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Eden — die »vegetarische Obstbau-Kolonie«
Linse-1983
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Eden, die »Stätte der Lebenserneuerung«, gründet ganz in der lebensreformerischen Weltanschauung der Mitte des 19. Jahrhunderts: im Vegetarismus, der »natürlichen Lebensweise« Eduard Baltzers, und in der »genossenschaftlichen Selbsthilfe« Victor Aime Hubers.
Unter der Weiterwirkung solcher Gedanken propagierte dann J. Sponheimer,(8) es gelte »die Macht der Stadtkultur zu brechen durch Gründung von Siedlungen auf dem Lande, bei denen der Boden nicht von einzelnen monopolisiert wird« (<Die soziale Frage ist nur vom Lande her lösbar>, 1899).
Er regte damit 1893 die Gründung der vegetarischen Siedlung »Obstbaugenossenschaft Heimgarten« in Bülach (Kanton Zürich) an, in der sich Siedler aus Deutschland, die dem Impfzwang entflohen, niederließen (Konkurs der Siedlung 1907).
An dieses Vorbild wiederum schlossen sich auch die ersten Satzungsentwürfe des Kaufmanns und Lebensreformers Bruno Wilhelmy an, unter dessen Führung 1893 im Vegetarischen Speisehaus zu Berlin, also aus der Großstadt heraus, die »Vegetarische Obstbaukolonie Eden e.G.m.b.H.« ins Leben gerufen wurde. Das Ziel war, die vegetarische Lebensweise (Lebens- und Selbstreform) mit dem gemeinsamen Bodenbesitz (Sozialreform) in einem neuen Paradiesgarten (»Gartenkolonie«) zu verbinden.
Das Siedlungsgelände wurde in der Nähe Oranienburgs, eine Eisenbahnstunde von Berlin entfernt, in ländlicher Abgeschiedenheit und inmitten der sandigen Mark gefunden, es wurde in einzelne zu verpachtende Heimstätten aufgeteilt und mit Edelobst, Beerenstauden, Rhabarber und Erdbeeren bepflanzt. Schon 1895 trat Wilhelmy wegen kaufmännischer Fehlschläge als Geschäftsführer zurück.
8) Vgl. auch J. Sponheimer, Das Wohnungselend der Großstädte und seine Abwendung durch Selbsthilfe (1906)
wikipedia Eduard_Baltzer *1814 in Nordsachsen bis 1887 wikipedia Victor_Aime_Huber *1800 in Stuttgard bis 1869
Im gleichen Jahr erwies es sich, daß der Kreis der Vegetarier für die neue Gründung nicht tragfähig war, so daß man auch Nichtvegetariern zunächst die finanzielle Beteiligung an der Genossenschaft gestatten mußte; ab 1901 schließlich wurde durch Namensänderung (»Obstbau-Kolonie Eden«: 1900-1920, »Obstbau-Siedelung Eden«: 1920-1923, »Gemeinnützige Obstbausiedlung Eden«: 1923-1931, »Eden, Gemeinnützige Obstbausiedlung«: ab 1931) auch Nichtvegetariern die Ansiedlung ermöglicht.
Festgehalten wurde jedoch am unveräußerlichen gemeinschaftlichen Bodeneigentum (Erbbaurecht bzw. Erbpacht statt Privateigentum am Boden) als Fundament des Edener Selbstverständnisses; damit wurde in der Siedlung jegliche Bodenspekulation ausgeschlossen.
Durch die Sprengung des engen vegetarischen Rahmens meinte man um die Jahrhundertwende gerade die Lösung der sozialen Frage durch die Genossenschaft als umfassende soziale Aufgabe - wenn auch zunächst im kleinen Kreis - in Angriff nehmen zu können; darin zeigten sich Einflüsse des Genossenschaftstheoretikers Hermann Krecke, der 1894 der Edener Genossenschaft beitrat und bald ganz nach Eden übersiedelte. Das von Theodor Hertzka und Franz Oppenheimer beeinflußte Krecke'sche Ideal war ganz eindeutig, Eden in eine Arbeiterproduktivgenossenschaft umzuwandeln. Doch Krecke, der schon 1904 starb, erreichte sein Ziel nicht.
Das Genossenschaftsprinzip wurde nicht so weit ausgedehnt, daß das gesamte Land genossenschaftlich bebaut worden wäre. Vielmehr bestand der genossenschaftliche Gartenbaubetrieb neben den individuellen Heim-Sonderwirtschaften. Bis 1938 war die 440 vha große Siedlung bis auf 68 vha, die der Genossenschaft zur Eigenbewirtschaftung für Betriebe, Plätze, Anlagen, Baumschule usw. dienten, restlos zur Sondernutzung als Wohn- und Wirtschaftsheimstätten vergeben. Das Resultat der Edener Wirtschaft war also die Verbindung von privaten und vergesellschafteten Elementen; die von Krecke befürwortete »genossenschaftliche Ordnung der Arbeit« wurde also nur teilweise realisiert.
