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   Teil 3    Dumpfes Verstummen — die deutsche Philosophie in der Endzeit - Eine Polemik  

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detopia-2024:
Dreitzel schreibt zwar "Polemik unerheblich", aber für mich (als Ostler) ist manches neu.
Außerdem beeindruckt es, wenn R.G. sich über vieles äußert: Musik, Philosophie (alte und moderne), usw.


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Prolog

  • Die deutsche Philosophie behauptet seit jeher, dass die Wirklichkeit eine des Geistes sei und der Vernunft. Ihre Aufgabe war, über dem Jammertal der deutschen Geschichte den Heiligenschein der Aufklärung und der Humanität leuchten zu lassen. Am Vorabend des Ersten Weltkriegs begründet Friedrich Nietzsche eine Philosophie der Empathie mit dem realen Leiden der Kreatur.

  • Martin Heidegger markiert den Niedergang der deutschen Intelligenz im 20. Jahrhundert. Heideggers »Sein« ist die absolute Verneinung des Lebens und führte konsequent zur Verherrlichung des Hitlerstaates. Der Anteil der Philosophie Heideggers an der Shoa und den Vernichtungskriegen ist der Tiefpunkt. Nach dem Tod des Führers bricht für Heidegger die »Weltnacht« an, die Endzeit: Der Nuklearkrieg hat keine Bedeutung, nichts ist mehr wert zu existieren.

  • In der Endzeit hat die deutsche Philosophie jede Gravitation verloren. Geblieben ist ein dumpfer Cocon, in dem hunderte Staatsdiener selbstreferentiell Phantomdiskussion führen: Untote, die nicht einmal Phantomschmerzen spüren. Ihr Spiegel ist der Modephilosoph Peter Sloterdijk. Hinter der pathetischen Sprache und dem narzisstischen Auftritt steckt ein Blender, das Denken ist heruntergekommen zu dem Versuch, die politische Rechte wieder zu legitimieren.

  • Unbeirrt hält der letzte deutsche Philosoph, Jürgen Habermas, fest an dem Hegelschen Vernunftprogramm, wenn auch die Eule der Minerva - Hegels Metapher für die Klugheit des Weltgeistes - inzwischen dem Artensterben zum Opfer gefallen ist. Aber Habermas hat bis zuletzt den Geist der Empathie bewahrt. Das ist nichts Geringes.


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I   Vom tausendjährigen Reich zur nuklearen »Weltnacht« - Martin Heidegger, der erste Philosoph der Endzeit

( Heidegger )

1  Die »vielberedete Atombombe«

Als ich Mitte der sechziger Jahre begann, in Freiburg Philosophie zu studieren, lag über der Fakultät die dunkle Aura des Philosophen Martin Heidegger. Im Vorlesungsverzeichnis stand der Name des Emeritus an erster Stelle. Wenn im philosophischen Seminar einer berichtete, er sei vor kurzem von Heidegger empfangen worden, senkte er die Stimme, alle schwiegen, als wäre von etwas Unsagbarem die Rede. Es hieß, Heidegger sei noch immer gekränkt, weil die Sieger des Krieges ihm damals Bezüge gekürzt und Auftritte verwehrt hatten.

Im philosophischen Seminar kursierten zwei Bücher von Guido Schneeberger, einem Jaspers-Schüler, der die Nazizeit in der Schweiz überlebt hatte. Schneeberger hatte in der dumpfen Stimmung jener Zeit begonnen, »Heideggeriana« zu veröffentlichen,(1) Texte aus der Freiburger Rektoratszeit Heideggers der Jahre 1933 und 1934. Schneeberger hatte für seine »Heideggeriana« in Deutschland keinen Verleger gefunden, die Texte erschienen im Selbstverlag in Bern. Schneebergers Bücher waren in der Bibliothek der philosophischen Fakultät kartographiert, aber verschwunden.

In der Fakultät der Philosophen war Heidegger wie ein Gespenst, unsichtbar und omnipräsent, ein brauner Schatten. Ich kannte diese Stimmungen aus meiner Jugend in einer katholischen Kleinstadt, der ich gerade entflohen war. Zudem hatte ich in meinen ersten Semestern ein Zimmer gemietet in dem kleinen Vorort Zähringen. Mein kurzer Weg von den »Weihermatten« zur Straßenbahn führte vorbei am Rötebuckweg; hier, im Haus Nr. 47, wohnte Martin Heidegger.

1 - Vgl. Guido Schneeberger: Ergänzungen zu einer Heidegger-Bibliographie, Bern 1960; sowie ders.: Nachlese zu Heidegger. Dokumente zu seinem Leben und Denken, Bern 1962.


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Als während meines ersten Semesters die Redaktion der »Freiburger Studentenzeitung« verwaiste, ließ ich mich zu deren Chefredakteur wählen und begann mit meinen Recherchen zu Martin Heidegger. Ich fand Exemplare der Freiburger Studentenzeitung und der NS-Parteizeitung »Der Alemanne. Kampfblatt der Nationalsozialisten Oberbadens«, aus der ich einen Artikel Heideggers aus dem Jahre 1933 wiederveröffentlichte.2 Heidegger hatte gerade einen zweiten Ruf an die Universität in Berlin erhalten, er saß in seiner »Hütte«, in Todtnauberg, und schrieb:

Bei einer solchen Gelegenheit ziehe ich mich aus der Stadt auf die Hütte zurück. Ich höre, was die Berge und die Wälder und die Bauernhöfe sagen.3

Und einige Absätze zuvor:

Wenn in tiefer Winternacht ein wilder Schneesturm mit seinen Stößen um die Hütte rast und alles verhängt und verhüllt, dann ist die hohe Zeit der Philosophie. Ihr Fragen muss dann einfach und wesentlich werden. Die Durcharbeitung jedes Gedankens kann nicht anders denn hart und scharf sein. Die Mühe der sprachlichen Prägung ist wie der Widerstand der ragenden Tannen gegen den Sturm.4

Mir war wichtig, neben dem Artikel ein Photo abzudrucken, das Heidegger als Rektor der Freiburger Universität im Jahre 1934 zeigt. Auf dem Bild stilisiert sich Heidegger wie sein großes Vorbild, der Führer: ernste Miene, stechender Blick, Hitlerbärtchen und auf der Brust das Hoheitszeichen des politischen Leiters der NSDAP als Rektor der Universität Freiburg; Heidegger hatte das Bild selbst aus seinem Privatarchiv für die Veröffent­lichung ausgewählt.(5)

2 Martin Heidegger: Warum bleiben wir in der Provinz?, in: Freiburger Studentenzeitung, Heft 6/1965, S. 25. Erstdruck in: Der Alemanne. Kampfblatt der Nationalsozialisten Oberbadens vom 07.03.1934, S. 1, zit. n.: Guido Schneeberger: Nachlese zu Heidegger, op. cit., S. 216-218. Der Artikel dürfte im November 1933 geschrieben worden sein, den zweiten Ruf nach Berlin hatte Heidegger bereits im Oktober 1933 abgelehnt.

3 Ibid., S. 218.

4 Ibid., S. 216.

5 Ibid., S. 192.


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Der Abdruck dieses Bildes führte zu einer Drohung des Rektorats, die nächste Ausgabe der Zeitung nicht mehr erscheinen lassen; der Chefredakteur musste zwar vom Studentenparlament gewählt werden, aber der Druck der Zeitung wurde von der Universität beauftragt. Und weil der Rektor Parteigenosse wesen war, ließ er mitteilen, dass der Abdruck verbotener Hoheitszeichen der Nazis - die von Heidegger stolz gezeigte Anstecknadel ließ noch ein Hakenkreuz erkennen - strafbar sei.

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Ich fand damals, dass die Aussagen in Heideggers Spätwerk zu Atomwaffen und Völkermorden interessanter waren als seine Verfehlungen in der Nazizeit. Die sechziger Jahre, das war die Zeit der nuklearen Aufrüstung der Großmächte und der Wiederbewaffnung der beiden deutschen Staaten. Die Adenauer-Regierung forderte ein Verfügungsrecht über die Nuklearwaffen der NATO. Die Menschheit hatte die Bilder gesehen aus Hiroshima und Nagasaki und wusste, dass es nunmehr Waffen gibt, die innerhalb weniger Sekunden ganze Städte vernichten können.

Heidegger hatte lange vor anderen Philosophen oder Intellektuellen Kenntnis von der Atomphysik, besonders von dem methodischen Prinzip der Kernspaltung. Er wusste von den Versuchen Hahns und Heisenbergs, durch Trennung der Isotopen eine immense Freisetzung von Energie zu schaffen. Mit Heisenberg hatte er tagelang auf der »Hütte« über die Spaltung des Kerns diskutiert.6

In den folgenden Jahren explizierte Heidegger das Wesen der <Atomphysik> aus den Metaphern des <Riesenhaften«> und <Riesigen>. Die Atomphysik ist bei Heidegger aber nur die letzte Stufe des »Riesigen«, das in der Technik und der Physik selbst begründet ist. Am 9. Juni 1938 hält Heidegger in Freiburg den Vortrag »Die Zeit des Weltbildes« und sagt:

6 Heidegger schreibt an seine Frau am 03.10.1935 aus der »Hütte«: »Der Feinste ist Heisenberg - er hätte eigentlich auf die Hütte gehört; er kommt aus der Jugendbewegung; klar, einfach, bescheiden und zurückhaltend, aber doch offen u. freundlich. H. blieb von sich aus noch länger als die anderen u. ich habe mit ihm noch einige schöne Stunden gehabt.« Gertrud Heidegger (Hg.): »Mein liebes Seelchen!«. Briefe Martin Heideggers an seine Frau Elfride 1915 bis 1970, München 2005, S. 189.

7 - Martin Heidegger: Die Zeit des Weltbildes, in: ders.: Holzwege, Frankfurt/M. 1980, S.92f.


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In der Maschinenanlage, die für die Physik zur Durchführung der Atomzertrümmerung nötig ist, steckt die ganze bisherige Physik.8

Am 29. Dezember 1946, zu Rilkes 20. Todestag, hält Heidegger einen Vortrag mit dem Titel »Wozu Dichter?« zu Hölderlins Vers »... und wozu Dichter in dürftiger Zeit?« aus der Elegie »Brod und Wein«:9

Nicht die vielberedete Atombombe ist als diese besondere Tötungsmaschinerie das Tödliche. [...] Das Wesen der Technik kommt nur langsam an den Tag. Dieser Tag ist die zum bloß technischen Tag umgefertigte Weltnacht. Dieser Tag ist der kürzeste Tag. Mit ihm droht ein einziger endloser Winter.'"

