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   Teil 4   »Also sprach Zarathustra« - Friedrich Nietzsche, Richard Strauß und Gustav Mahler im Jahre 1896 

Geulen-2020

182-198

Zehn Jahre hatte Zarathustra in der Einsamkeit verbracht und der Sonne gehuldigt, als er sich entschloss, unter die Menschen zu gehen - »Du grosses Gestirn! Was wäre dein Glück, wenn du nicht Die hättest, welchen du leuchtest!«

Nietzsches großes Werk gegen den Geist der preußischen Staatsphilosophen Hegel und Kant, »Also sprach Zarathustra«, feiert das Leiden des wirklichen Menschen - nur im Geiste des Mitgefühls wird das Leben ewig wiederkehren.

Mit 45 Jahren hatte Nietzsche von der Welt Abschied genommen. Im Herbst 1896 lebte er in Naumburg, endgültig verstummt, behütet von seiner Mutter. Zur gleichen Zeit schlossen Richard Strauß und Gustav Mahler, die Nietzsche nie begegnet waren, ihre Kompositionen zum »Zarathustra« ab.

Richard Strauß verkündet die Ankunft eines Erlösers. Dieser Zarathustra feiert nicht das irdische Leben, den Menschen, die tiefe Ewigkeit der Lust. Er erscheint in strahlendem C-Dur-Akkord mit vollem Orgelwerk und erlischt in »schimmernder H-Dur-Harmonie« als gleißende Apotheose. Der Zarathustra Gustav Mahlers tritt leise unter die Menschen. Eine Altstimme singt das Nachtwandler-Lied in h-Moll, der Tonart der Nacht:

»Die Welt ist tief, / Und tiefer als der Tag gedacht. / Tief ist ihr Weh«. Die Musik verstummt.

Die Reise unseres Lebens braucht keine Hoffnung, keine Götter und keine Galaxien. Wir haben nichts als die Erde, und wir brauchen nichts als die Erde. Die Spalter des Atoms, die Genien der Raumfahrt, wir haben sie durchschaut, und wir bekämpfen jeden, der diese Welt zerstört. Wir folgen dem großen Albert Camus und entscheiden uns für Ithaka.

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    I /  Friedrich Nietzsches Abschied von der Welt  

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Friedrich Nietzsche lebte im Herbst 1896 in dem Haus Weingarten 18, das unmittelbar neben der alten Naumburger Stadtmauer liegt, dem Burgwall. Nietzsche hat in dieser Gegend, an den Grenzen Sachsens, Anhalts und Thüringens, mehr als die Hälfte seines Lebens verbracht. In einem Pfarrhaus in der Nähe von Leipzig, in Röcken, war er 1844 geboren worden, und dort wurde er begraben. Nach dem Tod des Vaters war die Witwe mit ihren beiden Kindern nach Naumburg gezogen, in der Nähe, in Schulpforta, ging Nietzsche zum Gymnasium und verließ diese Welt als 19-Jähriger.

25 Jahre später kehrte er für immer in seine Heimat zurück. Weihnachten 1888 war er in Turin zusammengebrochen. Es wird berichtet, Nietzsche sei von zwei Stadtpolizisten abgeführt worden,

[...] gefolgt von einem Schwarm kreischender Menschen. Friedrich Nietzsche hatte, wenige Minuten zuvor, die Arme um den Hals des Pferdes einer Mietkutsche geschlungen und wollte ihn nicht mehr los lassen. Er hatte gesehen, wie der Kutscher den Vierbeiner geschlagen hatte und dabei einen so ungeheuren Schmerz empfunden, dass er sich veranlasst sah, dem Tier seine Zuneigung zu bezeugen.'

In den ersten Januartagen des Jahres 1889 schreibt Nietzsche an Freunde und Bekannte Briefe, die sogenannten Wahnsinnszettel, die meisten unterschrieben mit: »Der Gekreuzigte«.