Zwar richtete die Genossenschaft schon 1895 für wirtschaftlich unselbständige Genossen eine Korbmöbelfabrikation, eine Flechterei, eine Reformschuhmacherei, eine Buchbinderei, eine Strumpfwirkerei, eine Holzverarbeitung und andere Handwerksbetriebe ein, um vor allem in den Wintermonaten Erwerbsmöglichkeiten zu schaffen. Doch die bloß saisonale Arbeit und die mangelnde Rentabilität des Maschineneinsatzes in diesen Kleinbetrieben ließen die meisten dieser und der folgenden Ansätze zur genossenschaftlichen Produktion später wieder scheitern. Handwerkliche Privatbetriebe bestanden jedoch in Eden immer.
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Günstig entwickelten sich die genossenschaftlichen Regiebetriebe nur auf dem Gebiet des Gartenbaus und der Früchteverwertung, sie blieben aber auch hier im wesentlichen Verwertungs- und Absatzgenossenschaften selbständiger Produzenten. Doch nicht diese einzelnen Betriebe waren echte Arbeiterproduktivgenossenschaften, sondern nur die Gesamtgenossenschaft: jede Abteilung der Genossenschaft hatte einen eigenen Betriebsleiter; über ihm stand der Geschäftsleiter, der wiederum - wie in jeder Genossenschaft - dem Vorstand, dem Aufsichtsrat und der Generalversammlung verantwortlich war.
1938 gab es folgende Abteilungen: Verwaltungsabteilung (Unterabteilungen Heimstättenregistratur und Hauptbuchhaltung); Siedlungshauptkasse; Schule, Bücherei, Spiel- und Sportplätze, Gasthaus; Wasserleitung und Wegebau; allgemeines Siedlungs-, Rechts- und Grundbuchwesen. Die Gartenabteilung bot Erwerbsmöglichkeiten durch die Bearbeitung der genossenschaftlichen Kulturen (Anbau und Verkauf), den Verkauf von landwirtschaftlichen Bedarfsartikeln (etwa Düngemittel, Saatgut, Geräte, Lebens- und Verbrauchsgüter aller Art) und die Beförderung durch Lastkraftwagen.
Die Verwertungsabteilung verarbeitete Obst und Gemüse und erzeugte dabei die durch ihre naturreine Qualität berühmten Edener Marmeladen, Obst- und Gemüsesäfte, Gelees, Pflanzenmargarine (diese allerdings nicht in Eigenproduktion), »Edener Kraftnahrung« (pflanzlicher Fleischersatz) usw. für den Verkauf in Reformhäusern. Die Warenabteilung schließlich betrieb den Großabsatz dieser Erzeugnisse sowie den Kleinhandel für die Siedler.
So zeigte die Siedlung genossenschaftliche Züge auf dem Gebiet der Ansiedlung, des Konsums und Bezugs, der gärtnerischen Hilfe, der Verwertung, des Absatzes und der Erziehung (Schule). Die Genossenschaftsbetriebe erwiesen sich als krisenfest und konnten durch zusätzliche Arbeitsbeschaffung bei einer Verschlechterung der Arbeits- und Wirtschaftslage erweiterte Erwerbsmöglichkeiten bieten; ähnlich wurde von den Siedlern auch in Krisenzeiten die Bodennutzung in ihren eigenen Heimstätten intensiviert. Die Genossenschaft zahlte in allen Abteilungen, unabhängig von der Rentabilität, gleiche Löhne (Lohnnivellierung). Ein zunehmend wachsender Anteil der Genossen fand innerhalb der Siedlung selbst Beschäftigung in Privat- oder Genossenschaftsbetrieben. Ein Gegengewicht zu den Privathaushalten (seit 1906 hatte der Siedler — unterstützt durch eine gemeinnützige Siedlungsbank — sein Haus auf eigene Rechnung zu bauen) bot das Genossenschaftshaus als geistiger und kultureller Mittelpunkt der Siedlung mit Vortragssaal, Bühne, Bibliothek, Schule usw. Daneben lag die Festwiese für die gemeinschaftsfördernden Feiern und Rituale.
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Obwohl sich insbesondere in den ersten Jahrzehnten eine starke Fluktuation bei den Siedlern einstellte — es erwies sich dabei, daß die Ansiedlung von Großstädtern zu Erwerbs-Obsthändlern zum Scheitern verurteilt war —, wandelte sich der öde Sandboden mit den Jahrzehnten in ein weiträumiges, blühendes Gartendorf. 1938 lebten dort ca. 1300 Menschen, davon 395 Genossenschaftler.
Während andere Siedlungen während der nationalsozialistischen Zeit zwangsenteignet wurden oder sich reprivatisierten, konnte Eden, das schon immer völkischen Ideen nahegestanden hatte9), diese Zeit unbeschadet überstehen. Wandlungen kamen erst, nachdem Eden mit der Teilung Deutschlands seinen direkten Zugang zum Westmarkt verlor. Die Siedlung selbst besteht jedoch als gärtnerische Produktions-Genossenschaft weiterhin.
9) Bereits 1917 hatte die »Edener Gilde der älteren Wandervögel« zu einem »Ersten Landsiedlungstag« nach Eden eingeladen und damit den entscheidenden Anstoß zur Gründung völkisch-arischer Jugendbewegungssiedlungen gegeben.