In den Nachkriegsjahren vollzieht sich im »Riesenhaften« ein grundlegender Paradigmenwechsel. Der Krieg ist verloren, der Führer tot, Heidegger darf keine Vorlesungen mehr halten, er erleidet einen Zusammenbruch und lässt sich einige Wochen in Badenweiler therapeutisch behandeln." Und Heidegger erlebt diese Jahre als Paralysierung des »Seins«, das seit den zwanziger Jahren den Kern seiner Philosophie gebildet hat.11' Das »Riesenhafte«, der Golem, das sind nunmehr die Siegermächte, die die Deutschen auslöschen wollen.

Verheerender als die Hitzewelle der Atombombe ist der »Geist« in der Gestalt des Weltjournalismus. Jene vernichtet, indem sie nur auslöscht; dieser vernichtet, indem er den Schein von Sein errichtet auf dem Scheingrund der unbedingten Wurzellosigkeit.13

8 Ibid., S. 82.

9 Wegen des Lehrverbots hielt Heidegger seinen Hölderlin-Vortrag in einem engen Kreis von Freunden und Schülern; der Vortrag wurde später in den »Holzwegen«, op. cit., S. 265 ff., veröffentlicht.

10 Martin Heidegger: Wozu Dichter?, op. cit., S. 290 f.

11 Vgl. hierzu Gertrud Heidegger (Hg.): »Mein liebes Seelchen!«, op. cit., S. 239; sowie Heideggers Briefe an seine Frau aus den Monaten Februar bis April 1946, ibid., S. 240-250.

12 Vgl. hierzu unten Teil 3, Kap. I 3.

13 Martin Heidegger: Gesamtausgabe Bd. 97. Anmerkungen I-V (Schwarze Hefte 1942-1948), Frankfurt/M. 2015, S. 154.


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Die »Atombombe« lasse »alles in Staub zerfallen, in dem sie selbst in die Vernichtung eingeht«, aber:

Die größte Zerstörungskraft eignet heute der Öffentlichkeit. Denn sie zerstört, indem sie den Anschein errichtet, als baue sich in ihr und durch sie eine Welt auf.14

Die Deutschen bedrohe eine viel schlimmere »Tötungsmaschine«, die mit »christlichen Phrasen und demokratischen Tiraden« daherkomme:

Man schnappt jetzt neugierig nach einer analytischen und journalistischen Zerfaserung des Phänomens der Atombombe; man weiß alle möglichen Hinsichten zusammenzutreiben, um diese Maschine, ihre Anwendung und Anwendungsmöglichkeit zu zerfasern und mit Glossen zu versehen. Man übersieht nur, daß aus dem selben Ursprung, dem jenes Instrument entstammt, noch weit unsichtbarer freilich, eine Tötungsmaschinerie an den Deutschen angesetzt ist, die, statt in einem Nu auszurotten, Elend und Qual dosiert und alles im Unauffälligen und Schleichenden hält und noch mit christlichen Phrasen und demokratischen Tiraden alles umschleiert.'5

Und schließlich fällt 1949 in einem der Bremer Vorträge folgender Satz:

Ackerbau ist jetzt motorisierte Ernährungsindustrie, im Wesen dasselbe wie die Fabrikation von Leichen in Gaskammern und Vernichtungslagern, dasselbe wie die Blockade und Aushungern von Ländern, dasselbe wie die Fabrikation von Wasserstoffbomben.16

14 Ibid.

15 Ibid., S. 151.

16 Martin Heidegger: Das Ge-Stell, in: ders.: Gesamtausgabe Bd. 79. Bremer und Freiburger Vorträge, Frankfurt/M. 1994, S. 27.


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2 — Eins mit dem Weltgeist - Martin Heidegger und der Nationalsozialismus

Die Empathieverachtung, mit der Heidegger nukleare Kriege und Völkermorde als banale technische Vorgänge bezeichnet, hat seinen tieferen Grund in dem historischen Zeitgeist, der seit Mitte des 19. Jahrhunderts die preußisch-deutsche Gesellschaft immer mehr beherrschte und schließlich in den Ersten Weltkrieg, die Zerstörung der Weimarer Republik und den Nationalsozialismus mündete. Heidegger war eins mit dem Geist seiner Zeit, in seinem philosophischen Denken wie in seinem praktischen Wirken.

Seit dem Jahr 1930 hatte sich Heidegger endgültig dem Nationalsozialismus und der NSDAP verschrieben. Der nunmehr veröffentlichte Briefwechsel Heideggers mit seinem fünf Jahre jüngeren Bruder Fritz ist für diese Phase in Heideggers Leben besonders aufschlussreich: Er versuchte den Bruder, der noch ein Anhänger der Weimarer Republik war, zu agitieren. Am 17. Dezember 1930 schickte Heidegger an ihn das Buch »Sperrfeuer um Deutschland« von Werner Beumelburg,1 einem rassistischen Blut-und-Boden-Dichter, der die Weimarer Republik hasste und die Errichtung eines »Frontsoldatenstaates« forderte zur Vorbereitung eines Revanchekrieges. Heidegger lobte »Sperrfeuer um Deutschland« mit folgenden Worten:

Ich schicke noch als Gabe unter den Weihnachtsbaum ein Buch über den Krieg mit, das über die heute erscheinende massenhafte Kriegsliteratur weit hinaus ragt, vor allem, weil es uns sehr zu denken gibt. Die Zeit der Einschränkung, des Opfers, der Einfachheit unseres heutigen Lebens wird erst noch kommen, und das sagt für uns Eltern, daß wir auch die Kinder in scharfe Zucht nehmen müssen, wenn wir sie für unsre Nation wirklich erziehen wollen.'8

17 Werner Beumelburg: Sperrfeuer um Deutschland, Oldenburg 1929.

18 Brief vom 17.12.1930, zit. n. Walter Homolka, Arnulf Heidegger (Hg.): Heidegger und der Antisemitismus. Positionen im Widerstreit, Freiburg 2016, S. 19.


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Der Brief schließt ab mit »den herzlichsten Grüßen und Wünschen Euch und den drei Buben«. Zu Weihnachten 1931 schickte er seinem Bruder und dessen »Buben« Hitlers »Mein Kampf«:

Daß dieser Mensch einen ungewöhnlichen und sicheren, politischen Instinkt hat und eben schon gehabt hat, wo wir alle noch benebelt waren, das darf kein Einsichtiger mehr bestreiten. Der nationalsozialistischen Bewegung werden künftig noch ganz andere Kräfte zuwachsen. Es geht nicht um kleine Parteipolitik mehr - sondern um Rettung oder Untergang Europas und der abendländischen Kultur. Wer das auch jetzt noch nicht begreift, der ist wert, im Chaos zerrieben zu werden.'9

Im März 1932 schickte Heidegger seinem Bruder ein weiteres Buch von Beumelburg, das soeben erschienen war: »Deutschland in Ketten«. Das Buch beschwört die Schmach des Ver-sailler Vertrages und das historische Recht der Deutschen, andere Völker zu unterwerfen. Beumelburgs Buch war während der gesamten Nazizeit ein Bestseller und wurde von 1931 bis 1942 in 24 Auflagen veröffentlicht. Heidegger schreibt an seinen Bruder:

Ich schicke Dir zum Namenstag ein neues Werk von Beumelburg »Deutschland in Ketten«; es behandelt die zehn Jahre 1919-1929/30. Man braucht nur einmal diese »Geschichte« Deutschlands mit klaren Augen zu sehen, um [zu] wissen, was es heute gilt. [...] Es gibt heute nur eine klare Linie, die rechts und links scharf trennt. Halbheit ist Verrat.20

Auf das Buch »Volk ohne Raum« von Hans Grimm21 war Heidegger durch die Lektüre des soeben erschienenen Werks von Alfred Rosenberg »Der Mythos des 20. Jahrhunderts« auf-

19 Brief vom 18.12.1931, zit. n. ibid., S. 22.

20 Zit. n. ibid., S. 26.

21 Vgl. Hans Grimm: Volk ohne Raum, Berlin 1926.

HO / Dumpfes Verstummen

merksam geworden.22 »Volk ohne Raum« beschreibt die Sehnsucht eines anständigen deutschen Arbeiters nach Acker und Lebensraum. Das Buch wurde bis Ende 1933 ca.220 000-mal verkauft, es wurde zum Schlachtruf des Deutschen Reichs für die Angriffskriege und Völkermorde im Osten Europas. Heidegger schreibt an seinen Bruder:

Kennst Du Hans Grimm, »Volk ohne Raum«, wer's noch nicht weiß, lernt hier, was Heimat ist und was Schicksal unseres Volks.23

Nachdem die NSDAP bei den Reichstagswahlen am 31. Juli 1932 ihren Stimmenanteil gegenüber der Wahl von Juli 1930 auf über 37 Prozent verdoppelt hat, ergreift Heidegger offen Partei für Hitler. Er schickt seinem Bruder »die neue Hitlerrede« mit dem Kommentar, jetzt müsse zu »Hitler gehalten werden«.24 Nach dessen Ernennung zum Reichskanzler am 30. Januar 1933 schlägt Heideggers Stunde. In den nächsten Wochen werden Hitlers Leute in Freiburg die Macht übernehmen, Juden und Oppositionelle verhaften oder ermorden, die ersten Konzentrationslager bauen und Martin Heidegger zum Rektor der Freiburger Universität ernennen. Am 10. März verfügt der von Hitler eingesetzte Reichskommissar für Baden ein Versammlungsverbot und lässt die Führer der SPD und der KPD verhaften. Am 16. März werden der Bürgermeister Josef Hölzl und der Stadtrat Franz Geiler im Rathaus festgenommen. Zwei Tage später, am 18. März, werden sämtliche Organisationen der SPD, der KPD und der Gewerkschaften mit sofortiger Wirkung aufgelöst, die Funktionäre in »Schutzhaft« genommen. Am 20. März richten die SA und die Gestapo das erste Konzentrationslager im Raum Württemberg ein, und zwar auf dem Truppenübungsplatz Heu-

22 Alfred Rosenberg: Der Mythos des 20. Jahrhunderts. Eine Wertung der seelischgeistigen Gestaltenkämpfe unserer Zeit, München 1930. Das Buch war die Grundlage für Rosenbergs Aufstieg zum »Chefideologen« Hitlers. Vgl. hierzu die umfassende Biographie von Ernst Piper: Alfred Rosenberg, op. cit., S. 163 ff.

23 Brief vom 02.03.1932, zit. n. Walter Homolka, Arnulf Heidegger (Hg.): Heidegger und der Antisemitismus, op. cit., S. 27.