Die Welt ist verklärt, denn Gott ist auf der Erde. Sehen Sie nicht, wie alle Himmel sich freuen? Ich habe eben Besitz ergriffen von meinem Reich, werfe den Papst ins Gefängniß und lasse Wilhelm, Bismarck und Stoecker erschießen.(2)


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Es ist ein Vorurtheil, daß ich ein Mensch bin. Aber ich habe schon oft unter den Menschen gelebt und kenne Alles, was Menschen erleben können, vom Niedrigsten bis zum Höchsten. Ich bin unter Indern Buddha, in Griechenland Dionysos gewesen, - Alexander und Cäsar sind meine Inkarnationen [...]. Dies Mal aber komme ich als der siegreiche Dionysos, der die Erde zu einem Festtag machen wird...(3)

Am 5. Januar schreibt er an Jacob Burckhardt in Basel:

Zuletzt wäre ich sehr viel lieber Basler Professor als Gott; aber ich habe es nicht gewagt, meinen Privat-Egoismus so weit zu treiben, um seinetwegen die Schaffung der Welt zu unterlassen. Sie sehen, man muß Opfer bringen. [...] Ich habe Kaiphas in Ketten legen lassen; auch bin ich voriges Jahr von den deutschen Ärzten auf eine sehr langwierige Weise gekreuzigt worden. Wilhelm Bismarck und alle Antisemiten abgeschafft.(4)

Einige Tage später spricht Nietzsche auf der Straße Passanten an und sagt: »Ich bin Gott, ich habe mich so verkleidet, um mich den Menschen zu nähern.«(5) Nietzsche wird festgenommen. Die Polizei konsultiert einen Irrenarzt, es droht eine Zwangseinweisung Nietzsches. Franz Overbeck reist am 7. Januar nach Turin, um seinen Freund abzuholen. Die folgenden zehn Tage sind durch Briefe, Aufzeichnungen und Arztberichte im Detail dokumentiert. Nietzsche wurde weiterhin von der Turiner Polizei festgehalten, »und nur eine regelrechte Entführung konnte eine Zwangsaufnahme in eine dortige Anstalt verhindern« * Overbeck befreit Nietzsche schließlich unter einem Vorwand aus dem Polizeigewahrsam und fährt mit ihm in seine Wohnung in der Via Carlo Alberto. Nietzsche weigert sich, die Wohnung zu verlassen, und nur der Hausherr Davide Fino, der ihm mit großer Zuneigung verbunden ist, kann ihn schließlich zur Abreise überreden.

  • 3 Brief an Cosima Wagner vom 03.01.1889, zit. n. ibid., S. 730.

  • 4 Zit. n. ibid., S. 731. Nietzsche war von 1869 bis 1879 Professor für klassische Philologie an der Universität Basel.

  • 5 Ugo Pavia, zit. n. ibid., S. 732.

  • 6 Ibid., S. 733-


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Als Nietzsche das geliebte Turin verlassen muss,

[...] wollte er um jeden Preis, daß ihm »il caro signor Fino« seine Nachtmütze schenkte, zum Zeichen, daß sie einander bald wiedersehen würden. Mit dieser merkwürdigen Kopfbedeckung, die niemand entfernen konnte, und unter häufigen Kehrtwendungen zu dem Haus, das ihn beherbergt hatte, ergab er sich schließlich in sein trauriges Schicksal.(7)

Auf der Fahrt durch den Gotthard singt »Nietzsche beständig - bald trillernd, bald summend« sein letztes Lied, das er um die Weihnachtszeit gedichtet hatte.(8)

An der Brücke stand

jüngst ich in brauner Nacht.

Fernher kam Gesang:

goldener Tropfen quoll's

über die zitternde Fläche weg.

Gondeln, Lichter, Musik -

trunken schwamm's in die Dämmerung hinaus...

Meine Seele, ein Saitenspiel,

sang sich, unsichtbar berührt,

heimlich ein Gondellied dazu,

zitternd vor bunter Seligkeit.

- Hörte Jemand ihr zu? ...(9)

Am Vormittag des 10. Januar schließlich erreichen Franz Overbeck und Friedrich Nietzsche die »Irrenanstalt Basel«.

  • 7 Familienüberlieferung Fino, zit. n. ibid., S. 733.

  • 8 Franz Overbeck, zit. n. ibid., S. 734.

  • 9 Friedrich Nietzsche: Ecce homo, in: ders.: Kritische Studienausgabe Bd. 6, op. cit., S. 291.


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Am 11. Januar schreibt Franz Overbeck:

[...] gestern früh habe ich ihn oder vielmehr einen nur für den Freund kenntlichen Trümmerhaufen von ihm dem hiesigen Irrenspital übergeben. Dort gilt sein Fall, zunächst durch den unangemessensten Größen­wahn characterisiert, aber durch wie vieles andere sonst! - als hoffnungslos. Ich habe kein ebenso entsetzliches Bild der Zerstörung gesehen.(10)

Dort wird er in der psychiatrischen Klinik der Universität untersucht. In dem Bericht des behandelnden Arztes vom 10. Januar 1989 heißt es: 

[...] Pat. lässt sich willig untersuchen, spricht fortwährend während der Untersuchung. - Kein rechtes Krankheitsbewußtsein. Fühlt sich ungemein wohl und gehoben. Gibt an, dass er seit 8 Tagen krank sei und öfters an heftigen Kopfschmerzen gelitten habe.

