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Geulen-2020    T1    T3    T4


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  Prolog    

  • Nach der ersten nuklearen Zündung am Trinity Point in New Mexico erkannte der amerikanische Atomphysiker J. Robert Oppenheimer, dass die größte Schöpfung der Nuklearphysik, die Spaltung des Atoms, eins ist mit der Vernichtung allen Lebens auf der Erde.

  • Interniert in »Farm Hall«, einem Landsitz in Südengland, versuchten die deutschen Kernforscher Hahn, Heisenberg und Weizsäcker sich von ihrer Komplizenschaft mit dem Hitlerregime reinzuwaschen. Ihre Gespräche wurden vom britischen Geheimdienst heimlich aufgezeichnet. Die Veröffentlichung der »Farm Hall Transcripts« nach einem halben Jahrhundert offenbarte, dass die deutschen Kernphysiker bis zuletzt versucht hatten, gemeinsam mit der Wehrmacht und der SS Plutoniumbomben zu bauen.

  • Tschernobyl und Perwomaisk waren Teil des größten Raketenabwehrsystems der Sowjetunion. In Tschernobyl war eine gigantische Radaranlage errichtet worden mit einer transhorizontalen Reichweite von 10.000 Kilometern. Bei einem Angriff auf die Sowjetunion konnten aus den Silos in Perwomaisk innerhalb von 35 bis 40 Minuten Mittel- und Langstreckenraketen mit nuklearen Sprengköpfen abgefeuert werden, deren Einschläge große Teile Westeuropas zerstört hätten.

  • Seit der Havarie des Tschernobyl-Reaktors im April 1986 ist die Stadt Pryp'jat für immer unbewohnbar; die ionisierende Strahlung des geschmolzenen Kerns wird erst in Jahrhunderten zerfallen. Pryp'jat zeigt uns die Zukunft der Erde nach der nuklearen Vernichtung.


  I   Trinity-Point : die Vishnu-Gestalt Robert Oppenheimer
und die Einheit von Kernspaltung und Menschheitsvernichtung  

 

  1   Vom Rio Bravo zum Trinity Point       02     ^^^^ 

In einer Wüstengegend zwischen El Paso (Texas) und Albuquerque (New Mexico) liegt der Trinity Point. Hier wurde am 16. Juli 1945, 5:30 Uhr Ortszeit, die erste nukleare Kettenreaktion getestet.

Meine Arbeit in El Paso hatte zu tun mit Fort Bliss, einem der größten Luftwaffenstützpunkte der US-Air-Force. Fort Bliss wurde in den vierziger Jahren auf dem Standort eines alten Militärstützpunktes der USA an der Grenze zu Mexiko ausgebaut. Ich vertrat etwa 1200 frühere Bomberpiloten und Radaringenieure der Bundeswehr, die an malignen Karzinomen erkrankt waren, weil sie ungeschützt der ionisierenden Strahlung militär­ischer Radargeräte ausgesetzt worden waren; die meisten waren in Fort Bliss trainiert worden, so dass es gelungen war, die Zuständigkeit des Federal-Court-of-El-Paso (Texas) zu begründen.(1)

El Paso ist die heißeste Stadt der USA. Im Camino Real Hotel war jeder Raum klimatisiert. Der Weg von meinem Hotelzimmer zu der nahegelegenen law firm führte über einen Aufzug in die gekühlte Tiefgarage, dann mit einem Taxi in die Tiefgarage eines Hochhauses und schließlich mit dem Aufzug in die Anwaltskanzlei in der achten Etage, die selbstverständlich auch über ein gutes Air Conditioning verfügte. In Downtown El Paso bewegen sich im Sommer die meisten Geschäftsleute in dieser klimatisierten Parallelwelt.

  • 1 Vgl. Reiner Geulen, Anthony J. Sebok: Deutsche Firmen vor US-Gerichten, in: Neue Juristische Wochenschrift 2003, S. 3244 ff.
    Die vor dem Federal Court in den 2000er Jahren auftretenden law firms konnten nach mehrjährigen Prozessen erhebliche Entschädigungen für die Opfer realisieren.

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Ich hatte mich mit Henry Millers Buch »The Air-Conditioned Nightmare« versorgt. Der Schriftsteller hatte in den dreißiger Jahren Brooklyn verlassen, war nach Paris gezogen und weltbekannt geworden. Kurz vor Kriegsbeginn kam er in die USA zurück, bereiste den Süden, New Mexiko, und er erlebte die Upper Class in ihren klimatisierten Bungalows und die Armen in ihren hitze-sengenden Hütten als Alptraum: den Abstieg der Mittelschichten, die pauperisierten hispanics, die homeless people in ihrem Existenzkampf. Millers Buch endet mit dem Satz:

Es ist jetzt alles vorbei, ein neuer Süden wird geboren, der alte Süden ist untergepflügt worden. Aber die Asche ist noch warm. (2)

In dieser Gegend im äußersten Südwesten von New Mexico lassen sich die Verwerfungen der Geschichte Amerikas eindrucksvoll ablesen. El Paso war im 18. Jahrhundert von den Mexikanern gegründet worden - auf beiden Seiten des Rio Bravo (Rio Grande). Im 19. Jahrhundert annektierten die USA fast die Hälfte des mexikanischen Staatsgebiets und verleibten sich Texas, New Mexico und andere Staaten ein. Über mehr als tausend Kilometer bildet der Rio Bravo seither die Grenze zwischen den reichen USA und ihrem backyard, dem Hinterhof Lateinamerika. Im Jahre 1959 lieferte »Rio Bravo«, der Film von Howard Hawks, auf 35 mm Technicolor die Bilder für den Mythos des texanischen Südens: »God's own country« - geschaffen für uns, die Viehzüchter, die Landlords, die Weißen. Fred Zinnemanns »High Noon« hatte 1952 Gary Cooper noch als einsamen und anständigen Helden gefeiert, der nie als erster den Colt zieht. Der Held des »Rio Bravo« ist schon ein professioneller Sheriff, der mit ein paar Cops und einer Stange Dynamit die Gangster zur Strecke bringt.

