Einführung von Hajo Schmidt
Eine andere Globalisierung?
Friedens- und Konfliktforschung in neuem Licht
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Wer zu diesem Buch des norwegischen Friedens-, Konflikt- und Zukunftsforschers Johan Galtung greift, darf mit einer Fülle wichtiger Einsichten, produktiver Auseinandersetzungen und bedenkenswerter Anregungen rechnen. Der durchgehend auf Verständlichkeit angelegte, "angelsächsische" Schreibstil Galtungs, der Redecharakter und die Anschaulichkeit der hier abgedruckten Beiträge vermitteln den Leserinnen und Lesern auf leichte und angenehme Weise, was für den Autor doch Ergebnis intensiver wissenschaftlicher und politischer Bemühungen und Selbstverständigungsprozesse ist.
In der Galtung eigenen Einstellung, gegenüber den düsteren und gewaltbehafteten Seiten der politischen Realität nicht deren Entwicklungspotential und Transzendierungschancen zu vergessen, oder anders: die analytisch-empirischen Leistungen der Sozialwissenschaften immer mit ihren kritisch-konstruktiven Aufgaben zu konfrontieren, behandeln die einzelnen Kapitel des Buches zentrale Probleme des zeitgenössischen politischen und Friedensdiskurses, analysieren diese, beziehen Stellung, entwickeln Alternativen.
So könnte Die andere Globalisierung von dreifachem Interesse sein. Zunächst und zuvörderst stellen sich die abgedruckten Beiträge dar als teils grundsätzlichere, teils konkretere, immer aber aktuelle Interventionen in den allgegenwärtigen Globalisierungsdiskurs – in einen Diskurs, dessen ökonomistische Verengung und fatalistische Tönung Galtung explizit wie implizit zur Debatte stellt: Globalisierung ist ein Projekt, kein Schicksal!
Sofort aber stellt sich für den professionellen Friedens- und Entwicklungsforscher nicht weniger als für den politisch Interessierten allgemein die Frage nach den wissenschaftlichen und normativen Grundlagen, die die Galtungschen Interventionen tragen. Diese Grundlagen zusammengeführt und grundrißartig entwickelt zu haben, charakterisiert Galtungs neues Hauptwerk Frieden mit friedlichen Mitteln1, dessen Grundstruktur sich widerspiegelt in der Systematik, also den Abschnittsüberschriften dieses Bandes: Frieden, Konflikt, Entwicklung, Kultur.
1) Opladen: Leske + Budrich 1998.
Ob man nun den besonderen Nutzen dieses Buches in Rücksicht auf die weiterentwickelte Friedenstheorie Galtungs eher darin sehen will, daß es zu den Fragestellungen und Positionen von Frieden mit friedlichen Mitteln hinführt und diese erläutert, oder aber darin, daß es diese konkretisiert, überprüft und vertieft, dürfte zuletzt von den jeweiligen Vorkenntnissen der Leserinnen und Leser abhängen.
Zumindest der erste wie der letzte Beitrag aber gehen über Frieden mit friedlichen Mitteln ersichtlich hinaus, indem sie der subjektiven Dimension des Galtungschen Unternehmens Gehör verschaffen. Als Vermittlung von Leben und Werk dienen sie zwar auch der Explikation und Begründung des letzteren; als Fragmente einer intellektuellen Biographie und Zwischenbilanz des Forschers und politischen Aktivisten aber erfüllen sie ein häufig artikuliertes, jedoch kaum einmal befriedigtes Leserbedürfnis nach autobiographischer Präsentation dieses ›Wanderers zwischen den Kulturen‹.