Er habe auch einige Anfälle gehabt, während derselben habe sich Pat. ungemein wohl und gehoben gefühlt, er hätte am liebsten alle Leute auf der Straße umarmt und geküßt, wäre am liebsten an den Mauern in die Höhe geklettert. [...] Nachmittag spricht Pat. fortwährend wirr durcheinander, zuweilen laut singend und johlend. Der Inhalt seines Gespräches ist ein buntes Durcheinander von früher Erlebtem, ein Gedanke jagt den anderen ohne jeden logischen Zusammenhang. [...] Behauptet, ein berühmter Mann zu sein, verlangt fortwährend Frauenzimmer. - Diagnose: Hirnschwäche.(11)

https://de.wikipedia.org/wiki/Friedrich_Nietzsche#In_geistiger_Umnachtung

 Am 15. Januar berichtet Franz Overbeck über einen Besuch im Baseler »Irrenspital«:

Ich erblicke N. in einer Sofaecke sitzend und lesend - wie sich dann ergab, die letzte Correctur von Nietzsche contra Wagner - entsetzlich verfallen aussehend, er [erblickt] mich und stürzt sich auf mich zu, umarmt mich heftig, mich erkennend und bricht in einen Thränenstrom aus, sinkt dann in die Zuckungen aufs Sopha zurück, ich bin auch vor Erschütterung nicht imstande, auf den Beinen zu bleiben.12

  • 10 Brief an Heinrich Köselitz vom 11.01.1889, zit. n. Andreas Schirmer (Hg.): Friedrich Nietzsche, op. cit., S. 735.

  • 11 Ibid., S. 737.


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Er beschreibt, dass Nietzsche Klavier spielte und dabei »sublime, wunderbar hellsichtige und unsäglich schauerliche Dinge über sich als den Nachfolger des toten Gottes vernehmen liess« und anschließend »Convulsionen und Ausbrüche eines unsäglichen Leidens erfolgten«:

[...] der unvergleichliche Meister des Ausdrucks, war ausserstande, selbst die Entzückungen seiner Fröhlichkeit anders als in den trivialsten Ausdrücken oder durch skurriles Tanzen und Springen wiederzugeben.(13)

Am 17. Januar wird Nietzsche von seiner Mutter in Basel abgeholt und nach Jena gebracht, in die »Großherzoglich-Sächsische Landes-Irrenanstalt«. In den Krankenberichten der folgenden Tage heißt es:

Zur Abteilung folgt der Kranke unter vielen höflichen Verbeugungen. In majestätischem Schritt zur Decke blickend betritt er sein Zimmer und dankt für den »großartigen Empfang«. Er weiß nicht, wo er ist. Bald glaubt er in Naumburg, bald in Turin zu sein. Über seine Personalien gibt er korrekte Auskunft. Der Gesichtsausdruck ist sicher u. selbst-bewusst, oft selbstgefällig u. affektiert. Er gestikuliert u. spricht fortwährend in affektiertem Ton und hochtrabenden Worten, und zwar bald Italienisch, bald Französisch. Unzählige Male versucht er, den Ärzten die Hand zu schütteln. [...]. Während des Sprechens grimassiert er fast unausgesetzt. Auch in der Nacht ging sein zusammenhangloses Geplauder fast ununterbrochen fort.(14)

Friedrich Nietzsche lebt vom 17. Januar 1889 bis zum 12. Mai 1890 in der Landes-Irrenanstalt Jena. Die Berichte der Ärzte

  • 12 Ibid., S. 732.

  • 13 Ibid.

  • 14 Ibid., S. 740.


