Eden bei Linse-1983         Start      Weiter 

1.  An den Wurzeln: Obstbausiedlung Eden

Grober-1998

 

10-30

Der Zug der S-Bahnlinie 1 fährt knapp 50 Minuten vom Bahnhof Friedrichstraße durch das Häusermeer im Norden von Berlin und eine grüne, kiefern- und birkenbestandene Vorortlandschaft bis zur Endstation Oranien­burg. Der Gang vom Bahnhof hinaus an den Stadtrand vorbei an der Fassade des preußischen Schlosses und an verlassenen russischen Militäranlagen dauert noch einmal so lange. Hinter der Kanalbrücke, auf einem Schild an der Allee nach Kremmen, sehe ich das Symbol, das mich von nun an begleitet. Drei stilisierte Bäume und der magische Name: Eden.

Am Eingang in die Siedlung passiert man den weißen Neubau eines Supermarkts und ein reetgedecktes Holzhaus im Stil einer vorpommerschen Fischerkate. Der Mischmasch von Baustilen setzt sich auf dem Weg in das Innere der Siedlung fort: Spitzdächer und Flachdächer. Jugendstilarchitektur neben postmodernen Fertigbau-Eigenheimen. Verwilderte Streuobstwiesen und Carports in den Vorgärten. Ausgeräumte Gärten mit exotischen Koniferen, Kaninchenställen und vergreisten Apfelbäumen. Satellitenschüsseln und Gartenzwerge. Bröckelnder Putz in Grau oder Ocker, daneben frisches Weiß. Das Wegenetz ist gerastert. Wo ist der Kern? Wo ist der Rand? Die Tiefenperspektive fehlt. Hier geht die Orientierung schnell verloren. Eden auf den ersten Blick: an schnurgeraden Wegen niedrige Häuser in großen Gärten hinter hohen Hecken. 

Ich fühle mich wie in einer überdimensionierten Schrebergarten- oder Datschenkolonie, die sich aus den Angeboten der Billig-Baumärkte zu erneuern versucht. Was habe ich hier zu suchen?

Angezogen hatte mich der Mythos Eden. Genauer gesagt, die Neugier auf die Spuren der Vergangenheit — auf das Einst im Jetzt — und auf die Neuanfänge seit der Wende. 

Die drei Bäume des Eden-Symbols stehen für ein altes Programm: Bodenreform -> Wirtschaftsreform -> Lebensreform. Kreiert bei der Gründung vor gut 100 Jahren, wirkt diese Formel heute so angestaubt wie die Fraktur­schrift auf dem Logo. Aber die Botschaft, die darin schlummert, ließe sich in die Sprache der alternativen Szene übersetzen: anders leben, anders wirtschaften, anders mit der Mutter Erde umgehen. Oder — mit den Begriffen der Nachhaltigkeitsplaner: Ökologische, ökonomische und soziale Lösungsansätze müssen gebündelt werden, um Auswege aus der Krise des industriellen Systems zu eröffnen. 

Eden hat sich 1893 gegründet, um - auf engem Raum - Lösungen, auch die radikalsten, in der Praxis auszuprobieren. Als Keimzelle einer alternativen Modernisierung stand es Modell für die ersten Kibbuz-Siedlungen im fernen Palästina, diente als Kaderschmiede für die Münchner Räterepublik, als geistige Samenbank selbst noch für die soziale Komponente in Ludwig Erhards sozialer Marktwirtschaft und - welch harter Kontrast - für die Landkommunen der Hippie-Gegenkultur. 

In dieser Zeit, in den 70er und frühen 80er Jahren, als im Westen eine ganze Generation den Ausstieg wagen wollte und mit John Lennons "Imagine" als Soundtrack nächtelang die Pläne für ein antiautoritäres Kinderhaus, einen Biohof oder wenigstens ein Naturkost-Kollektiv diskutierte, da kam in den Büchern der Barfußhistoriker, die uns die Geschichte der grünen Utopien erzählten, der Mythos von Eden ins Spiel ...

Beim Gang ins Innere der Siedlung wird mir bewußt, wie weiträumig und großzügig bebaut und wie grün in allen Schattierungen dieses Eden tatsächlich ist. Die hohen Hecken aus dichtverwachsenem, immer­grünem Thuja oder sommergrüner, knorriger Hainbuche schirmen viele der Parzellen fast undurchdringlich ab. In diesen Binnenräumen, stelle ich mir vor, ist man sicher vor Kontrolle. Die lebendigen Zäune bieten Unterschlupf für eine Vielfalt von Tierarten. Nach innen filtern sie den Staub, spenden Schatten oder Halbschatten. Wo das Blickfeld einmal frei ist, sieht man Beerensträucher und Obstbäume, Gemüsebeete und Gartenteiche. Einige Häuser mit grünen Fassaden aus Kletterpflanzen, von Hausbäumen, meist Linden oder Nußbäumen, eingerahmt, stehen fast ganz verborgen weit hinten auf den Grundstücken. Schlicht und einfach gebaut sind sie fast alle. Diese "Heimstätten", wie man in Eden sagt, sind alle etwa gleich groß. 

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Angelegt sind sie als kleine, individuell auszugestaltende grüne Reiche, wo Pflanzen, Tiere und Menschen in friedlicher Nachbarschaft zusammenleben könnten. Habitat, sagen die Ökologen, Wohnplatz, Lebensraum. Aus solchen grünen Zellen sollte der Organismus eines lebendigen Gemeinwesens wachsen. Allmählich wird für mich die alte Vision von Eden greifbarer.

Im Zentrum der Siedlung ragt ein Fabrikschornstein empor. Er gehört zu der alten Edener Mosterei. Der Bau von 1912 ist vor kurzem in Gelb- und Brauntönen frisch gestrichen und im Innern aufwendig renoviert worden. Der genossen­schaftseigene Produktionsbetrieb aber, der einmal das ökonomische Rückgrat der Siedlung bildete, ist seit 1991 stillgelegt. Die Räume beherbergen heute das Reformhaus, einen Ausstellungs­raum und Büros. 

Hier spreche ich mit Roland Bloeck, dem langjährigen Vorsitzenden der Eden-Genossenschaft. Routiniert im Umgang mit strategischen Problemen und dem alltäglichen Kleinkram gleichermaßen, zehrt er von seiner Erfahrung und von seinem direkten Zugang zu den Wurzeln der Edener Idee. Sein Großvater gehörte in den 20er Jahren zu den Vordenkern der Siedlung. Die Strukturen dieses Gemeinwesens, die mir Roland Bloeck erklärt, sind seit der Gründung vor über 100 Jahren unangetastet geblieben: "Der ganze Grund und Boden gehört der Genossenschaft und wird durch Erbbaurechte von den einzelnen Mitgliedern genutzt. Das gewährleistet eine hohe Lebenssicherheit für jedes einzelne Mitglied, wenn es sich an die Spielregeln der Genossenschaft hält." 