Der alte Süden ist untergepflügt worden, aber Millers Alptraumland ist das Traumland der hispanics, aus dem backyard des Kontinents. Die mexikanische Schwesterstadt von El Paso - Ciudad Juarez - ist seit langem ein Ort der Gewalt, der Schwerkriminalität und des Drogenhandels.

Da im texanischen El Paso mexikanische Arbeiter aus der Schwesterstadt gebraucht werden, passieren jeden Morgen nach Sonnenaufgang mehrere tausend Mexikaner die Grenzanlagen zwischen Ciudad Juarez und El Paso mit einem Tagesvisum, um nachts wieder nach Mexiko zurückzukehren.

  • 2 Henry Miller: The Air-Conditioned Nightmare, New York 1945, S. 243.


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Auf weiten Strecken der Grenze haben die USA unüberwindbare Zäune und Mauern errichtet. Seit Anfang des Jahres 2019 haben sie begonnen, Abschiebelager zu bauen für mehrere zehntausend Menschen, denen der backyard Amerikas zu einem Gefängnis geworden ist. Heute strahlen die Bilder des Rio Bravo nicht mehr in Technicolor; sie zeigen Soldaten der Army mit Hunden und Waffen, und sie zeigen die angeschwemmten Leichen von hispanics, ertrunken auf der Flucht vor Elend und Gewalt in ihrer Heimat.

Das militärische Trainingsgelände der Air Force in Fort Bliss erstreckt sich bis weit hinein nach New Mexiko durch das Tula-rosa-Becken und die White Sands-Wüste. Nördlich des Geländes, auf einer menschenleeren Mesa, liegt die Trinity Site. Ein kleiner Obelisk erinnert an die erste erfolgreiche nukleare Kettenreaktion am 16. Juli 1945. Mit dem Test wurde das Manhattan-Projekt abgeschlossen und das Zeitalter der nuklearen Vernichtungs­waffen eröffnet.3 Nachdem der militärische Leiter des Manhattan-Projects, Leslie R. Groves, durchgesetzt hatte, dass die Bombe spätestens am Tag vor Beginn der Potsdamer Konferenz der Siegermächte gezündet werden muss, wurde der Zeitpunkt schließlich festgesetzt auf den 16. Juli, vier Uhr.

Oppenheimer war am Vorabend noch einmal allein zu seinem »baby« auf den Turm gestiegen und hatte sein Werk begutachtet: eine kleine, hässliche Metallkugel, verkabelt mit Elektrodrähten und Zündkapseln. Es hatte in der Nacht zeitweise geregnet; etwa um halb vier entschieden Oppenheimer und Groves, dass die Zündung um 5:29:45 Uhr erfolgen sollte. Der Atomblitz wurde photographiert und gefilmt, nicht aber die Wissenschaftler und Militärs, die Zeugen waren. Aber es gibt den Bericht Oppenheimers über seine Gedanken im Angesicht des Atomblitzes:


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Wir wussten, dass die Welt nicht mehr dieselbe sein würde, einige lachten, andere weinten, die meisten schwiegen. Ich erinnere mich an die Verse aus der Bhagavadgita, der heiligen Schrift der Hindus. Vishnu versucht, den Prinz zu überzeugen, seine Pflicht zu tun, und er erscheint ihm mit seinen vielen Armen, um ihn zu beeindrucken und sagt: »Jetzt bin ich der Tod geworden, der Zerstörer der Welten.« Ich glaube, dass wir das alle dachten auf irgendeine Weise. (4)

Oppenheimer hatte die Bhagavadgitä nicht nur gelesen; er war vielmehr in der Lage, die historische Situation in ihrer mythologischen Bedeutung wahrzunehmen, die den anderen, auch seinen Biographen, verschlossen geblieben war.

Im Gegensatz zu den europäischen Mythologien, etwa denen der Griechen, basieren die Mythologien des frühen Hinduismus auf den elementaren Prinzipien der Schöpfung und der Vernichtung. Der Erzähler sieht Vishnu, den Herrn des Alls, »mit vielen Armen, Bäuchen, Munden und Augen [...], dessen Gestalt von allen Seiten unbegrenzt ist, kein Ende, keine Mitte, auch keinen Anfang.«5 Aber Vishnu ist auch der Schöpfer, der »Erretter aus dem Meere des Weltdaseins, das zum Tode führt«6, der »alles dahinraffende Tod und der Ursprung des Zukünftigen«7. Und Vishnu sagt:


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Der mächtige Tod bin ich, der die Vernichtung der Menschen bewirkt, und habe mich hierher begeben, um die Menschen zu vertilgen.(8)

Oppenheimer hatte erkannt, dass Schöpfung und Vernichtung eine Einheit sind und dass die größte Schöpfung der menschlichen Physik, die Spaltung des Atoms, die Vernichtung allen physischen Lebens ist.

Die Schöpfung war die Sache der Physiker gewesen, die Vernichtung war der Job der Politiker und ihrer Militärs. Die historischen Führer haben es nicht verschwiegen: »Als wir die Bombe hatten, haben wir sie eingesetzt«, erklärte Präsident Truman seinem Volk nach dem Einsatz in Nagasaki, und Churchill fasste es mit den Worten zusammen, dass über den Einsatz der Bombe nichts mehr zu entscheiden war, nachdem sie zum Einsatz bereit war.(9)

       

Das weitere Schicksal Oppenheimers ist für die folgende Geschichte der Weiterentwicklung von Nuklearwaffen unbedeutend: Der Kern war gespalten, die kritische Masse Uran angereichert, die Kettenreaktion gelungen, die Vernichtungswaffe war in der Welt, und ihre Perfektionierung folgte ihrem eigenen Automatismus. Heute ist das sofort einsatzbereite nukleare Vernichtungspotential etwa 24.000-mal größer als in jenen Tagen im Juli 1945.

