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   II / Leben in der toten Zone  

Geulen-2020

 

  1- Olga W. und das Neue Jerusalem     2-   3-   4-

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Das Dorf wurde fluchtartig verlassen. Offene Haustüren, zerbrochene Fenster, Birken sind durch die Dächer gewachsen, auf den Tischen Essgeschirr, Kinderbetten mit Puppen, halbleere Flaschen, aufgeschlagene Bücher. Hier in Ritschyzja, in der toten Zone von Tschernobyl, lebt Olga W., hier wurde sie vor über achtzig Jahren geboren, hier wird sie sterben.

Der Tschernobyl-Komplex liegt am Rand der Pryp'jat-Sümpfe, zwischen den Flüssen Dnepr und Pryp'jat in der historischen Landschaft Polesien. Seit dem 14. Jahrhundert wurde die Region immer wieder von konkurrierenden Staaten usurpiert, zuerst vom Großfürstentum Litauen, dann im 16. Jahrhundert von Polen-Litauen, nach der dritten Teilung Polens im Jahre 1795 von Russland. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde Polesien geteilt, der größte Teil fiel an die Sowjetunion.

Über Generationen hinweg erhielten die Menschen immer wieder neue Nationalitäten; sie waren Litauer, Polen, Russen, Weißrussen, Sowjetbürger, Ukrainer, Ausländer oder Staatenlose, ohne ihre Dörfer je verlassen zu haben.(51)

Im Jahre 1941 überfiel die deutsche Wehrmacht die Sowjetunion. Drei Heeresgruppen griffen an mit 120 Divisionen, drei Millionen Soldaten, 3580 Panzern, 7184 Geschützen und 1830 Flugzeugen.52 Die Ukraine konnte von der Roten Armee praktisch nicht verteidigt werden. Vereinzelter Widerstand wurde von ukrainischen Patrioten und Partisanen geleistet, die Heeresgruppen Mitte und Süd eroberten innerhalb weniger Monate die gesamte Ukraine bis zum Schwarzen Meer. Der Überfall war Teil des Angriffskrieges gegen die Sowjetunion und des Völkermords an den europäischen Juden. Im ukrainischen Teil Polesiens, der Gegend südlich und nördlich der Pryp'jat-Sümpfe, zu der auch die Tschernobyl-Region gehört, wurden die Juden von der Wehrmacht zusammengetrieben und erschossen. In dem größten Einzelmassaker des Genozids liquidierten die Deutschen am 29. und 30. Oktober 1941 ca. 33.000 Juden aus Kiew in der Schlucht von Babyn Jar.

Die Wannsee-Konferenz vom 20. Januar 1942 markierte schließlich den Übergang zur systematischen Deportation der Juden in die osteuropäischen Vernichtungslager. Der Anhang des Protokolls der Wannsee-Konferenz beziffert die Zahl der ukrainischen Juden exakt auf 2.994.684.51 Bis Ende 1942 wurden alle ermordet. Unter den black boxes der deutschen Historiographie sind die genozidären Massaker der Wehrmacht und der SS in der Ukraine die schwärzesten. Keiner der Kriegsverbrecher wurde je vor einem deutschen Gericht angeklagt.

  • 51 Julius Margolin, einer der großen Chronisten der Gulags, hat die Erfahrungen eines Menschen beschrieben, der wegen illegalen Aufenthalts in seiner Heimat zu jahrelanger Haft in einem sowjetischen Lager verurteilt wird; Julius Margolin: Reise in das Land der Lager, Berlin 2013, S. 479 ff.

  • 52 Yehuda Bauer: Der Tod des Schtetls, Frankfurt/M. 2013, S. 117 ff.; vgl. hierzu ferner Ernst Piper: Alfred Rosenberg. Hitlers Chefideologe, München 2015, S. 480 ft.

  • 53 Katalog der ständigen Ausstellung »Die Wannsee-Konferenz und der Völkermord an den europäischen Juden«, Berlin 2006, S. 110.


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Alfred Rosenberg, den Hitler nach dem Überfall auf die Ukraine am 17. Juni 1941 zum »Reichsminister für die besetzten Ostgebiete« ernannt hatte, wurde vor dem Internationalen Militärgerichtshof in Nürnberg als Haupt­kriegs­verbrecher angeklagt, am 1. Oktober 1946 in allen Anklagepunkten für schuldig befunden, zum Tode verurteilt und am 16. Oktober 1946 hingerichtet.54 Erich Koch, der Gauleiter von Ostpreußen, wurde 1941 von Hitler auch zum »Reichskommissar der Ukraine« ernannt und beherrschte in den folgenden drei Jahren das gesamte Territorium von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer. Als Anfang 1945 die Rote Armee nach Westen in das damalige Ostpreußen vorrückte, untersagte er der deutschen Zivilbevölkerung unter Androhung schwerer Strafen die Flucht in den Westen. Er selbst setzte sich im Februar 1945 mit SS-Leuten über die Ostsee ab, tauchte in der Nähe von Kiel unter und konnte den Prozess vor dem Internationalen Militärgerichtshof in Nürnberg aus der Ferne verfolgen. Erst fünf Jahre später wurde er enttarnt und nach Polen ausgeliefert. Angeklagt wurde er wegen einiger Verbrechen auf dem Gebiet Polens, nicht wegen des Genozids an den ukrainischen Juden. Am 9. März 1959 wurde Koch in Warschau zum Tode verurteilt.55

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In den letzten Apriltagen des Jahres 1986 erfuhren die Bewohner von Ritschyzja aus dem Radio von einem Brand in Tschernobyl. Es gab für sie keinen Grund, persönlich besorgt zu sein. Sie lebten in der Nähe des Tschernobyl-Komplexes bei ihren Äckern und wussten nichts von den Risiken nuklearer Verstrahlung. Am 3. Mai 1986 wurden die Bewohner von Ritschyzja abtransportiert. Die große Svetlana Alexijewitsch hat die Berichte Evakuierter dokumentiert:

Die Häuser wurden gestürmt. Die Leute hatten sich eingeschlossen, hatten sich versteckt. Das Vieh brüllte, die Kinder weinten! Krieg! Und die Sonne schien... Ich hatte mich einfach hingesetzt und gewartet, eingeschlossen hatte ich mich nicht.