Die 120 Hektar große Fläche ist heute in etwa 500 Grundstücke aufgeteilt. Davon sind 330 mit Einfamilienhäusern bebaute Heimstätten. Die Grundstücke sind außergewöhnlich groß, 2800 Quadratmeter im Durchschnitt. Wie kleine Gärtnereien, meint Roland Bloeck und verweist auf das ideelle Fundament dieser ursprünglich so genannten "Vegetarischen Obstbau-Kolonie": Jeder sollte sich von seinem Grundstück ernähren können. Die Parzellengröße war sehr großzügig kalkuliert. In anderen Siedlungen jener Zeit sollten 800 Quadratmeter Boden ausreichen, um einer vierköpfigen Familie zu 70 bis 80 Prozent die Selbstversorgung mit Lebensmitteln zu ermöglichen.

Etwa 1200 Menschen umfaßt das Gemeinwesen heute. 380 von ihnen sind Mitglieder der Genossenschaft. 

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Das Prinzip: Jede Heimstätte ist mit einer Stimme in diesem Organ vertreten. Die höchste Instanz, der Souverän, sagt Roland Bloeck, ist die Generalversammlung aller Genossenschaftler. Sie tagt in der Regel einmal im Jahr. In der Fabrik hatten zur besten Zeit etwa 130 Edener ihre festen Arbeitsplätze. Produktion und Vermarktung alternativer Lebensmittel bildeten fast 100 Jahre lang das wirtschaftliche Rückgrat der Genossenschaft. Die räumliche Nähe von Arbeiten und Wohnen war zumindest für einen Teil der Edener verwirklicht. Allerdings hatten viele Edener auch immer schon Arbeitsplätze in Oranienburg oder sind nach Berlin gependelt. Von den Überschüssen des Betriebs hat die Genossenschaft ihre Gemeinschaftsaufgaben finanziert. Wie in einem Kibbuz. Das ist vorbei. Der Betrieb wurde nach der Wende stillgelegt.

Auch der Subsistenzgedanke, die Selbstversorgung aus dem Garten, die einmal das zweite ökonomische Standbein Edens gewesen war, hat nicht mehr viele Anhänger. "Soll ich denn der Sklave meines Gartens sein, wo ich doch an jeder Ecke billige Lebensmittel kaufen kann?", beschreibt Roland Bloeck die vorherrschende Mentalität.

Das Denken des Genossenschaftsvorsitzenden kreist um die Erneuerung der Siedlung: "Eden hat vier politische Zeiträume erlebt, von der Kaiserzeit über die Weimarer Republik, über den Nationalsozialismus, durch den Sozialismus. Wir stehen heute in der sozialen Marktwirtschaft, und wir wollen uns für die Zukunft behaupten. Eden ist kein Rentner, der von seinen Ersparnissen leben kann."

Aber obwohl alle Versuche der Genossenschaft, sich mit einem neuen Produktionsbetrieb wieder ein wirtschaftliches Standbein zu schaffen, bisher gescheitert sind, hält Roland Bloeck an dem Plan fest: "Wir wollen Eden als ökologische Siedlung über die Zeit retten und in der Zukunft wieder ein Modell werden für sich neu bildende Lebens-, Wohn- und Dorfgemeinschaften."

Gibt es das menschliche Potential dafür? Der Genossenschaftsvorsitzende schätzt es so ein: "Zehn Prozent sind Idealisten, 30 Prozent Mitläufer, 50 Prozent wären zu begeistern."

Aussteiger aus Berlin, so charakterisierte Richard Bloeck die Gründergeneration. Anders leben, im Einklang mit der Natur, im Netzwerk eines freien Gemeinwesens. 

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Eine Variante der großen Erzählungen, die im Schoße des 19. Jahrhunderts entstanden. Das kollektive Gedächtnis der Siedlung finde ich in einer Dauerausstellung in der oberen Etage der alten Mosterei aufbereitet. Die drei Bäume, hier auf einer grasgrünen Fahne, dekorieren den Eingang. Als ich eintrete an diesem Sonntagnachmittag, höre ich nur die Schritte und die gedämpften Stimmen mehrerer älterer Frauen. Sie betrachten und besprechen die Objekte, so wie man anderswo gelegentlich das Familienalbum aufblättert.

Eine Fotografie in der Ausstellung ist das Medium, das für mich die Zeitreise in Gang setzt: kahles Grasland bis zum Horizont, nur eine Reihe Pappeln, ganz klein, weit weg am rechten Rand, weiter vorne ein einziger wilder Kirschbaum, ein winziger Schuppen, ein verfallener Brunnen. Das Bild zeigt zweifellos den damaligen Zustand des Terrains, auf das man aus dem Fenster des Ausstellungsraumes sieht. Damals war das Land eine Schafweide am Rande des stillen preußischen Städtchens Oranienburg

In dieser Einöde sind knapp zwei Dutzend Menschen zum Gruppenbild versammelt. Einige haben sich ins Gras gelagert, andere stehen zu zweit oder dritt beisammen. Die Frauen tragen knöchellange, glockenförmige Kleider, langärmelige Blusen und Hüte, diese vogelnestartigen Modelle vom fin de siede. Die Männer haben dunkle Anzüge und weiße Hemden an. Eine gutbürgerliche kleine Gesellschaft auf einer Landpartie? Das Foto, vermutlich Pfingsten 1893 aufgenommen, zeigt die Gründer von Eden bei ihrer ersten Besichtigung des Grundstücks. Wie Aussteiger, "Visionäre", die etwas "geschaut" hätten, etwas, das ihnen durch Mark und Bein gegangen wäre und ihr Leben von Grund auf verändert hätte, wirken die Leute auf dem Foto nicht. 

Trotzdem, diese Handvoll Kaufleute, Ärzte, Rechtsanwälte, Aktivisten verschiedener lebensreformerischer Vereine war entschlossen, den Ausstieg zu wagen. Was sie einte, war die Überzeugung, daß die Nöte, Ängste und Krankheiten des modernen Menschen aus seiner Entfremdung von der Natur kämen. Sie planten, ihr Geld gemeinsam in dieses Stück Ödland zu investieren. Sie hatten vor, die körperliche Arbeit, die keiner gewohnt war, und den Obstbau, von dem keiner einen blassen Schimmer hatte, zu ihrer Existenzgrundlage zu machen. Sie, die bisher in freien Berufen auf eigene Rechnung gearbeitet hatten, wollten eine Genossenschaft gründen. Ein hohes Risiko.