24 Brief vom 28.10.1932, zit. n. ibid., S. 31

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berg, ca. zwanzig Kilometer entfernt von Heideggers Heimatstadt Meßkirch. In das Konzentrationslager werden im folgenden Jahr ca. 3 000 Verfolgte in »Schutzhaft« verbracht.25 Das »Kampfblatt der Nationalsozialisten Oberbadens«, »Der Alemanne«, berichtet über die Erfolge der neuen Bewegung aus erster Hand.

Bereits im Februar verhandelt Heidegger mit den führenden Vertretern der NSDAP Freiburgs und Badens, um als Rektor der Freiburger Universität inthronisiert zu werden. Sein wichtigster Kampfgefährte ist der Führer der Nazipartei und der SA in Baden, Franz Kerber,26 der Chefredakteur der Zeitung »Der Alemanne«, die seit dem Jahre 1932 täglich erschien. Die Auflage betrug Ende 1932 noch 7 000 Exemplare, bis Mitte 1933 stieg sie auf 25 000 Exemplare an. Das Vorbild war die Parteizeitung der Nazis »Der Stürmer«. In den Ausgaben aus den Jahren 1932 bis 1934, die ich damals in Freiburg einsehen konnte, hetzte »Der Alemanne« täglich gegen Homosexuelle, »Zigeuner«, Pazifisten und »Asoziale«, nach dem 30. Januar 1933 gegen die gewählten Politiker der SPD und des Zentrums im Rathaus und schließlich immer mehr gegen die Juden. Kerber wird schließlich am 19. März als Oberbürgermeister der Stadt Freiburg eingesetzt.

Eine besondere Bedeutung für die Inthronisierung Heideggers als Rektor übernahm das Bistum, das in der katholischen Bevölkerung Freiburgs traditionell stark verankert war. Der Erzbischof Conrad Gröber - im Volksmund der »braune Gröber« genannt - stammte auch aus Meßkirch und war ein väterlicher Freund Heideggers; dreißig Jahre vorher hatte er als Präfekt des Konstanzer Konvikts dem damals 14-Jährigen ein Stipendium besorgt, an das eine Priesterausbildung gebunden war.27 In den Wochen nach dem 30. Januar 1933 lässt der braune

25 Vgl. ibid.

26 Vgl. Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg - Landeskunde Baden-Württemberg: Täter, Helfer, Trittbrettfahrer; https://landeskunde-baden-wuerttemberg.de/suedbadenhtml (letzter Zugriff am 08.07.2019); vgl. auch Wolfgang Proske (Hg.): Täter, Helfer, Trittbrettfahrer. Bd. 6. NS-Belastete aus Südbaden, Gerstetten 2017.

27 Vgl. Elsbeth Büchin, Alfred Denker: Martin Heidegger und seine Heimat, Stuttgart 2005, S. 121.


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Gröber das Freiburger Münster und andere Kirchen mit Hakenkreuzfahnen beflaggen, verordnet, dass im katholischen Religionsunterricht der Hitlergruß gezeigt werden muss, und tritt schließlich 1934 - ad maiorem Dei gloriam - dem Förderverein der SS bei.28

Eine besondere Rolle spielte im Freiburger Bistum Dr. Ernst Föhr, ein ordinierter Priester, der im Mai 1928 für die Zentrumspartei in den Reichstag gewählt worden war. Von 1928 bis Mitte 1933 war Föhr der einflussreichste Badische Politiker in der Reichshauptstadt. Im Jahre 1932 hatte er als Sprecher der Zentrumspartei Verhandlungen mit der NSDAP geführt, um Hitler im Reichstag als Kanzler durchzusetzen.29 Nach dem Krieg wurde Föhr Generalvikar des Freiburger Bistums. Er war es, der gegen mich Strafanzeige erstattete wegen »Beleidigung des geistlichen Standes«, nachdem ich mich in der »Freiburger Studentenzeitung« lustig gemacht hatte über die bigotten und schlüpfrigen Heftchen, die das Bistum zur Sexualerziehung in den Kirchen auslegte.3" Anfangs wusste ich nichts von Föhrs Vergangenheit; ich nahm ihn wahr als einen Savonarola-Priester, der besessen war von der jesuitischen Mission des Kampfes gegen weibliche Sexualität.

Mitte April 1933 hat der Weltgeist für Heidegger angerichtet. Sein Kampfgefährte von der SA ist Oberbürgermeister, sein väterlicher Freund, der Bischof, hat das Münster mit Hakenkreuzfahnen beflaggt, der Prälat aus dem Reichstag verhandelt mit der NSDAP, die oppositionellen Politiker sind verhaftet und innerhalb weniger Wochen sämtliche jüdischen Professoren aus der Universität eliminiert. Heidegger ist begeistert. Am 13. April schreibt er seinem Bruder:

28 Vgl. Freiburgs Geschichte in Zitaten. Das Dritte Reich oder wie aus prahlerischen tausend Jahren nur zwölf wurden; http://www.freiburgs-geschichte.de/1933-1945_Drittes_Reich.htm (letzter Zugriff am 08.07.2019).

29 Vgl. hierzu die Dokumente in Hugo Ott: Martin Heidegger. Unterwegs zu seiner Biographie, Franfurt/M. / New York 1988.

30 Reiner Geulen: »Böse« Lust?, in: Freiburger Studentenzeitung, Januar 1965, S. 13. Der Artikel und die Strafanzeige des Erzbistums erhielten damals die gewünschte bundesweite Aufmerksamkeit; vgl. Die Zeit vom 31.12.1965; https:// zeit.de/1965/53/die-boese-lust (letzter Zugriff 12.07.2019); sowie Reiner Geulen: Die »Böse« Lust? und ihre Folgen, in: Freiburger Studentenzeitung, Januar 1966, S. 2 ff.


113 / Vor der »Weltnacht«

Es zeigt sich ja von Tag zu Tag, in welche Größe jetzt Hitler als Staatsmann hinaufwächst. Die Welt unseres Volkes und des Reiches ist in der Umbildung begriffen, und jeder, der noch Augen hat zu sehen und Ohren zu hören und ein Herz zum Handeln wird mitgerissen und in eine echte und tiefe Erregung versetzt - wir begegnen um uns wieder einer großen Wirklichkeit und zugleich der großen Bedrängnis, diese Wirklichkeit in die geistige Welt des Reiches und in den geheimen Auftrag deutschen Wesens hineinzubauen.31

i Und Heidegger vergisst in seiner »tiefen Erregung« nicht zu erwähnen, dass die neue Zeit auch ihre kleinen Schattenseiten

[ hat:

Aufgrund des Beamtengesetzes verschwinden in meinem Fach hier 3 Juden, so daß ich ganz allein - ohne Assistenten - die Arbeit machen muß.32

Heidegger war der große Modephilosoph jener Zeit - für die Machtübernahme der renommierten Freiburger Universität durch die Nazis eine Idealbesetzung. Im April 1933 verlangt Kerbers SA-Blatt »Der Alemanne« ultimativ den Rücktritt des gewählten Rektors. Am 30. April schließlich wird Heidegger selbst als Rektor der Freiburger Universität eingesetzt. In einem mit der NSDAP abgestimmten, demonstrativen Akt vollzieht er schließlich am 1. Mai 1933 seinen offiziellen Eintritt in die Partei. Der »Alemanne« feiert Heideggers Ernennung zum Rektor wie folgt:

I Wir Freiburger Nationalsozialisten sehen in diesem Akt

mehr als eine äußerliche Anerkennung der vollzogenen Umwälzung und der bestehenden Machtverhältnisse. Wir wissen, daß Martin Heidegger in seinem hohen Verantwortungsbewußtsein, in seiner Sorge um das Schicksal und die Zukunft des deutschen Menschen mitten im Herzen unse-

31 Walter Homolka, Arnulf Heidegger (Hg.): Heidegger und der Antisemitismus,

op. cit., S. 34 f. 3a Ibid.


H4 / Dumpfes Verstummen

rer herrlichen Bewegung stand, wir wissen auch, daß er aus seiner deutschen Gesinnung niemals einen Hehl machte und daß er seit Jahren die Partei Adolf Hitlers in ihrem schweren Ringen um Sein und Macht aufs Wirksamste unterstützte, daß er stets bereit war, für Deutschlands heilige Sache Opfer zu bringen, und daß ein Nationalsozialist niemals vergebens bei ihm anpochte.33

In den kommenden Wochen organisiert die Freiburger NSDAP gemeinsam mit dem Rektor Heidegger und den Burschenschaften die öffentliche Bücherverbrennung. Vor dem Hauptgebäude der Universität wird ein Holzstamm aufgerichtet mit Reißzwecken und Zetteln; die Studenten sollen die Bücher bestimmen, die ins Feuer gehören.34 Unter der Führung des Rektors Heidegger wird die Bücherverbrennung am Abend des 24. Juli 1933 als Sonnenwendfeier inszeniert.

Gegen 9 Uhr marschierten die Züge der Studenten in strammem Schritt ein. Sie hatten sich vor der Universität versammelt und waren mit munterem Marschgesang durch die Straßen der Stadt zum Stadion marschiert. Dunkle, schwere Wolken huschten am Firmament dahin, und als die Funken des Holzstoßes in östlicher Richtung davonstoben, lag über dem Ganzen eine ungemein feierliche, ernste Stimmung. Schweigend schaute ein jeder den gewaltigen Brand, die Uniformen der Teilnehmer leuchteten markant im Schein des Feuers.35

Verbrannt werden Bücher von Bertolt Brecht, Kurt Tucholsky, Heinrich Mann, Erich Maria Remarque und vielen anderen. Heidegger hält die Rede:

33 Zit. n. Guido Schneeberger: Nachlese zu Heidegger, op. cit., S. 23.

34 Freiburgs Geschichte in Zitaten. Das Dritte Reich oder wie aus prahlerischen tausend Jahren nur zwölf wurden; http://www.freiburgs-geschichte.de/1933~ 1945_Drittes_Reich.htm (letzter Zugriff 12.07.2019).