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1950 gründete Kurt Großmann, einst Abteilungsleiter in Eden, in Bad Soden/Taunus als Tochtergesellschaft die »Eden-Waren GmbH« (einer ihrer Gesellschafter ist die »Eden, Gemeinnützige Obstbau-Siedlung eGmbH« in der DDR). Die Sodener Firma ist ein auf die Produktion hochwertiger lebensreformerischer Nahrung aufgebauter Spezialbetrieb ohne jegliche Siedlungsbasis. Die Bedeutung der drei stilisierten Eden-Bäume im Wappen wurde vom West-Ableger stillschweigend uminterpretiert: bedeuteten sie einst Lebensreform, Bodenreform und Sozialreform, so heute »Lebensreform, Bodenpflege, Gesundheitsvorsorge«. Damit wurde die sozialreformerische Siedlungsutopie der Edener Genossenschaft endgültig fallengelassen.
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Dokumente:
1. Siedler-Werbung (Bruno Wilhelmy 1893)
Unsere vegetarische Obstbau-Kolonie ist von weittragender Bedeutung; dies kann erst so recht klar werden, wenn man dem ganzen Plane seine volle Aufmerksamkeit schenkt. Was wollen wir? »Eden« ist der verheißungsvolle Name unseres Unternehmens; also ein Eden, ein Paradies wollen wir uns schaffen? Allerdings, nur nicht von heut auf morgen. Auch müssen alle, welche noch an die Möglichkeit eines Paradieses auf dieser Erde glauben, tatkräftig mithelfen. Entwickeln wir unser Programm, um Mitarbeiter zu werben. Im Paradies herrscht Friede: Lassen wir zunächst den Tiermord. Das Paradies ist ein Garten: In einen Garten wollen wir unseren Acker verwandeln, in einen Garten, der alle Sinne entzückt. Wir werden zunächst zu unserer Nahrung Wurzeln und Kräuter (Gemüse) sowie Obst säen und pflanzen, später Ziersträucher und Bäume, sowie Blumen zu unserer Freude.
In Eden herrscht Geselligkeit: Geselligkeit wollen wir auch pflegen, Geselligkeit und geistiges Leben. Zu fruchtbarer Geistestätigkeit werden wir uns alle Grundbedingungen schaffen: Gesundheit, erworben und erhalten durch reine Nahrung, Betätigung im Freien, Pflege des Körpers mit Hilfe von Licht, Luft und Wasser, Sorgenlosigkeit als Folge unserer leicht befriedigten, geringen körperlichen Bedürfnisse.
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2. Aus dem Auskunftsschreiben für Edener Siedlungsanwärter (um 1920)
Wir müssen zur genossenschaftlichen Selbsterhaltung und Aufrechterhaltung des Edener Geistes, der in bewußter Betätigung von Bodenbesitz- und Lebensreform Ausdruck findet, gewissenhafte Auswahl unter den Anwärtern treffen. Öfter gehen Meldungen ein um rein materiellen Vorteils willen, denn der Erfolg und die soziale Bedeutung der Genossenschaft wird Jahr um Jahr offensichtlicher. Aber Selbstsucht ist kein Boden für den zur genossenschaftlichen Siedlungsarbeit erforderlichen genossenschaftlichen Geist. Nur dieser gewährleistet auf die Dauer Blüte und Bestand unserer Siedlung, und wir müssen deshalb unentwegt darauf sehen, daß als Mitglieder nur Menschen zu uns kommen, die ernste Lebensreformer sind.
Wenn Alkoholabstinenz und Vegetarismus auch nicht immer und ohne weiteres genossenschaftlichen Sinn verbürgen, so bietet ernste Selbstzucht und Meidung der Nervengifte und schädlichen Reizmittel immerhin noch die beste Gewähr, Reibungen im genossenschaftlichen Innenleben tunlichst zu vermeiden. Geborene Großstädter sind noch selten gesundheitlich und nach ihrer praktischen Veranlagung geeignet, eine ländliche Wirtschaftsweise erfolgreich zu betreiben. Wenn mehr als zwei Geschlechter einer Familie dem Landleben entfremdet sind, so ist ein Umlernen sehr schwer. Ansiedler mit ländlicher Herkunft sind in mehrfacher Beziehung am geeignetsten für uns.