Gleichwohl interessiert uns das persönliche Geschick Oppenheimers nach dem 16. Juli 1945. Oppenheimer stammte aus einer jüdischen Familie, die Ende des 19. Jahrhunderts von Hanau in Hessen nach New York ausge­wandert war. Sein wichtigster Impetus war, sein physikalisches Genie gegen die Kriege und Völkermorde Nazi-Deutschlands zur Verfügung zu stellen. Nun war er Vishnu geworden: der Weltenerhalter aus dem Geist des Antifaschismus - und der Weltenzerstörer aus der Realität der nuklearen Vernichtung.


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In den Wochen nach dem Einsatz der Bombe verfiel Oppenheimer in Depressionen.10 Er hat diese Phase sehr bewusst durchlebt. Schon nach wenigen Wochen berichtete seine Frau, dass er kaum noch ansprechbar war;11 in einem Dossier des FBI vom 9. August 1945 heißt es, er sei ein »Nervenwrack«.12 Im Oktober 1945, zwei Monate nach Trinity und Hiroshima, führte Oppenheimer Gespräche mit der amerikanischen Regierung, die ihn für eine Mitarbeit an der Fortentwicklung der Uran- bzw. Plutoniumbombe gewinnen wollte. Der Vizepräsident von Roosevelt, Henry A. Wallace, jetzt Wirtschaftsminister Trumans, hielt nach seinem Gespräch mit Oppenheimer am 18. Oktober 1945 in seinem Tagebuch fest:

Noch nie habe ich einen Menschen in einem so extrem nervösen Zustand erlebt wie Oppenheimer. Offenbar hat er das Gefühl, dass die Vernichtung der ganzen Menschheit bevorsteht.13

Und am 25. Oktober 1945 kam es zu einem Gespräch mit dem Präsidenten. Gefragt nach seinem Befinden, sagte Oppenheimer den denkwürdigen Satz:

Herr Präsident, ich glaube, ich habe Blut an meinen Händen.14

Truman bemerkte zu seinen Mitarbeitern, Oppenheimer sei ein »crybaby scientist« (ein Heulsusen-Wissenschaftler), der geklagt habe, er trage Blut an seinen Händen »wegen der Entdeckung der Atomenergie«, und schließlich meinte er: »Ich möchte diesen Kerl nicht noch einmal in meinem Büro sehen.« (15)

Oppenheimers ganzes Engagement galt nunmehr seinem Kampf gegen die Entwicklung der Uran- bzw. Plutoniumbombe zur Wasserstoffbombe. Die Atombombe sei eine so schreckliche Waffe, dass Kriege von jetzt an unmöglich sind; »Sicherheit wird es nur geben, wenn zukünftige Kriege unmöglich gemacht werden.«(16)


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Gemeinsam mit Albert Einstein trat er in den folgenden Jahren öffentlich auf gegen die beginnende Flut von Atombombentests und den Bau der Wasserstoffbombe. In den fünfziger Jahren, während der McCarthy-Ära, hat sich das rechte Establishment der USA - bestehend aus Militär, der CIA und führenden Politikern - an Oppenheimer gerächt.

Oppenheimers Biographen Kai Bird und Martin J. Sherwin überschreiben ihr Buch mit »American Prometheus. The Triumph and Tragedy of J. Robert Oppenheimer«. Mit dem »Triumph« meinen sie die Schaffung der nuklearen Vernichtungswaffe und mit der »Tragödie« die Anklagen in der McCarthy-Ära.

Dass seine Biographen Oppenheimer als »Prometheus« sahen, liegt nicht nur daran, dass die amerikanischen Intellektuellen mit der Mythologie des alten Griechenlands wenig vertraut sind: Der Vergleich von Bird und Sherwin verkannte die Person und das Wirken Oppenheimers grundlegend. Für die Evolution der Menschheit stellte die Domestizierung des Feuers einen gigantischen Sprung dar.(17) Der Mythos schildert Prometheus als Helden, der sich gegen die Götter auflehnt und das Feuer auf die Erde bringt. Die Strafe der Götter war furchtbar: Zeus beauftragte Pandora, den Menschen eine Büchse zu schenken, die sie auf keinen Fall öffnen dürften.

Aber Pandora öffnete die Büchse selbst und setzte alle Laster und Verbrechen frei - Krankheiten, Tod und alle Übel, die die Menschen bis dahin nicht gekannt hatten. Doch Zeus ließ Pandora die Büchse wieder zuschlagen, bevor das letzte Übel entweichen konnte: die Hoffnung - sie sollte die Menschen glauben machen, ihre Leiden würden einmal enden. Nietzsche sagt:

Zeus wollte nämlich, dass der Mensch, auch noch so sehr durch die anderen Uebel gequält, doch das Leben nicht wegwerfe, sondern fortfahre, sich immer von neuem quälen zu lassen. Dazu giebt er dem Menschen die Hoffnung: sie ist in Wahrheit das übelste der Uebel, weil sie die Qual der Menschen verlängert. (18)

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Oppenheimer war kein Prometheus. Wenn wir für ihn eine Gestalt aus den Mythen der Griechen bemühen wollen, dann kann es nur Pandora selbst sein, die im Auftrag der Götter zur Strafe für den Frevel des Prometheus den Menschen endloses Leid brachte. Und Oppenheimer beglaubigte durch seinen aussichtslosen Widerstand gegen den Bau der Wasserstoffbombe auch die Wahrheit des letzten Übels aus Pandoras Büchse: die törichte Hoffnung der Menschen, der Vernichtung des Lebens im Feuer des Atomkriegs entrinnen zu können.