35 Freiburger Zeitung vom 26.06.1933, zit. n. Guido Schneeberger: Nachlese zu Heidegger, op. cit., S. 70.


115 / Vor der »Weltnacht«

Sommersonnenwende 1933! - Die Tage vergehen, sie werden wieder kürzer. Unser Mut aber steigt, das kommende Dunkel zu durchbrechen. Niemals dürfen wir blind werden im Kampf. Flamme künde uns, leuchte uns, zeige uns den Weg, von dem es kein Zurück mehr gibtl Flammen zündet, Herzen brennt!36

Die sogenannte »Gleichschaltung«, die Heidegger in den nächsten Monaten - seinem ersten Rektoratssemester - mit allen Mitteln durchsetzt, sieht zunächst so aus: Jüdische, sozialdemokratische, kommunistische und oppositionelle Studenten werden von der Universität ausgeschlossen, die Mensur wird wieder zugelassen,37 und die Burschenschaften treten in den offiziellen Veranstaltungen der Universität »in vollem Wichs« als Führer der deutschen Studentenschaft auf. Zu Beginn seines zweiten Rektoratssemesters im November, 1933, erlässt Rektor Heidegger in der »Freiburger Studentenzeitung« einen Aufruf:

Deutsche Studenten

Die nationalsozialistische Revolution bringt die völlige Umwälzung unseres deutschen Daseins. [...] Der Führer selbst und allein ist die heutige und künftige deutsche Wirklichkeit und ihr Gesetz. Lernet immer tiefer zu wissen: Von nun an fordert jedwedes Ding Entscheidung und alles Tun Verantwortung. Heil Hitler!

Martin Heidegger, Rektor38

Gleichzeitig ordnet Heidegger den deutschen Gruß als verbindliche Begrüßung eines Professors an:

Die Studentenschaft grüßt zu Beginn des Unterrichts nicht mehr durch Trampeln, sondern durch Aufstehen und Er-

36 Zit. n. ibid, S. 71.

37 Heidegger war Ehrengast des »erste[n] gemeinsame[n] Pauktag[s] des Freiburger Waffenrings«, der die Aufhebung des »schändliche[n] Mensurverbot[s]« feierte; vgl. ibid., S. 26 f.

38 Freiburger Studentenzeitung vom 03.11.1933, S. 1; zit. n. Guido Schneeberger: Nachlese zu Heidegger, op. cit., S. 135 f.


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heben des rechten Armes. Die Dozenten grüßen wieder

vom Katheder aus in derselben Weise.

Das Ende der Unterrichtsstunden bleibt wie bisher.39

Besonders wichtig ist für Heidegger die Durchsetzung des sogenannten »Arbeitsdienstes«. Im Jahre 1933 wurde die deutsche Zivilbevölkerung umfassend militarisiert. Es dauerte nur wenige Monate, bis alle im »Arbeitsdienst« organisiert waren. Nicht nur die Soldaten marschierten - alle marschierten: die Krankenschwestern, die Beamten, die Arbeiter, die Handwerker, die Lehrer, alle. Bei den Professoren und Studenten, die traditionell den oberen sozialen Schichten angehörten, war die Durchsetzung des »Arbeitsdienstes« schwieriger, und es war Heideggers Stolz, in seiner Rektoratszeit ganze Arbeit geleistet zu haben.

Zum Arbeitsdienst wird gerufen.

Die Lahmen, Bequemen und Halben werden in den Arbeitsdienst »gehen«, weil ein Fernbleiben die Examens- und Anstellungsaussichten vielleicht gefährdet. Die Starken und Ungebrochenen, die aus dem erregenden Geheimnis einer neuen Zukunft unseres Volkes ihr Dasein durchsetzen, sind stolz darauf, daß ihnen Hartes abverlangt wird [...].40

Am 9. November 1933 übersendet Heidegger gemeinsam mit dem SA-Mann Kerber eine »Treuekundgebung an den Reichskanzler« :

An den Führer, Berlin.

Dem Retter unseres Volkes aus seiner Not, Spaltung und Verlorenheit zur Einheit, Entschlossenheit und Ehre, dem Lehrmeister und Vorkämpfer eines neuen Geistes der selbstverantwortlichen Gemeinschaft der Völker versprechen unbedingte Gefolgstreue die Bürgerschaft, die Stu-

39 Freiburger Studentenzeitung vom 03.11.1933, S. 5, zit. n. ibid., S. 136 f.

40 Martin Heidegger: Der Ruf zum Arbeitsdienst, in: Freiburger Studentenzeitung vom 23.01.1934, S. 1, zit. n. ibid., S. 181.


117/Vorder »Weltnacht«

dentenschaft und die Dozentenschaft der Universitätsstadt

in der äußersten südwestdeutschen Grenzmark.

[.-]

Dr. Kerber, Oberbürgermeister.

von zur Mühlen, Führer der Studentenschaft.

Dr. Heidegger, Rektor.4'

Am Ende des Jahres 1933 steht Heidegger im Zenit. Nach acht Monaten hat er sein Werk vollbracht, im nächsten Jahr würde er zurücktreten, es war nichts mehr zu tun und zu sagen. Und Heidegger sitzt »in tiefer Winternacht« in seiner »Hütte« mit den Holzschindeln und schreibt für die Hetzschrift der SA:

Wenn ich zur Zeit der Arbeitspause abends mit den Bauern auf der Ofenbank sitze oder am Tisch im Herrgottswinkel, dann reden wir meist gar nicht. Wir rauchen schweigend unsere Pfeifen.42

Einige Jahre später blickte Heidegger gemeinsam mit seinem Kampfgefährten und Parteigenossen Kerber zufrieden auf diese Zeit zurück. Heidegger hatte die Einladung Kerbers angenommen, zu dem offiziellen Heimatbuch »Alemannenland« etwas beizutragen. Kerber, der Herausgeber, schrieb:

Die Kultur des deutschen Volkes hat mit dem Durchbruch der nationalsozialistischen Weltanschauung ihr Wiedererstehen und ihre Befreiung erlebt. [...] Es sind erst vier Jahre des nationalsozialistischen Zeitalters hinter uns, und sie bedeuten ein verschwindend kleines Zeitmaß für seinen künftigen Bestand. Aber es unterliegt keinem Zweifel, daß der Anfang reich gesegnet war.43

Und Heidegger adelte die reiche Segnung des Zeitalters als Erlösung des Abendlandes:

41 Freiburger Zeitung vom 10.11.1933, S. 4, zit. n. ibid., S. 144.

42 Ibid., S. 217.

43 Franz Kerber (Hg.): Alemannenland. Ein Buch von Volkstum und Sendung, Freiburg 1937, S. 7.


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Das Eigenste aber eines Volkes ist jenes ihm zugewiesene Schaffen, wodurch es über sich selbst hinaus in seine geschichtliche Sendung hineinwächst und so erst zu sich selbst kommt. Der Grundzug ihrer Sendung wird in den geschichtebildenden Völkern in der jetzigen Weltstunde vorgezeichnet als die Rettung des Abendlandes.44

Nach dem Ende seiner Rektoratszeit im April 1934 blieb Heidegger eins mit dem Weltgeist bis zum Tod des Führers. Auch in Freiburg wurden in der Nacht vom 9. zum 10. November 1938 die Synagogen abgebrannt. Fünf Jahre vorher hatte Heidegger die Bücher der Juden ins Feuer geworfen und den Studenten zugerufen: »Flamme zündet, Herzen brennt.« Bereits am Morgen des 10. November 1938 berichtet der »Alemanne«, inzwischen die größte Zeitung Freiburgs:

In Baden wurden in verschiedenen Städten die Synagogen demoliert. Eine größere Anzahl von Juden musste zu ihrer eigenen Sicherheit in Schutzhaft genommen werden. Auch die Freiburger Synagoge, die sich gegenüber dem Stadttheater und der Universität befindet, wurde in den heutigen Morgenstunden in Brand gesetzt. Von Seiten der Behörden sind sofort die Aufräumarbeiten in Angriff genommen, die sich äußerst schwierig gestalten und umfangreiche Sprengungen erforderlich machten. Über 100 Juden wurden in Schutzhaft genommen.45

Es gibt einige Photos der abgebrannten Alten Synagoge, aufgenommen am 10. November 1938 aus einem Fenster der Alten Universität; Heidegger hielt an diesem Vormittag in der Universität eine Vorlesung. Und es gibt Photos von den Juden, die einige Stunden später deportiert wurden in das KZ Dachau. Die Bilder zeigen die Angst der Menschen, die aus der Innenstadt zum Hauptbahnhof geführt werden mit ihren klei-

44 Ibid., S. 135

45 »Der Alemanne« vom 10.11.1938, zit. n.: Freiburgs Geschichte in Zitaten, op. cit. (letzter Zugriff 08.07.2019); in der Dokumentation finden sich auch die Photos der Synagoge vom 10.11.1938.


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nen Koffern, beobachtet von uniformierten SA-Leuten und Gaffern.46

Seit den Judenpogromen im November 1938 und verstärkt mit Beginn des Krieges zehn Monate später hat Heidegger die Vernichtung der Juden und die Eroberungskriege der deutschen Wehrmacht in einer Vielzahl von Schreiben und Aufzeichnungen kommentiert.47 Am 22. Juli 1941 überfiel die Wehrmacht die Völker im Osten Europas. Täglich melden die Zeitungen und der Volksempfänger die Berichte des Oberkommandos der Wehrmacht (OKW). Zu Beginn des dritten Kriegsjahres, im September 1942, hatte die Wehrmacht die größten Teile Polens und der Ukraine erobert, das Baltikum und Russland bis kurz vor Moskau. In Polen und der Ukraine hatte die Wehrmacht, gefolgt von den »Einsatzgruppen« der SS bereits über drei Millionen Juden liquidiert oder in Konzentrations- und Vernichtungslagern deportiert. Das Lager Auschwitz war ab Mai 1940 errichtet worden, Ende 1941 dann das Lager Auschwitz II, das Vernichtungslager Birkenau. Heidegger schreibt »am Beginn des dritten Jahres des planetarischen Krieges«:

Das Weltjudentum, aufgestachelt durch die aus Deutschland hinausgelassenen Emigranten, ist überall unfassbar und braucht sich bei aller Machtentfaltung nirgends an kriege-

I rischen Handlungen zu beteiligen, wogegen uns nur bleibt, das beste Blut der Besten des eigenen Volkes zu opfern.48 Während der ersten Kriegsjahre war Heidegger immer wieder in seine etwa 120 Kilometer entfernte Heimatstadt Meßkirch gefahren, um seinen Bruder zu besuchen.49 Nachdem die Juden deportiert worden waren, verfolgten die Gestapo und die SS

Inun letzte Oppositionelle, darunter auch katholische Priester. In Meßkirch wurden in den folgenden Jahren mehrere Stadt-46 Vgl. Freiburgs Geschichte in Zitaten, op. cit. 47 Vgl. den Brief von Fritz Heidegger an Martin Heidegger vom 05.08.1941 und den Antwortbrief vom 09.08., abgedruckt in: Walter Humolka, Arnulf Heidegger (Hg.): Heidegger und der Antisemitismus, op. cit., S. 74 f.