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Johan Galtung - Gründer des Internationalen Friedensforschungsinstituts in Oslo (PRIO - 1959) und des bekannten "Journal of Peace Research" (1964), Verfasser von nahezu 50 Monographien und weit über tausend Aufsätzen und Beiträgen zur Konflikt-, Friedens-, Entwicklungs- und Zukunftsforschung sowie zur Theorie und Methodik der Sozialwissenschaften, Berater zahlreicher UNO-Agenturen und 1987 Träger des Alternativen Nobelpreises "Right Livelihood Award" - hat wie kein zweiter seit Ende der 60er Jahre die Entwicklung der deutschsprachigen Friedens- und Konfliktforschung beeinflußt. Bestimmte seiner Festlegungen wirkten quasi schulbildend ("Kritische Friedensforschung"), einige sind auch für die internationale Diskussion kanonisch geworden: die Unterscheidung eines "positiven" von einem "negativen" Friedensbegriff, von "direkter" und "struktureller Gewalt", die Postulierung eines konstitutiven Zusammenhangs von Friedens- und Entwicklungsstudien, die Dreiteilung der Friedens- als angewandter Sozialwissenschaft in Empirie, Kritik und Konstruktion, der Primat der Praxis als Friedensarbeit / Konfliktbearbeitung, die Analogisierung von Friedens- und Gesundheitsstudien im DPT- (Diagnose / Prognose / Therapie-) Schema.
Wir brauchen uns mit dem Nachweis nicht lange aufzuhalten, daß weder Frieden mit friedlichen Mitteln noch Die andere Globalisierung an diesen Positionen gerüttelt haben, daß diese weiterhin im Zentrum beider Untersuchungen stehen.
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Gleichwohl läßt sich nicht bestreiten, daß Galtungs erfahrungsgesättigte Überprüfung der Grundlagen des Friedens- und Konfliktwissens, seine Ausarbeitung zumal einer Theorie (tiefen-) kultureller Gewalt und einer originären Entwicklungs- und Ökonomietheorie, zur Tieferlegung der Fundamente des Gesamtgebäudes, zur Erweiterung dessen Grundrisses sowie zu einer z. T. nicht unwesentlichen Neugewichtung und -ausgestaltung der o. g. Theoreme geführt haben.
Soll der vorliegende Band als compamon reader, als Kommentar, konkretisierende Anwendung und Vertiefung zu Frieden mit friedlichen Mitteln dienen können, dann müssen sich ihm auch gewichtige Themen und Erkenntnisse entnehmen lassen, mit denen Galtung erneut die (nicht nur deutschsprachige) einschlägige Diskussion herausfordert. Hier scheinen nun einige kurze Anmerkungen zu Inhalt und Anlage von Frieden mit friedlichen Mitteln wie zum Verhältnis der vorliegenden zur Grundlagenschrift angezeigt. Nähern wir uns dieser Aufgabe über die Nachzeichnung der für Galtung so typischen Binnendifferenzierung im Gewaltbegriff.
Galtungs früher Geniestreich bestand bekanntlich darin, Frieden nicht durch die Abwesenheit nur von Krieg, sondern von destruktiver Gewalt zu definieren. Als destruktiv galt und gilt eine Gewalt, die grundlegende menschliche Bedürfnisse - des Überlebens und Wohlergehens, der Freiheit und der Identität - verletzt und/oder unter das Maß ihrer historisch realisierbaren Befriedigung herabdrückt. Die seinerzeit vorgenommene, friedenswissenschaftlich wie friedenspolitisch so folgenreiche Unterscheidung direkter (personal zurechenbarer und intendierter) und struktureller (indirekter, in die Sozialstruktur eingebauter) Gewalt, welch letztere sich manifestiert als politische Repression und sozial-ökonomische Ausbeutung, wirft weiterhin ein helles Licht auf unterschiedliche Systeme gesellschaftlicher und politischer Reproduktion. Die Allgegenwärtigkeit direkter und struktureller Gewaltphänomene aber führte Galtung zur Anerkennung eines dritten Typs von Gewalt, "kultureller Gewalt" nämlich.
Deren soziale Funktion besteht zunächst darin, direkte wie strukturelle Gewalt zu rechtfertigen. Diese Rechtfertigung erfolgt symbolisch, in Alltagsargumentationen wie in wissenschaftlichen Systemen, in religiösen Konstruktionen wie in der politischen Rhetorik. In dieser Rechtfertigungsfunktion erschöpft sich kulturelle Gewalt gleichwohl nicht. Als letztlich verwurzelt in der Kosmologie oder Tiefenkultur als kollektivem Unterbewußtsein einer Zivilisation oder Gesellschaft scheint kulturelle Gewalt - versteht sich: in je nach Zivilisation unterschiedlichem Ausmaß - von Anfang an beteiligt beim Aufbau von Lebens-, Arbeits- und Herrschaftswelten, von kognitiven, normativen und institutionellen Mustern, in denen Akte direkter und Verhältnisse struktureller Gewalt wie selbstverständlich ihre Rolle spielen.