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Eine der Frauen auf dem alten Foto könnte die Berlinerin Clara Wilhelmi sein. Sie war verheiratet mit dem damals 27jährigen Kaufmann Bruno Wilhelmi. Die beiden hatten zwei Jahre in Brasilien verbracht, waren dann nach Berlin zurückgekehrt und betrieben einen Versandhandel mit Steinmehldünger. Die Wilhelmis hatten fünf Kinder, lebten streng vegetarisch, interessierten sich für alle Fragen der Lebensreform, knüpften Kontakte. In diesem Netzwerk von Berliner Vegetariern und Bodenreformern, zu dem die Wilhelmis gehörten, ist die Eden-Idee entstanden.

Bekannte Wagnerianer wie der Pianist Karl Klindworth schlossen sich früh an. Und vermutlich war Richard Wagner eine wichtige Inspiration mit seinem Aufruf, "das verlorene Paradies" wieder aufzufinden. Dem immer brutaler werdenden "Raubtier Mensch" das Wissen vom "Netz des Lebens" entgegenzusetzen. "Stille Genossenschaften" zu gründen, die sich vegetarisch ernähren und vom Ideal der Sanftmut und des Mitleidens leiten lassen. "Die Natur zu meistern kann nur denen gelingen, die sie verstehen und im Einverständnis mit ihr sich einzurichten wissen."

Bruno Wilhelmi wurde der erste Geschäftsführer des Vereins. Clara Wilhelmi war es, die vorschlug, die geplante Vegetarier-Kolonie einfach - und verführerisch - Eden zu nennen. Das Statut entwarf Franz Oppenheimer, der Berliner Armenarzt und Sozialreformer.

18 Vereinsmitglieder haben am 28. Mai 1893 die Eden-Genossenschaft gegründet. Im Hinterzimmer des vegetarischen Speisehauses "Ceres", Paulstraße 1 in Berlin-Moabit. (Heute ist dort ein Bistro, aus dessen Fenster der Blick - wie damals - auf die hohen Mauern des Untersuchungsgefängnisses hinausgeht.)

Diese kleine Gruppe formulierte damals ein Programm, das den Angriff auf die Fundamente der wilhelminischen Gesellschaft, nämlich Großgrundbesitz und Großindustrie, in ein eher pastellfarbenes Bild vom guten Leben verpackte:

* Richard Wagner: "Religion und Kunst", Leipzig o.J.

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"Was wollen wir? Eden ist der verheißungsvolle Name unseres Unternehmens; also ein Eden, ein Paradies wollen wir schaffen? Allerdings nur nicht von heut auf morgen, denn gut Ding will Weile haben. Auch müssen alle, welche noch an die Möglichkeit eines Paradieses auf dieser Erde glauben, tatkräftig mithelfen. Entwickeln wir unser Programm, um Mitarbeiter zu werben. Im Paradies herrscht Friede: Lassen wir daher zunächst den Tiermord, den Meuchelmord der sorgsam aufgezogenen, gleich uns fühlenden, hoch entwickelten Tiere. Daß uns keine Notwendigkeit zu diesem scheußlichen, des Menschen unwürdigen Tiermorde zwingt, das hat der Vegetarismus bewiesen. Das Paradies ist ein Garten: In einen Garten also wollen wir unseren Acker verwandeln, in einen Garten, der alle Sinne entzückt. 

Das Auge weide sich am frischen Grün des Laubes, an der Farbenpracht der Blüten, an dem verlockenden Anblick der Früchte; atmen werden wir die wonnigen Düfte, schmecken die herrlichen Gaben. Geselligkeit wollen wir pflegen, Geselligkeit und geistiges Leben. Als Menschen wollen wir uns fühlen, wollen wir uns geben, wollen wir uns fortentwickeln. Zu fruchtbarer Geistestätigkeit werden wir uns alle Grundbedingungen schaffen: Gesundheit, erworben und erhalten durch reine Nahrung, Betätigung im Freien, Pflege des Körpers mit Hilfe von Licht, Luft und Wasser. Sorgenlosigkeit als Folge unserer leicht befriedigten, geringen körperlichen Bedürfnisse und unserer gegenseitigen Unterstützung in allen Dingen; endlich Fülle unserer Bildungsmittel, die sich von selbst ergeben, wo eine Anzahl nach gleichem Ziel Ringender sich treulich beistehen. Dies in kurzen Umrissen unser Programm."

3000 Mark waren das Startkapital. Dafür kamen zunächst 37 Hektar von dem Land bei Oranienburg in den Besitz der Eden-Genossenschaft. Der Boden wurde in Parzellen von 2800 Quadratmetern aufgeteilt und an Mitglieder verpachtet. Im Frühling 1894 begannen die ersten Siedler, Obstbäume und Beerensträucher anzupflanzen und ihre Heimstätten zu bauen. Der nährstoffarme Moor- und Heideboden erwies sich als für den Obstbau völlig ungeeignet. Das rauhe Klima ebenfalls. Und die Menschen auch. Der Gründerkreis machte schwere innere Krisen und Zerreißproben durch. Eden wäre fast daran zerbrochen. Es ging immer wieder um die Balance zwischen individuellen und kollektiven Interessen, vor allem um eine gerechte Aufteilung der Arbeit für das Gemeinwesen.

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Die Wilhelmis und andere sprangen ab. Das Gebot, jeder müsse sich vegetarisch ernähren, wurde aus dem Statut gestrichen. Neue, endlich auch gärtnerisch qualifizierte Leute kamen dazu. Mit dem Pferdemist vom Berliner Asphalt verbesserten sie den Boden. Die Hecken wuchsen und milderten das Mikroklima. Eine genossenschaftseigene Bank wurde gegründet, um Kredite für den Hausbau erschwinglich zu machen. Handwerksbetriebe siedelten sich an. Die Genossenschaft begann mit der Produktion von neuartigen Lebensmitteln aus Obst und Gemüse: "absolut naturrein, vollwertig, bekömmlich" - Reformkost. 1912 errichtete die Genossenschaft die Obstverwertungsfabrik, deren größter Raum heute nur noch die Relikte der eigenen Geschichte aufbewahrt.

