und zweier weiterer Kreuzer von selbst. Wieder einmal zeigte sich die Abhängigkeit des Flotteneinsatzes von der Luftlage.
In Nordafrika machte sich trotz der glänzenden Siege Rommels die Abhängigkeit der Operationen von der Luft- und Versorgungslage noch stärker bemerkbar als anderswo. Hatten die Operationen auf dem Land eine Entfernung von etwa 500 km erreicht, so mußten sie zwangsläufig zum Stillstand kommen. Das ging Engländern so wie Deutschen. Da es aber der italienischen Flotte nicht gelungen war, die Seeherrschaft im Mittelmeerraum zu erringen, und die Engländer es fertigbrachten, neben starken Heerestruppen auch überlegene Luftwaffenkräfte zusammenzuziehen, war das Ende des Krieges auf dem afrikanischen Kontinent bald abzusehen.
In der Schlacht bei El-Alamein konnte Montgomery, der britische Oberbefehlshaber, die stark geschwächten deutschen und italienischen Verbände schlagen. Er benutzte dazu eine Taktik, die sich völlig von derjenigen der deutschen Führung unterschied. Er griff auf die Praxis des Ersten Weltkrieges zurück und zertrommelte mit ungeheuren Artilleriemassen die Stellungen der Achse. Dennoch gelang es ihm mit einer mehr als doppelten Überlegenheit im Oktober 1942 erst nach tagelangem zähen Ringen, die deutsch-italienischen Stellungen zu durchbrechen. Das Ende in Afrika kam um so schneller, als die Amerikaner am 7. und 8. November 1942 in Marokko und Algerien landeten. Wiederum war es der britischen geheimen Funkaufklärung »Ultra« zu verdanken, daß die mit Truppen und Material beladenen Geleitzüge der Amerikaner sicher um die lauernden deutschen U-Boot-Rudel herumgeführt werden konnten.254
Angesichts dieser gewaltigen Überlegenheit mußten die deutschen und italienischen Kräfte am 13. Mai 1943 in Nordafrika kapitulieren.
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Die Südflanke der Festung Europa war für den alliierten Angriff geöffnet. Der gefürchtete Zweifrontenkrieg begann mit der Landung auf Sizilien und dem italienischen Festland. Wiederum ist festzuhalten, daß bei dem Geschehen in Nordafrika Material und Technik, besonders die Funktechnik, den Ausschlag gegeben hatten. Der Plan, die Engländer aus dem Mittelmeer zu verdrängen, sich damit den Zugang zu den vorderasiatischen Rohstoffquellen zu sichern und die Versorgung Großbritanniens durch die erzwungene Verlängerung der Versorgungswege zu erschweren, war damit gescheitert.
Doch fast zwei Jahre vor dem Ende in Afrika hatten Roosevelt und Churchill am 14. August 1941 die Atlantik-Charta verkündet. Darin forderten sie bei Gebietsveränderungen die Zustimmung der betroffenen Bevölkerung, freie Wahl der Regierungsform für alle Nationen und freien Zugang zu den Rohstoffen für alle Völker, weiterhin die soziale Besserstellung der Massen, Freiheit zur See, Freiheit von Furcht, Not und Gewalt. Dieser Charta traten 15 Nationen bei.
Wieviel solche Erklärungen wert waren, zeigte die noch im gleichen Monat erfolgte Besetzung des Iran durch Russen und Briten. Ziel dieses Unternehmens war es, sich in den Besitz der dortigen Ölvorkommen zu setzen. Anfang 1942 sicherten diese beiden Nationen dann dem Land Unversehrtheit und Unabhängigkeit zu. Auf ihren Druck hin erklärte der Iran 1943 Deutschland den Krieg. Nach 1945 sprach niemand mehr von einer Zustimmung der betroffenen Bevölkerung bei Gebietsveränderungen. Wie stets in der Geschichte galt allein das Wort des Gallierfürsten Brennus : Vae victis! — »Wehe den Besiegten«.
Daß im Sinne der Atlantik-Charta auch Völker nach ihrer Meinung nicht gefragt wurden, die wie der Iran sich kaum gegen die Besetzung durch Briten und Russen gewehrt hatten, zeigt gerade das Beispiel dieses Landes. Neutrale Länder sind, besonders wenn sie keine militärische Macht besitzen, stets das Opfer der Großen geworden, wenn dies in ihrem Interesse lag.