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Da die Tiefenkultur einer Gesellschaft oder Zivilisation sich aber in deren Vorstellungen über Frieden und Konflikt ebenso wie in denen über Entwicklung und soziale Gerechtigkeit zur Geltung und in deren Taten und Institutionen zum Ausdruck bringt, erweist sich nunmehr "die Untersuchung von Zivilisationscodes, von Kosmologien ... (als) der zentrale Punkt von Friedensforschung" (S. 250)2 und prägt entsprechend die Anlage auch von Galtungs erneuerter Friedenstheorie. In Frieden mit friedlichen Mitteln zerlegt sich diese formal in vier locker miteinander verbundene Theoriebereiche.
Die Friedenstheorie i. e. S. skizziert zum einen wissenschaftstheoretische Grundlagen und Paradigmen der Friedensforschung; zugleich aber geht es ihr um die Überprüfung dreier zentraler Wege zu friedlicheren Verhältnissen: durch die Pazifizierung patriarchaler Geschlechtsgewalt, durch die Ausweitung und Perfektionierung demokratischer Verhältnisse sowie durch eine überzeugendere Organisation des Weltstaatensystems.
Die Konflikttheorie geht aus von der zerstörerisch-schöpferischen Doppelnatur des Konfliktes, sie klärt Grundbegriffe und entwickelt praktisch bedeutsame Typologien möglicher Konflikttransformationen und gewaltloser Konfliktinterventionen. Die Entwicklungstheorie erforscht ökonomische Formen struktureller Gewalt und entwickelt Prinzipien eines alternativen Entwicklungsverständnisses wie auch Perspektiven einer gerechteren, nachhaltigen Ökonomie und Wirtschaftstheorie. Die Zivilisationstheorie schließlich entfaltet das angesprochene Konzept kultureller Gewalt in seinen beiden friedenswissenschaftlich bedeutsamen Dimensionen, der Oberflächen- und der Tiefenkultur.
Frieden mit friedlichen Mitteln betonte die Notwendigkeit, das statische Friedensverständnis — Frieden als Abwesenheit / Reduktion von Gewalt — mit einer dynamischeren Auffassung —– Frieden als "gewaltfreie und kreative Konflikttransformation" (1998: 31) — zu verbinden. Hier erscheint der Friede als Rahmen einer bestimmten Konfliktentwicklung, und das Wissen von Konflikten und deren nicht gewalttätiger Transformierung tritt in den Mittelpunkt der Friedenstheorie. So wird verständlich, warum die Grenzen zwischen Friedens- und Konflikttheorie fließend sein müssen und warum eine analytisch konzentrierte Übersicht der Kriege und Konflikte, an deren Bearbeitung Galtung aktiv sich beteiligte, den Band eröffnet.
2 Seitenzahlen in Klammern beziehen sich hier und im folgenden auf den vorliegenden Band, bei vorgesetzter Jahreszahl (1998) auf Galtungs Frieden mit friedlichen Mitteln.
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Die in dieser Konfliktarbeit gewonnenen und erprobten Prinzipien bzw. Eigenschaften der Gewaltfreiheit, Kreativität und Empathie erhalten durch die Aufbereitung der Konflikte im DPT-Schema eine Anschaulichkeit und Überzeugungskraft, die ihnen als Frucht vorwiegend theoretischer Bemühungen gewiß abgegangen wäre. Verstärkt gilt dieses noch für die von Galtung propagierten, zuweilen anekdotenhaft illustrierten Tugenden der Friedensarbeiterinnen und Friedensarbeiter, die deren Handeln tragen sollen und auf Dauer stellen können: Wissen, Vorstellungsvermögen bzw. Phantasie, Mitgefühl und Beharrlichkeit.