48 Martin Heidegger: Gesamtausgabe Bd. 96, Frankfurt/M. 2014, S. 262.

49 Elsbeth Büchin, Alfred Denker: Martin Heidegger und seine Heimat, op. cit., S. 144 ff.


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pfarrer verhaftet, teilweise mit Lehrverboten belegt und ins Konzentrationslager Dachau deportiert.5" Heideggers jüngerer Bruder hatte die unbedingte Gefolgschaft Martin Heideggers für Hitler nicht mitvollzogen; in seinen Briefen gibt es immer wieder Fragen und Zweifel. Am 5. August 1941 schreibt Fritz Heidegger aus Meßkirch, dass in der letzten Woche »plötzlich unser Stadtpfarrer von der Gestapo in Haft genommen und nach Konstanz abgeführt worden« sei. Martin Heidegger lässt die Fragen nicht gelten und hält seinem Bruder postwendend entgegen:

Gegenüber der feindlichen Propaganda sind unsere OKW-Berichte unbedingt wahr. Mit unbedingter Zuverlässigkeit werden die durch die Lage gegebenen und je bedingten Tatsachen in jeweils bestimmten und das heißt bedingten Hinsichten richtig wiedergegeben. Diese unbedingte Bedingtheit gibt eine riesige Richtigkeit. Natürlich kann dabei nicht alles gesagt werden. Und jeder vernünftige Volksgenosse wird das begreifen.5'

3 — Nach dem Tod des Führers - der Absturz des »Seins« in die »Weltnacht«

Mit dem Ende des Krieges erscheint Heidegger der Gang des Weltgeists als ein einziges Enigma. Um Weihnachten des Jahres 1944 waren die alliierten Truppen so nah an den Rhein herangerückt, dass sie die Spitze des Freiburger Münsters im Blick hatten. Am 18. Januar 1945 schreibt Heidegger:

Was der »Weltgeist« mit den Deutschen vorhat, ist ein Geheimnis. Gleich dunkel ist, warum er sich der Amerikaner und Bolschewisten als seiner Schergen bedient.52

50 Vgl. die Dokumentation in: Die St. Martins Kirche und ihre Renovierung, https://www.bildungswerk-messkirch.de/messkirch-geschichte.html (letzter Zugriff am 19.08.2019).

51 Walter Homolka, Arnulf Heidegger: Heidegger und der Antisemitismus, op. cit., S. 74 f.

52 Ibid., S. 118.

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Heidegger versucht schließlich den Untergang der Nazi-Bewegung, den Tod des Führers und die Zerstörung seiner Heimatstadt Freiburg mit den zentralen Kategorien seiner Philosophie zu bewältigen: dem »Man« und dem »Sein«. Das »Man« - in »Sein und Zeit« der größte Gegner des »Seins«, das »Niemand, dem alles Dasein« ausgeliefert ist53 - erscheint in Heideggers Spätwerk als die Verschwörung der Siegermächte, die Deutschland endgültig vernichten werden.

Die eigentliche Niederlage besteht nicht darin, daß »das Reich« zerschlagen, die Städte zertrümmert, die Menschen durch unsichtbare Tötungsmaschinerie hingemordet werden, sondern daß sich die Deutschen durch die Anderen in die Selbstvernichtung ihres Wesens treiben lassen und sie selbst betreiben [...].*

Die Weltschande, die dem deutschen Volk droht, die Schande vor der verborgenen Welt des Geschickes, nicht vor der »Welt« als der journalistischen Organisation der Öffentlichkeit des Pöbels, ist keineswegs »die Schuld«, die »man« ihm anrechnet, sondern das Unvermögen, in geschicklicher Haltung unterzugehen und die »Welt« der Moderne zu verachten.55

.. Der Krieg ist beendet, die Überlebenden der Konzentrationslager werden entlassen, das »Man« hat gesiegt, und Heidegger bezeichnet Deutschland als »ein einziges KZ«:

Wäre z. B. die Verkennung dieses Geschickes - das uns ja nicht selbst gehörte, wäre das Niederhalten im Weltwollen - aus dem Geschick gedacht, nicht eine noch wesentlichere »Schuld« und eine »Kollektivschuld«, deren Größe gar nicht - im Wesen nicht einmal am Greuelhaften der

(»Gaskammern« gemessen werden könnte -; eine Schuld -unheimlicher denn alle öffentlich »anprangerbaren« »Ver-53 Martin Heidegger: Sein und Zeit, Tübingen 1979, § 27, S. 126 ff. 54 Martin Heidegger: Gesamtausgabe Bd. 97, op. cit., S. 156. 55 Ibid., S. 146.

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brechen« - die gewiss künftig keiner je entschuldigen dürfte. Ahnt »man«, daß jetzt schon das deutsche Volk und Land ein einziges KZ ist - wie es »die Welt« allerdings noch nie »gesehen« hat und das »die Welt« auch nicht sehen will [...].56

Das deutsche Volk ist politisch, militärisch, wirtschaftlich und in der besten Volkskraft ruiniert... durch den endlich zum Zuge gekommenen Vernichtungswillen des Auslandes... noch bleibt die Aufgabe: Die Deutschen geistig und geschichtlich auszulöschen.57

Am 23. Juli 1945 schreibt Heidegger in einem kurzen Brief an seinen Bruder, in Freiburg sei es »wenig schön«, und er gibt als ersten Grund an: »Wir müssen KZ-Leute in die Wohnungen nehmen.«58 Und wenige Zeilen später heißt es: »Alles ist übel und schlimmer als zur Nazizeit.«59 Was immer aber der Weltgeist im Auge hat, das »Seyn« kann er nicht anfechten:

Das Seyn ist zu geheimnisvoll und frey, als dass wir meinen dürfen, nach den gewordenen spärlichen Offenbarungen sei das Ende gewiss.60

Die Toten der Kriege, die Völkermorde der Deutschen, die zerstörten Städte: nichts ist gewesen, spärliche Offenbarungen des Seins, mehr nicht:

Gemessen am Seyn ist das Getose und Getobe der »Weltgeschichte« kläglicher noch und hohler als der Lärm eines Schmierentheaters und seiner Akteure.61

Nicht einmal zwanzig Jahre sind vergangen seit der Veröffentlichung von »Sein und Zeit«, Heideggers großem Entwurf

56 Ibid., S. 99 f.

57 Martin Heidegger: Gesamtausgabe Bd. 97, op. cit., S. 444.

58 Walter Homofka, Arnulf Heidegger (Hg.): Heidegger und der Antisemitismus, op. cit., S. 126.

59 Ibid., S. 127.

60 Martin Heidegger: Brief an seinen Bruder vom 31.07.1945, in: ibid., S. 128.

61 Ibid., S. 120.

123 / Vor der »Weltnacht«

über das Sein und das Sein zum Tode. In den dreißiger Jahren hatte Heidegger die »Blöcke eines Steinbruchs« bezeichnet, in dem das Urgestein des »Seyns« gebrochen wird:

Das Denken.

Das Meinen des Seins.

Das Sein und die Unterscheidung zum Seienden.

Der Entwurf des Seyns.

Das Er-denken des Seyn.

Die Wesung des Seyns.

Die Geschichte.

Das Da-seyn.

Die Sprache und die Sage.

Das »Seiende«.62

Nachdem der Weltgeist ihn verlassen hat, tritt Heidegger der drohenden Paralyse des Seins semantisch entgegen. Die letzte Emanation des Seyns, das Seyn, markiert den Übergang von Heideggers Ontologie zu einer Eschatologie.

Weil der Mensch nicht einmal im Geringen die Tragweite der Sprache ermißt als das Maß seines Aufenthaltes im Ereignis, deshalb ist er noch weit entfernt von der Ahnung dessen, was ihm die Rettung des Seyns in die Wahrheit zuspielen möchte, welches Zuspiel sich als die Eschatologie des Seyns ereignet. [...] Die Kehre der Vergessenheit des Unterschieds ereignet sich, auf den Menschen zugedacht, im Absprung des Denkens aus dem Vorstellen und dessen Aussagen in das Andenken als der Sage der Eschatologie des Seyns.63

Gerade erst hatte sich das Sein im Weltgeist manifestiert, aber nun ist es verbannt in den Orbit, zum Eschaton, und erst nach dem Ende aller Tage wird es sich wieder ereignen. Vielleicht

62 Martin Heidegger: Beiträge zur Philosophie, in: ders.: Gesaratausgabe Bd. 65, Frankfurt/ M. 2003, S. 421.

63 Martin Heidegger: Gesamtausgabe Bd. 97, op. cit., S. 302.

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ist das Sein auch gekränkt, der Weltgeist hatte ihm eine tausendjährige Manifestation versprochen, und nun durfte es sich nur spärliche zwölf Jahre offenbaren.

Ein jegliches hat seine Zeit und seinen Ort. Und ist die Zeit des Seins erst einmal vorbei, findet Heidegger jedenfalls Trost darin, dass es einen Ort hat, wenn es wiederkehrt aus seiner babylonischen Gefangenschaft im Eschaton: zwischen der Schwäbischen Alb, wo Vaters Küferhaus stand, dem südlichen Schwarzwald, wo in tiefer Winternacht die hohe Zeit der Philosophie war, und Freiburg, wo er eins geworden war mit dem Weltgeist und seinem Führer. Mag Heideggers Kosmos noch so eng sein, hier wird sich das Sein ereignen:

Immer deutlicher wird mir die Ahnung, dass unsere Heimat, der Kern des südwestdeutschen Landes, der geschichtliche Geburtsort des abendländischen Geistes seyn wird. Das mag seltsam klingen, aber es kann nicht anders seyn. Denn es ist ein geist-erfülltes und zugleich erdenhaft schönes Land; es birgt unsichtbaren Reichtum, bewahrt tiefste Besinnung und höchste Form der Gestaltung.64

Heideggers Vision, das Sein werde dermaleinst in seiner Heimat niederkommen, verweist auf einen Subtext, der für Leben und Werk Heideggers bezeichnend ist. Heidegger war tief geprägt durch den Zeitgeist seiner Kindheit und Jugend, den militanten Nationalismus des Deutschen Kaiserreiches und die elitären und patriotischen Affekte der deutschen Intelligenz, die dem Absturz in den Weltkrieg nichts entgegensetzte und schließlich in den dreißiger Jahren selbst unterging.65 Verschärft wurde dies durch das tief-katholische Milieu der schwäbischen Diaspora, in der Heidegger als Sohn eines Küfers und Mesmers aufwuchs und keinen anderen Wunsch hatte, als Jesuit zu werden.

64 Martin Heidegger: Brief an seinen Bruder vom 09.08.1945, zit. n. Walter Homolka, Arnulf Heidegger (Hg.): Heidegger und der Antisemitismus, op. cit., S. 129 f.

