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Teil 4      Das Schmelzen des ewigen Eises      Geulen-2023

   I-     II-    III-     IV-

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  • Nichts zeigt die Folgen der Klimazerstörung so deutlich wie das Sterben des ewigen Eises. In den hohen Gebirgen vollzieht sich die Erderwärmung schneller als im globalen Durchschnitt. Die Alpengletscher werden in der nächsten Generation weitgehend abschmelzen, mit ihnen die Kerne ewigen Eises, die Hunderttausende Jahre alt sind und die Geschichte der Erde archivieren. Bleiben werden Gesteinsmassen und Erdmoränen. Die Gletscher­schmelze wird zu verstärkten Überschwemmungen und Trockenphasen führen und damit die Kulturlandschaften in der Mitte Europas grundlegend verändern.

  • Unaufhaltsam schwinden die Gletscher des Himalaya-Gebirges, die den Monsunregen speichern. An den großen Flüssen im Süden des Himalaya siedeln über eine Milliarde Menschen; ohne das Wasser der Gletscher wird ihnen ein Überleben langfristig nicht möglich sein. Diese Völker sind von der Klimazerstörung dreifach betroffen: durch das Hochwasser der Gletscherschmelze, die nachfolgenden Dürreperioden und den Anstieg des Meeres­spiegels.

  • Der polare Permafrost speichert 99 Prozent des ewigen Eises. Jedes Jahr schwinden die Eismassen der Polkappen um 400 Milliarden Tonnen. Langsam steigt der Spiegel des Meerwassers an; diese Prozesse sind irreversibel. Es ist gegenwärtig nicht abzusehen, wann »Kippelemente« erreicht werden - etwa die spontane Umkehr des Golfstroms im Nordatlantik mit ihren weitgehenden klimatischen Auswirkungen auf Europa.

 

     I     Die Erde nach 250 Jahren Industriekultur   

Seit Beginn der Industrialisierung wird die Atmosphäre unaufhaltsam karbonisiert. Ihr chemisches Medium ist der Kohlenstoff mit dem Elementsymbol C. Bis zum Beginn der Industrialisierung lag die CO2-Konzentration in der Atmosphäre nach dem gegenwärtigen Forschungsstand mindestens 800.000 Jahre unter 280 ppm (parts per million). Seit 1750 ist die Konzentration durch die Industrieproduktion kontinuierlich gestiegen, im letzten Bezugsjahr 2019 auf 410 ppm. Wissenschaftlicher Standard ist, dass eine derart hohe CO2-Konzentration der Erdatmosphäre zuletzt vor drei bis fünf Millionen Jahren bestand.(1)

Seit einigen Jahrzehnten nimmt der Karbongehalt der Atmosphäre progressiv zu, da die Industrienationen ihren Ausstoß an Kohlenstoff ständig erhöhen, die USA zuletzt um 3,4 Prozent; weltweit ist der CO2-Ausstoß im Jahre 2021 gegenüber dem Vorjahr um weitere 2,7 Prozent gestiegen. Täglich werden ca. 105 Millionen Tonnen CO2 aus fossilen Brennstoffen in die Atmosphäre emittiert, eine Reduzierung ist trotz internationaler Verein­barungen nicht abzusehen. Seit 1990 ist der sogenannte Strahlungsantrieb (radiative forcing), ein Maß für die Energiebilanz der Erde, um weitere 41 Prozent gestiegen.(2)

Aufgrund der fortdauernden Karbonisierung hat der Weltklimarat, die zwischenstaatliche Organisation zur Erforschung des Klimawechsels unter dem Dach der UNO (Intergovernmental Panel on Climate Change, IPCC), zuletzt einen weiteren und progressiven Anstieg der Erderwärmung prognostiziert.(3)