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und Besucher dokumentieren seine Stimmungen im Jahre 1889:15

Sehr laut. Oft Zornaffekt mit unartikuliertem Schreien ohne äußeres Motiv. [10. Februar]

Versetzt plötzlich einem Mitkr[anken] Fußtritte. »Zuletzt bin ich Fried[rich] Wilh[elm] IV. gewesen.« [11. Februar]

Heißhunger. Bezeichnet die Ärzte stets richtig. Sich selbst bald als Herzog v. Cumberland, bald als Kaiser etc. [10. März]

Schreit oft ganz unartikuliert. [18. Mai]

[...] in seiner Erregtheit eine Fensterscheibe zerbrochen und sich an der Hand leicht verletzt, war dann im Bibliothekszimmer, wo er sich die Bücher mit Interesse angesehen hatte, verbunden worden und war da wieder ganz ruhig gewesen. [11. Juni]

Am 28. Juli führt seine Mutter ihn in das Auditorium der Irrenanstalt. Nietzsche sagt:

Ein herrliches Zimmer, siehst du hier halte ich meine Vorlesungen vor ausgewähltem Publikum, auch sind mir von Leipzig aus die besten Anerbietungen gemacht worden. [28. Juli]

Am Ende der Unterhaltung, die im Garten Statt fand, sah N. das Irrenhaus an und sagte: »Wann werde ich wohl dieses Haus verlassen!« [1. November]

Sein Gedächtnis u. seine Kenntnisse sind erstaunlich, er erinnert sich an alles was er erlebt hat oder gelesen hat u. geht mit viel Verstand u. Urteil auf jede Einwendung oder Bemerkung meinerseits ein [...]. Er ist ein Kind u. ein König, als Königs-Kind, das er ist, muss er behandelt werden, das ist die einzige richtige Methode. [20. November]

Anfang Januar 1890 wird Nietzsche in ein Zimmer mit zwei weiteren Kranken verlegt.

  • 15 Vgl. die nachfolgenden Zitate ibid., S. 742-757.


189 / Friedrich Nietzsches Abschied von der Welt

N. wohnt in einem ganz schmalen Zimmer, - ein »Loch« nannte es Dr. L[angbehn]. Es ist durch Centralheizung so überheizt, daß N. fortwährend die Tür offen halten muß. Auf dem Corridor draußen laufen, schreien, lachen die Irren und gaffen zur Thür herein. Neben dem Zimmer N.'s ist das Kloset, sodaß es der Geruch davon verpestet. [...] Nietzsche sitzt den ganzen Tag allein auf seinem Sofa, brütend und schwermüthig [...]. In Summa: Nietzsche ist wie im Armenhaus und wird behandelt wie ein Sträfling. [8. Januar]

Seine Mutter mietet sich schließlich eine Wohnung in Jena und kann ihren Sohn täglich von neun Uhr früh bis sechs Uhr abends aus der Anstalt nehmen. Heinrich Köselitz, ein weiterer Freund, der Nietzsche in jenen Jahren begleitet hat, schreibt über »Frau Pastor«:

Der zu acute Klang ihrer Stimme wird mir nach einer halben Stunde lästig, zumal bei dem vorhandenen Mangel an Schweigsamkeit, die sich doch in vielen Momenten jetzt gerade empfiehlt. Auch diese Pfarrerswittwen- oder Miezekätzchen-Laute, die sie ihren Freundlichkeiten immer nachschickt, nachseufzt, sind mir grässlich, - auch Nietzschen, ich sehe es ihm an. [20. Februar]

Am 11. Mai 1890 will ihn die Mutter aus der Anstalt abholen. Nietzsche ist verschwunden, die Mutter sucht ihn mehrere Stunden in der Stadt und berichtet, dass ihr

Herzenskind an der Seite eines Polizisten ganz gemütlich plaudernd die Straße daher [kommt]. Ich nahm den Polizisten etwas zur Seite und hörte, daß er neben dem Herrenbad in einer Lache habe baden wollen und wohl länger entblößt herumgegangen sei.16

Am nächsten Tag, dem 12. Mai, nimmt seine Mutter ihn mit nach Naumburg in ihr Haus am Burgwall.17 Hier lebt Nietzsche bis Ende 1897.(18)

  • 16 Ibid. S. 760.

  • 17 Das Gebäude mit der heutigen Anschrift Weingarten 18 war in der Zeit des Sozialismus verwahrlost und wurde in den neunziger Jahren restauriert und der Öffentlichkeit zugänglich gemacht.


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Nachdem seine Mutter im April verstorben war, bringt ihn seine Schwester Elisabeth Förster-Nietzsche im August nach Weimar in die »Villa Silberblick«. Besucher beschreiben ihn in den letzten Lebensjahren als »teilnahmslos, in eigener Abgeschlossenheit«. Der Eindruck sei »eher tiefschmerzlich als irgendwie schrecklich oder unangenehm«.