  • 54 Vgl. Ernst Piper: Alfred Rosenberg, op. cit, S. 566 ff.

  • 55 Koch wurde später zu lebenslänglicher Haft begnadigt und starb nach 27 Jahren am 12.11.1986 im Gefängnis von Barczewo, dem ehemaligen Wartenburg; vgl. Armin Führer, Heinz Schön: Erich Koch. Hitlers brauner Zar. Gauleiter von Ostpreußen und Reichskommissar der Ukraine, München 2010, S. 200 ff.


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Die Soldaten klopften an. »Na Frau, bist Du soweit?« Ich fragte: »Wollt Ihr mir mit Gewalt die Hände und Füße fesseln?« Sie sagten nichts, dann sind sie gegangen. Ganz junge Kerle waren das! Kinder noch! Die Frauen sind vor den Häusern auf Knien herumgerutscht... Haben gebetet... Die Soldaten packten eine nach der anderen unterm Arm und - ab ins Auto. Ich habe ihnen gedroht, wenn mich auch nur einer anfaßt, kriegt er eins mit dem Stock übergezogen. Ich habe geflucht! Fürchterlich geflucht! Ich habe nicht geweint. Damals habe ich nicht geweint.56

Und immer wieder Berichte von den leeren Dörfern und den einsamen Alten, »die nicht mit den anderen weggehen wollten oder wieder zurückgekehrt waren aus der Fremde«.57 Und die Chronistin beschreibt »die hilflosen Schreie der Tiere«58, die nach der Vertreibung der Menschen in den leeren Dörfern erschossen wurden. Angesichts des maßlosen Leids der Menschen Empathie zu bezeugen für die sterbende Kreatur, bezeugt den hohen literarischen Rang Svetlana Alexijewitschs.

Ich besuche Ritschyzja in Begleitung eines ukrainischen Radiologen. Seit 1986 lebt Olga W. hier alleine. Sie hat ihre Evakuierung nie akzeptiert und kehrte über verlassene Wege durch die tote Zone immer wieder nach Ritschyzja zurück. Nachdem sie noch zweimal vertrieben worden war, ließ man sie schließlich in Ruhe. Ritschyzja hat sie seit vielen Jahren nicht verlassen, weil sie nicht mehr richtig gehen kann. Sie hält ihr Backsteinhaus instand und baut rote Bete an, Kartoffeln und Kohl. Olga W. trinkt Wasser aus einem nahegelegenen Brunnen, obwohl dies wegen der hohen Kontamination verboten ist. Die Strahlenbelastung wird erst in einigen Jahrhunderten abnehmen. Am Boden ihres kleinen Ackers zeigt der Geigerzähler eine zwanzigfache Überschreitung der zulässigen Dosis.


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Ich denke, dass Olga W., die letzte Bewohnerin von Ritschyzja, weiß, dass in ihrem Dorf menschliches Leben nicht mehr möglich ist. Als sie das rasende Tickern des Geigerzählers auf dem Boden ihres Kohlfeldes hört, lacht sie etwas und winkt ab. Olga W. hatte damals auch die Evakuierungen der 40.000 Menschen aus Pryp'jat in der Sperrzone miterlebt. Olga W. sprach mit meinem Begleiter über den Alltag, ihre Rückenschmerzen, die Soljanka auf dem Herd, den Tod eines ihrer drei kleinen Hunde. Es war schwer für mich, mit Olga W. Kontakt aufzunehmen. Sie hatte nur meinen Begleiter aus Kiew erwartet, der ihr gelegentlich Decken und Wäsche bringt und Würste, die sie in ihre Soljanka schneidet. Olga W. geht gebeugt, sie trägt eine ausgebeulte Arbeitshose und große Pantoffeln. Olga W. spricht ukrainisch, nicht russisch. Es ist trotzdem möglich, über meinen Begleiter einige Sätze mit ihr zu wechseln. Olga W. erzählt, sie sei schon zu alt gewesen, um russisch zu lernen, als die sowjetischen Ingenieure in den siebziger Jahren unweit ihres Dorfes damit begannen, die Reaktoren zu bauen. Und sie sagt, dass sie hier immer gewesen ist und nicht weggehen wird, sie würde auf jeden Fall wiederkehren, falls sie nochmals vertrieben werden sollte.

Mir fiel Ernst Bloch ein, dessen utopischer Marxismus in den siebziger Jahren für meine Generation eine große Bedeutung hatte. Bloch hatte nach dem Ersten Weltkrieg eine Hoffnungsphilosophie begründet.59 Er hatte die Shoah im Exil überlebt, er war Zeuge geworden der Kriege und Völkermorde seiner Zeit, und er war bis zuletzt davon beseelt, den glänzenden Vorschein einer utopischen Zukunft aufzuspüren. Nach allen Katarakten der Geschichte werde die Menschheit in aufrechtem Gang dem Neuen Jerusalem entgegenschreiten, dem tausendjährigen Reich, das uns die Propheten des Alten Testaments und der Evangelist Johannes offenbart hatten. Bloch hatte den Hoffnungsglauben der Juden und Christen angereichert mit dem Geist des Materialismus.

  • 59 Vgl. Ernst Bloch: Der Geist der Utopie, Berlin 2018 [1919]; vgl. ders.: Das Prinzip Hoffnung, Frankfurt/M. 1985.