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   2   »Die Schuld ist in uns allen« - die Atomphysiker im Dienste Adolf Hitlers      ^^^^ 

 

Die West-Alliierten hatten in den Wochen nach der Kapitulation des Reichs die zehn wichtigsten deutschen Nuklearphysiker der dreißiger Jahre verhaftetet; die bekanntesten waren Werner Heisenberg, Otto Hahn und Carl-Friedrich von Weizsäcker. Die Wissenschaftler waren an verschiedenen Orten festgenommen und zunächst im Jagdschloss Facqueval in den Ardennen am 4. Juni 1945 interniert worden. Am 3. Juli 1945 wurden sie von den Briten übernommen und nach Farm Hall gebracht, einem alten Landsitz in der Nähe von Cambridge in Südengland, den der britische Geheimdienst zur Ausbildung von Agenten nutzte. Der völkerrechtliche Status der Internierten war unklar. Sie waren keine Kriegsgefangenen, interniert wurden sie, weil die Alliierten wissen wollten, ob eine Zusammenarbeit mit den deutschen Größen der theoretischen Nuklearphysik möglich sei. Der Aufenthalt in Farm Hall war daher äußerst komfortabel.


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Während in den Nachkriegsmonaten auch in England die Bevölkerung schlecht versorgt war, gab es in Farm Hall Fleisch und Gemüse, Kaffee, Gin und Sekt, nach dem Dinner wurde Klavier gespielt, Skat oder Bridge, die Speisekarte zum Heiligen Abend 1945 sah Consommé vor, Truthahn gratiniert, Plumpudding, Käseplatte garniert, Mocca, feines Gebäck und Früchte.(19) Hahn fühlte sich »wie in der Sommerfrische«(20)

Farm Hall war komplett verkabelt, vom ersten bis zum letzten Tag wurden alle Zimmer abgehört, und zwar täglich rund um die Uhr, ohne dass die Inhaftierten davon wussten. Alle Aufzeichnungen wurden von den Nuklear­physikern des britischen Geheimdienstes registriert, wörtlich ins Englische übersetzt oder zusammenfassend protokolliert, ausgewertet und archiviert. Die Dossiers wurden dann als top secret gestempelt und in Einzel­exemplaren an ausgewählte Stellen der Geheimdienste des UK und der USA verteilt.(21)

Nach dem Krieg hatten die Leute um Hahn, Heisenberg und Weizsäcker bestritten, jemals am Bau einer Atombombe für das Deutschland der Nazis beteiligt gewesen zu sein. Nach und nach aber kamen Dokumente ans Licht, die die enge Zusammenarbeit der deutschen Kernphysiker mit der Deutschen Wehrmacht während der gesamten Kriegsjahre belegten.(22) Endgültig enthüllt wurde die Mittäterschaft der deutschen Nuklearphysiker an Hitlers Uran-Projekt durch die Veröffentlichung der sogenannten »Farm Hall Transcripts«(23) fast ein halbes Jahrhundert später.

Die bisher veröffentlichen Dokumente und die zeithistorischen Nachforschungen ergeben inzwischen ein eindeutiges Bild: Die deutschen Nuklearphysiker hatten bereits vor Beginn des Krieges die theoretischen Grundlagen der Kernspaltung erforscht.


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Sie alle hatten an dem »Uranprojekt« gearbeitet, um die sogenannte »Uranmaschine«, einen nuklearen Reaktor zu bauen.24 Unmittelbar nach dem deutschen Überfall auf Polen am 1. September 1939 - dem Beginn des Zweiten Weltkriegs - begannen sie gemeinsam mit der Deutschen Wehrmacht (i. e. mit Nuklearphysikern des Heereswaffenamtes) und der SS mit der Entwicklung der Atombombe. Heisenberg hatte in einem Bericht vom 6. Dezember 1939 deutlich gemacht, dass eine Bombe von bisher unerreichter Sprengkraft gebaut werden könnte, wenn aus den weltweiten Uranvorkommen nur genügend Mengen zur Verfügung stünden.25

Eine besondere Rolle hatte Weizsäcker eingenommen. Im September 1939, also kurz nach Kriegsbeginn, wurde er mit anderen führenden Kernphysikern an das Kaiser-Wilhelm-Institut für Physik in Berlin zitiert, um »Versuche für die Nutzbarmachung der Kernspaltung« durchzuführen. Das Ziel des Programms war die Spaltung des Atoms und die Herstellung eines nuklearen Reaktors. Alle Kernphysiker folgten diesem Ruf, Weizsäcker entschied sich sogar zu einem Umzug nach Berlin. Bereits am 17. Juli 1940 konnte Weizsäcker an das Heereswaffenamt über einen erfolgreichen Versuch berichten, Uran 238 und Uran 239 zu spalten, um einen Kernbrennstoff für waffenfähiges Plutonium zu gewinnen.(26) Im Jahre 1941 wurde dem Institut aufgrund der Versuchsberichte Weizsäckers das »Patent für die Produktion einer solchen Bombe« erteilt.(27)


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Uns interessiert hier besonders die Reaktion der deutschen Nuklearphysiker auf den Abwurf der Hiroshimabombe. Wir beschränken uns auf die Protokolle des Zeitraums vom 6. bis 10. August 1945, also die Tage nach dem Einsatz der Atombomben über Hiroshima und Nagasaki.(28) Am Abend des 6. August 1945 wurden die Internierten von Farm Hall darüber informiert, dass die BBC den Abwurf einer Atombombe in Hiroshima gemeldet hatte. Im Bericht des Britischen Geheimdienstes heißt es:

Die Gäste waren von diesen Nachrichten total geschockt. Sie weigerten sich zuerst, es zu glauben, und dachten, dass es sich um einen Bluff unsererseits handelte, um die Japaner zur Kapitulation zu zwingen.29

Am Morgen des folgenden Tags erfuhren die Internierten aus den Zeitungen von Trumans Radioansprache,30 und sie hörten zum erstenmal von dem Manhattan-Projekt, von den 190.000 Technikern und Physikern, die seit 1942 an dem Bau der Atombombe beteiligt waren, und sie lasen den Satz aus Trumans Rede:

Wir haben zwei Milliarden Dollar auf das größte wissenschaftliche Glücksspiel in der Geschichte gesetzt - und gewonnen.(31)

Als Weizsäcker die Nachrichten erfuhr, verfiel er zunächst in eine Dolchstoßlegende. Er beschuldigte die SS und die Wehrmacht, den deutschen Kernphysikern nicht die erforderliche Menge Uranerz aus den Kriegsgebieten geliefert zu haben.