Kap. 2 demonstriert die Anwendungsmöglichkeiten dieser Tugenden und Vermögen. Die Erkenntnis, daß echte Konflikte nicht eigentlich gelöst, aber doch so transformiert werden können, daß sie sich als nachhaltige, allen Konfliktbeteiligten akzeptable Zustände darbieten, verlangt ein differenziertes Konflikt- und Konfliktbearbeitungswissen. Dieses - situativ zu ergänzende und zu modifizierende - Wissen muß dann, getragen von Mitgefühl und, wenn möglich, mit Phantasie, beharrlich seine Umsetzung suchen. In 17 Vorschlägen und Kommentaren präsentiert Galtung seine Version dieser Form praktischen Wissens und macht uns gleichsam en passant vertraut noch mit Grundlagen seiner Konflikttheorie.
Wie aber stellt sich nun ein solches Friedens- und Konfliktdenken zu den staatlichen Veranstaltungen der Friedenswahrung und Konfliktbearbeitung? Konkret: Wie steht es zum Militär? Diese Frage gilt weithin, für Friedensforschung und Friedensbewegung, als Schibboleth, zumindest dann, wenn die Alternative lautet: Militär abschaffen oder Gewalt und Krieg verewigen! Galtung argumentiert differenzierter, verbindet in Kap. 4 normativ wie pragmatisch Utopie und Realität: Grundsätzlich können staatliche Gewaltmittel keinen Frieden, kann militärischer Zwang keine wechselseitige Anerkennung und verläßliche Kooperation herbeiführen. Gleichwohl bleiben dem Militär im politischen Programm Frieden mit friedlichen Mitteln zwei Aufgaben resp. Funktionen: die Organisation einer defensiven, nicht-provokativen Verteidigung sowie die Erweiterung und Stärkung friedensbewahrender Kräfte.
Genau die gegenteilige Einstellung zu Militär und militärischen Gewaltmitteln aber bringen die Mitgliedsstaaten der westlichen Allianz in der sog. NATO-Osterweiterung zum Ausdruck. Galtungs Diagnose, mit dem Madrider NATO-Gipfel im Juli 1987 habe "der Zweite Kalte Krieg begonnen" (S. 80), mag viele Leserinnen und Leser erschrecken; aber läßt sie sich vernünftig bestreiten?
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Die Überlegenheit der in Kap. 3 vorgelegten Analyse gegenüber den zahlreichen, auch kritischen, vergleichbaren Versuchen liegt in ihrer systematisch-ganzheitlichen Anlage; liegt also darin, daß Galtung die Sichtweisen und Motive aller wichtigen Beteiligten und Betroffenen — der USA, Westeuropas, Osteuropas und Rußlands — kriterial (politisch, militärisch, ökonomisch und kulturell) differenziert und in Beziehung setzt.
So beeindruckt Kap. 3 nicht allein durch die Offenlegung wichtiger ›Details‹, wenn Galtung etwa die NATO-Osterweiterung als Bestandteil einer umfassenden, politisch koordinierten militärischen "Zangenbewegung ... auf Rußland und China hin" vorstellt (S. 68f) oder mit divergierenden Interessen der NATO-Partner im Euro-Poker zusammenbringt. Der Essay wirkt insgesamt als ein Lehrstück für Galtungs holistischen Ansatz in der Friedens- und Kriegsursachenanalyse, der bis in die "Tiefe des kollektiven Unterbewußtseins des Westens" (S. 80) vorzudringen sucht.
Vieles spricht dafür, daß die NATO-Osterweiterung im Rahmen der militärischen Zangenbewegung der USA auf die eurasische Landmasse hin Ausfluß eines "Agendavakuums" des Westens, der US-amerikanischen und westeuropäischen politischen Eliten ist. Galtungs souveräne Bilanz in Kap. 7 dient dem Nachweis, daß die politische Klasse weltweit ein aktuelles Agendavakuum mit den nicht abgearbeiteten Agenden der Vergangenheit füllt. (S. 143) Aus diesem Versagen resultiert allerdings Gewaltiges und Bedrohliches: eine siebenpolige Welt von Hegemonialmächten, in der der Hegemon der Hegemonen, die USA, sein Koordinierungsvermögen ausspielen dürfte, ohne doch (so wenig wie die UNO) die massiven intra- und interhegemonialen Probleme und Konflikte kontrollieren zu können. Das Beste, was sich von diesem Zukunftsszenarium sagen läßt, ist, daß die hier prognostizierte - in Tiefenkulturen verwurzelte und zudem nuklear abgestützte - Gewalt- und Konflikthaftigkeit der politischen und sozialen Verhältnisse die Nachfrage nach ernsthaften Friedensagenden verstärken dürfte.