 

Die Ideen, die Eden inspiriert hatten, lagen in jener Wendezeit um 1900 überall in der Luft. Auf der imaginären Landkarte der Gegenkultur, die mir beim Gang durch die Ausstellung in den Kopf kommt, wäre diese Obstbausiedlung bei Oranienburg ein Knotenpunkt. Aber ganz in der Nähe müßte der Monte Verità eingezeichnet sein, die "vegetabilische Cooperative" auf dem Berg der Wahrheit im schweizerischen Ascona, wo nach 1900 alle Extreme ausprobiert wurden, das bedürfnislose, meditative Einsiedlerleben in Höhlen ebenso wie die Wiedererweckung orgiastischer Matriarchatskulte. 

Letchworth (1903 gegründet), die Gartenstadt bei London, die Wohnen und Arbeiten wieder in die Natur verlagern wollte, wäre nicht weit. Ebenso Hellerau (1910 gegründet), das Laboratorium der Moderne bei Dresden mit seiner Integration von Kunst und Leben, Tanz, Theater und Handwerk. Auch die ashrams, die kleinen kommunitären und spirituellen Siedlungen, die Gandhi, inspiriert nicht zuletzt von den Ideen Tolstois, in Indien gründete und in denen das Spinnrad die Abkoppelung von Kolonialismus und Abhängigkeit symbolisierte, gehörten auf diese Landkarte. 

Und auch die ersten Kibbuzsiedlungen in der Wüste Palästinas wären nicht weit, deren Konzeption von genossenschaftlichem Grundbesitz und gemeinsamer Ökonomie Franz Oppenheimer nach dem Modell Edens entwickelt und 1903 auf dem Baseler Zionistenkongreß vorgeschlagen hatte.

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Eine ältere Landkarte wäre danebenzuhalten. Von den Siedlungen, die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts von frühsozialistischen Ideen geleitet, allesamt rasch gescheitert, aber um 1900 keineswegs vergessen waren.

New Lanark in Schottland wäre darauf zu finden, die Gründung des englischen Baumwollfabrikanten und utopischen Sozialisten Robert Owen. Im Flußtal des Clyde erstreckten sich um 1800 die Fabrikanlagen und Felder, die Gemeinschaftswohnhäuser der Arbeiter, Konsumläden, Kindertagesstätten und ein Institut für Charakterbildung. New Lanark war Wohn- und Arbeitsplatz für 2400 Seelen und "Zufluchtsstätte der Arbeitslosen". Owen setzte die Löhne herauf, verkürzte die Arbeitszeit, verbot die Kinderarbeit. Die Siedlung blühte ökonomisch und sozial. Dann hat Owen New Lanark verkauft, um ähnliche communities in Amerika zu gründen. Diese aber sind alle "an der Trägheit der Arbeiter" gescheitert. Als Eden sich gründete, war Owen erst 30 Jahre tot.

Anhänger von Charles Fourier bildeten in Frankreich um 1830 ihre colonies societaires, wo sie eine Rotation der Arbeiten einführten: An einem Tag sollte man "häusliche Arbeiten verrichten, am folgenden Tag Feldarbeit, dann in den Werkstätten arbeiten, um sodann geistige Arbeiten, Musik und so weiter zu betreiben", wie es im Programm der colonies hieß.

Auch die Brook-Farm (1841-1847) im Osten der USA berief sich auf Fourier. Junge Menschen lebten hier nach dem Motto: "Sei du selbst. Lebe dein eigenes Leben. Tu das, was du wirklich liebst." Lebensregeln der "New England Transcendentalists", zu denen auch der große Einsiedler Henry David Thoreau zählte, den man in Berlin um 1900 in kleinen Kreisen begeistert las.

Der Ausstellungsraum, durch den ich wandere, war einmal der Speisesaal für die Arbeiterinnen und Arbeiter der Fabrik. Ein paar Wahrzeichen aus dieser Vergangenheit sind ausgestellt: eine Saftpresse, Apfelsaftflaschen mit den Edener Etiketten, Einmachgläser und Konservendosen, Pappschachteln für Margarine, Werbeplakate. Dieser Betrieb hat die Früchte der Edener Gärten zusammen mit Obst und Gemüse aus dem Umland, zum Teil auch mit importierten Rohstoffen, zu möglichst naturbelassenen, vegetarischen Lebensmitteln verarbeitet. Typische Edener Produkte? 

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Da gab's die Steinpilzpastete, später Vegeta-Pastete genannt, erzählen mir die alten Edenerinnen, die ich in der Ausstellung kennenlerne und die damit groß geworden sind. Dann gab es Pflanzenfleisch und Pflanzenwurst, also vegetarische Brotaufstriche und Fleischsurrogate. Verschiedene Obstsäfte wurden mit neuen schonenden Verfahren haltbar gemacht. Auch die Eden-Butter aus Pflanzenfett gehörte zu der in ganz Deutschland bekannten Produktpalette von Eden. Die Aussteiger von 1893 wurden von den Besitzern der Obstplantagen in Werder/Havel beispielsweise, die mit ihrem Tafelobst den Berliner Markt beherrschten, sicher nicht ernst genommen. Aber Eden mit seinen Produkten auf der Basis neuester wissenschaftlicher Erkenntnisse schuf sich binnen kurzem einen eigenen Markt. Reformkost war um 1900 etwas ausgesprochen Innovatives. Schließlich waren die Bedeutung von Vitaminen und deren Vorkommen im Obst, auch die Funktion von Ballaststoffen in der Nahrung gerade erst entdeckt worden. In den Räumen der Obstverwertung und in den Küchen ihrer Siedlungshäuser entwickelten die Edener - und vor allem die Edenerinnen - die neuen Rezepturen und Verfahren. Hier und an anderen Standorten hat man danach produziert. Über das Vertriebsnetz der Reformhäuser, das ab 1900 rasch expandierte, wurden die Edener Erzeugnisse in ganz Deutschland vermarktet.

Ein Paar Sandalen in einer Vitrine wecken meine Neugier. Eine flache Sohle mit Lederriemen. Einer geht über die Zehen, zwei schlingen sich über Kreuz um den Knöchel. Ich lese den alten Werbetext: "Die Barfuß-Sandale ›Original Eden‹ hat sich seit Jahrzehnten glänzend bewährt. Keine andere Sandale läßt die natürliche, edle Fußform so zur Geltung kommen wie sie. Bei wenig Riemenwerk ist infolge genialer Anordnung dennoch fester Sitz gewährt." Auf den alten Fotos tragen Männer und Frauen sie bei der Gartenarbeit, Kinder beim Volkstanz und in der Schule. Mit Christine Groß komme ich ins Gespräch darüber. "Jesuslatschen", hätten die Kinder in Oranienburg gerufen, wenn sie ihre Edener Mitschüler in diesen Sandalen zur Schule kommen sahen. Carl Tomys war der Edener Schuhmacher. Seine Werkstatt hatte er in dem Siedlungshaus neben dem Festplatz. Dort ging man hin, ließ sich die Füße abmessen, und am nächsten Tag konnte man die Sandalen abholen. Der Schuster war aus einem polnischen Dorf eingewandert. 