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Wir hätten Langstreckenflugzeuge mit Uranmaschinen ausrüsten müssen, um Luftlandeoperationen im Kongo oder in Nord-West-Kanada durchzuführen. Wir hätten diese Gebiete durch Einsatz von Militär einnehmen und halten und das Zeug aus den Uranbergwerken gewinnen müssen. [...]

Wenn wir die Sache rechtzeitig genug angefangen hätten, hätten wir es irgendwie schaffen können. Wenn die die Sache im Sommer 1945 zum Abschluss bringen konnten, hätten wir vielleicht das Glück gehabt, damit schon im Winter 1944/45 fertig zu sein. (32)

Unter den Internierten in Farm Hall befand sich auch Walther Gerlach, der 1943 von Göring zum »Bevollmächtigten« für das Uranprojekt bestellt worden war und damit zum wichtigsten Verbindungsmann der Kern­physiker für die Beschaffung des Urans aus den Kriegsgebieten wurde. Weizsäcker war so aufgebracht, dass er in einem vertraulichen Gespräch Gerlach und seinen Assistenten Diebner offen der Sabotage bezichtigte.(33)

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Weizsäckers Dolchstoßlegende hatte einen sehr realen Hintergrund. Die deutschen Kernphysiker hatten im Jahre 1938 als erste die Isotopentrennung erfolgreich getestet. Zur Herstellung einer Uranbombe fehlte noch eine hinreichende Menge an hochwertigem Uranerz, um die kritische Masse anzureichern für eine Kettenreaktion und die Zündung der Atombombe. Nach der Annexion des Sudetenlandes im Jahre 1938 hatte das Deutsche Reich zwar Zugriff auf die Uranvorkommen im böhmischen St. Joachimsthal (heute Jachymov), doch waren diese Vorkommen wenig ergiebig. Das Gleiche gilt für damals bekannte Uranvorkommen in Kanada.

Zu Recht hatte Einstein in seinem Brief vom 2. August 1939 an den Präsidenten Roosevelt festgestellt, dass es in den USA keine validen Uranvorkommen gibt und dass »die wichtigste Quelle von Uran Belgisch-Kongo« ist.(34) Der Besitz dieses Urans sollte schließlich entscheidend sein für den Ausgang des von Truman so genannten »Glücksspiels« (gamble) zwischen Deutschland und den USA beim Bau der Atombombe.

  • 32 Vgl. Sir Charles Frank (Hg.): Operation Epsilon, op.cit, S. 78.

  • 33 Ibid., S. 88 f.

  • 34 Cynthia C. Kelly: The Manhattan Project, op. cit., S. 43.


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Anfang der zwanziger Jahre war in der kongolesischen Provinz Katanga hochwertiges Uranerz entdeckt worden. Der Kongo war damals eine Kolonie des Königreichs Belgien, das sämtliche Schürfrechte der Bodenschätze Katangas - darunter des Urans - der Union Miniere du Haut Katanga (UMHK) übertragen hatte, einer belgisch-britischen Holding mit Sitz in Brüssel. Abgebaut wurde es in der Shinkolobwe-Mine im Süden Katangas. Das Uranerz wurde von dort nach Antwerpen verschifft und in die Urananreicherungsanlage der UMHK in Ölen in der Provinz Antwerpen gebracht, um in geringem Umfang reines Radium und Uran herzustellen.

Im Jahre 1939, am Vorabend des Zweiten Weltkrieges, nahm das Interesse der Großmächte an hochwertigem Uran rapide zu. Die Kernspaltung war in Tests realisiert worden, in Deutschland und den USA wurde mit einer möglichen Kettenreaktion experimentiert, in Aussicht stand eine Kriegswaffe von bisher unbekanntem Vernichtungspotenzial. Irgendwann im Herbst 1939 wurde bekannt, dass der Gehalt des Katanga-Urans von einer derart hohen Qualität war, dass eine Anreicherung der für den Bau der Atombombe erforderlichen Mengen in absehbarer Zeit möglich schien. Der (spätere) Brigadegeneral der US-Army, Kenneth D. Nichols, der mit der Akquisition des Uranerzes für das Manhattan-Projekt beauftragt worden war, beschrieb das Katanga-Uran aus Shinkolobwe als »tremendously rich lode [...]. Nothing like it has ever again been found.«35

Die Minenbetreiberin UMHK, die ein weltweites Monopol an dem Katanga-Uran hatte, entschied kurz vor Beginn des Zweiten Weltkrieges, weitere Transporte nach Antwerpen auszusetzen. Die UMHK leitete die Transporte um nach New York und lagerte insgesamt 1200 Tonnen Uran in den Archer-Daniels-Midland-Warehouses in einem Hafengelände auf Staten Island. Über 3000 Tonnen Uran, die bereits abgebaut worden waren, wurden in der Shinkolobwe-Mine gelagert. Die Folge war, dass die Deutsche Wehrmacht bei ihrem Überfall auf Belgien im Jahre 1940 nur begrenzte Mengen an Uranerz erbeutete, die nicht ausreichten, die erforderliche kritische Masse zur Herstellung der deutschen Atombombe zu gewinnen.

  • 35 Kenneth D. Nichols: The Road to Trinity, New York 1987, S. 44-47.