Träger dieser Nachfrage und Medien deren Befriedigung eruieren die beiden weiteren Kapitel des Konfliktsabschnitts, die ihr Thema auf den subglobalen Ebenen der Region (Europa) und des Einzelstaates diskutieren. So entwickelt Kap. 5 das Gewalt- und Konfliktpotential der großen okzidentalen Religionen — Judentum, Christentum, Islam — wie der säkularen Nachfahren Gottes. Denn im Namen von Staat und Nation, des freien Marktes und der Wissenschaft wird nicht weniger getötet als im Namen Gottes, und dieses bis zur Gegenwart um so leichter, als eine überkommene Krieger- und Aristokratenkultur der Außenpolitik der europäischen Staaten fast ungehindert ihren Stempel aufdrückt.
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Glücklicherweise hat die zusammenbrechende mittelalterliche Welt nicht nur das unfriedliche Staatensystem, sondern auch friedensgeneigte Gegenkräfte freigesetzt, heute also "die Kultur der Städte, Organisationen (z.B. NGOs) und neue Akteure auf der politischen Bühne — darunter besonders die Frauen." (S. 103) Und zuletzt: die zentrale politische Institution des Dialogs, viel zu wenig genutzt und doch unersetzbar, da er vom wechselseitigen Respekt der Beteiligten lebt und von der Voraussetzung ausgeht, daß in ihm alle Seiten etwas zu lernen und beizutragen haben.
An dieser überragenden Relevanz des Dialogs knüpft das kommunikationstheoretisch fundierte Plädoyer für Demokratie in Kap. 6 an, deren "Essenz" sich Galtung darstellt als "ein transparenter Dialog als Auftakt zur sozialen Transformation" (S. 124) — im nationalen, im inter- und im supranationalen Rahmen übrigens. Zweifellos kann in modernen, auf den drei Pfeilern Zivilgesellschaft, Staat und Kapital ruhenden demokratischen Gesellschaften des Westens die Forderung nach Transparenz und Öffentlichkeit als trivial gelten, kaum aber Galtungs folgenreiche Perspektiverweiterung zwecks Stärkung der Demokratie und Konfliktkultur: Warum sollten Transparenz und Öffentlichkeit allein im Kommunikationskanal zwischen Zivilgesellschaft und Staat institutionalisiert werden bzw. bleiben, wo doch zwei weitere, denselben anspruchsvollen Qualitätskriterien (thematisch offen, zweiseitig-dialogisch etc.) zu unterwerfende Kommunikationskanäle, zwischen Staat und Kapital sowie zwischen Zivilgesellschaft und Kapital nämlich, fruchtbare Konfliktbereinigung und produktive Zusammenarbeit versprechen?
Als ›Dauerbrenner‹ künftiger Dialoge zwischen Kapital und Zivilgesellschaft könnte das Problem der ökonomischen Externalitäten fungieren. Externalitäten sind Nebenwirkungen und -bedingungen ökonomischer Prozesse, die normalerweise in der ökonomischen Theorie und Praxis keine Berücksichtigung finden, obgleich sie, im Positiven wie vor allem im Negativen, erhebliche Auswirkungen auf Entwicklungsprozesse aller Art haben: in der Natur (als Umweltverschmutzung, Raubbau etwa), beim Menschen (Nichtbefriedigung spiritueller Bedürfnisse, Verringerung der Lebensqualität), in der Gesellschaft (Atomie und Anomie) usw. Gegen die das Zeitalter der Globalisierung und Privatisierung charakterisierende Tendenz, Ökonomie und Wirtschaftswachstum zum Definiens und Motor von Entwicklung zu machen, votiert Kap. 9 nicht allein mit dem Reduktionismus dieser Auffassung, sondern zugleich unter Verweis auf das ungeheure Ausmaß und die katastrophale Vielfalt entwicklungsschädigender negativer Externalitäten.