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 Die Naturwissenschaften und die Segnungen der Technik waren für Bloch die Instrumente, deren sich die Weltgeschichte auf dem Weg ins Reich der Freiheit bedient, und die Spaltung des Atoms war für Bloch, wie für alle Marxisten, eine Gnade der Geschichte, die Menschheit vom Joch der Arbeit zu befreien und in eine Welt des ewigen Friedens zu führen. Und so schwärmte Bloch in seinem enzyklopädischen Werk über »Das Prinzip Hoffnung« von »der blauen Atmosphäre des Friedens«, in der die Atomkraft »aus Wüsten Fruchtland, aus Eis Frühling« mache:

Einige Hundert Pfund Uranium und Thorium würden ausreichen, die Sahara und die Wüste Gobi verschwinden zu lassen, Sibirien und Nordkanada, Grönland und die Antarktis zur Riviera zu verwandeln.60

Blochs Utopie-Buch endet mit dem berühmten Satz:

Die Wurzel der Geschichte aber ist der arbeitende, schaffende, die Gegebenheiten umbildende und überholende Mensch. Hat er sich erfaßt und das Seine ohne Entäußerung und Entfremdung in realer Demokratie begründet, so entsteht in der Welt etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat.(61)

Ich hatte Bloch nicht persönlich kennengelernt, aber einige seiner Bücher gelesen und Vorträge gehört. Er zitierte zum Abschluss seiner Reden immer wieder diesen Satz mit lauter und pathetischer Stimme. Zuletzt fast blind, starrte er durch starke Brillengläser in das Auditorium, hob den Kopf, stach mit dem rechten Zeigefinger zweimal in die Luft, um den allesentscheidenden Doppelpunkt zu betonen und dann nach einem kurzen atemlosen Ritardando in stolzem Trotz das Wort »Heimat« auszustoßen.

Und nun, ein halbes Jahrhundert später, saß ich neben dem Kohlfeld von Olga W. in der toten Zone des geschmolzenen Reaktors Tschernobyl. So sieht sie also aus, die utopische Heimat, die allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war - das Neue Jerusalem, das uns die Kernspaltung geschenkt hat.

  • 60 Ernst Bloch: Das Prinzip Hoffnung, op. cit., S. 775.

  • 61 Ibid., S. 1628.


2-  Pryp'jat - eine Reise in die Zukunft

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Die Reaktoren des Tschernobyl-Komplexes sind lange stillgelegt, die Blöcke 5 und 6 wurden nicht mehr zuende gebaut. Der alte Kern des Reaktors 4, der durchgeschmolzen war, wurde mehrere Monate lang mit Beton zugeschüttet, um die Strahlung zu verringern. Verbaut wurden insgesamt circa 410.000 Kubikmeter Beton und 7.000 Tonnen Stahl. Dieser sogenannte »Sarkophag« begann schon nach kurzer Zeit zu havarieren; er wurde undicht, verstärkt trat wieder Strahlung aus, es drohte eine starke Kontamination des Grundwassers. Mit Hilfe der Europäischen Union wurde zuletzt eine neue Schutzhülle über dem havarierten Reaktorblock konstruiert. Die Strahlenabschirmung dieses sogenannten New Safe Confinements ist vergleichsweise gering - es wird trotzdem gebraucht, um die Arbeiten zur Sanierung des Reaktors zu erleichtern. Weiterhin liegen etwa 150 Tonnen verstrahltes, geschmolzenes Brennstoffmaterial im Innern des Sarkophags, das in etwa achtzig bis hundert Jahren sicher gelagert werden soll.

Nach der Kernschmelze im Reaktorblock 4 am 26. April 1986 wurde die Umgebung weiträumig abgesperrt. Die Sperrzone umfasst inzwischen ca. 3 500 km2 und überlagert Gebiete im Norden der Ukraine und im Süden Weißrusslands.62 Insgesamt mussten landwirtschaftliche Flächen und Waldgebiete in einer Größe von 6.400 km2 endgültig für eine menschliche Nutzung aufgegeben werden.

Kontaminiert wurden etwa vierzig Prozent der Gesamtfläche Europas. Betroffen waren Gebiete in der Ukraine, in Weißrussland, im Süden Russlands und in Finnland. Bis heute messbar sind Kontminationen in Schweden, Norwegen, Bulgarien, Rumänien, Polen, Deutschland und Österreich sowie an der Mittelmeerküste Nordafrikas und im äußersten Westen Russlands.

  • 62 Der stärkste Fallout an Cäsium traf ein Naturschutzgebiet im Südosten Weißrusslands. Das Gebiet grenzt an die Ukraine an und ist heute ein Sperrgebiet mit dem Namen »Polessisches Staatliches Radioökologisches Schutzgebiet«.


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Ein starker Fallout traf Regionen auf der Nordseite der Alpen, da hier in den Tagen nach dem 26. April 1986 ionisierte Partikel aus den Strahlenwolken durch Regen ausgewaschen wurden. In Deutschland wird die andauernde Strahlenbelastung weiterhin untersucht. Das Leitisotop Cäsium 137 hat eine Halbwertszeit von etwas über dreißig Jahren, ist also seit dem Tschernobyl-Unfall um etwa die Hälfte zerfallen. Es wird weiterhin nachgewiesen in wildwachsenden Pilzen im Bayerischen Wald und am Alpenrand. Für die fortdauernde Strahlenbelastung in Deutschland liegen relativ genaue Zahlen vor, weil Jagdpächter, die durch Tschernobyl verstrahltes Wild erlegt haben, dafür entschädigt werden.(63) Die Strahlenbelastung von Wildbret, insbesondere von Wildschweinen, übersteigt die zulässigen Verzehrgrenzwerte teilweise um mehr als das Zehnfache. Besonders betroffen sind höhere Regionen in südlichen Mittelgebirgen und im Alpenvorland. Aus welchen Gründen die Zahl der erlegten und verstrahlten Wildschweine in den letzten Jahren zugenommen hat, ist noch ungeklärt.