Er lag schlafend auf einem Sopha; der mächtige Kopf ruhte, als ob er für den Hals zu schwer wäre, halb nach rechts heruntergesunken auf der Brust. Die Stirn ist kolossal; das mähnenartige Haar noch dunkelbraun; und ebenso der struppige, wulstige Schnurrbart; unter den Augen sind breite, schwarzbraune Ränder tief in die Wangen eingesunken; man erkennt noch im matten, schlaffen Gesicht einige tiefe, vom Denken und Wollen eingegrabene Falten; aber gleichsam verwischt und allmählich wieder sich glättend. Im Ausdruck liegt eine unendliche Müdigkeit, die Hände sind wie Wachs grünlich violett geädert und etwas geschwollen, wie bei einer Leiche.(19)

Friedrich Nietzsche stirbt in Weimar am Vormittag des 25. August 1900 im Alter von nicht ganz 56 Jahren.

 

Nietzsches Werk »Also sprach Zarathustra« beginnt mit einer Vorrede:

Als Zarathustra dreissig Jahr alt war, verliess er seine Heimat und den See seiner Heimat und gieng in das Gebirge. Hier genoss er seines Geistes und seiner Einsamkeit und wurde dessen zehn Jahre nicht müde. Endlich aber verwandelte sich sein Herz, - und eines Morgens stand er mit der Morgenröthe auf, trat vor die Sonne hin und sprach zu ihr also: »Du grosses Gestirn! Was wäre dein Glück, wenn du nicht Die hättest, welchen du leuchtest!«(20)

  • 18 Vgl. hierzu die Darstellung in Curt Paul Janz: Friedrich Nietzsche. Biographie Bd. 3, München 1981, S. 120 ff.

  • 19 Vgl. die Berichte verschiedener Besucher in Naumburg und Weimar in den Jahren 1896 und 1897 in: Andreas Schirmer (Hg.): Friedrich Nietzsche, op. cit., S. 794-801, hier: S. 799 f.


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Am Ende der Dichtung hat Zarathustra das tiefe Gefühl erfahren, aus dessen Geist das Leben ewig wiederkehren wird: das Mitleiden. Und er entscheidet sich, unter die Menschen zu gehen.

Mein Leid und mein Mitleiden - was liegt daran! Trachte ich denn nach Glücke? Ich trachte nach meinem Werke!(21)

Und Zarathustra steigt herab zu den Menschen und sagt:

Die stillsten Worte sind es, welche den Sturm bringen. Gedanken, die mit Taubenfüssen kommen, lenken die Welt.(22)

Er stimmt das »Nachtwandler-Lied« an:

Oh Mensch! Gieb Acht!

Was spricht die tiefe Mitternacht?

»Ich schlief, ich schlief-,

»Aus tiefem Traum bin ich erwacht: -

»Die Welt ist tief,

»Und tiefer als der Tag gedacht.

»Tief ist ihr Weh -,

»Lust - tiefer noch als Herzeleid:

»Weh spricht: Vergeh!

»Doch alle Lust will Ewigkeit -,

»- will tiefe, tiefe Ewigkeit!«23

  • 20 Friedrich Nietzsche: Sämtliche Werke Bd. 4, op. cit., S. 11.

  • 21 Ibid., S. 408.

  • 22 Ibid., S. 189.

  • 23 Ibid., S. 405.


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   II / Der Herold des Führers 

Richard Strauß komponierte »Also sprach Zarathustra. Tondichtung frei nach Friedrich Nietzsche« (op. 30) im Frühjahr und Sommer 1896; am 27. November 1896 dirigierte er die Uraufführung des Werks in Frankfurt am Main. Uns interessieren die ersten sechs Takte, die seit Stanley Kubriks Film »2001: A Space Odyssey« als Film- und Technomusik, Intro für Open Air-Konzerte und Metal-Bands weltweit bekannt wurden.

Der Zarathustra des Richard Strauß beginnt mit leisen Paukenschlägen und einem tiefen Orgelton. Ab dem fünften Takt stimmen die vier Trompeten einen C-Dur-Akkord an, die Partitur vermerkt »feierlich«.