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Wenn einer voll durchstartenden Wirtschaftswissenschaft also die Definition von Entwicklung nicht länger überlassen werden darf — was soll dann unter Entwicklung verstanden werden? Hierauf gibt Kap. 8 eine Antwort, die fünf Modelle von Entwicklung (kapitalistisch, sozialistisch, sozialdemokratisch, ›japanistisch‹, grün) und vier Bereiche von Entwicklung (Natur, Mensch, Gesellschaft, Welt) unterscheidet, um dann die Auswirkungen der jeweiligen Entwicklungsmodelle auf die ausgewählten Entwicklungsräume vergleichend zu untersuchen und zu bewerten. In der Auseinandersetzung mit den gängigen Entwicklungsmodellen entwirft dieser Beitrag über Entwicklungsziele und -prozesse ein differenziertes Konzept von Entwicklung, das in der ökonomietheoretisch gestützten Entwicklungstheorie von Frieden mit friedlichen Mitteln weiter entfaltet und begründet wird.
Kommen wir zu den Beiträgen des letzten Abschnitts: Frieden. Ohne die Theorie der Tiefenkultur(en) hier eigens zu entfalten, machen Kap. 10 bis 12 deutlich, welch eminente Bedeutung kulturellen Einstellungen und Überzeugungen bei der Produktion von Krieg und Frieden zukommt. Dabei greift Kap. 10 auf die anfangs promovierten Prinzipien einer Politik der Friedensarbeit: Gewaltfreiheit, Kreativität und Empathie, zurück, um diese auf mögliche tieferliegende kulturelle Verwurzelungen zu befragen. Daß Galtung diese Voraussetzungen am ehesten in der buddhistischen Kultur ortet, wird nur den völlig überraschen, der die bisherigen Zurückweisungen okzidentaler, oft christlich inspirierter Vorstellungen bezüglich Krieg und Konflikt, Entwicklung und Frieden überlesen hat. Dennoch verzichtet Galtung offensichtlich darauf, Paxogene (Friedenskeime) nur der buddhistischen und Bellogene (Keime des Krieges) speziell der okzidentalen Kultur zuzusprechen: "orientalische und okzidentale Ansätze könnten und sollten kombiniert werden." (S. 202)
Jede uns bekannte Makro-Kultur enthält Züge kultureller Gewalt wie kulturellen Friedens, keine kann einfach als eine ›Kultur der Gewalt‹ klassifiziert werden. Bestätigt wird diese generelle Auffassung Galtungs durch eine vergleichende Analyse des Friedenspotentials — also der Bereitschaft, direkte und strukturelle Gewalt abzulehnen — der großen Religionen. Wenngleich auch hier dem Buddhismus eine friedensförderliche Sonderstellung zukommt, ist die entscheidende, durch einen bedenkenswerten religionsphilosophischen Exkurs erläuterte Erkenntnis Galtungs die, daß alle Religionen "harte" (gewaltfördernde) und "sanfte" (friedensfördernde) Elemente beinhalten, ja, "daß es wahrscheinlich größere Unterschiede zwischen dem Harten und dem Sanften in einer Religion geben wird als zwischen den Religionen"!
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So lautet denn eine entscheidende Schlußfolgerung des 11. Kapitels, die in die gegenwärtigen Diskussionen über die Notwendigkeit eines Weltethos und eines Dialogs der Religionen unbedingt Eingang finden sollte: "Der zentrale theologische Dialog zwischen hart und sanft muß innerhalb jeder Religion geführt werden." (S.222)
Kap. 12 demonstriert, daß Galtungs kritische Distanz zur westlichen Kultur auch philosophische Implikationen hat - mit gewichtigen praktischen Konsequenzen! Galtungs dem westlichen "prometheischen" Veränderungsdrang im allgemeinen, der kantischen Universalisierungsethik im besonderen konfrontierte "Ethik der Umkehrbarkeit" bleibt dennoch nicht ohne Anschlußmöglichkeiten an westliche Konzepte und Institutionen. Ein normativ gehaltvoller Begriff von Demokratie (wenn auch nicht die Praxis der Demokratien) verlangt geradezu nach einer politischen Ethik der Umkehrbarkeit, weil nur so die friedliche Unterwerfung einer Minderheit, die irgendwann dann Mehrheit werden könnte, unter Mehrheitsbeschlüsse erwartet und gefordert werden kann.