3. »Eden ist die erste Freiland-Kolonie auf deutschem Boden« (1893)
Die erste Satzung der Genossenschaft bestimmte: »Jeder Genosse hat Anrecht auf pachtweise Überlassung einer Heimstätte auf der Kolonie. Die Höhe der Pacht wird zwischen dem Genossen und dem Vorstande vereinbart. Seine Heimstätte kann der Genosse nach eigenem Ermessen bewirtschaften, jedoch nur in einer den vegetarischen Grundsätzen nicht widersprechenden Weise. Für alle Anlagen anderer Art ist die Genehmigung des Vorstandes erforderlich. Die Heimstätten bleiben Eigentum der Genossenschaft und dürfen von derselben nicht veräußert werden. Die Genossen können ihrer Heimstätten, außer durch freiwillige Rückgabe derselben an die Genossenschaft, nur verlustig gehen durch ihr Ausscheiden aus der Genossenschaft. Tritt beim Tode eines Genossen dessen Erbe (Ehefrau, Kinder usw.) an seiner Stelle in die Genossenschaft ein, so hat derselbe das nächste Anrecht auf die vom Verstorbenen innegehabte Heimstätte.«
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4. Das Paradies wird urbar gemacht
Das Eden-Gelände liegt westlich von Oranienburg, am Kanal, der nach Mecklenburg und Neuruppin führt, im Urstromtal der Havel. Es hatte nur spärliche Humusschicht über weißem, unfruchtbarem Schwemmsand, und litt dazu im westlichen Teil, nach dem verwachsenen Muhrgraben zu, unter zu hohem Grundwasser, so daß in nassen Jahren vor Ende April ein Bearbeiten des Landes nicht möglich war. Erst durch einen langjährigen Prozeß gegen über 20 grabenabwärts liegende Anlieger in Gemeinden des Nachbarkreises, konnte eine ordnungsmäßige Räumung und Pflege des Muhrgrabens erzwungen werden, womit dann eine Besserung der Grundwasserverhältnisse erreicht war. Es kostete aber viel Zeit, Arbeit und Geld.
Im übrigen wurde das vorher zumeist unbearbeitete, als Schafweide dienende Land, verbessert durch Umbruch und Aufbringen von Berliner Straßenkehricht, der in jener Vor-Autozeit meist aus Pferdedünger bestand und in Kahnladungen auf dem Kanal herangebracht wurde. Er wurde je nach Bedarf kompostiert und mit erheblichen Mengen gemahlenem Rohkalk, auch Lehm aus den Veltener Lehmbergen auf das Land gebracht.
Durch 10 Jahre währte diese Kehricht-Ausfuhr aus Berlin ununterbrochen, und in jedem Herbst wurde das gesamte Anbauland ca. 5 cm stark bedeckt, im Frühjahr bebaut, und wieder bedeckt, so ist die jetzt gute Humusschicht in Alt-Eden entstanden; sie hat viele Schweißtropfen der ersten Siedler getrunken, die in Sommerhitze, Regen und Winterkälte alljährlich ca. 30.000 Zentner Dungkehricht in Traggestellen über den losen Gartenboden schleppten und ausbreiteten, denn Gespanne konnten nur auf den Wegen bis an die Gärten die Massen heranbringen. Wer jetzt an den blühenden Edener Gärten sich erfreut, hat schwerlich eine Vorstellung von der mühevollen Arbeit, die nötig war, um die Grundlage dazu zu schaffen.
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5. Wettgehen (1897)
Auf dem Gebiete des Sports und der Leibesübung war vor etwa 5 Jahrzehnten die Lebensreformbewegung äußerst rege, ja fast bahnbrechend; denn die ersten großen Wettgehen über große Strecken wurden in erster Reihe von ihnen angeregt und durchgeführt, wobei sie freudig und mit viel Erfolg die Beweise beizubringen sich mühten, daß naturgemäße Ernährung und Enthaltung von Rauch- und Rauschgiften den Körper zu Höchstleistungen befähigt. Dabei stellten auch die ersten Edener ihre Männer und mehrere von ihnen waren z.B. unter den Siegern des ersten großen Wettgehens »Berlin-Wien 1897«.
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"Edener
Kinderschau in Berlin Mai 1898
Damit sollte der öffentliche Beweis geliefert
werden,
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6. »Diese Überspannung des demokratischen Gedankens« (1893-1900)
Neben den einzelnen Ausschüssen, die zur Erleichterung der Geschäftsführung eingerichtet worden waren, kamen die Genossen alle Wochen (wie jetzt alle Monate) stets am Donnerstag in den sogenannten »Wochenversammlungen« zusammen, um über wirtschaftliche Fragen und allgemeine Siedlungsangelegenheiten sich zu beraten und die Berichte der Körperschaften entgegenzunehmen. Aber nicht nur in diesen freien Zusammenkünften, sondern auch bei den Vorstands- und Aufsichtsratssitzungen waren die Genossen zugegen.
In einer völligen Verkennung demokratischer Grundsätze hatte auch in diesen Sitzungen der gewählten Körperschaften jeder Genosse das Recht, fortgesetzt die Träger seines Vertrauens zu kontrollieren und kritisieren. Diese Überspannung des demokratischen Gedankens mußte natürlich die Arbeit der verantwortlichen Körperschaften maßlos erschweren. Es dehnten sich denn auch diese Sitzungen oft bis tief in die Nacht aus, und nach heftig gepflogener Rede und Gegenrede trennte man sich spät, mit heißen Köpfen, um allerdings am nächsten Tage, als gute Genossenschafter, sich wieder vereint an die Arbeit zu machen.
Das Wachsen der Geschäfte und der Verantwortungspflicht führte, ungeachtet heftiger Gegenwehr einzelner Genossen, allerdings bald dazu, daß diese Allgemeinzugänglichkeit der Aufsichtsrats- und Vorstandssitzungen aufgehoben wurde. Es ist hier der Ort, die geschichtliche Tatsache festzuhalten, daß Eden im Kleinen durchmachte, was wir heute im Großen erleben: die völlige Verkennung der Abstufung der Eignungen.