65 Vgl. Antonia Grunenberg: Götterdämmerung: Aufstieg und Fall der deutschen Intelligenz 1900 bis 1940. Walter Benjamin und seine Zeit, Freiburg im Breisgau 2018.

[ 125 / Vor der »Weltnacht«

Die gesellschaftliche Wirklichkeit, die über alle Verwerfungen des Bewahrens würdig war, sah Heidegger bis zum Ende seines Lebens in dem Bild des schwäbischen Kleinbauern auf seiner Scholle und des kleinen Handwerkers in seiner Werkstatt."' Während des Ersten Weltkriegs war Heidegger als Landsturmmann in Berlin gewesen - nach einem Ausflug in die Friedrichstraße war er »angeekelt bis oben« und berichtete seiner Frau:

Eine solche Luft künstlich hochgezüchteter gemeinster u. raffiniertester Sexualität hätte ich nicht für möglich gehalten, ich verstehe aber jetzt Berlin schon besser - der Charakter der Friedrichstraße hat auf die ganze Stadt abgefärbt - u. in einem solchen Milieu kann es keine wahrhafte Geisteskultur geben - a priori nicht - u. wenn alle Hilfsmittel in der vollkommensten Form zu Gebote stehen - es fehlt das schlicht Große - Göttliche. Wenn ich da an Freibg. denke u. sein Münster u. die Linien der Schwarzwaldberge -! Der Krieg ist noch nicht furchtbar genug für uns geworden.67

Heidegger hat sich seit Beginn seiner Freiburger Zeit einer geistigen Nähe zu Johann Peter Hebel berühmt, er hatte Verse Hebels seinen Büchern als Motti vorangestellt und aus dessen Gedichten zitiert. Im Jahre i960 ließ sich Heidegger zum 200. Geburtstag Hebels von der Stadt Basel auf dem sogenannten »Hebelmähli« als »Künder Johann Peter Hebels« feiern.68 Wie Hölderlin war auch Hebel geprägt vom Scheitern der demokratischen Bewegungen im Südwesten Deutschlands nach

66 Ein wohl von Heidegger selbst inspirierter Artikel aus dem »Alemannen« zu seinem Eintritt in die NSDAP drückt dies so aus: »Wie unser Führer, so ist auch der Philosoph Martin Heidegger durch Willenskraft und Geistesstärke aus den engen Verhältnissen eines unbedeutenden Landstädtchens zu der überragenden Position innerhalb der wissenschaftlichen Welt empor gewachsen, und wir gehen wohl nicht fehl, wenn wir gerade in diesem Ursprung, in der nie verleugneten Verbundenheit mit der bäuerlichen Heimat jene Kraft ableiten, die in Martin Heidegger die moderne Philosophie über den toten Punkt hinweg zu neuen, fruchtbaren Problemen zu führen vermochte.« Der Alemanne. Kampfblatt der Nationalsozialisten Oberbadens vom 03.05.1933, S. 2; vgl. auch Guido Schneeberger: Nachlese zu Heidegger, op. cit., S. 23 f.

67 Gertrud Heidegger (Hg): »Mein liebes Seelchen«, op. cit., S. 72

68 Baseler Nachrichten vom 11.05.1960, S. 9, zit. n. Guido Schneeberger: Nachlese zu Heidegger, op. cit., S. 269 ff. Die Baseler Nachrichten kommentieren, dass die Preisverleihung peinlich sei, weil sie »einem Manne galt, der das deutsche Volk nicht wie Hebel zum Licht, sondern in die Finsternis führte«, ibid. S. 272.

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der französischen Revolution. Aber Hebel blieb sein Leben lang Republikaner, Freigeist, ein Heimatdichter, dessen Werk eine innige Liebe zu der Landschaft und den Menschen der alemannischen Provinz bezeugt.6''

Heideggers Heimat sind nicht Schwarzwaldtannen und Feldwege, der Bauer unter dem Herrgottswinkel seiner Hütte, Heideggers Heimat offenbart sich in den Frontsoldaten-Romanen der zwanziger Jahre, die er bewunderte: »Deutschland in Ketten«, das »Volk ohne Raum«. Der Führer ist erst einige Monate im Amt, und Heidegger empfängt als Rektor im größten Hörsaal der Universität einige hundert NSDAP-Leute, die das Programm der Arbeitsbeschaffung Hitlers feiern sollen, und nennt das Ziel der Bewegung, der er sich verschrieben hat: »stark zu werden zu einem vollgültigen Dasein als Volksgenosse in der Volksgemeinschaft« und zu

[...] wissen, was in der Tatsache liegt, dass 18 Millionen Deutsche zwar zum Volk, aber, weil außerhalb der Reichsgrenzen lebend, doch nicht zum Reich gehören.70

Und Heidegger beschwört den Geist der Nazi-Ikone Albert Leo Schlageter, der aus Schönau im Schwarzwald stammte und nach dem Ersten Weltkrieg als Aktivist der NSDAP-Tarnorganisation »Großdeutsche Arbeiterpartei« wegen Mordes an einem französischen Soldaten zum Tode verurteilt und hingerichtet wurde:

Wir sehen im Schwarzwald zuerst die Heimatberge, Heimatwälder, Heimattäler von Albert Leo Schlageter.7'

Heidegger war kein trivialer Blut- und -Boden-Philosoph, die » Heimat«, die er propagierte, war zutiefst infiziert von dem mar-

69 Als Beispiel sei das in alemannischer Mundart geschriebene Gedicht »Die Wiese« genannt, die Huldigung eines kleines »Waldstroms« von seiner Quelle auf dem Feldberg bis zu seiner Mündung im Rhein als eine Metapher des menschlichen Lebens; vgl. Johann Peter Hebel: Poetische Werke, Darmstadt 1978, S. 545.

70 Der Alemanne. Kampfblatt der Nationalsozialisten Oberbadens vom 01.02.1934, S. 9, zit. n. Guido Schneeberger: Nachlese zu Heidegger, op. cit, S. 200.

71 Freiburger Zeitung vom 27.11.1933, S. 5, zit. n. Guido Schneeberger: Nachlese zu Heidegger, op. cit., S. 157.

K 127 / Vor der »Weltnacht«

tialischen Geist des wilhelminischen Reiches und der Nazibewegung und führte konsequent von den Landser-Romanen der Zwanziger in die Eroberungskriege des Führerstaats. Nicht wenige große Männer haben über lange Phasen ihres Lebens die Einsamkeit gewählt: Nietzsche am Silser See, Rilke in Soglio und Muzot, Tolstoi in seinem Landgut bei Moskau. Sie hatten in den großen Städten gelebt und fremde Länder bereist. Aber Todtnau ist nicht Sils, Soglio oder Jasnaja Pol-

, jana. Heidegger ist aus der rückständigen Welt seiner katholischen Provinz nie herausgekommen, er wollte das nicht, und

! das »Sein« - der Stolz seiner Existentialontologie - brauchte es auch nicht.

Das Einzige, was Heidegger nach dem Tod des Führers bleibt, ist der Triumph, dabei gewesen zu sein:

»Der Irrtum von 1933« - es ist nötig, daß man sich über diesen Irrtum keine irrige Vorstellung mache. Der Irrtum bestand nicht darin, daß ein Versuch gewagt wurde mit dem »Nationalsozialismus« [...]. Das war und bleibt eine Entscheidung, die wesentlicher war als alles Danebenstehen und Naserümpfen derer, die es von ihrer »christlichen« oder »liberalen« oder »konservativen« oder auch »sozialdemokratischen« Partei her »besser wußten«, um dann schließlich Jahre hindurch sich aushalten zu lassen von dem »Verruchten« System.72

Als der Weltgeist den Führer zur Rettung des Abendlandes bestimmte, stand der Philosoph nicht daneben. Er war nicht dem Man gefolgt, sondern dem Ruf des Seins. Er hatte die Bücher der Juden verbrannt und die Flamme angerufen, den Weg zu zeigen, von dem es kein Zurück mehr gibt. Und sie hatte uns den Weg gezeigt - von der Freiburger Synagoge bis zu den Verbrennungsöfen. Er hatte nicht die Nase gerümpft, als die Juden aus Freiburg verschleppt wurden. Und er hatte sein Geld anständig verdient, als Professor und Rektor, und

72 Martin Heidegger: Gesamtausgabe, Bd. 97, op. cit., S. 147.

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sich nicht aushalten lassen im KZ von dem »verruchten System«. Was sind die Millionen Toten des Krieges, die Leichenberge in den KZ's, die zerstörten Städte: Entscheidend war, dass der Versuch gewagt wurde mit dem Nationalsozialismus -und er, Martin Heidegger, ist dabei gewesen.

Nach dem Zweiten Weltkrieg haben nur zwei deutsche Philosophen sich radikal mit den Herausforderungen der nuklearen Vernichtung der Menschheit konfrontiert. Günther Anders, der in den zwanziger Jahren Student bei Heidegger gewesen war, schrieb und lebte in der festen Überzeugung, dass mit der Kernspaltung und der nuklearen Waffentechnologie die menschliche Endzeit unwiderruflich begonnen hatte.73 Der wichtigste war Martin Buber, der in einer radikalen Kritik der deutschen Philosophie zwei grundverschiedene philosophische Richtungen unterscheidet:

Die eine, repräsentiert durch eine starke Strömung der deutschen Philosophie von Hegel bis Heidegger, sieht im Menschen das Wesen, in dem das Sein zum Bewusstsein seiner selbst gelangt.74

Buber spricht von einer »Reflexion auf das Sein«, er nennt es das »von allem Inhalt radikal abstrahierte [...] leere Sein«:

Dieses leere Sein ist zwar der Grundbegriff aller Metaphysik, aber im gelebten Leben der menschlichen Person, in dem von jedem von uns zwischen Geburt und Tod gelebten Leben, kommt es nicht vor.75

Grundlegend anders ist eine Philosophie, in der

73 Vgl. insbes. Günther Anders: Über Heidegger, München 2001, und ders.: Hiroshima ist überall. Tagebuch aus Hiroshima und Nagasaki, München 1995.

74 Martin Buber: Gläubiger Humanismus, in: ders.: Nachlese, Heidelberg 1966, S. 115.

75 Ibid.; Adorno sagt zur Sprache Heideggers: »Unterschlagen ist, dass die Sprache selbst bereits jenen ganzen Menschen [...] verneint: Erstmal geht sie auf Kosten des Soseins der Individuen.« Ders.: Jargon der Eigentlichkeit. Zur deutschen Ideologie, in: Gesammelte Schriften Bd. 6, Frankfurt/M. 1990, S. 422.