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Eine gedrängte Übersicht über einen thematisch so weit gespannten Band wie den vorliegenden erweckt notwendigerweise den Eindruck einer wenig befriedigenden tour de force. - Stellte Max Weber selbstironisierend einst fest, das Wichtigste seiner Ausführungen fände sich immer in den Anmerkungen, so dürften auch viele Leser in Galtungs Ausführungen das für sie Neue und Wesentliche jenseits des roten Fadens finden, der hier gesponnen wurde.
Da diese Einführung aber eine Einführung und kein Resümee zu sein beansprucht und da sie den inneren Zusammenhang, nicht aber den argumentativen Reichtum der einzelnen Essays verzeichnen will, dürften Leserinnen und Leser nun doch genauer wissen, was sie im Folgenden erwartet, welchen Einstieg sie suchen und welche Schwerpunkte sie setzen sollen; denn in der Tat erlaubt dieser Band eine ganz individuelle Zusammenstellung der Lektüresequenzen. Zwei kurze Bemerkungen, zum Titel wie zur autobiographischen Einfärbung des Bandes, mögen der abschließenden Charakterisierung von Inhalt und Intention desselben dienen.
Der Titel Die andere Globalisierung indiziert, daß Globalisierung nicht unbedingt etwas Schlechtes sein muß, ja, daß sie in verschiedenen Bereichen, der Entwicklungs- oder Friedenspolitik etwa, eine unabweisbar sinnvolle Tendenz darstellen könnte.
Was das Bessere bzw. Andere an Globalisierungsprozessen aber sein könnte und/oder sollte, erarbeitet Galtung hier durchgehend nicht in der Auseinandersetzung mit einer mittlerweile überbordenden Globalisierungsliteratur3, sondern mit meist wenig Hoffnung erweckenden realgeschichtlichen Prozessen ökonomischer, sozialer und technologischer, politischer und militärischer, nicht zuletzt auch kultureller Provenienz.
3) Die eine beeindruckende Fülle diskussionswürdiger Vorstellungen von Globalisierung offenbart (vgl. exemplarisch Ulrich Beck: Was ist Globalisierung? Irrtümer des Globalismus - Antworten auf Globalisierung, Frankfurt/M. 1997), aber an der Konstatierung massiver konzeptioneller und empirischer Defizite der bisherigen Globalisierungsdiskussion nicht vorbeikommt (exemplarisch: Marianne Beisheim/Gregor Walter: "›Globalisierung‹ - Kinderkrankheiten eines Konzeptes", in: Zeitschrift für Internationale Beziehungen, 4. Jg. (1997) Heft 1, S. 153-180.
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Westliche Vorstellungen und Institutionen dominieren zuletzt fast alle diese Prozesse, zumeist ohne den dabei auftretenden Verwerfungen und Konfliktlagen anders als verbal Rechnung zu tragen oder einen Ausgleich unterschiedlicher Entwicklungsperspektiven in der Weltgesellschaft auch nur in Erwägung zu ziehen.
Galtungs begründete Vorbehalte gegen die gewaltträchtige Geschichte und (Tiefen-)Kultur des Okzidents erweisen seine Positionen und Ausführungen als sperrig gegenüber der in der deutschsprachigen Friedenswissenschaft vorherrschenden Zivilisierungsdiskussion4, ja, könnten uns den ganzen Band als implizite Kritik am Rahmen und an den Grundlagen des dort in Anspruch genommenen normativen Zivilisierungsparadigmas lesen lassen. Der kreative und gewaltfreie Umgang mit Konflikten, die Empathie noch mit den Gegnern, die Demokratisierung nach innen wie nach außen, die Institutionalisierung des Dialogs auf allen Ebenen der Staaten wie der Gesellschaften als der entscheidenden Entwicklungsressource humaner Sozialverhältnisse - das sind Merkposten einer Friedenspolitik bzw. einer sich zivilisierenden Gesellschaft, die in der okzidentalen Kultur doch eher Dissidenten, Opponenten und Außenseitergruppen vertreten haben.