Strauß notiert in seinen Skizzenbüchern: »Thema c g c (Universum) immer unbeweglich, stark, unverändert bis zum Schluß«. Es folgen die harten Schläge der Pauken vom piano bis zum fortissimo, die Textur lautet »immer breiter« und endet schließlich mit einem crescendo in einer majestätischen Apotheose, einem Orgelklang mit »vollem Werk«.24 In den Wochen vor der Ur-Aufführung des »Zarathustra« am 27. November 1896 sah sich Strauß den Intrigen der etablierten Musikkritiker und des Kunstboulevards ausgesetzt. Sie nahmen daran Anstoß, dass ein Werk von Nietzsche vertont wurde. Strauß hatte daher vorsorglich eine schriftliche Interpretation seines Werkes durch den Musikwissenschaftler Arthur Hahn schreiben lassen, die vor der Ur-Aufführung für zwanzig Pfennig zu kaufen war.25 Die kongeniale Deutung Hahns beschreibt den Ausdruck und die Intention der Tondichtung perfekt:

  • 24 Wir zitieren hier nach dem Reprint der Partitur des Josef Aibl Musikverlags, New York 1904, Ernst Eulenburg Ltd., London / Mainz et al. 2013.

  • 25 Arthur Hahn: Richard Strauß. Also sprach Zarathustra (op. 30), Leipzig 1896.


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Der Beginn der Tondichtung zeichnet uns in wenig Takten ein Bild von gewaltiger Erhabenheit und Grösse. Wir wohnen einem grossen Naturschauspiel bei, etwa einem Sonnenaufgang. Ein dumpfes Tremolo der Bässe auf C, der gleiche Ton auf Orgel und Kontrafagott ausgehalten, dazu ein ganz leiser Wirbel der grossen Trommel, ergeben gemeinschaftlich einen ungewiss zitternden Grundton. Aus dem Dunkel desselben erhebt sich klar und hell das erste Hauptthema, von vier Trompeten in majestätischem Einklang vorgetragen [...].

Es malt sich darin die gewaltige und einfache Grösse von Natur und Weltall, zugleich aber in der Tonart (der leere Quinten- und Quartenschritt lässt noch keinen Schluss darüber zu, ob wir Dur oder Moll vor uns haben) etwas Geheimnisvolles, Unergründliches, ein grosses, ungelöstes Rätsel. Mächtige Orchesteraccorde schliessen sich unmittelbar an, die zuerst dem Ganzen den Mollcharakter verleihen wollen, um sich dann später umso strahlender nach Dur aufzuschwingen. In kolossalem Orchesterglanze, in den auch die Orgel mit mächtig rauschender Harmonie sich mischt, offenbart sich uns die Natur in ihrer ganzen erhebenden und zugleich auch erdrückenden Macht und Pracht. Ergriffen steht der Mensch davor. Er fühlt die Grösse, aber auch das Rätsel des ganzen Alls. In einem tiefen Beben zittert in ihm der gewaltige Eindruck nach und ein andachtsvoller Schauer geht durch seine Brust.26

Der Zarathustra des Richard Strauß endet mit dem Nachtwandler-Lied. »Was spricht die tiefe Mitternacht?« fragt Nietzsche, und Strauß antwortet mit zwölf Glockenschlägen. »Oh Mensch! Gieb Acht!« erklingt in H-Dur, der silbernen Tonart der großen Sehnsucht, intoniert von den Violinen und den Holzbläsern. Strauß deutet seine Musik durch die Worte von Arthur Hahn wie folgt:

  • 26 Ibid., S. 6 f.


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Und nun steigt aus der Tiefe noch einmal jene innige Melodie, in der schon früher das Glücksgefühl der Befreiung ausströmte empor, immer höher, lichteren Regionen zu, bis sie sich endlich in schimmernder H-dur-Harmonie auflöst. So schwang sich Zarathustra's Seele tanzend über alle Welten und Himmel dahin. Für uns war er eine überaus glänzende Erscheinung, jener Grossen Einer, deren Wort weit, weit hinwegträgt über alle Gewöhnlichkeiten der Alltagswelt und ihres Denkens.27

Dieser Zarathustra tritt nicht vor die Sonne und sagt: »Was wäre all dein Glück, wenn du nicht Die hättest, welchen du leuchtest?« Er spricht nicht die stillsten Worte, seine Gedanken kommen nicht mit Taubenfüßen - er tritt auf als Erlöser, in strahlendem C-Dur mit vollem Orgelwerk, um im Lichte der Apotheose, »in schimmernder H-Dur-Harmonie« zu verschwinden. Und dieser Zarathustra geht nicht unter die Menschen, er weiß nichts vom Geist der Empathie. Der Mensch steht erdrückt in andachtsvolle Schauer vor einem gleißenden Enigma.