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Die Schriften Tolstois hatten ihn aufgewühlt. Er hatte sich in Eden angesiedelt und sich Gustav Landauers "Sozialistischem Bund" angeschlossen, der in Eden eine seiner wenigen aktiven Ortsgruppen hatte. Die Original-Eden-Sandalen, in denen man lange Strecken gehen, mit dem Spaten arbeiten, durch Pfützen laufen und tanzen konnte und derentwegen man in der Stadt verspottet wurde: ein Design im Geiste Edens, inspiriert von den Ideen Tolstois und Landauers, vielleicht auch von Gandhi, der auf Fotos aus den 20er Jahren ganz ähnliche Riemensandalen trug. Irgendwann in den 30er Jahren ist Carl Tomys gestorben. Seine Kinder sind ausgewandert. Die Jesuslatschen sind heute, leicht umgemodelt und perfektioniert, teure Markenartikel und weltweit eine erfolgreiche Produktlinie.

Silvio Gesell ist ein eigener Raum in der Eden-Ausstellung gewidmet. Er hatte (wie die Wilhelmis) in den 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts als Kaufmann in Südamerika gearbeitet. Beeinflußt vom Denken Proudhons, befaßte er sich mit theoretischen Fragen des Geldwesens: Der Mißbrauch des Geldes und des Bodenbesitzes zur Ausübung von Macht sei die Wurzel allen Übels. Das Geld dürfe nicht länger ein hortbares, zinstragendes Mittel zur Ausübung wirtschaftlicher Macht sein, sondern es dürfe der Gesellschaft ausschließlich als Tauschmittel dienen.

1913 begann Gesells erster Aufenthalt in Eden. Der Krieg vertrieb ihn in die Schweiz. In der Revolutionszeit 1918/19 tauchte er in München auf. Landauer, Mühsam, Gesell - alle mit Eden verbunden - gehörten der ersten, der anarchistisch-libertären Regierung der Münchner Räterepublik an. In dem Blutbad, das die rechtsgerichteten Freikorps bei ihrem Einmarsch in München anrichteten, wurde Gustav Landauer ermordet. Erich Mühsam wurde zu Festungshaft verurteilt, 1934 im KZ Oranienburg ermordet. Nur Gesell kam frei und kehrte zurück in die Siedlung. Eden - eine Annäherung an die Utopien, von denen diese Revolutionäre beseelt waren? Oppenheimers "Gesellschaft der Freien und der Gleichen"?

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"Gleich waren wir eigentlich nicht", hatte mir Anne-Susanne Mampel, eine alte Edenerin, die heute in Berlin lebt, aus ihrer Erinnerung an die 20er Jahre erzählt. "Ich würde sagen, was das Materielle angeht, waren wir alle arm. Aber sonst waren die Menschen, die da wohnten, sehr verschieden. Also das, was sie verband, das war am Anfang das Vegetariertum, später ja dann nicht mehr, und der Siedlungsgedanke, zwangsläufig. Und die lebensreformerische Einstellung. Aber sonst waren sie doch sehr, sehr unterschiedlich — von ihrer Herkunft, von der Religion, was damals noch eine Rolle spielte, mehr als heute, von der Weltanschauung überhaupt, auch von der Bildung, und sie waren doch alle ganz schöne Individualisten. 

Da konnte man ja auch ruhig sonderbar sein in Eden, das war gar nicht schlimm, das durfte man. Hauptsache, man hielt sich an das, was in der Genossenschaft üblich war und was da erwartet wurde. Aber sonst durfte man denken, was man wollte, und da gab's schon einige merkwürdige Figuren, die noch heute in der Historie von Alt-Eden herumgeistern. Irgendwie haben wir Kinder das ganz selbstverständlich hingenommen. Daß da andersartige Menschen, andersdenkende Menschen in der Nachbarschaft lebten, ach, das wurde gar nicht erwähnt. Die dachten eben so, und die waren so, und das wurde zu Hause vielleicht mal besprochen. Aber daß es gewertet wurde bei uns - nein." 

Gemeinschaft ohne Zwang. Gleichheit ohne Uniformität. 

Die Freiheit des Andersdenkenden gehörte in Eden zum Programm. Keine Kreativität ohne diese Freiheit. Laßt 100 Blumen blühen ... "Politisch finden sich alle Weltanschauungen", schrieb Oppenheimer 1924, "vom extremen Kommunismus bis zum extrem völkischen Bekenntnis, religiös alle möglichen Sekten. Also es ist nicht ein vorher geschaffener Gonsensus, der das Gedeihen bedingt, sondern die wirtschaftlich-soziale Grundlage, der genossenschaftliche Bodenbesitz, die Ausschaltung allen Schachers mit der Mutter Erde, die die erstaunlichen Erfolge gezeitigt hat."

Gleiche Möglichkeiten der Selbstverwirklichung auch für die Frauen? Eden war offen für die "wirtschaftliche Verselbständigung der Frau" und bot den Siedlerinnen die Möglichkeit, sich unabhängig vom Mann "auf der Scholle häuslich einzurichten und aus ihr den Lebensunterhalt zu bestreiten", wie es im damaligen Programm geschrieben steht.

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Dieses Eden der Querdenker, Träumer und Utopisten ist 1933 untergegangen. Schon am 8. Mai des Jahres verkündeten Vorstand und Aufsichtsrat der Genossenschaft: "Eden sieht im Nationalsozialismus die Anerkennung seiner genossenschaftlichen Aufgaben durch den Staat und bejaht ihn deshalb voll und ganz. Damit ist Eden wirtschaftspolitisch gleichgeschaltet." 

Bei den Neuwahlen wurden erstmals zwei Mitglieder der NSDAP in den Aufsichtsrat gewählt. Diese Hauptversammlung bot "durchaus ein harmonisches Bild, von kleinen Zwischenfällen abgesehen". Der Widerstand in Eden war offensichtlich gering, jedenfalls geringer als in den Berliner Arbeitervierteln. Hatte die Wirtschaftskrise selbst hier, wo man doch das einfache, unabhängige Leben praktizierte, die Ängste vor dem eigenen ökonomischen Bankrott so stark geschürt? Oder waren die Berührungspunkte zwischen der Edener Esoterik und der Nazi-Rhetorik so eng? 