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Hiernach wird die 1,5°C-Grenze der globalen Temperaturerhöhung gegenüber dem Beginn der Industrialisierung bereits in diesem Jahrzehnt überschritten. Im nächsten Jahrzehnt wird voraussichtlich bereits die 2,0°C-Grenze überschritten. Innerhalb einer Generation wird die durchschnittliche Erdtemperatur um 2,6 bis 3,0°C steigen, einigen Szenarien zufolge bis zum Ende des Jahrhunderts auf deutlich über 4°C. Die wichtigsten Folgen werden im 6. IPCC-Sachstandsbericht von 2021 zusammengefasst:

Das Ausmaß der jüngsten Veränderungen im gesamten Klimasystem - und der gegenwärtige Zustand vieler Aspekte des Klimasystems - sind seit vielen Jahrhunderten bis Jahrtausenden beispiellos. [...] Der vom Menschen verursachte Klimawandel wirkt sich bereits auf viele Wetter- und Klimaextreme in allen Regionen der Welt aus. Seit dem fünften Sachstandsbericht gibt es stärkere Belege für beobachtete Veränderungen von Extremen wie Hitzewellen, Starkniederschlägen, Dürren und tropischen Wirbelstürmen.(4) [...]

Es ist sehr wahrscheinlich, dass Starkniederschlagsereignisse in den meisten Regionen mit zusätzlicher globaler Erwärmung intensiver und häufiger werden. [...] Der Anteil heftiger tropischer Wirbelstürme und die Spitzengeschwindigkeiten der heftigsten tropischen Wirbelstürme werden laut Projektion auf globaler Ebene mit zunehmender globaler Erwärmung zunehmen.(5)

  • 3 Vgl. ibid., S. 10 ff.

  • 4 Ibid., S. 7 ff.

  • 5 Ibid,. S. 19 ff.


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Hinzu kommt, dass die anthropogene Erderwärmung Folgen für die Biosphäre hat, die ihrerseits die Klimazerstörung beschleunigen. Grund hierfür ist vor allem die Schädigung von Großbiotopen wie den Tropenwäldern, die CO2 binden. Das Abschmelzen der Polarkappen setzt CO2 frei, das in ihnen seit Beginn der Industrialisierung gebunden wurde. Mit der Atmosphäre erwärmen sich auch die Ozeane und kumulieren deren Effekt für die Biosphäre. Die fortschreitende Erwärmung der Atmosphäre kann durch nationale und globale politische Maßnahmen beeinflusst, nicht aber umgekehrt werden. Die gegenwärtigen Klimaveränderungen beruhen auch auf Treib­hausgasen, die bereits vor Jahrzehnten emittiert wurden. CO2 ist ein sehr stabiles Gas, das sich nur langsam zersetzt und über Jahrhunderte in der Atmosphäre verbleibt. Unterstellt man in einem Rechenmodell, dass die Karbonisierung sofort beendet wird, würde dies die Erderwärmung verlangsamen, aber nicht beenden.

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Den Versuchen, die globale Karbonisierung zu vermindern, sind durch die innere Logik der Industriestaaten selbst enge Grenzen gesetzt. In Rede stehen die Grundlagen ihrer Ökonomie, ein großer Teil ihrer Energie­ver­sorgung, ihre gesamte entwickelte Infrastruktur und die umfassende Konsumerwartung der Bevölkerung. Die zeitnahe Drosselung oder Beendigung der industriellen Produktionsweise würde in den nationalen Volks­wirt­schaften zu unabsehbaren Verwerfungen führen, zu Arbeitslosigkeit und Hungerkatastrophen und global zum Zusammenbruch ganzer Wirtschafts- und Gesellschaftssysteme.

Nach dem Zweiten Weltkrieg hatten Wissen­schaftler die Folgen der zunehmenden Karbonisierung für das Weltklima erkannt und dokumentiert.(6) In den USA hatten Klimatologen damit begonnen, die Folgen der anthropogenen Erderwärmung im Einzelnen zu bestimmen.