Ein weiteres neues und unmenschliches Bild bot die 1942 zunächst mit britischen Bombern begonnene alliierte Luftoffensive, die sich im allgemeinen auf die Ideen Douhets stützte und später durch den Einsatz der Landstreitkräfte auf dem Kontinent ergänzt werden sollte. Ihr Planer war der »Bomber-Harris«, der britische Luftmarschall und Kommandeur des Bomber Command. Zunächst hatten britische Bomber in der Hauptsache militärische Ziele und Ziele der Rüstungsindustrie angegriffen.» Erst im Januar 1943 überflogen Fortress-Bomber die deutsche Grenze. Das war der erste Schritt in Richtung auf jenen Punkt, von dem aus es keine Umkehr mehr gab, als am 14. Oktober bei dem schrecklichen Angriff auf Schweinfurt 198 von 291 Flugzeugen abgeschossen oder beschädigt wurden und die absolute Luftherrschaft der deutschen Jäger über die sich selbst verteidigenden amerikanischen Tag-Bomber-Verbände endgültig hergestellt war.«255
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Nun erst entschlossen sich die USA zur Massenproduktion von Langstreckenjägern vom Typ Mustang, mit denen die Überlegenheit der deutschen Luftabwehr gebrochen werden konnte.
»Auf der großen Konferenz von Casablanca im Januar 1943, als Roosevelt, Churchill und die Joint Chiefs of Staff so viele schicksalhafte Entscheidungen trafen, wurde eine endgültige Weisung <für die Operation der britischen und amerikanischen Bomber Commands im Vereinigten Königreich> herausgegeben. <Ihr vordringliches Ziel>, so lautete sie, <ist die fortlaufende Zerstörung, Vernichtung und Zerschlagung des deutschen militärischen, industriellen und ökonomischen Systems und die Unterminierung der Moral des deutschen Volkes bis zu einem solchen Punkt, an dem dessen Fähigkeit zum bewaffneten Widerstand entscheidend geschwächt war>.«256
Nun gingen die Alliierten auch zum Flächenbombardement von Städten über. Als auch das nicht ganz gelang, entfesselte Großbritannien den Luftbrandkrieg. Brandbomben, die riesige Flächenbrände in den deutschen Städten verursachten, wirkten zwar besser als Sprengbomben. Aber die Moral der deutschen Bevölkerung konnte ebensowenig gebrochen wie das deutsche Industriepotential nachhaltig geschwächt werden.
Die Abwehr verstärkte sich durch die Einrichtung der Nachtjagd, so daß das Ziel des strategischen Luftwaffeneinsatzes auch dann nicht erreicht wurde, als 1943 amerikanische Bombergeschwader die britischen bei den Großangriffen verstärkten.
Die deutsche Kriegswirtschaft erzielte von da ab und erst nach der Erklärung des »totalen Krieges« durch Goebbels (1897-1945) — jetzt vor allem durch die Umstellung der gesamten Industrie auf Kriegsproduktion — ihre höchsten Produktionsziffern. Der Glaube, das Deutsche Reich allein durch die Luftoffensive in die Knie zwingen zu können, erwies sich als Irrtum. Von der Wucht der Bombenangriffe auf Deutschland zeugen folgende Zahlen: Abgeworfene Bomben in Tonnen: 1940—10.000, 1941—30.000, 1942—40.000, 1943—120.000, 1944—650.000, 1945—500.000.
Letztere Zahl entspricht der Sprengkraft von rund 25 Atombomben von der Größe der in Hiroshima abgeworfenen.
Im übrigen erwog Churchill, neueren Presseberichten zufolge, den Gedanken, auch chemische und biologische Waffen bei den Luftangriffen gegen die deutsche Zivilbevölkerung einzusetzen. Nur der Hinweis seiner führenden Generäle, Deutschland würde dann mit den gleichen Mitteln antworten, hielt ihn vom Einsatz dieser unmenschlichen Waffen ab.
Aus dem gleichen Grund ist es im Gegensatz zum Ersten Weltkrieg zur Verwendung chemischer Waffen, von ganz wenigen Verzweiflungstaten polnischer Kommandeure abgesehen, im Zweiten Weltkrieg nicht gekommen.
Dies ist ein gutes Beispiel für die Wirksamkeit der gegenseitigen Furcht vor nicht mehr hinnehmbaren Verlusten und läßt wenigstens einen kleinen Hoffnungsschimmer für die Zukunft offen.
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