»Wozu brauchen wir überhaupt ein Büro? Das machen wir umschichtig, 8 Tage mal der, mal der, so daß jeder mal dazu kommt!!« So wurde allen Ernstes geredet! Auch das Schicksal aller Regierenden, aller Verantwortlichen hatte die Edener Verwaltung reichlich durchzukosten: das Mißtrauen derjenigen, deren Urteil von keiner Sachkenntnis getrübt ist. Die gewählten Männer des Vertrauens waren nach der Wahl meist der Gegenstand des Mißtrauens einer Minderheit, die — immer wechselnd — zu keiner Zeit ganz fehlte, eines Mißtrauens, das sich oft bis zu häßlicher Verdächtigung, ja bis zur Bezichtigung der Untreue versteigen konnte. Hier ist unnütz viel schaffende Kraft zermürbt, viel ehrliche Begeisterung ernüchtert worden, ein Schicksal, das leider in allen Gemeinsamkeitsgründungen immer wiederkehrt.
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7. Erdbeerfeste
Nachdem die ersten Jahre der notwendigsten Einrichtung vergangen waren, suchten die Edener Ansiedler unter den Berliner Gesinnungsfreunden zu werben, indem sie (1898/99) zur Ernte ein »Erdbeerfest« veranstalteten. Die ersten köstlichen Früchte des Edener Bodens und Fleißes — in Freude genossen — als eindringlicher Ruf: hinaus aufs Land! Die Feste waren wohlgelungen und fanden viel Beifall. Aber — sie lockten leider auch zu viel unerwünschte Besucher an! Die Eden-Bewohner hatten den durchaus verständlichen Wunsch, ihre Feste ungestört in ihrem Geiste zu erleben. Von dieser Art öffentlicher Feste wurde also abgesehen!
8. Von der Besitz- zur Arbeits-Genossenschaft: »Genossenschaftliche Bodennutzung!« (Hermann Krecke 1899)
Wir sehen heute klar, daß der Sonderbetrieb auf den Heimstätten, je mehr er den Einzelnen Gewinn abwirft, die Tendenzen zu weiterer Sonderung und Trennung stärkt, ja schon Pläne zur Aufteilung des gemeinsamen Bodens wachgerufen hat [...] Solchen Tendenzen entgegenzutreten, ist die Lebensaufgabe der Genossenschaft; und um diese Aufgabe zu erfüllen, muß der mit dem gemeinsamen Recht in Widerspruch stehende Sonderbetrieb dem gemeinsamen Betrieb Platz machen. Aus intellektueller und moralischer Erkenntnis muß dieser Schritt getan werden im Interesse der Gemeinsamkeit. Ist er erst einmal getan, so wird sich zeigen, daß die Gemeinsamkeit des Betriebes auch wirtschaftlich dem Sonderbetrieb [...] überlegen ist und daher auch in dem Sondernutzen jedes Einzelnen liegt [...] Wie wären wir berechtigt, uns Genossenschaftler zu nennen, wenn wir diese Aufgabe nicht leisten wollten, weil sie neu und schwierig ist!
9. Gemeinwirtschaft und Eigenwirtschaft (1919)
So hat Eden schon fast ein Menschenalter hindurch Gemeinwirtschaft getrieben, vermag mithin heute bei den Sozialisierungsfragen mitzureden, zumal der Einzelne meist immer gleichzeitig auf der Heimstätte in gleicher Richtung mit Eigenwirtschaft geschafft hat.
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Was Eden dabei alles erfahren hat, läßt sich wesentlich wohl schon in diese kurzen Sätze fassen: Der einzelne Mensch muß zu allseitig befriedigender und wirtschaftlich erfolgreicher Gemeinwirtschaft erst erzogen werden, bzw. sich selbst und sich gegenseitig dazu erziehen. Der Einzelne ist in der Eigenwirtschaft fleißiger, freudiger, sorgfältiger und umsichtiger und alles in allem also leistungsfähiger als in der Gemeinwirtschaft.
Schon das bloße Einordnen wird so vielen Genossen als Lohnhelfer im genossenschaftlichen Großbetrieb schwer, d.h. man meint gar zu leicht allgemein oder auch nur in einzelnen Fällen eben als einzelner Genösse auch bei der Betriebsleitung mitreden zu dürfen, ohne unmittelbar verantwortlich dafür zu sein. Es ging trotzdem in der Gemeinwirtschaft vorwärts, weil Eden fast immer verstanden hat, die tüchtigsten und genossenschaftlich erzogensten Genossen zu Betriebsleitern bzw. Geschäftsführern zu machen und zu halten. .... Aber in Eden hat auch noch niemand daran gedacht, mit der ganzen Edenfläche zur Gemeinwirtschaft übergehen zu wollen.