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Seit den sechziger Jahren berechneten wissenschaftliche Gremien in Westeuropa und in den USA die Folgen der Karbonisierung: Prognostiziert wurde ein unaufhaltsamer globaler Temperaturanstieg, das Abschmelzen der Gebirgsgletscher und der polaren Eisschilde, die Schwächung der submarinen Ströme, die Erhöhung des Meeresspiegels sowie die Zunahme extremer Wetterlagen wie langanhaltende Dürre und Starkniederschläge.

Als ich in den siebziger Jahren begann Prozesse gegen Kohlereaktoren zu führen, war bereits alles bekannt. Unsere Klagen waren gerichtet gegen Kraftwerke, die unbegrenzt Karbon- und Schwefelgase emittierten, obwohl effektive Filteranlagen bereits seit langem Stand von Wissenschaft und Technik waren. Aber es ging nicht um Wissenschaft und Technik, sondern um die Interessen der großen Stromkonzerne, die den deutschen Energiemarkt seit den dreißiger Jahren als Oligopole beherrschen.

Es fanden sich genug Wissenschaftler, die bereit waren, die Folgen der Kohleverstromung für die Biosphäre zu leugnen. Und es fanden sich genug Politiker, die vor den wirtschaftlichen Folgen für den »Standort Deutschland« warnten; die rauchenden Schornsteine über dem Ruhrgebiet waren die Ikonen ewig wachsender Prosperität.

 

   II-    Gletscher der Alpen         ^^^^

 

Auf dem Höhepunkt der letzten Eiszeit - vor etwa einhunderttausend Jahren - lag Mitteleuropa unter einem massiven Panzer aus Permafrost. Das ewige Eis der Alpen reicht in eine Höhe von dreitausend Metern über dem Meeresspiegel, so dass nur die Gipfel einzelner Berge zu sehen waren. Als die Eismassen mit der zyklischen Erwärmung der Erde abschmolzen, blieben die Gletscher.


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Mit der Industrialisierung begann im 19. Jahrhundert das menschengemachte Schmelzen der Alpengletscher. Initialer Auslöser war noch vor der Erwärmung der Atmosphäre die Freisetzung von Rußpartikeln aus der Kohle­verbrennung in Mitteleuropa. Das sogenannte Kryokonit wird über weite Strecken durch die Atmosphäre transportiert, lagert sich als dunkler Kohlenstaub auf dem Eis ab und absorbiert das Sonnenlicht.

Die Ablagerungen des Kryokonit-Karbons im Permafrost registriert und dokumentiert zu haben, kommt Adolf Erik Nordenskiöld zu, einem schwedischen Polarforscher, der seit 1870 mehrfach ins grönländische Eisschild gereist war und nach seiner Rückkehr über das Phänomen, das er Kryokonit nannte, berichtete. Kryokonit konnte seit jeher entstehen aus der weltweiten Fracht von Wüstenstaub und Aschepartikeln vulkanischer Eruptionen. Die industrielle Karbonisierung hat das Anwachsen des Kryokonit im Permafrost aber seit Mitte des 19. Jahrhunderts kontinuierlich vergrößert.

Kryokonit ist biologisch aktiv und produziert photosynthetisch dunkle Mikroorganismen, die den Prozess der Gletscherverschmutzung beschleunigen.7 Darüber hinaus speichert Kryokonit Schadstoffe und insbesondere Radionuklide von überirdischen Atombombentests und Reaktorunfällen. Untersuchungen in den Alpen haben etwa am Morteratschgletscher in der Schweiz hohe Konzentrationen von Cäsium 137 gemessen, die mit der welt­weiten Gletscherschmelze in die Nahrungskette gelangen können.(8)


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Zum Ende des neunzehnten Jahrhunderts begannen Gletscherforscher damit, Ausdehnung und Masse der Alpengletscher, die jahreszeitlichen Zuwächse und Abflüsse zu beschreiben. Grundlegend waren die Arbeiten des Limnologen Francois-Alphonse Forel(9) und des Glaziologen Eduard Richter.10 Beide kamen zu dem Ergebnis, dass die Alpengletscher aus verschiedenen Gründen in einem kurzzeitigen Zyklus von etwa dreißig bis fünfunddreißig Jahren an- und abschwellen. Die anthropogene Erderwärmung hatte Ende des neunzehnten Jahrhunderts nur wenige Zehntel Grad Celsius erreicht, und Richter hielt das Zurückweichen der Gletscherzungen für einen zyklischen Prozess, der sich umkehren würde.