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[...] es nicht um das Verhältnis der menschlichen Person zu sich selbst [geht], nicht darum, dass sie in ihrer eigenen Reflexion das zum Selbstbewusstsein gelangte Sein entdecke, sondern es geht um das Verhältnis des Menschen zu allem Seienden [...] In dieser neuen Antwort unseres Zeitalters auf die Frage nach dem humanum erscheint dieses also als die dem Menschen angeborene Eignung, in Begegnungen mit anderem Seienden einzutreten.76

Und Buber erklärt die reale Bedrohung der lebenden Menschheit zum wichtigsten Thema der Philosophie:

Ich meine die Krisis des Menschgeschlechts, die es mit dem Untergang bedroht. Ich meine die führungslos gewordene Technologie; die unbeschränkte Herrschaft der Mittel, die sich vor keinen Zielen mehr zu verantworten haben; ich meine die willentliche Versklavung des Menschen in den Dienst des gespaltenen Atoms.77

Heideggers »Sein« war von Anfang an leer, menschenleer, ein Fetisch. Die Vernichtung in der »Hitzewelle der Atombombe«, die »Fabrikation von Leichen in Gaskammern und Vernichtungslagern«: vor Heideggers »Sein« haben sie kein Gewicht.

4 — Die Phantomkrieger

Die philosophische Szene hat Heidegger auch nach dem Krieg als einen großen Philosophen gehandelt. Heideggers Beitrag zu den Verbrechen des deutschen Faschismus wurden kaum zur Kenntnis genommen. Dabei gab es bereits seit Anfang der sechziger Jahre die Dokumentation von Schneeberger, die zugänglichen Exemplare der »Freiburger Zeitung«, der »Freiburger Studentenzeitung«, des »Alemannen« etc. Die Szene

76 Martin Buber: Gläubiger Humanismus, in: ders.: Nachlese, op. cit., S. 116 f.

77 Ibid., S. 119. Es handelt sich um eine Dankesrede Bubers zur Verleihung des Erasmus-Preises im Jahre 1963.

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brauchte auch gar nichts zu wissen, da sie stillschweigend unterstellte, dass Heideggers Einssein mit dem Führerstaat sein philosophisches Werk, den großen Wurf der Existentialonto-logie, nicht berühre.

Die nunmehr vorliegenden, umfassenden Dokumente sprechen eine andere Sprache: Im Jahre 2016 wurde eine Auswahl der Briefwechsel Martin Heideggers mit seinem Bruder aus den Jahren 1930 bis 1949 veröffentlicht.78 Der schwerste Schlag für Heideggerianer und die gesamte Philosophenszene aber war die Veröffentlichung der »Schwarzen Hefte« ab dem Jahre 2014.7" Heidegger hatte etwa seit 1930 über vier Jahrzehnte lang umfangreiche philosophische Texte geschrieben, die nach seiner ausdrücklichen Weisung erst posthum, am Ende seiner Gesamtausgabe veröffentlicht werden sollten. Die »Schwarzen Hefte« sind keine >Notizen< oder >Tagebuchaufzeichnungen<. Die äußere Form ist fragmentarisch, aber Sprache und Inhalt unterscheiden sich nicht von den Texten, die Heidegger zu Lebzeiten veröffentlicht hat.

Dass die »Schwarzen Hefte« genuine Heideggersche Philosophie sind, erklärt den Schock, den ihre Veröffentlichung in der Szene der Philosophen auslöste. Jahrzehntelang hatten sie über das »Sein« geschrieben und das »Seyn« und das »Sey-ende«, viele hatten ihm ihre Bücher gewidmet, sie hatten einander damit geschmeichelt, von Heideggers Denken geprägt zu sein. Nach einer Schockstarre verfiel die Szene in eine Phantomdiskussion über »Heideggers Antisemitismus«. In kurzer Zeit creierten die Heideggerianer ein Arsenal veredelter »Antisemitismen«. Inzwischen wird Folgendes angeboten: Rüdiger Safranski spricht von einem »Konkurrenz-Antisemitismus«80, Peter Trawny von einem »seinsgeschichtlichen Antisemitismus«8', Donatella Di Cesare von einem »metaphysi-

78 Vgl. Walter Homolka, Arnulf Heidegger (Hg.): Heidegger und der Antisemitismus, op. cit.

79 Vgl. Martin Heidegger: Gesamtausgabe, Bde. 94-99, Frankfurt/M. 2014-2019-

80 Rüdiger Safranski: Ein Meister aus Deutschland. Heidegger und seine Zeit, Frankfurt/M. 2015, S. 289.

81 Peter Trawny: Thesen zu Heigeggers seinsgeschichtlichem Antisemitismus, in: Walter Homolka, Arnulf Heidegger (Hg.): Heidegger und der Antisemitismus, op. cit, S. 384.

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sche[n] Antisemitismus«82, Luca di Blasi von einem »topolo-gischen Antisemitismus«83 und Elad Lapidot von einem »philosophischen« oder »metaphysischen« Anitsemitismus.84 Und überhaupt: Heidegger »ruft nicht aktiv zum Genozid auf und war an diesem auch nicht beteiligt« .85 Ein anderer schreibt, Heidegger sei kein »rabiater Antisemit« gewesen; »die antisemitischen Texte sind schlimm genug, aber sie sind tatsächlich selten«.86 Wieder andere meinen, dass der Antisemitismus Heideggers »mit einer feindseligen Haltung gegen bestimmte Personen nichts zu tun« hatte.87 Und Klaus Held legt umfassend dar, dass Heideggers Hass auf das »Weltjudentum« eigentlich keine »Sonderrolle« in seinem Denken spiele, da er schließlich auch den »Amerikanismus, Bolschewismus, Liberalismus, Nationalsozialismus« etc. verachtet habe.88 Die populärste deutsche Heidegger-Biographie weist die Vorwürfe gegen Heidegger sogar als »Zumutung« zurück, und Safranski verteidigt schließlich Heideggers »Schweigen zu Auschwitz« nach 1945:89

Aber sollte Heidegger Mitverantwortung übernehmen für die monströsen Verbrechen des Nationalsozialismus, an denen er nun wirklich keinen Anteil hatte - auch nicht über gemeinsame gedankliche Voraussetzungen? Heidegger war niemals ein Rassist gewesen.90

Daß er sich, wie von der Öffentlichkeit verlangt, von dem millionenfachen Mord an den Juden distanzieren sollte, diese Forderung empfand Heidegger zu Recht als eine Ungeheuerlichkeit. Er hätte nämlich dabei implizit ein öffent-

82 Vgl. Donatella Di Cesare: Heideggers metaphysischer Antisemitismus, in: ibid., S. 212 ff., bes. S. 214.

83 Luca Di Blasi: Vom nationalmessianischen Enthusiasmus zur antisemitischen Paranoia, in: ibid., S. 190 ff., bes. S. 196 f.

84 Elad Lapidot: Das Fremde im Denken, in: ibid., S. 269 ff., bes. S. 272.

85 Markus Gabriel: Heideggers antisemitische Stereotypen, in: ibid., S. 224

86 Jean Grondin: Warum ich Heidegger in schwieriger Zeit treu bleibe, in: ibid., S. 239.

87 Vgl. Walter Homolka: Vorwort zum 2. Kapitel »Positionen« in: ibid.; S. 179 ff., hier S. 186.

88 Klaus Held: Heidegger und das »Politische«, in: ibid., S. 264 ff.

89 Rüdiger Safranski: Ein Meister aus Deutschland, op. cit., S. 465.

90 Ibid., S. 464.

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liches Urteil anerkennen müssen, das ihm die Komplizenschaft mit dem Mord zutraute. Seine Selbstachtung gebot ihm, sich diesem Ansinnen zu verweigern.91

Und der Biograph meint schließlich, Heidegger habe gar nicht über »Auschwitz« geschwiegen, sondern über sich selbst:

Versteht man also Heideggers Modernitätskritik auch als Philosophieren über Auschwitz, dann wird deutlich, dass das Problem des Heideggerschen Schweigens nicht darin liegt, dass er über Auschwitz geschwiegen hat. Philosophisch geschwiegen hat er über etwas anderes: über sich selbst, über der Verführbarkeit des Philosophen durch die Macht.92

Für die deutschen Gegenwartsphilosophen ist Heidegger ein Spiegel. Auch ihnen ist das »zwischen Geburt und Tod gelebte Leben« ein Buch mit sieben Siegeln. In ihrem akademischen Cocon wollen sie ewig weiter diskutieren über das »Sein«, das »Seyn« und das »Seyn«. Niemand kann ihm das Wasser reichen, aber alle wollen teilnehmen an dem großen Diskurs. Seine Entweihung ist auch ihre Entweihung.Und sie werden nicht zulassen, dass seine große Philosophie von sachfremden Anwürfen beschmutzt wird.

II / Die Sprache der Apathie

An Sloterdijk lässt sich sehen, welche Auswirkungen die klassischen Untugenden der deutschen Philosophie - die Verweigerung von Realität und Empathie - im Zeitalter der nuklearen und thermischen Vernichtung der Menschheit zeitigen. Sloterdijk selbst ist nicht wichtig, er ist ein Blender; unser Interesse gilt nicht ihm, sondern dem geistigen Milieu, das er uns spiegelt.

91 Ibid., S. 465.

92 Ibid.; vgl. auch die Aussage von Jean Grondin, Heidegger sei »insbesondere Opfer der antijüdischen Kriegspropaganda der Nazis« geworden, in: Jean Grondin: Warum ich Heidegger in schwieriger Zeit treu bleibe, in: Walter Homolka, Arnulf Heidegger (Hg.): Heidegger und der Antisemitismus, op. cit., S. 239.

! 133 / Die Sprache der Apathie

1 — Die Vergasung der Juden - ein »Air-Conditioning«

Einige Jahre nach Heideggers Tod beschäftigte sich auch Slo-terdijk mit der »viel beredeten Atombombe«. Es war das Jahr 1983. Die 68er-Revolte lag lange zurück, die Zeit der Blumenkinder auch. Von den alten, weißhaarigen deutschen Philosophieprofessoren war schon in den siebziger Jahren nichts mehr zu hören; sie rieben sich noch an den Postmarxisten, aber die Kontroversen versandeten schließlich in den philosophischen Seminaren.

In dieser Zeit sinnentleerter Diskurse gründete der indische Guru Bhagwan nahe der Stadt Poona (Pune) in einem Ashram die sogenannte Neo-Sannyas-Bewegung,93 die der desorientierten jüngeren Generation des Westens Sinnstiftungen versprach. In Oshos Ashram trugen die Sannyas die Uniform der Bhagwan-Bewegung, eine orangefarbene, nachthemdartige Soutane und die Mala, eine Holzkette mit dem Bild des lächelnden Meisters.