10. Aus der »Edener Gemeindeordnung« (1904)
Diese Ordnung soll die gesellschaftlichen und sittlichen Grundlagen des Zusammenlebens der Gemeinde festlegen und ihr Verhalten gegenüber den verwaltenden Körperschaften regeln.
Unter Gemeinde ist die Gesamtheit aller auf Eden lebenden Genossen und Pächter verstanden mit deren Familien, ohne Rücksicht darauf, welche Stellung das einzelne Mitglied im Genossenschafts-Organismus einnimmt.
Als Vorstände der Gemeinde gelten naturgemäß die von der General-Versammlung gewählten, verwaltenden Körperschaften. Ergänzt werden dieselben durch die allmonatlich einmal, am Donnerstag nach jedem Ersten zusammentretende Gemeindeversammlung, zur Besprechung von Gemeindeangelegenheiten, wirtschaftlichen und genossenschaftlichen Charakters, Fragen der Erziehung, des Verkehrs, des Konsums usw.
Zu diesen Monatsversammlungen haben nur Genossen und deren erwachsene Familienangehörige Zutritt.
Jedes Gemeindemitglied hat eingedenk zu sein, daß die Kolonie Eden nicht nur eine Produktivgenossenschaft ist, zur Erzielung materiellen Gewinnes, sondern daß sie in erster Linie gegründet ist, um ein Sammelpunkt sittlich strebender Menschen zu sein.
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Als zusammenfassende, jeden einzelnen moralisch verpflichtende Grundidee gilt der Vorsatz zur Führung eines naturgemäßen Lebens, im Sinne praktischer Selbstreform, das heißt beständiger Selbsterziehung.
Eine bestimmte und ausschließlich gültige, den einzelnen bindende Glaubensanschauung oder wissenschaftliche Doktrin oder Parteigrundsatz soll auf Eden nicht herrschend sein. Es soll jedem Einzelnen unbenommen sein, sich nach seinem Bedürfnis seine Anschauungen und Glaubenssätze zu bilden. Nur hat jeder die Pflicht, die Anschauungen und Meinungen Andersgesinnter zu achten und Verletzung fremder Gefühle zu vermeiden.
Die sittliche Grundlage der Gemeinde soll sein: Gerechtigkeit und gegenseitig betätigtes Wohlwollen, sowie Milde gegenüber dem Tier.
Die Freiheit des einzelnen soll ihre natürliche Grenze im Gemeinwohl finden, zur Erreichung des genossenschaftlichen Ideals, der Harmonisierung von Individualismus und Sozialismus.
Jedes Mitglied der Gemeinde hat darauf zu achten, daß die Kolonie nicht den Charakter sektiererischer Abgeschlossenheit annehme, sondern sich stets in lebendiger Fühlung mit allen edelstrebenden Elementen der Außenwelt erhalte.
Die Forderung naturgemäßen Lebens schließt in sich, daß Nahrung, Kleidung und äußerer Aufwand nur Mittel zum Zweck, nicht Selbstzweck sein sollen und also Genußsucht, sowie äußerer Prunk hier keine Stätte finden sollen. Doch soll hierin kein Gewissenszwang geübt werden und Gesinnungsriecherei streng vermieden sein. Dem natürlichen Einleben des einzelnen und der Erziehung durch Beispiel muß es überlassen bleiben, die richtigen Wege zu finden.
Rein materieller Gewinnsucht ist als unvereinbar mit dem Genossenschaftsprinzip unbedingt entgegenzuwirken. Doch ist auch hier sehr zu beachten, daß die Arbeit stets nach ihrer Qualität bewertet werden muß und mit Mühe erzogene Eignungen ihres Lohnes wert sind.
Was das Verhältnis der Gemeinde zur Gemeindeschule betrifft, so soll zwischen Haus und Schule offenes Vertrauen herrschen, und beide sollen in Dingen der Erziehung möglichst Hand in Hand arbeiten.
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Etwaige persönliche Erziehungsmeinungen, die mit den in der Schule und durch den Lehrer vertretenen pädagogischen Grundsätzen in einem wirklichen oder scheinbaren Widerspruch stehen, und die in ihrer praktischen Anwendung die Kinder verwirren und ihre gute Entwicklung stark beeinträchtigen könnten, wollen wir, ehe die Kinder die Widersprüche merken, zum Gegenstand einer mündlichen Besprechung mit dem Lehrer machen.
Was das Verhalten gegenüber den verwaltenden Körperschaften betrifft, so hat jedes Mitglied der Gemeinde eingedenk zu sein, daß diese Körperschaften, die vom Vertrauen der Gesamtheit berufenen und verantwortlichen Organe, so lange sie in ihren Pflichten stehen, auch in ihren Rechten respektiert werden müssen.
Beschwerden sind in gebührlicher Weise, in ordnungsmäßiger Form, an der rechten Stelle vorzubringen. Dabei ist, ebenso wie bei Einsicht in Aktenmaterial, Anfragen und dergleichen darauf zu achten, daß dadurch der Gang der Geschäfte nicht aufgehalten wird, die von der Verwaltung dafür angegebenen Stunden benützt werden, und jeder nicht eher an die amtlichen Stellen herantritt, ehe er nicht überzeugt ist, daß er durch eigenes Nachdenken und Benützung der ihm zur Verfügung stehenden schriftlichen Unterlagen, wie Abrechnungen, Statuten usw. nicht zur Klarheit kommen kann.