Die Dokumentation der Gletscherbewegungen endete zunächst mit dem Ersten Weltkrieg. Seit dem Jahre 1920 aber wurden die großen Gletscher, die Gletscherzungen und die freigelegten Moränen des frühen Permafrosts systematisch vermessen und dokumentiert. Die Dokumentation des Deutschen und des Österreichischen Alpenvereins zur Entwicklung der Ost-Alpengletscher von 1920 bis 1925 ° ergab das eindeutige Bild: Die Gletscher unterliegen einem tendenziellen und unaufhaltsamen Schmelzprozess, der keine zyklischen, sondern anthropogene Ursachen hat. Die Erwärmung der Atmosphäre verläuft in den europäischen Hochgebirgen zwei bis dreimal schneller als im globalen Gesamtdurchschnitt. In den Alpen hat sich die Temperatur seit Beginn der Industrialisierung etwa doppelt so stark erhöht wie im globalen Durchschnitt und inzwischen 3°C bis 4°C gegenüber der vorindustriellen Zeit erreicht. Die Klimazonen haben sich vom Äquator signifi-


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kant zu den Polen bewegt, im Alpenmassiv sind sie in den letzten fünfzig Jahren um vier- bis fünfhundert Höhenmeter angestiegen. Es ist zu erwarten, dass die nächste Verschiebung der Klimazonen von fünfhundert auf tausend Meter angesichts des progressiven Fortschreitens der Erderwärmung in den Hochgebirgen bereits in der nächsten Generation stattfinden wird.12

Wer heute entlang des Alpenhauptkamms wandert, wird Zeuge dieser Gletscherschmelze: Seit jeher waren die Hütten der Wanderer an den Rand des Permafrosts gebaut worden, inzwischen führen weite Wege zu den Gletscherzungen. Die Abflüsse des Schmelzwassers sind heute in den Wintermonaten größer als noch vor einer Generation in den Sommermonaten.

Eine unmittelbare Folge der Erwärmung ist das Auftauen des Permafrosts in den Moränen und Geröllbergen unter den schmelzenden Gletschern. Im Hochgebirge hält der Permafrost ganze Hänge mit riesigen Mengen an Geröll seit Jahrhunderten in Kältestarre fest. Die freigelegten Fels- und Geröllmassen, deren Verschmutzung die Reflektion des Sonnenlichts reduziert, führen zu einem Dominoeffekt, der sogenannten Eis-Albedo-Rückkopplung; der Prozess ist vergleichbar mit der Verschmutzung des Permafrosts durch Rußpartikel. Wer heute Bilder der großen Alpengletscher vergleicht mit den Photos der fünfziger Jahre, stellt nicht nur einen Rückzug der Gletschermassen fest, sondern auch die Verschmutzung der verbliebenen Gletscherzungen mit Moränen, Geröll und Karbonstaub mit seinen organischen Auswüchsen. Durch den Rückzug der Gletscher und das Auftauen der Grundmoränen werden Murenabgänge und Felsstürze weiter zunehmen. Inzwischen arbeiten täglich Hunderte »Bergputzer« daran, den aufgetauten Boden unter den zurückweichenden Gletscherzungen abzuschlagen, um unkontrollierte Steinschläge und Murenabgänge zu verhindern.