Der Wunsch nach Leben im Einklang mit Mutter Erde und die Reden von Blut und Boden, die Vision vom einfachen Leben in einer freiwilligen Gemeinschaft und die Ideologie der gleichgeschalteten Volksgemeinschaft, der Traum vom neuen Menschen und die Propaganda vom Herrenmenschen - zu viele Edener konnten offenbar nicht mehr unterscheiden zwischen den ursprünglichen Ideen und den äußerst raffinierten Verfälschungen. Oder erst, als es zu spät war. Was offenbar hinzukam: Der große Traum vom Umbau der Gesellschaft nach Edener Muster, von den Wurzeln her, hatte sich 40 Jahre lang nicht erfüllt. Selbst in der tiefsten Depression nach 1929 hatte niemand aus der alten politischen Elite, auch niemand aus den großen Massenorganisationen der Arbeiterbewegung jemals ernsthaft Eden als Modell für die Lösung der Krise in Erwägung gezogen. Selbst Oppenheimers aufwendiger Versuch, ein paar Kilometer südlich, in der Domäne Bärenklau, eine weitere kleine Siedlung zu gründen, war gescheitert. Es scheint, als habe man 1933 in Eden auf den starken Staat und eine Revolution von oben die letzte Hoffnung gesetzt. Vielleicht glaubte man hier, man könne den Führer führen und die Nazis dazu bringen, dem Gedanken der Bodenreform, Wirtschaftsreform, Lebensreform zum Durchbruch zu verhelfen. In dem Heft der genossenschaftseigenen Edener Mitteilungen, das im Mai 1933 den Vollzug der Gleichschaltung meldete, lese ich neben Zitaten von Hitler und Mussolini ebenso hervorgehoben ein Wort von Albert Schweitzer: "Ethik ist nichts anderes als ins Grenzenlose erweiterte Verantwortung gegen alles, was lebt." 

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Die fürchterliche Nachbarschaft von Kräutergärtlein und KZ - in Oranienburg wurde sie nun greifbar. Am anderen Ende der Stadt bauten die Nazis ab 1936 das KZ Sachsenhausen auf und später die Inspektion der KL, die Zentrale des SS-Staates. Den Geruch aus den Schornsteinen des Krematoriums, so erzählt mir Christine Groß, kannte jeder in der Stadt. Und jeder wußte, daß die Musik aus den Lagerlautsprechern die Schreie der gefolterten Häftlinge und die Schüsse der Exekutionskommandos übertönen sollte.

26 Jahre hatte die Siedlung im Kaiserreich existiert, 14 Jahre in der Weimarer Republik, zwölf Jahre im Nazismus. Die DDR-Zeit dauerte 40 Jahre. "Eden hat viele Jahre lang in einer Nische gelebt", hatte mir Roland Bloeck gesagt. 

Die Genossenschaft blieb nach 1945 erhalten, behielt ihren Bodenbesitz. Die Bodenreform, die einmal in Eden angefangen hatte, war ja schließlich, wenn auch in anderen Formen, Staatsziel geworden. Die Produktion von Säften und Reform-Lebensmitteln wurde wieder aufgenommen. Der Betrieb war noch selbständig, wenn auch in die staatliche Planwirtschaft eingebunden und von deren Vorgaben abhängig. Familien gingen in den Westen. Auf deren Heimstätten quartierte die kommunale Wohnungsverwaltung Neuansiedler ein. Eine Umschichtung des Gemeinwesens, heute noch spürbar. Im Westen baute man einen Tochterbetrieb auf: Die Eden-Waren GmbH im hessischen Bad Soden arbeitete mit dem alten Warenzeichen, den alten Rezepturen, dem alten Kundenstamm und florierte. Die Genossenschaft in Oranienburg blieb Teilhaberin, bekam ihren Anteil an den Gewinnen auf ein Devisenkonto. In die Nachbarschaft zog russisches Militär ein und baute einen riesigen Hubschrauber-Flugplatz. Die alten Edener Naturfeste aus der Tradition der Jugendbewegung lebten wieder auf. Die Heimatbühne wurde neu gegründet. 1972 wurde der bis dahin immer noch genossenschaftseigene Obstverwertungsbetrieb verstaatlicht. Der Betrieb lief weiter, jetzt unter der Regie des Obstbaukombinats Havelland in Werder bei Potsdam. 

40 Jahre DDR-Alltag in Eden: Existenz in einer Nische. Stagnation. Eine Gratwanderung zwischen Bewahrung der inneren Autonomie, Anpassung an das neue System, Engagement für die neue Ordnung, Verstrickung in deren Machtapparat. Dann kam die Wende und kurz darauf die deutsche Vereinigung.

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Als Ludwig Erhard die soziale Marktwirtschaft konzipierte, stand auf seinem Schreibtisch als einziger Schmuck ein Foto von Franz Oppenheimer. Erhard hatte in den 20er Jahren bei Oppenheimer, der 1943 völlig vereinsamt im Exil in Los Angeles starb, an der Universität in Frankfurt am Main studiert und verehrte seinen Lehrer noch immer aufrichtig. Und vielleicht finden sich ja bei genauem Hinsehen in Erhards Konzepten vom freien Spiel der Kräfte, Vermögensbildung in Arbeitnehmerhand etc. tatsächlich, wie auch immer verdünnt, Reste von Oppenheimers Vision eines herrschaftslosen Zusammenspiels freier Produzenten.

Für Eden, das Oppenheimer einst mit begründet hatte, begann der Übergang in die Marktwirtschaft jedoch mit Schocks, die eher an Brechts "und der Haifisch, der hat Zähne" gemahnen. Die Obstverwertungsanlage wurde von der Treuhand übernommen, wie alle volkseigenen Betriebe. Die Treuhand stufte den Betrieb als unrentabel ein und legte ihn still. Die Maschinen hat man verschrottet, die letzten Fässer Rotebeetesaft in die Jauchegrube gekippt. Der Mutterbetrieb, das stolze Obstbaukombinat in Werder an der Havel, ist mächtig geschrumpft und wurde 1992 reprivatisiert. Die Reste sollen inzwischen von dem Branchenführer auf dem Obstsaftmarkt, einem Hamburger Unternehmen, geschluckt worden sein. Mit der Stillegung der Edener Fabrik war das wirtschaftliche Rückgrat der Genossenschaft zerbrochen. Die Hoffnung, das Bad Sodener Eden-Werk würde in Eden investieren und wieder genossenschaftliche Arbeitsplätze schaffen, erfüllte sich nicht. Statt dessen verkauften die westdeutschen Hauptanteilseigner die Eden-Waren GmbH 1991 an den Schweizer Konzern Sandoz. Eden-Oranienburg wurde davon völlig überrascht und entschloß sich, die eigenen Anteile von 17 Prozent ebenfalls an den Schweizer Chemiekonzern zu verkaufen. Dem global player Sandoz ging es bei dieser Transaktion vermutlich vor allem um den Namen. 