Begründete Fragen zu stellen, berechtigte Bedenken zu äußern und Anregungen zu geben ist jedoch jeder einzelne nicht nur berechtigt, sondern verpflichtet.
Im Privatverkehr hat jedes Mitglied der Gemeinde den Mitgliedern der verwaltenden Körperschaften gegenüber den Mann von seinem Amte zu unterscheiden, damit denselben das Zusammengehörigkeitsgefühl nicht verloren gehe, und der harmonische Verkehr von Mensch zu Mensch zum Schaden der Arbeitsfreudigkeit nicht getrübt werde.
Eine der ernstesten Pflichten ist für jedes einzelne Gemeindemitglied die würdige Vertretung der Gemeinde gegenüber Außenstehenden. Hier hat jeder eingedenk zu sein, daß er ein Vertreter der ganzen Gemeinde ist, um nicht durch Kritik gegenüber dritten, Klagen und Mitteilungen intimer Gemeindevorgänge das Ansehen der Kolonie zu schädigen.
Bei begründeter Unzufriedenheit hat er den von der Kolonie geschaffenen, gesetzlichen Weg zu betreten, und da jedem einzelnen in unbeschränkter Weise Gelegenheit zur Äußerung und Beschwerde gegeben ist, so darf erwartet werden, daß auch jeder den Mut haben wird, in hellster Öffentlichkeit seine Meinung zu äußern oder schriftliche Beschwerde mit seinem Namen zu decken.
Selbst wenn jemand zur Überzeugung gekommen ist, daß er nicht mehr länger imstande sei, dem Verbande der Kolonie anzugehören, so ist es doch seine Pflicht, so lange er dann noch zur Gemeinde gehört, die Ehre derselben zu wahren.
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11. Die »Menschenfrage«
Siedeln, insbesondere genossenschaftliches Siedeln nach Edener Vorbild, ist in erster Linie eine Menschenfrage. Mögen auch alle anderen Fragen: Landbeschaffung, Betriebsmittel, Kredit, Absatz usw. gelöst sein: finden sich nicht die Menschen, die mit Sachkenntnis, Tatkraft, Opfermut und idealer Gesinnung das Werk auf die Schultern nehmen und zur Höhe führen, dann ist alle Mühe umsonst. Diese Voraussetzung nicht gleich voll erkannt zu haben, war von den Unterlassungen, die in den Anfängen Edens begangen wurden, die folgenschwerste.
Allerdings soll nicht übersehen werden, daß im genossenschaftlichen Zusammenschluß an und für sich unter den heutigen Verhältnissen bereits die Gefahr und der Keim zu späteren Schwierigkeiten gelegen ist. Leute, die zum Siedeln zusammentreten, tun das ja, abgesehen von anderen Beweggründen, in der Regel aus der Erwägung heraus, daß der Einzelne durch Zusammenschluß mit Seinesgleichen wirtschaftlich stärker werde.
Das ist richtig, u.a. auch insofern, als die zu einer eingetragenen Genossenschaft mit beschränkter Haftpflicht zusammengetretenen Siedler weniger aufs Spiel setzen und mehr Kredit genießen, denn als Einzelne. Darin liegt aber auch die Gefahr, daß um des größeren Kredits willen — und die meist aus minderbemittelten Leuten bestehenden Siedlungsgenossenschaften haben ja den Kredit so bitter nötig! — alles daran gesetzt wird, die Zahl der Teilnehmer zu steigern. Jeder neue Genosse, jeder neue Geschäftsanteil hebt ja die Kreditwürdigkeit des Unternehmens und erweckt nach außen den Eindruck aufsteigender Entwicklung.
Über dieser wirtschaftlichen Seite der Sache vergißt man dann gar zu leicht daß Kredit und Mitgliederzahl noch keineswegs das Gedeihen des Werkes verbürgen, und nimmt nun ziemlich wahllos alles auf, was sich zur Aufnahme meldet. So hat denn auch in Eden infolge der steten Geldverlegenheit der Anfangsjahre mancher Genosse Einlaß gefunden, der mangels der erforderlichen Eignung hinterher ein schmerzhafter Pfahl im genossenschaftlichen Körper geworden ist.
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Aber noch ein anderes kam hinzu. Eden ermangelte von Anfang an klarer, lebensreformerischer Grundsätze. Man begnügte sich mit der Bezeichnung »Vegetarier-Kolonie«, und so brauchte ein Anwärter nur zu erklären, er äße kein Fleisch oder gehöre dem Deutschen Vegetarierbunde an, dann wurde er mit offenen Armen aufgenommen. Heute, nach vielen bitteren Erfahrungen, wissen wir, wie wenig jene beiden Umstände allein für die Wertigkeit eines Menschen zu bedeuten haben, und wie notwendig es ist, über unsere Ziele volle Klarheit zu verbreiten, wenn wir sie jemals erreichen wollen.