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In Deutschland sind die Gletschermassen der Alpen seit Beginn der Industrialisierung um etwa 75 Prozent geschmolzen. Ging die Wissenschaft bisher davon aus, dass einzelne bayerische Gletscher noch bis Mitte des 21. Jahrhunderts existieren könnten, ist es nunmehr wahrscheinlich, dass der letzte bayerische Gletscher noch in diesem Jahrzehnt abgeschmolzen sein wird. Die Situation zeigt sich exemplarisch am Nördlichen Schneeferner im Zugspitzmassiv, dem größten Gletscher auf deutschem Staatsgebiet. Er bedeckte einst die gesamte Hochebene des Zugspitzblattes. Inzwischen ist seine Massenbilanz dadurch gekennzeichnet, dass der Gletscher durchschnittlich jede Minute fünfhundert Liter Wasser mehr verliert als ihm durch Niederschläge zuwachsen. Er hatte 1900 eine Flächenausdehnung von etwa hundert Hektar. Bis Mitte des 20. Jahrhunderts schmolz er auf vierzig Hektar zusammen, seine gegenwärtige Ausdehnung beträgt noch etwa fünfzehn Hektar, in einigen Jahren wird der Nördliche Schneeferner vollständig verschwunden sein. Eine Ausnahme scheint der Watzmanngletscher zu sein, der nur wenig an Masse einbüßt. Aber der Permafrost am Watzmann ist bereits so weit verschwunden, dass er unter Glaziologen nicht mehr als Gletscher gilt. Der Rest des Gletschers liegt in einer Mulde, und als Gletscher gilt das Eis nur, wenn es sich durch Zuwächse und Abflüsse regeneriert. In Österreich hat der größte Gletscher der Alpen, die Pasterze in der Glocknergruppe, seit Mitte des 20. Jahrhunderts siebzig Prozent seiner Fläche verloren. Aktuell ist der Rückzug der Gletscherzunge überdurchschnittlich groß und betrug 2020 gegenüber dem Vorjahr 52 Meter.(13)

  • 13 Vgl. ibid.


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Den größten Rückgang hatten neben der Pasterze der Hornkees in den Zillertaler Alpen mit 104 Metern und der Alpeiner Ferner in den Stubaier Alpen mit 67 Metern. Besonders betroffen sind die Gletscher der Schweiz. Der Große Aletschgletscher war mit einer Länge von 22,9 Kilometern im 19. Jahrhundert der längste Gletscher der Alpen; seitdem hat er sich um 2,8 Kilometer zurückgezogen. Ähnliches gilt für den Gornergletscher im Monte-Rosa-Massiv im Wallis. Sein Alter wird auf fünf- bis achttausend Jahre geschätzt, er ist der älteste der alpinen Eisriesen. Der Morteratschgletscher im Matterhornmassiv, hat seit Beginn der Messungen Ende des 19. Jahrhunderts etwa zwei Kilometer seiner Länge verloren und zieht sich gegenwärtig um 30 bis 35 Meter pro Jahr zurück. Die Entwicklung ist unaufhaltsam und hat sich in den letzten zwanzig Jahren progressiv beschleunigt.(14)

Nichts zeigt deutlicher den hilflosen Umgang mit der Erderwärmung und der Zerstörung der Biosphäre als die Maßnahmen zur Rettung des Skitourismus. Die alpinen Wettbewerbe der letzten Winterolympiade im März 2022 in China wurden bereits ausnahmslos auf technisch produziertem Schnee ausgetragen, der auf eine trockene, leblose Industrielandschaft gespritzt worden war. Das Fernsehen zeigte weltweit mit gezoomten Bildern traditionelle Winterlandschaften; in Wahrheit waren es die ersten »Winterspiele ohne Schnee und Eis«.

Die ersten Schneekanonen waren in den fünfziger Jahren in den USA erprobt worden; seitdem hat sich das Prinzip der künstlichen Beschneiung weltweit durchgesetzt. In den Alpen gibt es praktisch kein Skigebiet mehr, das ohne technische Schneeerzeugung auskommt; inzwischen arbeiten in den Alpen 39.000 Schneekanonen. Die ökologischen Folgen wiegen schwer.

  • 14 Vgl. ibid.