Es war konsequent, dass der Komponist dieses Zarathustra in den zwanziger Jahren ein Gegner der Weimarer Demokratie und in den dreißiger Jahren ein Günstling des Führers wurde. Richard Strauß, geboren im Jahre 1864, war geprägt vom Ende der Bayerischen Monarchie und dem kriegerischen Geist des geeinten Deutschen Reiches, dem antidemokratischen und nationalistischen Zeitgeist des Wilhelminischen Obrigkeitsstaates. Die deutsche Intelligenz war traditionell elitär und nationalkonservativ, nur wenige waren - wie Nietzsche -dem Zeitgeist entgegengetreten. Noch bevor die Juden und Antifaschisten aus dem Land vertrieben worden waren, hatte Richard Strauß Proteste unterschrieben gegen Emigranten wie Thomas Mann.

Als Hitler und Goebbels in der Endphase des Zweiten Weltkriegs eine »Gottbegnadeten-Liste« der »unersetzlichen Künstler« aufstellte, stand Strauß auf einer Sonderliste ganz oben. Das Interesse des Gottbegnadeten an

  • 27 Ibid., S. 20 f.


195

diesem Titel war riesig, weil es ihm den Fronteinsatz ersparte, dem zum Ende des Krieges auch ältere Männer unterworfen waren.

Und er hatte sich gesonnt in der Freundschaft mit dem Kriegsverbrecher Hans Frank, der sich - wie Strauß - in Oberbayern angesiedelt hatte. Frank hatte an Hitlers Putschversuch vom 8. November 1923 teilgenommen und residierte als Gouverneur des besetzten Polen seit November 1939 auf der Krakauer Burg, dem Wawel, bis er schließlich im Januar 1945 vor der Roten Armee flüchtete.(28) Die führenden Nazis hatten sich ausnahmslos maßlos persönlich bereichert, aber Hans Frank -»König Stanislaus« und seine Frau, die »Königin von Polen«/29/ - stellte sie alle in den Schatten. Das beschlagnahmte Schloss Kressendorf bei Krakau, das er als Privatresidenz nutzte, stattete er im Laufe der Jahre aus mit Gemälden, die von speziellen SS-Verbänden für ihn aus polnischen Adelspalästen, katholischen Kirchen und jüdischen Bürgerhäusern geraubt worden waren./30/

Seine Frau, Brigitte Frank, fuhr im offenen Mercedes ins Ghetto und ließ sich Pelzmäntel von jüdischen Kürschnern schenken mit dem verlogenen Versprechen, sie von der Deportationsliste streichen zu lassen./31/ Nach den schweren Bombenangriffen auf München im September und Oktober 1943 wurden in kleineren Städten Ausgebombte in unbeschädigte Wohnhäuser eingewiesen. Strauß hatte sich vor der Alpenkulisse von dem Architekten Emanuel von Seidl in Garmisch eine Jugendstilvilla bauen lassen und war über die geplante Einquartierung empört: »Man stelle sich das vor! Fremde - hier, in meinem Heim!« - »Einquartierung! Unverschämtheit!«/32/ Strauß wandte sich an seinen Freund Hans Frank und veranlasste ihn, die Einweisungen zu untersagen. Zum Dank widmete ihm Strauß ein eigens von

  • 28 Frank war 1933 Justizminister von Bayern geworden und hatte sich im Jahre 1936 in Neuhaus am Schliersee im Schoberhof niedergelassen. Vgl. Niklas Frank: Meine deutsche Mutter, München 2005, S. 248.

  • 29 Ibid., S. 271 und S. 316.

  • 30 Es war Frank bei seiner Flucht Anfang 1945 gelungen, einen Teil dieser Kunstwerke von Krakau zum Schoberhof zu verschleppen und dort mit Gemälden von Rembrandt, Rubens und Leonardo da Vinci ein »Wawelzimmer« einzurichten.

  • 31 Niklas Frank: Meine deutsche Mutter, op. cit., S. 294.

  • 32 Klaus Mann: Der Wendepunkt. Ein Lebensbericht, Reinbek 2006, S. 683.


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ihm selbst gedichtetes und vertontes Lied, das er ihm am 3. November 1943 schickte:

Wer tritt herein so fesch und schlank? Es ist der Freund Minister Frank. Wie Lohengrin von Gott gesandt, hat Unheil er von uns gewandt. Drum ruf ich Lob und tausend Dank dem lieben Freund Minister Frank.33

Am 15. Mai 1945 empfing Richard Strauß Klaus Mann, den ältesten Sohn Thomas Manns, ohne dessen Identität zu kennen. Der Krieg war zu Ende, die Wochenschauen zeigten die Leichenberge in den befreiten Konzentrationslagern. Hans Frank war am Schliersee verhaftet worden,34 und der gottbegnadete Richard Strauß sagte über seinen Freund, den gottgesandten »Schlächter von Polen«: ein »famoser Mensch« - »Sehr fein! Sehr kultiviert! Er schätzt meine Opern!«35

  • 33  Vgl. Ernst Klee (Hg.): Das Kulturlexikon zum Dritten Reich. Wer war was vor und nach 1945?, Frankfurt/M. 2007, S. 599.