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Das gesamte Uranerz, das in Katanga und auf einem Frachtschiff in Staten Island lagerte, fiel schließlich in die Hände der USA. Als sie für das Manhattan-Projekt im Jahre 1942 große Mengen hochwertigen Uranerzes benötigten, kauften sie zunächst von der Minenbetreiberin die gesamte in Staten Island gelagerte Fracht von 1200 Tonnen für 2,3 Milliarden Dollar und die in der Shinkolobwe-Mine gelagerten weiteren 3000 Tonnen, die in Ladungen von 400 Tonnen monatlich nach New York verschifft wurden. Der gesamte nukleare Rohstoff der Bomben von Hiroshima und Nagasaki sowie des Nuklearprogramms der USA nach dem Krieg kam aus der Shinkolobwe-Mine in Katanga.

Man kann die Vorgeschichte der nuklearen Endzeit erzählen aus dem Blick der Staaten und ihrer Führer, der Militärs, der Minenbesitzer und Stahlbarone - und der Kernphysiker. Man kann sie auch erzählen wie David Van Reybrouck es versucht hat oder Paul Theroux.36 Es ist die Geschichte Afrikas im 20. Jahrhundert, eine Geschichte des Kolonialismus, der Warlords, der verdeckten militärischen Operationen der CIA und des KGB, der Sklaverei und tribalistischen Gewalt, der Waisen und Kindersoldaten, der niedergebrannten Dörfer, Kriegsversehrten und Flüchtlinge. Und es ist die Geschichte von Schwarzen, die in einer Mine in den afrikanischen Tropen mit Spaten und bloßen Händen das strahlende Erz ausgraben, das zum Subjekt der menschlichen Endzeit wird.

Weizsäcker wird in der folgenden Nacht nicht an die zerschmolzenen Körper in Hiroshima gedacht haben und nicht an die verstrahlten Minenarbeiter im Kongo. Er brauchte nicht einmal 24 Stunden, um aus der Klage über das Versagen der Wehrmacht bei der Beschaffung des Katanga-Urans seine Strategie der Reinwaschung zu finden:

  • 36 Vgl. David Van Reybrouck: Kongo. Eine Geschichte, Berlin 2018, S. 149 ff. und S. 229 ff. Vgl. auch Paul Theroux: Ein letztes Mal Afrika. Von Kapstadt nach Angola, Hamburg 2017.


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Die Geschichte wird berichten, dass die Amerikaner und die Engländer eine Bombe bauten und dass in derselben Zeit die Deutschen unter dem Hitler-Regime eine arbeitsfähige Maschine bauten. Mit anderen Worten, die friedliche Entwicklung der Uranmaschine wurde in Deutschland unter Hitler gemacht, während die Amerikaner und die Engländer diese grässliche Kriegswaffe entwickelt haben.37

Am folgenden Tag, dem 8. August 1945, erfuhren die Internierten von Presseberichten über ihre langjährigen Arbeiten, Versuche und Patente zur Herstellung einer Atombombe für das Hitler-Regime. Der vertrauliche Geheim­dienst­bericht vermerkt, dass die Internierten »extrem beunruhigt« (extremly worried) waren.38 Und auf Vorschlag des englischen Geheimdienstoffiziers, Th. Rittner, verfassten sie noch am 8. August 1945 in deutscher Sprache ein Memorandum für die deutsche und internationale Öffentlichkeit:

Die Atomkernspaltung beim Uran ist im Dezember 1938 von Hahn und Strassmann am Kaiser-Wilhelm-Institut für Chemie in Berlin entdeckt worden. Sie war die Frucht rein wissenschaftlicher Untersuchungen, die mit praktischen Zielen nichts zu tun hatten. [...]

Beim Beginn des Krieges wurde in Deutschland eine Gruppe von Forschern zusammengerufen, deren Aufgabe es war, die praktische Ausnutzbarkeit dieser Energien zu untersuchen. Die wissenschaftlichen Vorarbeiten hatten gegen Ende 1941 zu dem Ergebnis geführt, dass es möglich sein werde, die Kern-Energien zur Wärme-Erzeugung und damit zum Betrieb von Maschinen zu benutzen.

Dagegen schienen die Voraussetzungen für die Herstellung einer Bombe im Rahmen der technischen Möglichkeiten, die Deutschland zur Verfügung standen, damals nicht gegeben zu sein. [...] Gegen Ende des Krieges waren diese Arbeiten soweit gediehen, dass die Aufstellung einer energieliefernden Apparatur wohl nur noch kurze Zeit in Anspruch genommen hätte.39

  • 37 Sir Charles Frank (Hg.): Operation Epsilon, op.cit., S. 92.

  • 38 Ibid., S. 93.

  • 39 Ibid., S. 102.


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Es gibt in den umfangreichen Protokollen aus dem Zeitraum vom 6. bis zum 10. August 1945 keinen Hinweis darauf, dass die deutschen Kernforscher für die Opfer der Bombenabwürfe so etwas empfunden hätten wie Empathie. Hahn berichtete dem Offizier am 6. August 1945 abends, wegen seiner Mitschuld an der Entdeckung der Kernspaltung habe er einen Suizid erwogen. Der Geheimdienstoffizier bemerkte hierzu in seinem Protokoll, dass Hahn mit einer »beachtlichen Menge Alkohol« beruhigt werden konnte. Gerlach, der Verbindungsmann Görings zu den Kernphysikern, stand vom gemeinsamen Esstisch auf, und das Protokoll vermerkt, dass man ihn in seinem Schlafzimmer schluchzen (sobbing) hörte. Hahn ging schließlich zu ihm und fragte, ob er so erregt sei, weil die Amerikaner es besser gemacht hätten, und Gerlach antwortete: »Ja.« (40)

Die Folgen der Bomben für Hiroshima, die über 100.000 Toten, die völlige Zerstörung einer Großstadt mittels einer einzigen Bombe: seit dem 7. August 1945 druckte die britische Presse die Bilder des Schreckens - aber für die deutschen Kernphysiker war dies bis zum Ende ihrer Internierung der Rede nicht wert. Vielmehr diskutierten sie ab dem 8. August 1945 verstärkt über ihre beruflichen Perspektiven. Heisenberg meinte, dass jeder sorgfältig darauf achten sollte, in die richtige Position zu kommen, worauf Weizsäcker erwiderte:

Unter den Nazis war das nicht möglich. Die richtige Position wäre in einem Konzentrationslager gewesen, und es gab einige, die das gewählt haben. Natürlich ist es die Frage, wie man mit der gegenwärtigen Regierung in die richtige Position kommen kann, aber wir können es versuchen. (41)

Voller Neid schauen die Deutschen nach London - dort, im Buckingham Palace, residiert die Queen seit über einem halben Jahrhundert in biblischem Alter, und die Royais präsidieren dem Königreich seit 300 Jahren. Die Deutschen haben es nach den tiefen Brüchen der Geschichte mit ihren Herren nicht leicht gehabt.