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Längst ist der Übergang vollzogen von einzelnen Schneekanonen zu flächendeckenden Beschneiungsanlagen, die viele Wasserspeicher erfordern, unterirdische Leitungen für den Wassertransport und die Stromversorgung, schließlich die Turbokompressoren der Schneekanonen zur chemischen Erzeugung des Schnees. Der Wasserverbrauch der Anlagen ist enorm und schädigt das ökologische Gleichgewicht der Bergregionen.

Ein symptomatisches Bild zeigt sich seit Jahren in den sogenannten Sommerskigebieten. In Österreich wurden in den letzten Jahrzehnten der Hintertuxer Gletscher, das Kitzstein-horn und der Mölltaler Gletscher zu Sommerskigebieten oberhalb von 3000 Höhenmetern ausgebaut. Am Hintertuxer Gletscher ist der Sommerbetrieb nur noch eingeschränkt möglich. Am Kitzsteinhorn ist die Sommersaison nur mit technischer Beschneiung gesichert bis maximal Ende Juli. Am Mölltaler Gletscher wurde der Sommerbetrieb bereits vor zwei Jahrzehnten weitgehend eingestellt. In Italien wurden spezielle Gletschergebiete für den Sommerskibetrieb ausgebaut, und zwar das Stilfser Joch in Südtirol (bis 3450 Höhenmeter) sowie zwei Gletscher im Piemont. Zur Sicherung des Skibetriebs werden inzwischen Schneekanonen eingesetzt. In den Ötztaler Alpen bringt die Schnalstaler Gletscherbahn seit den neunziger Jahren Skifahrer auf den Alpenhauptkamm am Grawand-Massiv (3205 Höhenmeter) in das höchstgelegene Hotel der Alpen. Noch vor dreißig Jahren reichte der Gletscher, der auf der Tiroler Seite Hochjochferner heißt, bis an das letzte Bergdorf Vent heran; heute sind die Zungen des ewigen Eises mehrere Kilometer zurückgewichen. Auf dem Gletscher wurden flächendeckende Beschneiungsanlagen angelegt für den Sommertourismus. Heute wird der Gletscher von Frühjahr bis Spätherbst mit weißen Kunststoffplanen eingedeckt, die bei günstigen Bedingungen stundenweise für die Skifahrer geöffnet werden.

Das Schmelzen der Alpengletscher hat weitgehende Auswirkungen auf die Kulturlandschaften Mitteleuropas.


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Gletscher sind große Wasserspeicher, die vereisten Niederschläge werden in der wärmeren Jahreszeit kontinuierlich abgeschmolzen, und deren Abflüsse sind seit Jahrtausenden Ansiedlungsgebiete von Menschen. Die großen europäischen Flüsse werden von den Alpen gespeist, der Rhein und die Rhone entspringen am Gotthardgletscher, die Donau erhält ihr Wasser überwiegend von Zuflüssen aus dem Alpenraum. Das Abschmelzen der Gletscher führt zu Hochwasser und Überschwemmungen der großen europäischen Flüsse, die in den Atlantik, das Mittelmeer und das Schwarze Meer münden. Die ausgleichende Funktion der Gletscher wird tendenziell abnehmen und hierdurch den Effekt extremer Wetterlagen - zunehmender Starkregen und Phasen der Hitze und Trockenheit - verschärfen.

 

   III-  Gletscher des Himalaya  

Als ich zum ersten Mal vor vierzig Jahren die Flussoasen am oberen Indus besuchte, schienen sie noch so intakt zu sein, wie sie in Jahrhunderte alten Quellen beschrieben sind. Diese Regionen liegen südlich des Himalaya-Haupt-kamms in einer Höhe von vier- bis fünftausend Metern, das Klima ist aride, nur selten werden diese Höhen von den Regenwolken der Monsunwinde erreicht. Die Flussoasen leben vom kontinuierlichen Abfluss des ewigen Eises in den hohen Lagen der Himalaya-Berge. Am Rand der Oasen liegen seit Jahrhunderten die Klöster der lamaisti-schen Buddhisten. Da die Region zu Indien gehört, konnten sich die buddhistischen Mönche hier ansiedeln, die in den fünfziger Jahren von den Chinesen aus Tibet vertrieben wurden.