Auch Sloterdijk war nach Poona gepilgert in Oshos Ashram. Als er nach Deutschland zurückkehrte, war die Zeit der großen Demonstrationen gegen die Stationierung nuklearer Vernichtungswaffen und Atomreaktoren in der Bundesrepublik. Das westliche Militärbündnis hatte entschieden, Missiles mit nuklearen Sprengköpfen in der Bundesrepublik zu stationieren, um einen finalen nuklearen Angriff oder Gegenangriff auf die Sowjetunion zu ermöglichen. Aber Angriffe und Vernichtungskriege, das war nichts für Peter Sloterdijk. Wie den meisten Sannyassins war es ihm genehmer, die Kämpfe der Klassen und die Kriege der Völker von ihrer feinstofflichen Seite zu betrachten. Und die Sterne standen günstig: Nach dem antiautoritären Aufstand der 68-er war die Philosophie sprachlos geworden. Und so trat Sloterdijk den Atomgegnern mit dem Gestus eines Zen-Meisters entgegen. »Die Bombe« sei »der einzige Buddha, den auch die westliche Vernunft versteht«, > sie müsse »zum Medium der Selbsterfahrung werden«:

93 Bhagwan war ein indischer Guru, der ursprünglich Chandra Mohan Jain hieß, sich dann Acharya Rajneesh nannte, danach Bhagwan Shree Rajneesh und schließlich Osho.


134 / Dumpfes Verstummen

Alle Geheimnisse liegen in der Kunst des Nachgebens, des Nichtwiderstehens. Meditation und Abrüstung entdecken eine strategische Gemeinsamkeit. Wenn das nicht ein ironisches Resultat der Modernität ist! Große Politik ist heute letztlich Meditation über die Bombe.94

Und was ist nach Sloterdijk die »Erfahrung von Hiroshima und Nagasaki«?

Man macht Atombomben, um sie nicht zu verwenden. Das geht, solange die Besitzer Staatsmächte sind. Aber auch wenn sie irrreguläre Besitzer haben, ist das noch keine definitive Bedrohung. Das könnte allenfalls zu einer einmaligen Operation führen. Das absolut Böse wäre das, was nur einmal geschehen kann. Und bis heute sieht es so aus, als würde es nach diesem einen Mal immer noch einen Tag danach geben, an dem die Menschheit weitermachen kann. Die Erfahrung von Hiroshima und Nagasaki ist, dass an derselben Stelle wieder eine blühende Stadt steht.95

Als sich Sloterdijk in der philosophischen Szene etabliert hatte, konnte er es sich leisten, seine Methode, die Schrecken der Kriege und Völkermorde mit einer pathetischen Sprache zu betäuben, auf die Shoa anzuwenden. Sloterdijks Buch »Luftbeben. An den Quellen des Terrors« beginnt mit folgendem Satz:

Sollte man mit einem Satz und einem Minimum an Ausdrücken sagen, was das 20. Jahrhundert, neben seinen inkommensurablen Leistungen in den Künsten, an unverwechselbar eigentümlichen Merkmalen in die Geschichte der Zivilisation eingebracht hat, so könnte die Antwort wohl mit drei Kriterien auskommen. Wer die Originalität dieser Epoche verstehen will, muß in Betracht ziehen: die Praxis

94 Peter Sloterdijk: Kritik der zynischen Vernunft, Frankfurt/M. 1983, S. 259 f.

95 Peter Sloterdijk, in: BZ vom 23.10.2006; https://www.bz-berlin.de/artikel-archiv/peter-sloterdijk (letzter Zugriff 10.05.2018).


135 / Die Sprache der Apathie

des Terrorismus, das Konzept des Produktdesigns und den Umweltgedanken.96

Mit diesem Ansatz verfolgt Sloterdijk in seinem Buch den Völkermord an den europäischen Juden:

Aus den Hinweisen auf die atmoterroristischen Prozeduren des Gaskrieges (1915-1918) und des genozidischen Gas-Exterminismus (1941-1945) treten die Umrisse einer Son-derklimatologie hervor. Mit ihr wird aktive Atemluftmanipulation zur Kultursache, wenn auch zunächst nur in der destruktiven Dimension. Sie trägt von Anfang an die Züge eines designerischen Zugriffs, durch den mehr oder weniger exakt abgrenzbare Mikroklimata des Todes von Menschen für Menschen entworfen und lege artis hergestellt werden. Aus diesem »negativen Air Conditioning« lassen sich Aufschlüsse über den Prozeß der Moderne als Atmosphären-Explikation gewinnen.97

Als unverwechselbares Merkmal der Kriege und Völkermorde des 20. Jahrhunderts definiert Sloterdijk »das Konzept des Produktdesigns«. Der »genozidische Exterminismus«, also die Judenvernichtung, trägt »von Anfang an die Züge eines designerischen Zugriffs« - allerdings »zunächst nur in der destruktiven Dimension«, was wohl als Trost gemeint ist; immerhin dürfen wir auf die »konstruktive Dimension« der Judenvernichtung hoffen.

Sloterdijk weitet seinen Ansatz, dass die Judenvergasung »negatives Airconditioning« war, aus zu einer universellen Theorie über die »Quellen des Terrors« im 20. Jahrhundert. Er hat als tödliche Gefahr der Kriegsführung nicht den Nuklearkrieg ausgemacht, sondern den Gaskrieg. Die Büchse der Pandora öffnete sich nach Sloterdijk genau am 22. April 1915, als die deutschen Westarmeen gegen den Kriegsgegner erstmals Chlorgas einsetzten. Hieraus leitete Sloterdijk die Aussage ab, dass »aerochemische, atom- oder atmoterroristische Präzisi-

96 Peter Sloterdijk: Luftbeben. An den Quellen des Terrors, Frankfurt/M. 2015, S. 7.

97 Ibid., S. 47.


136 / Dumpfes Verstummen

onsschläge« die »Ökologisierung der Kriegsführung«, also die Zerstörung des Lebensumfeldes des Feindes, bewirkten. Letztlich, so sagt Sloterdijk, ginge es um die »Atembarkeit von Luft«, die seit den »Ereignissen von Hiroshima und Nagasaki dauerthematisch« festgehalten werden müsse:

Man wird das 20. Jahrhundert als das Zeitalter in Erinnerung behalten, dessen entscheidender Gedanke darin bestand, nicht mehr auf den Körper des Feindes, sondern auf dessen Umwelt zu zielen.98

Sloterdijk nennt das »Atmoterrorismus«, »das atmoterroris-tische Muster«. »Atmos« ist ein altgriechischer Begriff und bedeutet so viel wie »Dunst« oder »Umgebung«. »Terrorismus« stammt aus dem Lateinischen: »terror« bedeutet so viel wie »Furcht«, »Schrecken«. Unter dem Pathos der Sprache werden die »atmoterroristischen Prozeduren« des Gaskrieges im Jahre 1915 mit der »genozidischen Gas-Exterminierung«, also der Vernichtung der europäischen Juden, in eins gesetzt und zum »negativen Air Conditioning« geadelt. Wie bei Heidegger alles »Ge-stell« ist - vom Pflug bis zum Verbrennungsofen -, ist bei Sloterdijk alles »Air-Conditioning«, die kühle Luft der Klimaanlage und das Zyklon B der Gaskammer.

 

2 — Der Tambourmajor

Adorno hat im Jahre 1964 Heideggers philosophische Methode in einer Sprachanalyse untersucht. Heidegger benutze »Jargonworte, unabhängig vom Kontext wie vom begrifflichen Inhalt«, es seien, so Adorno, »Sakralworte ohne sakralen Gehalt, gefrorene Emanationen«, die Höheres sagten als sie bedeuten.

Unablässig blähen sich Ausdrücke und Situationen eines meist nicht mehr existierenden Alltags auf, als wären sie ermächtigt und verbürgt von einem Absoluten."

98 Ibid, S. 12.

99 Theodor W. Adorno: Jargon der Eigentlichkeit, op. cit., S. 420.


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Durch ihre Unverbindlichkeit werde die Sprache disponibel und im »paramilitärischen« Kontext »einsatzbereit« gemacht; Worte und Begriffe werden zu »austauschbaren Spielmarken«, die einen »vermeintlichen Ursinn« offenbarten.100 Adorno hatte - wie auch Friedrich Nietzsche - einen tiefen Zugang zur Universalität der Musik, ohne den eine ernsthafte philosophische Rede undenkbar ist. Musik hat alles: Melodik, Rhythmik, Modulation, innere Spannung, den Kontrapunkt, die Ritardandi, die Dynamik, die Variationen der Tempi, die Synkopen, das Tongeschlecht, die Kadenzen, die Dissonanz und die Harmonie, das Maß und die Zerstörung des Maßes.

Nichts von alledem bei Sloterdijk. Das Konzert seiner Sprache ist orchestriert von einer Marschkapelle. Es gibt es nur Pauken und Trompeten, vorneweg marschiert der Tambourmajor und sticht den Regiestock in die Luft. Ob Sloterdijk über Terrorismus redet oder Meditation, Atomkriege oder Schäume, Völkermorde oder Buddhismus: seine Dynamik kennt nur das Fortissimo, ein permanentes Hämmern an der Schmerzschwelle. Sein Rhythmus ist ein gleichförmiges Stakkato, wie es sich für eine Marschkapelle gehört; kein Piano, kein Lento, kein Ri-tardando, kein Kontrapunkt und keine Synkopen: Es herrscht dauernd Höchstspannung, alles wird von atemlosen Sprachkaskaden niedergemacht.

Gespenstisch ist, wenn die Musik selbst zum Gegenstand der amusikalischen Sprache wird. Zuletzt hat sich Sloterdijk an Mozart herangemacht und an Richard Wagner, aber von Musik ist nicht die Rede. Sloterdijk verhandelt den »Ring« und die »Zauberflöte« als Sprachtexte, als seien es keine Opern, sondern Dramen.10'

Sloterdijks Wirkung beruht darauf, die Leser durch eine pathetisch aufgeladene Sprache zu überwältigen. Permanent wirft er Neologismen aus, graeco-romanische Bastarde, die losgelöst sind von Inhalt, Kontext und etymologischem Sinn. Den Nachschub sichert eine speziell entwickelte Thesaurus-Software, eine Künstliche Intelligenz, die für Sloterdijks Bücher philosophische und wissenschaftliche Begriffe in toxische

100 Ibid., S. 418 f.

101 Vgl. Peter Sloterdijk: Nach Gott, Berlin 2017, S. 17-25 und S. 31 ff.


 

 

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