Seit der Evakuierung im Mai 1986 ist der Aufenthalt in der toten Zone verboten. Ausgenommen sind wenige Fachleute, die zur Minimierung der Strahlenexposition nur zeitweise in der verbotenen Zone arbeiten können. Das Betreten ist mit einer Sondererlaubnis gestattet. Wegen der Strahlenbelastung ist die Besuchszeit auf einige Stunden beschränkt. Beim Betreten der Sperrzone erfolgen zunächst eine Kontrolle und danach die Ausstattung mit einem Geigerzähler, beim Verlassen der Sperrzone wird gemessen, ob eine Kontamination erfolgt ist.

Innerhalb der toten Zone bestehen die wenigen Straßen im Wesentlichen aus großen Betonplatten. Die Geigerzähler an unseren Körpern zeigen in etwa vier Kilometern Entfernung vom Reaktor keine erhöhte Strahlung an, auch nicht die Betonplatten.


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Mein Begleiter legt einen Geigerzähler auf den Waldboden neben der Straße; die angezeigte ionisierende Exposition aus dem Fallout ist ca. zehnmal so hoch - sie bleibt in der Biosphäre, im Boden und im Wasser, über Jahrhunderte gespeichert.

Im Zentrum der toten Zone erreichen wir die verlassene Stadt Pryp'jat. Sie wurde ab 1970 als Retortenstadt errichtet für die Ingenieure und Facharbeiter der Reaktoren von Tschernobyl. In Pryp'jat lebten vor allem junge Familien. Das Durchschnittsalter betrug zum Zeitpunkt der Havarie 26 Jahre. Bis zum April 1986 waren in Pryp'jat bereits ca. 44 000 Menschen angesiedelt worden. Nach der Schmelze des Reaktorkerns erfuhren die Menschen in Pryp'jat nichts von der Gefahr ihrer Verstrahlung. Am Morgen des 27. April 1986 wurden sie durch Lautsprecher aufgefordert, sich um 14:00 Uhr zu einem Abtransport bereitzuhalten; Gepäck durfte nicht mitgenommen werden, da die Evakuierung nur wenige Tage dauern würde. Es fuhren 1200 Militärbusse vor, am Abend war Pryp'jat für immer von Menschen verlassen.

Ich war in Pryp'jat mehrere Stunden alleine. Man geht in einen Kindergarten und sieht dort die Schnuller und Bilderbücher der Kinder, die Bänke in der Schule sind unberührt, auch die aufgeschlagenen Lehrbücher in russischer Sprache. In den Wohnhäusern findet man halb ausgetrunkene Flaschen, gefüllte Kleiderschränke, alte Schuhe und Koffer. Es gibt ein zentrales Theater, in dem noch alle Reliquien zur Feier des 1. Mai 1986 herumstehen: die sowjetischen Fahnen, die großen, farbigen Bilder der Repräsentanten der Sowjetunion und ihrer kommunistischen Partei. Und dann steht am Ortsrand auf dem kleinen Vergnügungspark ein neugebautes Riesenrad, das am 1. Mai 1986 zu den Feiern des Kampftags der Arbeiterklasse eingeweiht werden sollte. Man kann die Straßen ablaufen mit den verlassenen Plattenbauten, die Straße der Völkerfreundschaft, die Straße der Enthusiasten, die Hydroprojektstraße, die Leninallee, die Allee der Bauarbeiter, die Straße der Helden Stalingrads und die Straße der Ukrainischen Wälder.


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In das Krankenhaus von Pryp'jat waren in den ersten Tagen nach der Kernschmelze immer mehr Menschen eingeliefert worden, die aufgrund ihrer Strahlenbelastung schwer erkrankt waren und schließlich nach kurzer Zeit starben. Es waren nicht Bewohner von Pryp'jat, sondern Soldaten, die nach der Kernschmelze als »Liquidatoren« eingesetzt wurden. Die Filmaufnahmen zeigen, wie sie auf den Resten des Dachs über dem geschmolzenen Kern rennen, um der Verstrahlung zu entgehen, in den Händen die Brocken des herausgeschleuderten, glühenden Graphiterzes.

Die meisten der »Liquidatoren« erlitten bereits nach wenigen Tagen die gleichen leukämischen Symptome wie die Opfer in Hiroshima und Nagasaki und starben am Verbluten ihrer inneren Organe. Insgesamt wurden zwischen April 1986 und Ende 1987 ca. 800 000 überwiegend junge Soldaten der sowjetischen Armee, die meisten Ukrainer, als Liquidatoren eingesetzt. Statistiken über die Zahl der Erkrankten und Verstorbenen besagen, dass etwa 300.000 bis 350.000 der jungen Liquidatoren in den folgenden Jahren gestorben sind, und es kann angenommen werden, dass die meisten von ihnen Opfer der enorm hohen Strahlen­belastung des Reaktors 4 in den Wochen und Monaten nach der Kernschmelze wurden.

In der toten Zone von Tschernobyl wurde ihnen ein Denkmal gesetzt. Es gibt ergreifende Zeugnisse ihres Sterbens. Die Soldaten waren in Krankenhäuser nach Moskau verlegt worden, sie konnten nicht mehr ernährt werden, nach wenigen Tagen verfärbte sich ihre Haut, es gab keine Hoffnung. Einigen Frauen aus Pryp'jat war es gelungen, zu deren Krankenbetten vorzudringen:

Anstelle der üblichen Trostworte sagte ein Arzt nun zu der Frau eines sterbenden Mannes: »Nicht nahe herangehen! Nicht küssen! Nicht streicheln! Das ist nicht mehr der geliebte Mensch, es ist ein verseuchtes Objekt.« Dagegen verblasst selbst Shakespeare. Und der große Dante. Das ist die Frage: Zu ihm gehen oder nicht? Küssen oder nicht küssen? Eine meiner Interviewpartnerinnen (sie war schwanger) ging zu ihrem Mann und küsste ihn, ließ ihn bis zu seinem Tod nicht im Stich.