Dreißig Jahre später werden die schmalen Felder der Bauern immer wieder vom Hochwasser des Indus überschwemmt; dem Hochwasser folgen trockene Phasen, die eine Bewässerung der Oasen erschwerten. Die Erderwär-


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mung hatte bereits begonnen, die Permafrostböden oberhalb der Städte von Zanskar und Ladakh im äußersten Norden Indiens zu tauen.

In den Tälern des Ganges und des Brahmaputra südlich des Himalaya-Gebirges sind die Auswirkungen der globalen Gletscherschmelze besonders schwerwiegend. Die Hima-laya-Gletscher speichern den Monsunregen und sind lebenswichtig für 1,6 Milliarden Menschen, die hier seit Jahrtausenden siedeln: Die großen Flüsse des Subkontinents - Indus, Ganges und Brahmaputra - entspringen nördlich des Himalaya in einem regenarmen Gebiet, sind aber gespeist von den Himalaya-Gletschern. Sie umfließen das Gebirge, nehmen die südlichen Abflüsse der Gletscher auf und münden schließlich ins Arabische Meer und den Golf von Bengalen. Die Erderwärmung trifft sie dreifach: zum einen durch die Überschwemmungen der schmelzenden Gletscher, dann durch die Dürre, die dem Abschmelzen folgt, und schließlich durch den Anstieg des Meeresspiegels.

Das Ganges-Brahmaputra-Becken im nördlichen Tiefland Indiens ernährt etwa sieben- bis achthundert Millionen Menschen, deren hinduistische Kultur über fünftausend Jahre alt ist. Sie werden das gleiche Schicksal erleiden wie andere Kulturvölker in Europa oder Südamerika, die in den Ebenen unterhalb der hohen Gebirge leben: Der progressive Gletscherabfluss wird zunächst zu azyklischen Hochwassern und Überschwemmungen führen und innerhalb der nächsten beiden Generationen das Land aridisieren.

Von den Himalaya-Gletschern gespeist wird auch der Mekong, der die Lebensgrundlage der Menschen in Laos, Vietnam und Kambodscha ist. Das Gleiche gilt für den Irrawaddy, der auf einer Länge von über tausend Kilometern Myanmar durchfließt, von Katschin im Norden bis ins flache Mündungsdelta, dem traditionellen Reisanbaugebiet der Burmesen.


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Enden wird auch die Kultur der Völker im zentralasiatischen Hochland nördlich des Himalaya-Gebirges, in Tibet. Es ist seit Jahrtausenden das Land der Nomaden; deren erste Spuren bis in die frühe Steinzeit zurückreichen. Ihr Leben besteht darin, mit ihren Yaks, Hochlandrindern, die am Rand der Vegetation auf bis zu sechstausend Metern Höhe grasen, ihre Weidegründe im Rhythmus der jahreszeitlichen Zyklen zu wechseln. Diese Ethnien und Völker leben mit ihren Tieren in einer einzigartigen Autarkie und Symbiose - sie haben nichts als die Yaks: Milch, Fleisch, Felle für Kleidung und Zelte und den Dung als Brennmaterial. Die Yak-Nomaden leben in einer schriftlosen Kultur.

In den letzten Jahrzehnten mussten die Nomaden ertragen, dass sie vom chinesischen Staat vertrieben und zur Sesshaftigkeit in Containern gezwungen wurden. Die progressiven Abflüsse der Gletscher und die anschließende Aridisierung der Weiden entzieht den Yak-Nomaden nunmehr endgültig die Grundlagen ihres Lebens.