  • 40 Ibid., S. 70 und 79 f.

  • 41 Ibid., S. 110.


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Der Hochadel Preußens hatte sie in die Vernichtungsschlachten des Ersten Weltkriegs geführt. Die nach dem kurzen Frühling der Weimarer Demokratie kamen, stammten aus plebejischem Milieu. Sie agierten aus dem Hass der Deklassierten, ausnahmslos hatten sich alle führenden Nazis schamlos persönlich bereichert.

Leute wie Heisenberg, Hahn und Weizsäcker aber waren richtige Herren, sie trugen Anzüge aus feinem Tuch und nicht die Uniformen der SS. Sie hatten es nicht nötig, sich zu bereichern, denn ihre Familien waren gut situiert. Nur wenige von ihnen hatten wirklich blaues Blut, aber sie pflegten den aristokratischen Gestus vornehmer Zurückhaltung. In den dreißiger Jahren waren sie die großen Genien der theoretischen Nuklearphysik.

Gleich nach Kriegsbeginn begannen sie mit ihren Versuchen, das Atom zu spalten und eine Kettenreaktion zu bewirken. Sie ließen sich den Bau der Plutoniumbombe patentieren, und der Fronteinsatz blieb ihnen erspart, weil ihr Uranprojekt ein kriegswichtiger Betrieb war. Nach Kriegsende verbrachten sie ein halbes Jahr in Farm Hall, in der Sommerfrische.

Ab Anfang 1946 setzten sie ihre Karrieren ungebrochen fort als Professoren für Nuklearphysik, Berater der Regierung Adenauer, als Mahner und als Propagandisten für den Bau von Atomkraftwerken und Plutonium­fabriken. Alle sind nach dem Krieg wieder zu Ehren gekommen, zu Lehrstühlen, zu Ansehen, sie wurden gefeiert für ihr Lebenswerk, und bis heute ist es der Stolz großer wissenschaftlicher Einrichtungen, ihre Namen zu tragen. Sie haben die Grundlagen geschaffen für die Öffnung der Pandorabüchse, Mitgefühl mit den Opfern der Bombe hatten sie keins.

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Albert Speer, Hitlers Minister für Rüstung und Krieg, hat sie dann alle übertroffen. Speer hatte nichts ausgelassen, er war in den Kriegsjahren an allen Verbrechen beteiligt: Dem Angriffskrieg gegen die Völker des Ostens, den Zwangsarbeitersystemen der Konzentrationslager, der Deportation der Juden, er hatte den Ausbau des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau vorangetrieben und die Produktion der V-2-Raketen in den Tunneln von Dora-Mittelbau.


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Vor dem Internationalen Militärgerichtshof in Nürnberg 1945 als Hauptkriegsverbrecher angeklagt, hatte er mit einem geschickten Auftritt seinen Kopf aus der Schlinge gezogen, was durchaus wörtlich zu verstehen ist. Speer hatte sich als unpolitischer Architekt präsentiert, der von Hitler getäuscht und verführt worden war. Dem Strang entging Speer nur knapp, seine Verbrechen konnten in Nürnberg noch nicht aufgeklärt werden. Wären sie erkannt worden, hätte ihn das Nürnberger Gericht ohne weiteres zum Tode verurteilt.

Als Speer nach zwanzig Jahren Haft im Jahre 1966 aus dem Spandauer Gefängnis entlassen wurde, war die deutsche Öffentlichkeit begeistert. Die Vergangenheit war abgeschlossen, die Täter resozialisiert, die Zwangsarbeiter vertrieben oder ermordet, und der Kriegsverbrecher Speer wurde zum Popstar.

Niemand hat das Geschäft der Reinwaschung so clever und lukrativ betrieben wie er. In dem rechtskonservativen Journalisten Joachim Fest, einem eloquenten Laienhistoriker, fand er den kongenialen soul mate,42 denn Fest hatte den Plot für die Performance gefunden: Speer war in Wahrheit ein Gegner Hitlers, er hat es mir selbst gesagt.

Die systematischen Fälschungen der Autoren Speer und Fest sind inzwischen aufgedeckt worden, uns interessiert hier etwas anderes. Speer war die ideale Verkörperung jenes Geistes-Adels, dem die Deutschen alles verzeihen, ein distanzierter Herr, vornehm und gebildet, ein genialer Technokrat, unpolitisch und vom Führer verführt. Der Biograph, im kleinbürgerlichen Lehrermilieu aufgewachsen, bewunderte Speers »bessere Herkunft, seinen Geschmack und seine Lebensart«, Speer habe sich immer ferngehalten von der »derben und primitiven Kamarilla« um Hitler, von den »Jasagern und höheren Dienstboten«; und dann diese enigmatische Aura, wie er

Hitlers ganzes Gefühl gewann und, wie niemand sonst, Eva Braun eingeschlossen, Gegenstand seiner tieferen, durchaus erotisch eingefärbten Zuneigung wurde.(43)

Was für ein charismatischer Kriegsverbrecher.

  • 42 Vgl. Joachim Fest: Speer. Eine Biografie, Frankfurt/M. 2001.

  • 43 Die vorausgegangenen drei Zitate: ibid., S. 14.