Lenkt aber, um zum Schluß zu kommen, die Aufnahme autobiographisch angelegter Beiträge nicht eher ab vom Blick auf eine andere Weltgesellschaft? Wird hier nicht ein zweifellos legitimes und angemeldetes Desiderat am falschen Platz befriedigt? Antworten wir mit einer Gegenfrage; Was könnte überzeugender als die Übersicht und Auswertung von Galtungs Konfliktbearbeitungsbemühungen im ersten Beitrag demonstrieren, daß die von ihm empfohlene Friedensarbeitstrias Gewaltfreiheit, Kreativität und Empathie nicht Produkt persönlicher Idiosynkrasien oder kultureller Voreingenommenheit, sondern Ergebnis ihrer (›globalen‹) Erprobung in und mit ganz unterschiedlichen Kulturen und Weitregionen ist?
4) Einen Schwerpunkt dieser Debatte bilden weiterhin die Auseinandersetzungen um Dieter Senghaas' zivilisatorisches Hexagon; für eine Nachzeichnung und Bewertung unterschiedlicher zivilisierungstheoretischer Ansätze (vom Standpunkt einer "kritisch-reflexiven Theorie der Zivilisierung") s. Wolfgang R. Vogt: "Zivilisierung und Frieden - Entwurf einer kritisch-reflexiven Friedenstheorie", in: Österreichisches Studienzentrum für Frieden und Konfliktlösung (Hg.): Frieden durch Zivilisierung? Probleme-Ansätze-Perspektiven, Münster 1996, S. 91-135, bes. S. 91-111.
Aber auch der letzte Beitrag dieses Bandes, der persönlichste gewiß und überdies von ganz eigener literarischer Qualität, bleibt inhaltlich dem Thema dieses Buches durchaus verhaftet. Es ist offensichtlich, wie sehr die Invasion der Nationalsozialisten in Norwegen, wie sehr der Aufenthalt im Gefängnis, die Auseinandersetzung mit Gandhi und die Arbeit in Lateinamerika, wie sehr schließlich die Begegnung mit Japan und die Heirat mit Fumiko Nishimura Denken und Fühlen des Autors geprägt haben; wie der Blick von unten auf die Herkunfts- und die Weltgesellschaft und wie der Blick von außen auf die eigene und die anderen Kulturen den Boden bereitet haben für Galtungs ingeniöse Aufarbeitung der Gewalt- und Friedensproblematik.
Johan Galtung, und das scheint mir entscheidend, gehört zu jener raren Sorte politisch inspirierter Gelehrter, die die Welt (und nicht nur Norwegen oder Europa) im Wortsinne erfahren haben und deren theoretischen Entwürfe und wissenschaftliche Arbeit dieser Welterfahrung durchgehend verhaftet und verpflichtet bleiben. Was sollten wir daher vom Autor hier anderes erwarten als einen gewichtigen Kontrapunkt — im Konzert der großen zeitgenössischen Friedensforscher nicht weniger als im vielstimmigen Chor der Globalisierungstheoretiker im Schlepptau des Marktes, der Macht und der Militärs.
Bis auf den Essay zur NATO-Osterweiterung sowie eine stark gekürzte Version des (neu übersetzten) Anhangs erscheinen alle Beiträge hier erstmalig in deutscher Sprache, die meisten sind auch anderweitig noch nicht publiziert. Einige wenige Stellen dieser ausnahmslos in den neunziger Jahren entstandenen Beiträge wurden behutsam und in Absprache mit dem Autor aktualisiert.
Mein Dank geht an Robert Schäfer, Inge Bußler und Frank Dierdorf für mehrfache Korrektur sowie die technische Erstellung des Textes, an Johan Galtung und an Michael Alfs vom agenda-Verlag für eine schöne Zusammenarbeit.
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