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Dafür bezahlte sie mit ihrer Gesundheit und mit dem Leben ihres Kindes. Aber wie sollte sie wählen zwischen Liebe und Tod? Zwischen Vergangenheit und unbekannter Gegenwart? Und wer würde es wagen, die Frauen und Mütter zu verurteilen, die nicht bei ihren sterbenden Männern und Söhnen saßen? Bei radioaktiv verseuchten Objekten. In ihrer Welt veränderte sich auch die Liebe. Und der Tod.64

Die Sprache der Chronistin ist fragmentarisch, atemlos, ohne Reflexion. Große Literatur über das Leiden der Menschen kennt kein Pathos. Fjodor Dostojewski, Arthur Koestler, Alexander Solschenizyn, Primo Levi, Warlam Schalamow:(65) Sie waren Opfer, Zeugen, sie haben alles gesehen, die Lager, die Folterzellen, das Leiden der Menschen - und sie haben gelitten. Die dichterische Hand hat alles abgeräumt, was den Blick auf das wirkliche Leiden und Sterben verklärt. Zu Recht wurde Swetlana Alexijewitsch im Jahre 2015 der Nobelpreis für Literatur verliehen.

Acht Tage nach der Kernschmelze wurde auch das Krankenhaus von Pryp'jat evakuiert. Nichts ist seitdem verändert worden. Man sieht Krankenbetten, Bücher und Briefe der abtransportierten Patienten, Kinderspielzeug etc. Das Strahlenmessgerät zeigt in der Luft eine erhöhte Dosis an. Im unteren Geschoss des Krankenhauses befanden sich die Waschräume und Duschen. Ich kann in diese Räume hineinsehen, betreten darf sie nur mein Begleiter mit einer Strahlenschutzmaske. Die Kontaminierung in dem Untergeschoss ist erheblich höher als in den oberen Etagen. Der Radiologe hält das Gerät an Stiefel und Hosen, die die kranken Soldaten zurückgelassen hatten.

  • 64 Swetlana Alexijewitsch: Tschernobyl, op. cit., S. 49 f.

  • 65 Vgl. z. B. Fjodor Michailowitsch Dostojewski: Aufzeichnungen aus einem Totenhaus, Berlin 2015; Arthur Koestler: Sonnenfinsternis, London 1946; Alexander Solschenizyn: Der Archipel Gulag, Frankfurt/M. 2008; Imre Kertesz: Roman eines Schicksallosen, Reinbek 2006; Primo Levi: Ist das ein Mensch?, München 2006; Julius Margolin: Reise in das Land der Lager, Berlin 2013; Wilfried F. Schoeller: Leben oder Schreiben. Der Erzähler Warlam Schalamow, Berlin 2013; Leon W. Wells: Ein Sohn Hiobs, München / Wien 1979.


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Das Ticken des Geigerzählers nimmt derart zu, dass die Signale nicht mehr zu unterscheiden sind; die Strahlenbelastung der Lederstiefel ist etwa hundertfach höher als die der Luft. Noch Jahrzehnte nach der Verstrahlung der Menschen, die diese Kleidung trugen, ist die Kontamination nicht signifikant zerfallen. Es ist nichts zu hören, zu sehen und zu riechen. Eine Lichtquelle, die man mit der ionisierenden Strahlung dieser Stiefel betreiben würde, hätte etwa die Energie von zweihundert bis dreihundert Watt. Würde man die Strahlen in akustische Signale übertragen, wäre der Lärm ohrenbetäubend.

Es gibt auf der Erde einige Orte, die von ihren Bewohnern innerhalb kürzester Zeit verlassen werden mussten und seither in ihrem Status quo ante konserviert sind. Diese Orte konfrontieren ihre heutigen Besucher mit der Erfahrung vergangener Katastrophen. Über diese sind die Jahrhunderte hinweggegangen, bevor die Archäologen sie freigelegt haben. Die Tempel in Oberägypten, die Ausgrabungen von Knossos, die Pyramiden von Yucatan sagen uns viel über die Menschen und Kulturen, die sie erschaffen haben. Aber wir sprechen hier von Orten, die durch katastrophale Ereignisse innerhalb weniger Stunden oder Tage untergingen und seither in diesem Zustand unberührt blieben.

Pompeii und Herculaneum wurden im Jahre 79 n.Chr. unter der Asche eines Ausbruchs des Vesuvs begraben. Es waren kleine, wohlhabende Städte im Golf von Neapel zum Ende des Aetas aurea, des Goldenen Zeitalters Roms. Die Ausgrabungen legten im 19. Jahrhundert die Städte so frei, wie sie von den Bewohnern verlassen worden waren. Im Archäologischen Nationalmuseum Neapel finden sich die Abgüsse der menschlichen Körper, die unter den heißen Staubmassen begraben wurden, viele verkrampft, in embryonalen Stellungen, Mütter, die ihre Kinder im Sterben an sich drücken.

Ich hatte vor vielen Jahren Borobudur besucht in Zentral-Java, einem Vulkangebiet, in dem die britischen Kolonialherren im 19. Jahrhundert unter dicken Lavaablagerungen einen buddhistischen Tempel ausgruben, der im 8. Jahrhundert errichtet worden war.


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Dass Borobudur noch existiert und nach tausend Jahren wieder vor uns steht, ist dem Ausbruch des Vulkans Merapi geschuldet, der den Tempel etwa zweihundert Jahre nach seiner Errichtung verschüttete und mit ihm auch seine Erinnerung begrub. Das Volk Javas war seit dem 15. Jahrhundert unter die Herrschaft des Islam gekommen, der die religiösen Stätten der Hindi und der Buddhisten weitgehend zerstörte. Borobudur entging diesem Schicksal, der verschüttete Tempel wurde von der tropischen Vegetation überwuchert und aus dem Gedächtnis der Menschen gelöscht.