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Wer die innere Einstellung von Leuten wie Weizsäcker verstehen will, muss seine Farm-Hall-Sonette lesen.(44) Weizsäcker hatte vor dem Krieg Stefan George kennengelernt. Und mit ihm verband ihn die tiefe Über­zeugung, in der unheilvollen Gegenwart der Weimarer Republik sei ein großer Krieg unvermeidlich und seiner reinigenden, kathartischen Wirkung wegen auch wünschenswert. Ein großer Teil der rechts­nationalen deutschen Intelligenz hatte so gedacht. Und in Farm Hall begann Weizsäcker, Sonette im Stil von Stefan George zu schreiben.

In dem Sonett »Altes Japan« beschwört Weizsäcker den Jahrhunderte alten Kult der japanischen Samurai; den Weltkrieg haben wir gemeinsam verloren, aber unsere Waffenbrüderschaft lebt weiter:

In tiefem Sinne zwingt sein Herz der Fechter,
Bis daß es ruht in seines Schwertes Spitze.
Die Stöße seien knapp und rein wie Blitze,
tödlich ein jeder, jeder ein Gerechter [...] (45)

In diesem Geiste hatten die Japaner seit 1921 Südostasien mit Kriegen und Völkermorden überzogen. Sie hatten China überfallen, den indonesischen Archipel, das alte Indochina, Birma, sie waren über Tausende Kilometer bis an den Golf von Bengalen marschiert. Und in ihrem gnadenlosen Stolz hatten die japanischen Militärs in den letzten Monaten des Krieges auch das eigene Volk dem Ehrengesetz des Samurai, dem Harakiri, unterworfen.46

Wie der Samurai-Krieger, den er verehrt, kennt auch Weizsäcker keine Empathie. Aber anders als der Samurai verfällt Weizsäcker in Farm Hall in Selbstmitleid. Ungerecht und gnadenlos hat das Schicksal mit ihm gespielt, und er zitiert die berühmten Sätze aus dem Buch Hiob:

Ich will reden in der Angst meines Herzens und will klagen in der Betrübnis meiner Seele. (47)

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In dem Sonett »Farm Hall« dichtet Weizsäcker im Angesicht des »wilden Grün[s] des Rosenstrauches«, den er aus seinem Fenster sieht:

Doch rinnt bei Nacht das Mondlicht durch die Ranken,
so strömt herein das Leiden ohne Ende,
Hunger, Verzweiflung, Rache, falsches Wähnen,
Tod auf dem Weg, Schrei der verlassenen Kranken -
die Stirn gepreßt auf die verschränkten Hände,
harr ich vergebens auf den Trost der Tränen. (48)

Nicht nur das Leiden strömt herein ohne Ende, auch die Schuld, der Weizsäcker ein eigenes Sonett widmet:

Oh bricht denn niemals der Dämonen Kraft?

Sieht niemand denn: die Schuld ist in uns allen?

Wo Unrecht fiel, seh ich sich Unrecht ballen,

Und Schuldige von Schuldigen bestraft. [...]

Oh wollen wir, der Finsternis Vasallen,

den Himmel nicht, den nur die Liebe schafft? [...]

Das Herz will brechen.

Oh Zwang, Verstrickung, Säumnis! Schuld, oh Schuld. (49)

Mit Weizsäcker hatte alles angefangen. Gerade vor ihm hatte Einstein den Präsidenten Roosevelt in seinem Brief vom 2. August 1939 gewarnt.

Ich habe gehört, dass Deutschland soeben den Verkauf von Uran gestoppt hat aus den Minen in der Tschechoslowakei, die sie überfallen hat. Eine derart schnelle Aktion ist zu erklären aufgrund der Tatsache, dass der Sohn des deutschen Staatssekretärs von Weizsäcker verbunden ist mit dem Kaiser-Wilhelm-Institut in Berlin. (50)

Und nun, sechs Jahre später, saß er in Farm Hall, nichts war passiert, seine Uranmaschine, seine Plutoniumbombe hätten dem Frieden gedient, dem Führer. Schuld war der Dämonen Kraft, wir waren nur der Finsternis Vasallen, alle waren schuld, niemand war schuld, schon gar nicht er: Mochte Oppenheimer Blut an seinen Händen haben, er wusch seine Hände in Unschuld.

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  • 44 Es handelt sich um insgesamt zwölf Sonette; vier von ihnen sind abgedruckt in: Carl-Friedrich von Weizsäcker: Der bedrohte Friede. Politische Aufsätze 1945-1981, München / Wien 1981, S. 571 ff.

  • 45 Ibid., S. 571

  • 46 Der große Akiro Kurosawa hat in seinen frühen Filmen die tiefen Wurzeln des grausamen Stolzes der Samurai in der japanischen Geschichte aufgezeigt.

  • 47 Ibid., S. 573 (zit. aus Buch Hiob 7.11.)

  • 48 Ibid., S. 571; das Sonett wurde am 06.08.1945 geschrieben, aber anscheinend noch in Unkenntnis der Hiroshimabombe.

  • 49 Ibid., S. 572

  • 50 Vgl. zu Einsteins Brief im Einzelnen oben Teil l, Kap. I 2. Einsteins Hinweis galt dem Vater, Ernst von Weizsäcker, der Staatssekretär im Auswärtigen Amt war. Während sein Dienstherr, Außenminister Ribbentrop, in den Nürnberger Prozessen gegen die Hauptkriegsverbrecher zum Tode verurteilt und hingerichtet wurde, wurde Ernst von Weizsäcker als einer der Hauptangeklagten im sogenannten Wilhelmstraßen-Prozess auf Grund seiner aktiven Mitwirkung an der Deportation französischer Juden nach Auschwitz wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit am 11.04.1949 zu fünf Jahren Haft verurteilt. Er wurde im Oktober 1950 nach 3 1/4 Jahren Haft entlassen und starb zehn Monate später.

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