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Die Marke Eden mit der Bio-Produktpalette sollte wohl helfen, die von einem "Störfall", der 1986 den Rhein auf ganzer Länge vergiftet hatte, angekratzte corporate identity aufzupolieren. Sandoz war großzügig. Die Genossenschaft hat die Millionen aus dem Verkauf geschickt angelegt. Eden, das einmal Gesells Idee vom "Schrumpfgeld" auf seine Fahne geschrieben hatte, lebt seither von den Zinsen.

"Wenn wir tiefer graben hier in Eden, stoßen wir auf hellen, sandigen, trockenen, nährstoffarmen Boden. So war die Heide hier früher beschaffen." Ein Vortrag im Edener Genossenschaftshaus. Etwa ein Dutzend Siedler sind gekommen. Petra Katharina Panthel, Obstbauberaterin der Genossenschaft, gibt praktische Hinweise für das Gärtnern ohne Pestizide und Herbizide. "Aber oben haben wir heute überall in den Gärten diese Schicht Humus. Viel dunkler und krümeliger und lockerer, weil die Humusstoffe das Erdreich stabiler machen und Feuchtigkeit speichern genau wie Tonminerale und mit der Zeit dem Boden die dunkle Farbe geben. Diese wiederum beschleunigt die Erwärmung des Bodens im Frühjahr, was natürlich die Aktivität der Bodenorganismen fördert. Mit der Zeit hat sich die Bodenstruktur hier eben verbessert. Den Zukauf von Dünger und Torf können wir uns sparen, indem wir den Kompost selber herstellen." Als Petra Katharina Panthel den Tageslichtprojektor ausgeschaltet und ihre Merkblätter mit den elf Regeln für einen guten Kompost verteilt hat, beginnt das Gespräch in der Gruppe.

Ein oder zweimal in der Woche hält Frau Panthel im Schulungsraum oder draußen in den Gärten Kurse ab, gibt fachliche Beratung, diskutiert in ihrer Arbeitsgruppe über den Obstbau. Ein kleiner Schritt, um das Konzept der ökologischen Siedlung umzusetzen.

"Mein Anliegen", sagt Petra Katharina Panthel, "ist, das Potential, das hier in Eden noch da ist, zu erforschen, herauszufiltern und darzustellen." Damit meint sie zum Beispiel die über 40 verschiedenen Apfelsorten, die hier noch wachsen. Viel im Vergleich mit dem Angebot der Intensiv-Obstbaubetriebe und Großmärkte, die nur noch zehn, höchstens 20 Standardsorten anbauen und anbieten. Wenig im Vergleich mit der Vielfalt früherer Zeiten, als praktisch jedes Dorf eigene, den lokalen Böden und Witterungsbedingungen angepaßte Obstsorten kultivierte. Hat der Obstbau eine neue Chance, in

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Eden wieder zu einem wirtschaftlichen Faktor zu werden? "Für die einzelnen Familien spielt das jetzt schon eine Rolle, für die ist es auch ein Wirtschaftsfaktor. Wir haben einen sehr hohen Selbstversorgungsgrad in Eden." Alles andere, ob also durch eine neue Mosterei wieder eine Vermarktung nach außen in Gang komme, sei ungewiß. Das müsse die Genossenschaft wissen, sagt Petra Katharina Panthel, ob sie selbst wieder Produktionsbetrieb werden will, also Produktionsgenossenschaft.

Die Arbeitsgruppe von Petra Katharina Panthel hat sich 1993 gegründet. Die Genossenschaft feierte damals ihr 100jähriges Jubiläum in einer Aufbruchstimmung. Den ganzen Sommer über arbeitete eine "Zukunftswerkstatt Eden". Produkt der Zukunftswerkstatt war ein 12-Punkte-Programm mit dem Titel "Leitbild ökologische Siedlung Eden". Die Genossenschaft hat es auf ihrer Generalversammlung 1994 bei zwei Gegenstimmen verabschiedet. Es beginnt mit dem Rückgriff auf die Tradition: "1. Zielstellung des Entwicklungskonzeptes für die Obstbau-Siedlung Eden ist das Modell der Lebens-, Boden- und Wirtschaftsreform. 2. Die Lebensabläufe in Eden, das Wirtschaften, das Bauen, die Infrastruktur und die Energienutzung orientieren sich an den Kreisläufen in der Natur. 3. Der Boden bleibt Gemeineigentum ..." Dieses Leitbild sollte Richtschnur für die Arbeit der Genossenschaft sein und durch die Aktivitäten von Gruppen innerhalb der Siedlung "von unten" mit Leben gefüllt werden. Dazu gehörten unter anderem: die Gartenbaugruppe, die Arbeitsgruppe Gesunde Ernährung, die Heimatbühne, die Kindergruppe "Umweltfüchse", die Redaktion der genossenschaftseigenen Zweimonatszeitschrift Edener Mitteilungen.

 

"Das ist alles an uns vorbeigegangen", erzählen Jugendliche, die ich nach der Aufbruchstimmung von 1993/94 frage. Und die alte Eden-Idee? "Ich weiß gar nicht, was es mit den drei Bäumen auf sich hat", sagt einer der Jungen, und ein Mädchen: "Daß hier eben Agrarland war, das bebaut werden sollte, daß man mehr oder weniger eine kleine Hütte haben sollte, und der Rest Land sollte bebaut werden, aber das kann heutzutage ja nicht mehr sein, weil die Eltern beide arbeiten. Die kommen abends von der Arbeit, sind kaputt und sollen dann noch irgendwas bepflanzen. Außerdem gibt's heutzutage alles in Büchsen und Konserven."

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Der Jugendtreff ist inzwischen wegen des ständigen Zoffs zwischen den Jugendlichen und den Anliegern geschlossen worden. Die "Umweltfüchse" existieren auch nicht mehr. Die ABM-Stelle der Pädagogin, die diesen Kreis angeleitet hatte, ist ausgelaufen.