Pryp'jat ist nicht Pompeii oder Borobudur. Es ist anders, mehr. Pryp'jat ist beschrieben worden als Ghosttown, als »Gespensterstadt«, eine »Mahnung« an kommende Generationen. »Mahnungen« haben etwas Moralisches, Gespenster etwas Menschliches. Aber hier gibt es keine Moral, es gibt keine Gespenster, es ist nichts menschlich, und es ist nichts unmenschlich. Pryp'jat ist verlassen und wird nie mehr von Menschen bewohnt werden. Pompeii führt uns in die Vergangenheit zurück, in Pryp'jat reisen wir mit einer Zeitmaschine in die Zukunft. Dieser Ort antizipiert den Zustand der Erde nach einem Atomkrieg.

 

   3-  Tschernobyl / DUGA / Perwomaisk - die Vernichtung Europas in drei Stunden  

 

Die Geschichte der Tschernobyl-Reaktoren ist - wie die gesamte Geschichte der Kernspaltung - von Anfang an eine Geschichte des Krieges. Ende der sechziger Jahre bestimmte die Sowjetunion zwei Orte am westlichen Rand des Landes zur Errichtung eines Raketenabwehrsystems: Tschernobyl an der Grenze zwischen der Ukraine und Weißrussland und Perwomaisk im Südwesten der Ukraine.

In der Nähe von Tschernobyl, am Rande der Pryp'jat-Sümpfe, wurde das riesige System eines Überhorizont-Radars errichtet. Wer heute in die tote Zone Tschernobyls fährt, sieht von Ferne ein gigantisches Konstrukt aus sechzig Stahlmasten mit


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einer Höhe von 140 Metern und einer Länge von sechshundert Metern. An jedem der sechzig Stahlmasten sind 44 Metallbojen befestigt für Radarsensoren. Dies ist das Radarsystem DU-GA1, das größte Radarsystem, das je gebaut wurde. Die hohe Sendeleistung der DUGA-Anlagen sowie ihre Pulsfrequenz ließen eine Entdeckungsreichweite von 10.000 Kilometern zu. Die DUGA 1 hatte einen immensen Stromverbrauch, der bei Volllastbetrieb 1200 bis 1500 Megawatt betragen haben soll, also mehr als die gesamte Leistung eines Nuklearreaktors. Aus Sicherheitsgründen musste die DUGA 1 durch ortsnahe Reaktoren mit Strom versorgt werden. Dies war der Grund für die Auswahl des Standorts der Tschernobyl-Reaktoren. Der Tschernobyl-Komplex war eines der größten Investitionsprojekte in der Spätzeit der Sowjetunion. Unter ungeheurem Aufwand wurde in den siebziger und achtziger Jahren das militärische Großprojekt DUGA 1 errichtet und der Bau von insgesamt sechs Nuklearreaktoren vorangetrieben. Die Gesamtkosten des Projekts sollen umgerechnet ca. fünfzehn bis zwanzig Milliarden Euro betragen haben.(66)

Perwomaisk, eine Abschussbasis für Atomraketen, liegt etwa auf halbem Weg zwischen Odessa und Kiew. Die Luftbilder aus dem Jahre 1990 zeigen verstepptes Land, ein paar verstreute kleine Häuser und einige Kilometer entfernt die kleine Stadt Perwomaisk. Nichts weist darauf hin, dass hier die größte unterirdische Anlage zum Abschuss nuklearer Raketen der UdSSR lag. Als sich die Sowjetunion auflöste, war es möglich, diese Photos zu sehen, die den Ort so zeigen, wie er während des gesamten Kalten Krieges dagelegen hat. Die Tarnung als Wetterstation war perfekt. Es gibt keinen Hinweis darauf, dass Aufklärungsflugzeuge der USA den Ort jemals lokalisiert haben. Auf den Satellitenbildern, die in der Spätzeit der Sowjetunion von den Großmächten zunehmend zu Spionagezwecken genutzt wurden, ist nichts zu sehen als ein paar Häuser. Heute fallen zuerst einige Missiles ins Auge, die das sowjetische Militär nach dem Abzug Anfang der neunziger Jahre zurückgelassen hatte.


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Einige sind haushoch, es sind die Trägerraketen zum interkontinentalen Transport nuklearer Sprengköpfe aus den letzten Jahren des Kalten Krieges. Auf allen Missiles sind das Baujahr und der Raketentypus verzeichnet. Als die Anlage eingerichtet wurde, hielt sie zunächst Mittelstreckenraketen zum innereuropäischen Einsatz bereit, später kamen Interkontinentalraketen hinzu, die zielgenau jeden Punkt der Erde erreichen und zerstören konnten.

Das Kommandozentrum der Station ist heute in dem Zustand zu besichtigen, wie es das russische Militär im Jahre 1991 verlassen hat. Durch einen getarnten Deckel betritt man eine komplette unterirdische Kommando­station, die in einem zylindrischen Silo aufgehängt ist. Der Durchmesser des Zylinders beträgt etwa zehn Meter. Die Station besteht aus zwölf Etagen, in denen sich Technik und die Arbeits- und Schlafplätze der Ingenieure und Militärs befanden. Sechs Offiziere mussten im Schichtdienst Tag und Nacht bereit sein, einen Abschuss der Nuklearraketen auszulösen.

Der gesamte Zylinder hängt in dem Silo an groß dimensionierten Spiralfedern. Die Kommandostation hat keine unmittelbare Berührung zur Erdoberfläche und zu den Wänden des Silos. Ziel war es, die Station vor einem nuklearen Angriff zu schützen. Die Aufhängung war dazu bestimmt, eine unterirdische Energiefreisetzung der Größe zwölf auf der Magnitudenskala Richters abzufedern, so dass die Station weiterhin in der Lage sein sollte, Raketen abzufeuern. Die Deckel an den Einstiegen der Station sind über einen Meter dick und bestehen aus Stahl, Blei und Beton und mussten einer Verstrahlung der Besatzung für mindestens vierzig Tage widerstehen.