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     IV    Der polare Permafrost und die Erwärmung der Meere     ^^^^  

Die Gebirgsgletscher umfassen nur etwa ein Prozent der gesamten Permafrostmassen der Erde; 99 Prozent werden gebildet von den Polarkappen der Arktis und der Antarktis. Es sind kontinentale Eisschilde von mehreren Kilometern Mächtigkeit. In der Antarktis überlagern sich Permafrost-formationen aus mehreren Eiszeiten. Bohrungen in 3.500 Metern Tiefe haben gezeigt, dass der älteste Permafrost der Antarktis etwa 900.000 Jahre alt ist. Durch die Erderwärmung schmilzt der arktische Permafrost pro Jahr um etwa einhundert Milliarden Tonnen, der antarktische um etwa 25 Milliarden Tonnen. Der Weltklimarat stellte 2021 Folgendes fest:

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Zusätzliche Erwärmung wird laut Projektionen das Auftauen von Permafrostböden sowie den Verlust der saisonalen Schneedecke, von Landeis und des arktischen Meereises weiter verstärkten [...] Fortschreitende globale Erwärmung wird laut Projektionen den globalen Wasserkreislauf weiter intensivieren, einschließlich seiner Variabilität sowie der globalen Monsunniederschläge und der Heftigkeit von Niederschlags- und Trockenheits­ereignissen.(15)

Der Anstieg des globalen Meeresspiegels durch das Abschmelzen des Polareises vollzieht sich kontinuierlich und unaufhaltsam.

Viele Veränderungen aufgrund vergangener und künftiger Treibhausgasemissionen sind über Jahrhunderte bis Jahrtausende unumkehrbar, insbesondere Veränderungen des Ozeans, von Eisschilden und des globalen Meeresspiegels.(16)

Es ist inzwischen unstreitig, dass sich »der regionale mittlere relative Meeresspiegelanstieg über das gesamte 21. Jahrhundert fortsetzen wird«. Mit großer Wahrscheinlichkeit werden darüber hinaus »extreme Meeres­spiegel­ereignisse wie etwa Hochwasser und Sturmfluten«, »die in der jüngsten Vergangenheit einmal pro Jahrhundert auftraten, laut Projektionen bis zum Jahre 2100 an mehr als der Hälfte aller Pegelstandorte mindestens einmal pro Jahr auftreten«.

Einen breiten Raum in der gegenwärtigen Forschung nimmt die Untersuchung sogenannter Kippelemente (tipping elements) ein, also kataraktischer Einbrüche, die das globale Klimasystem innerhalb kurzer Zeit grundlegend verändern. Zu den wichtigsten zählen das Abschmelzen des polaren Permafrosts (spontane Erhöhung des Meerwasserspiegels), das Kollabieren des indischen Monsuns (Übergang vom Tropen- zum Steppenklima auf dem indischen Subkontinent), das Schmelzen der Himalaya-Gletscher (Überschwemmungen nördlich und südlich des Himalaya) sowie anschließende Trockenphasen mit erhöhter Wahrscheinlichkeit heftiger Fluten und Dürren.

Ein weiteres Szenario der Kippelemente ist die Verlangsamung submariner Ströme. Die Schwächung der nordatlantischen Golfstromzirkulation würde in Europa zu einem spontanen Temperaturabfall führen, bei Über­schreiten eines Kipppunktes (also der spontanen Verlangsamung oder Beendigung der Golfstromzirkulation) zu einem Temperaturrückgang von durchschnittlich über 5 °C.

Das vollständige Abtauen der polaren Eisschilde würde das Meerwasser um hundert bis hundertzwanzig Meter ansteigen lassen.(17)

Allerdings beruhen solche Worst-Case-Szenarien auf physikalischen Berechnungen und Bilanzen des schmelzenden Permafrosts. Als Indikator für die zeitnahen Veränderungen durch die Klimaerwärmung sind diese aber wenig geeignet: Die Ozeane sind ein träges System, das auf Veränderungen und Wandlungen langsam reagiert. Die aktuelle wissenschaftliche Literatur lässt sich dahingehend zusammenfassen, dass diese Entwicklung langfristig eintreten wird, falls die Klimaerwärmung nicht beendet werden kann; die Wahrscheinlichkeit eines Eintritts in den nächsten Jahrzehnten wird überwiegend für unwahrscheinlich gehalten.

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