  • 34  Hans Frank wurde in Nürnberg zum Tode verurteilt und am 16. Oktober 1946 hingerichtet.

  • 35  Klaus Mann: Der Wendepunkt, op. cit., S. 684.

  • 36  In den folgenden Jahren wurden einige Sätze der 3. Symphonie aufgeführt, die Uraufführung der vollständigen Symphonie fand am 09.06.1902 in Krefeld statt.

  • 37  Albert Camus: L'homme revolte, op. cit.

  • 38  Friedrich Hölderlin: Empedokles. Ein Trauerspiel in fünf Akten (Zweiter Entwurf), in: ders.: Sämtliche Werke. Frankfurter Ausgabe Bd. 13, Frankfurt/M. 1985, S. 829.

  • 39  Albert Camus: L'homme revolte, op. cit., S. 381.

 

   III / »Oh Mensch! Gieb Acht!«  

196/197

Im November 1896 schloss Gustav Mahler seine 3. Symphonie ab.(36) Der 4. Satz vertont das Nachtwandler-Lied, den Höhepunkt des »Zarathustra« und der gesamten Philosophie Nietzsches. Wir beschränken uns auf die Takte 11 bis 23, »Oh Mensch! Gieb Acht!«, die erste Zeile des Nachtwandler-Lieds, gesungen von einer Altstimme. Mahler überschreibt Tempo, Dynamik und Stimmung des Satzes mit »Sehr langsam. Mistorioso.« Als Tonstärke gibt er an: »Durchaus ppp.« - also pianissimo. Das Tongeschlecht ist h-Moll.

Wir hören zunächst einen Harfenakkord und dann ein Zweitonmotiv der tiefen Streicher, alles »sehr langsam« und »misterioso«. Im elften Takt hebt der Kontra-Alt an mit den Worten »Oh Mensch!«, »Oh Mensch!«, die Textur lautet: »mit geheimnisvollem Ausdruck (durchaus leise)«. Die Altstimme hält den Ton vier Takte lang und fällt schließlich auf die Worte »Gib Acht!«, »Gib Acht!« chromatisch ab.

Kein »andachtsvoller Schauer geht durch die Brust«, nichts wird erstickt »in kolossalem Orchesterglanze, in den auch die Orgel mit mächtig rauschender Harmonie sich mischt«. Kein Ende in der »schimmernden H-Dur-Harmonie«, keine Befreiung, kein Tanzen »über alle Weiten und Himmel dahin«. Mahlers Zarathustra wandert - wie auch der Nietzsches - langsam und leise durch die Nacht. Geblieben ist ein Mensch, eine Alt-Stimme, »mit geheimnisvollem Ausdruck«, in einer zerbrechenden Welt.

Es gibt in der Endzeit der Menschheit keine Hoffnung, aber damit ist unser Leben nicht beendet. Vorerst trösten wir uns mit Albert Camus und seiner Liebe zum irdischen Leben, zur Gegenwart. Camus überschreibt seinen Essay »L'homme revolte«(37) mit einem Zitat aus Hölderlins »Empedokles«, das den »theuern Todesbund« mit der Erde feiert.(38) Die Reise unseres Lebens braucht keine Hoffnung. Sie führt nicht zu den Göttern und nicht in die Galaxien. Wir verachten die Propheten der technischen Allmacht. Die Spalter des Atoms, die Genien der Raumfahrt, wir haben sie durchschaut: Ihre Kernwaffen und Raumschiffe sind nichts als Menetekel der Extermination. Wir beschuldigen niemanden, aber wir bekämpfen jeden, der das Leben und diese Welt zerstört. Am Ende folgen wir dem großen Albert Camus:

Wir entscheiden uns für Ithaka, die treue Erde, das kühne und einfache Denken, die klare Tat, die Großzügigkeit des wissenden Menschen.
Im Lichte bleibt unsere Welt unsere erste und letzte Liebe.(39)

197-198

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Ende

 

 

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