Die zwölf Etagen innerhalb des hängenden Zylinders sind durch Leitern miteinander verbunden. Alle Räume sind rund, die Fläche beträgt ca. 15 Quadratmeter. Auf der untersten in etwa 45 Metern Tiefe befindet sich der Ruheraum mit drei Schlafkojen, einer Toilette und einer kleinen Küche mit einem Samowar, auf der zweituntersten der Kommandostand. Die Operatoren saßen an zwei einander gegenüberliegenden Computern, die in unregelmäßigen Abständen Signale, Zeichen, Kodierungen etc. abgaben, auf die sie jeweils reagieren mussten.


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Das Ziel dieses Systems war, Tag und Nacht eine redundante Bereitschaft der Station sicherzustellen. Im Falle einer erhöhten Alarmstufe waren zwei rote Knöpfe zu betätigen, die so weit auseinanderlagen, dass sie nur von beiden Operatoren gleichzeitig bedient werden konnten.

Ich wurde geführt von dem letzten Kommandanten der Anlage, ukrainischer Staatsbürger und früherer Major der Sowjetarmee. Auf einem großen Display sind die zehn Silos zu sehen, in denen die Raketen einsatzbereit gehalten wurden. Die Ziele der Raketen waren programmiert - sie waren für den Kommandanten zwar nicht zu erkennen, doch er weiß, dass die Ziele während der letzten Jahre der UdSSR nicht geändert wurden. Natürlich will ich mehr über die Ziele wissen. Der Kommandant zieht die Augenbrauen hoch, die Übersetzerin auch. Ich sage »Pentagon«, »Büchel« - Pentagon ist ihm ein Begriff, Büchel nicht. Ich tippe auf Bitburg, den Flughafen der US Air Force unweit von Büchel - den Namen hat er schon einmal gehört.67 Ich denke, er wollte uns mitteilen, dass es sich um militärische Ziele handelte, die der Mittelstreckenraketen in Westeuropa und die der interkontinentalen Raketen an der Ostküste der USA.

Der ehemalige Kommandant erklärt, dass bis zur endgültigen Freigabe des Abschusses etwa fünf bis zehn Codes zu checken waren. In unregelmäßigen Abständen trafen Codes aus Moskau ein, und die Station musste hierauf reagieren, um ihre Einsatzbereitschaft anzuzeigen. Nach dem Durchlaufen sämtlicher Codierungen wäre es die Aufgabe des Kommandanten gewesen, zum Roten Telefon zu greifen, um einen letzten Code der Anweisung zum Abschuss bestimmter Raketen zu erhalten. Der gesamte Ablauf vom Beginn der ersten Codierung bis zur ultimativen Anweisung durch das Rote Telefon durfte im Ernstfall nicht mehr als 15 Minuten dauern - das entsprach der Vorwarnzeit, berechnet von der Ortung einer gegnerischen Nuklearrakete durch die eigene Radarabwehr bis zu der nuklearen Detonation auf dem Gebiet der Sowjetunion.


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Technisch konnten die Raketen von Perwomaisk ausschließlich von der Zentrale dieser Basis abgeschossen werden. Das Rote Telefon diente dazu, nach dem Durchlauf aller codierten Signale vom Vorsitzenden des Präsidiums des Obersten Sowjets den Code für die ultimative digitale Anweisung zum Abschuss der Raketen zu erhalten. Dieser ultimative Code war in der Zentrale in einem gesonderten Safe niedergelegt. Stimmte die telefonische Anweisung mit dem gesicherten Code überein, wurden die einsatzbereiten Raketen abgefeuert. Es gab differenzierte Codes für einzelne Raketen mit unterschiedlichen Zielen. Das DUGA-System verlängerte die Vorwarnzeit auf etwa dreißig bis vierzig Minuten. Registrierte die DUGA das Signal einer Rakete im Anflug auf die Sowjetunion, wurden sowohl die Regierung als auch die Abschussstation in Perwomaisk in Alarm­bereitschaft versetzt. Dann begann das Codierungsprogramm, das mit der abschließenden und endgültigen Entscheidung des Kremls über die Freigabe der letzten Codierung und deren Abgleich in der Kommandozentrale entschied. Nach dem Befehl zum Abschuss der Raketen war alles irreversibel. Der Kommandant erklärte, dass es Einrichtungen zur Selbstzerstörung einmal abgeschossener Raketen damals nicht gab; außerdem hätte kein Anlass bestanden, die einmal getroffene Entscheidung innerhalb der wenigen Minuten bis zum Zieleinschlag zu revozieren. Insgesamt hätte ein nuklearer Schlagabtausch zwischen den USA und der Sowjetunion von der ersten Entscheidung zum Abschuss einer nuklear bestückten Rakete bis zur gegenseitigen Vernichtung etwa drei Stunden gedauert.

 

  4-  Die ewige Verstrahlung  

 

In Deutschland sind die Auswirkungen der ewigen Strahlenkontamination seit den großen Demonstrationen der siebziger, achtziger und neunziger Jahre gegen den Betrieb nuklearer Reaktoren weitgehend bekannt. Die Atomreaktoren werden nach ihrer Stilllegung einige Jahrzehnte lang Strom geliefert haben.(68) Es bleiben die kontaminierten Anlagen und die für immer verstrahlten nuklearen Abfälle.

  • 68 Der erste Reaktor bei Würgassen nahm den Leistungsbetrieb im Jahre 1966 auf, der letzte Reaktor soll im Jahr 2025 stillgelegt werden.


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Die Kontamination der Anlagen lässt sich an zwei Mahnmalen ablesen. Der »Schnelle Brüter« Kalkar war eines dieser Projekte, mit dem die gesamte etablierte Politik die euphorisierten Phantasien grenzenloser Energie­erzeugung durch die Spaltung des Atoms befriedigte; die staatlichen Subventionen waren enorm, obwohl es sich um einen Reaktor der privaten Energieversorger handelte. Den Gegnern des »Schnellen Brüters« war es nach einem langen Kampf schließlich gelungen, den Betrieb des weitgehend fertiggestellten Reaktors zu verhindern.69 Es kam mithin auch zu keiner Kontamination, so dass die Anlagen heute risikolos als Vergnügungspark genutzt werden können.