Wie viele strenge Vegetarier gibt es heute in Eden? - Eine Handvoll, antwortet mir mit einer wegwerfenden Handbewegung der alte Bienenzüchter und beginnt wortreich, die "verbrecherische Gleichgültigkeit der Menschen gegen sich selbst" anzuprangern.
In den postmodernen urbanen Milieus ist es wieder chic, sich vegetarisch zu ernähren. Es hat ein Flair von grüner, sanfter Kultur. Es hat mit der neuen Achtsamkeit für den Körper und dessen Vitalität und Schönheit zu tun. Manche tun es um der Kinder willen. Manche tun es, um die Erde zu retten. Aus Abscheu vor gemästetem Fleisch und der Massentierhaltung. Und gewiß nicht unwichtig für alternative Milieus und sicher wichtig für arme Milieus: weniger essen, dafür vollwertig, die Lebensmittel - wenigstens teilweise - selbst anbauen. Mit Getreide, Gemüse, Kräutern und Obst aus dem eigenen Garten zu kochen spart eine Menge Geld.

Das ist alles an Eden vorbeigegangen, dem Ort, wo alle, auch die scheinbar ganz neuen Einsichten über die Vorzüge pflanzlicher Nahrung seit 100 Jahren bekannt und in der genossenschaftseigenen Reformkost-Produktion umgesetzt worden sind? Vielleicht hat der alte Imker seine Erfahrungen etwas zugespitzt formuliert. Bei den Edener Festen jedenfalls, die ich miterlebt habe, gab es ein opulentes vegetarisches Büffet. Das war Beschluß der Genossenschaft. Die Arbeit leistet Andrea Heintze, die junge Inhaberin des Reformhauses, mit ihrem Kreis von Helferinnen und Helfern. Die 25jährige hat drei Jahre Ernährungs­wissenschaften studiert. Sie war in der Arbeitsgruppe "Gesunde Ernährung" aktiv. Dort ist die Idee zur Gründung eines Ladens entstanden. Das neueröffnete Edener Reformhaus befindet sich im unteren Bereich der alten Mosterei, ist hell und freundlich, mit viel Holz und Farbe gestaltet,

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jünger, alternativer als die meisten Reformhäuser mit ihrem apothekenhaften Design. Andrea Heintzes erste Bilanz: "Das Reformhaus wird angenommen, kann man sagen, von einem Teil der Edener, vor allem von den älteren, die Reformhäuser von früher noch kennen, auch von Leuten aus Oranienburg und aus der weiteren Umgebung. Aber ob sich der Laden wirtschaftlich tragen kann, steht noch nicht fest, denn die Stolpersteine kommen noch, spätestens nach zwei Jahren."

Was sie an Eden schätzt, erzählt mir Andrea Heintze am Schluß, im Konjunktiv: "Hier wäre ja wirklich eine Möglichkeit, ganz besonders zu leben, auch ganz bewußt anders als in der Stadt oder in anderen ländlichen Gegenden. Die könnte ja jeder für sich nutzen. Jeder hat hier relativ viel Fläche, um selber was anzubauen, sich selber eine natürliche, schöne Umgebung zu schaffen, sich einfach was ganz Individuelles herzurichten, um sich wohlzufühlen. Wo hat man noch soviel Freiraum?"

Zum Abendbrot bei Schurmanns auf der Terrasse. An einem warmen Frühsommerabend. Die Schurmanns sind ein kinderloses Ehepaar, beide um die 50, Neu-Edener, kurz nach der Wende aus Westberlin zugezogen. Ende 1990 bekamen sie von der Genossenschaft einen Erbbauvertrag für eine 2800 Quadratmeter große Heimstätte. Während sie die Beete anlegten und ihr Fertighaus errichteten - in dieser Reihenfolge - wohnten sie im Zelt, fast ein Jahr lang, auch bei Frost. Das hat ihnen einen Vorschuß an Respekt seitens der Nachbarn eingetragen.

Zur Begrüßung führen sie mich durch ihren Garten. Das ist Tradition in Eden. In der Mitte ein schilfumrandeter Gartenteich. Entlang des Zaunes die Gemüsebeete, an der Hecke nach hinten lagert in mehreren Kammern der Kompost, die "Seele des Gartens". Vorn an der Terrasse ist eine Kräuterspirale angelegt. Mit einigen Erzeugnissen aus der Ernte dieser Tage ist der Tisch gedeckt. "Unser Leben hat sich sehr verändert", beginnt Sabine Schurmann. Was vor allem? "Daß wir täglich mit Menschen zusammen sind, daß wir mitarbeiten an einer Sache, an dieser Genossenschaft, freiwillige Arbeit machen, sie gerne machen. Daß ich meinen Boden selbst bearbeite. Daß es hier viele Menschen gibt, die versuchen, wieder ein bißchen in die Natur zurückzukehren."

Eden hat das Leben der Schurmanns stärker als ursprünglich geplant verändert. "Geldverdienen allein kann's nicht sein, da muß es noch irgend etwas anderes im Leben geben." Beide arbeiten nur noch halbtags, teilen sich ihren Job in Berlin. Die gewonnene Zeit und Energie investieren sie hier. Ein Lernprozeß, in dem ein Kettenglied das andere nach sich gezogen hat: "Wenn ich erkenne, es geht mit der Umwelt nicht weiter, mit der Ernährung nicht, dann muß ich gucken, wo krieg' ich natürliche Lebensmittel her. Die kann ich am besten kontrollieren, indem ich sie selbst herstelle. Wenn ich das verstanden hab', dann fange ich an, meinen Garten zu machen, und sehe vielleicht, es ist sogar billiger, wenn ich es selber mache, also kann ich auch wieder irgendwo einsparen, und dann geh' ich halt nicht mehr soviel arbeiten."

Stille ist eingekehrt, als ich mich verabschiede und auf den Weg durch die Siedlung mache. Zwischen den Linden des Festplatzes flattern Fledermäuse über den Himmel. Weiße Fliederblüten leuchten und duften aus dem Dunkeln. Von Ferne die Rufe von Fasanen, sogar der Gesang einer Nachtigall - Magie einer Sommernacht in Eden. Ob der alte Edener Geist, der so oft beschworen werde, noch einmal wiederkomme, hatte ich Anne-Susanne Mampel gefragt. "Also irgendein Geist, nehme ich an, wird schon wiederkommen", hatte sie geantwortet. "Sicher nicht der alte Geist, aber ein Kind des alten Geistes vielleicht. Das hoff ich."

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