Anders der Reaktor Mülheim-Kärlich, der im mittleren Rheintal unweit von Koblenz am Rande der Vulkaneifel auf der Bruchrinne einer tektonischen Verwerfung errichtet worden war und schließlich stillgelegt werden musste.70 Der besondere Unterschied liegt darin, dass Mülheim-Kärlich vor der Stilllegung einigen Testläufen unterzogen wurde, so dass das gesamte Reaktordruckgehäuse, der Reaktorkern und das Containment kontaminiert wurden. Endgültig stillgelegt wurde der Reaktor im Jahre 1988. Von diesem Zeitpunkt an gerechnet wird der Abriss der Reaktoranlagen etwa ein halbes Jahrhundert dauern, ca. drei bis vier Milliarden Euro kosten und damit erheblich teurer sein als deren Errichtung.71

Besonders verstrahlte Teile des Reaktors sowie große bauliche Anlagen des Reaktordruckbehälters werden auf unbegrenzte Zeit weiter strahlen und - sollte es irgendwann einmal dazu kommen - im nächsten Jahrhundert in ein unterirdisches Endlager verbracht werden.


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Erheblich gefährlicher ist die ionisierende Strahlung der hochaktiven und hitzeentwickelnden nuklearen Abfälle, der abgebrannten Brennelemente und der Spaltprodukte aus der sogenannten Wiederaufarbeitung. Es war von Anfang an bekannt, dass neben dem Risiko einer Kernschmelze während des etwa vierzigjährigen Betriebs eines Reaktors jedenfalls die Jahrhunderte oder Jahrtausende anhaltende ionisierende Strahlung der abgebrannten Brennelemente und der Spaltprodukte unbeherrschbar ist. Zur Ruhigstellung der Proteste in den siebziger Jahren wurde politisch erklärt, dass die Atomreaktoren nur weiter betrieben werden dürften, wenn der Verschluss der hochaktiven Abfälle in einem unterirdischen Endlager in Deutschland gesichert ist.

Durchsichtig diente dieser sogenannte »Entsorgungsnachweis« einzig dazu, den unbegrenzten Weiterbetrieb alter und die Inbetriebnahme neuer Reaktoren zu ermöglichen. Bis heute haben selbst Länder mit immensen Wüsten­gebieten wie die USA Russland und China keinen Weg zu einer gesicherten Endlagerung ihrer nuklearen Abfälle gefunden; umso weniger ist dies in einem dicht besiedelten Land wie Deutschland möglich. Politisch wurde dieses Problem dergestalt gelöst, dass der Betrieb eines Endlagers ersetzt wurde durch die Planung eines Endlagers.(72)

  • (72) In der juristischen Terminologie wurde der »Entsorgungsnachweis« stillschweigend umgetauft in einen »Entsorgungsvorsorgenachweis«.

Vorgestellt wurde im Jahre 1977 ein Salzstock bei Gorleben, einem damals abgelegenen und wenig besiedelten Teil Niedersachsen an der Grenze zur DDR; der Ausbau sollte zügig beginnen und nach spätestens 14 Jahren - also im Jahre 1992 - die nuklearen Abfälle sicher für alle Zukunft endlagern. Je mehr Abfälle die Atomkraftwerke produzierten, desto weiter wurde die Endlagerung verschoben. Aus den 14 Jahren sind inzwischen über hundert Jahre geworden. Es ist zweifelhaft, ob die hochaktiven Abfälle jemals unterirdisch gelagert werden können.

Die Abfälle werden also weiterhin überirdisch gelagert. Vor terroristischen Anschlägen sollen sie geschützt werden durch massive Metallmäntel (die sogenannten Castor-Behälter). Deren Wirksamkeit ist im Rahmen gerichtlicher Verfahren in den letzten Jahren intensiv untersucht worden. Das Ergebnis ist, dass keines der in Deutschland existierenden Castor-Lager gegen gezielte Anschläge wie etwa terroristische Flugzeugabstürze ausgelegt ist oder auch nur ausgelegt werden kann. Die Menge der überirdisch gelagerten hochaktiven Abfälle nimmt in Deutschland weiter zu: Die Atomkraftwerke werden noch viele Jahre arbeiten und abgebrannte Brenn­elemente produzieren. Darüber hinaus muss die Bundesrepublik aufgrund völkerrechtlicher Verträge in erheblichem Umfang hochaktive Abfälle und flüssige Spaltprodukte aus der Wiederaufarbeitung im Ausland - insbesondere in Frankreich - zurücknehmen. Die Menge der in den kommenden Jahren in Deutschland anfallenden nuklearen Abfälle aus dem Betrieb der Reaktoren und den Prozessen der Wiederaufarbeitung wird schließlich über 8500 Tonnen betragen.

Die Strahlung der abgebrannten Brennstoffe und der Spaltprodukte wird in den nächsten Jahrhunderten nicht signifikant abnehmen. Das Isotop Plutonium, das hoch toxisch ist und zur Produktion von Nuklearwaffen dient, hat eine Halbwertzeit von 24.000 Jahren. Die zeitliche Dimension der Strahlenrisiken lässt sich daran ermessen, dass die Pläne zur Endlagerung der hochaktiven Abfälle auf einen Zeitraum ausgelegt sind, der die zyklischen Phasen künftiger Eiszeitalter umfasst. Die unterirdische Cavernierung soll dergestalt dokumentiert werden, dass die strahlenden Abfälle auch in etwa 100.000 oder 200.000 Jahren auffindbar wären - wenn es dann noch Menschen auf der Erde gäbe.

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