Und noch ein dritter organischer Fehler im Aufbau der Siedlung ist hier zu erwähnen, um die Wichtigkeit der Menschenfrage und zugleich die Ursache der vielen Kinderkrankheiten zu beleuchten, durch welche Eden sich hindurchquälen mußte. Die Hauptwurzel des Übels, die andauernde Geldverlegenheit, rührte nämlich zum guten Teile daher, daß man weit mehr Land erworben hatte, als man bald mit Siedlern besetzen konnte. Heute hat man diesen Grundfehler wenigstens hier und da begriffen; man erwirbt zwar eine größere Fläche, belegt sie aber nur insoweit für Siedelungszwecke, als feste Anwärter dafür vorhanden sind; das Übrige beläßt man in der Hand des Verkäufers, der es als Pächter weiter bewirtschaftet und es in demselben Maße freigibt, wie es durch später hinzutretende Siedler benötigt wird*.
Dieses Verfahren überhebt die Siedlungsgenossenschaft der Notwendigkeit, das zunächst nicht zu Heimstätten verwertbare Gelände in genossenschaftliche Bewirtschaftung nehmen und ihre Betriebsmittel vermehren zu müssen. Was insbesondere das erstere bei der heutigen Unzulänglichkeit der Menschen bedeutet, davon wissen wir in Eden ein Lied zu singen. Denn um genossenschaftliche Arbeit mit der gleichen Treue und Gewissenhaftigkeit verrichten zu können, wie die Arbeit auf der eigenen Scholle — um genossenschaftliches Eigentum mit derselben Sorgfalt zu behandeln, wie das eigene —, um sich als Genosse dem vorgesetzten Genossen so bereitwillig unterzuordnen, wie man sich den Notwendigkeiten der eigenen Wirtschaft zu unterwerfen pflegt — um endlich das jedem Lohnarbeiter geläufige Bewußtsein, ausgebeutet zu werden, nicht die Ursache einer minderwertigen Arbeitsleistung werden zu lassen — dazu sind heute nur die allerwenigsten Menschen imstande, und an solchen Menschen hat auch Eden mehr als einmal Mangel gelitten.
* Natürlich darf durch solche Vereinbarung der Erwerbspreis des Landes nicht zu Ungunsten der Siedler während der Zwischen-Bewirtschaftung gesteigert werden. Wäre das unvereinbar, so wäre u.a. die eigene Bewirtschaftung ohne Gewinn noch vorzuziehen.
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Zu den Schwierigkeiten eines für den Anfang zu großen Landbesitzes gesellen sich nun leicht noch weitere Sorgen und Verwickelungen, bei denen ebenfalls die Menschenfrage eine entscheidende Rolle spielt, nämlich dann, wenn man, um Geld zu machen und möglichst bald aus den Schulden herauszukommen, in engerer oder loserer Verbindung mit dem eigentlichen Siedlungsziel gewerbliche oder Fabrikbetriebe ins Leben ruft, die für den offenen Markt unter dem freien Wettbewerb arbeiten und heute natürlich nur unter den Voraussetzungen der kapitalistischen Wirtschaftsweise betrieben werden können, deren besondere Schattenseite bekanntlich die Arbeiter- und Angestelltenfrage ist.
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Auch Eden ist diesen Weg gegangen. Dabei hat es denn auch solcher Genossen bedurft, die gar nicht oder nur nebenberuflich Siedler waren, vielmehr täglich in die Fabrik, den Laden, das Geschäftskontor, das Verwaltungsbüro gingen, um dort mit ihrer Person so ziemlich das Gegenteil von Lebensreform zu treiben, d.h. eine Tätigkeit auszuüben, bei welcher sie ihres Daseins niemals so recht von Herzen froh werden konnten, wie es bei der aus innerster Neigung frei gewählten, für eigene Rechnung in der eigenen Wirtschaft geleisteten Freiluftarbeit sich von selbst versteht.
In diesem Zusammenhange ist noch einer besonderen Seite der Menschenfrage zu gedenken, einer Schwierigkeit, welcher gerade diejenigen Genossenschaften ausgesetzt sind, die ihre eigenen Mitglieder bei sich beschäftigen. Solche Mitglieder unterliegen nämlich leicht der Versuchung, aus ihrer Zugehörigkeit zur Genossenschaft besondere Rechte für das Arbeitsverhältnis herzuleiten und dementsprechende Anforderungen an Behandlung und Bezahlung zu stellen (Stichwort: »ich bin auch Genosse!« und »warum soll ich mich für die anderen Genossen schinden?!«).
Man kann sich denken, zu was für Verhandlungen und Auseinandersetzungen das führen muß, und was für eine Zucht und was für eine Arbeitsleistung dabei manchmal herauskommt. Mancher Edener Verantwortliche mag denn auch wohl schon oft im Stillen die ganze genossenschaftliche Wirtschaft verwünscht haben, — ebenso wie die Gesamtheit der Genossen selbst, wenn das Jahresergebnis nicht einmal die landesübliche Verzinsung der Genossenschaftsanteile erlaubte. Woraus erhellt, daß eine Siedlungsgenossenschaft erst dann zu Eigenbetrieben übergehen sollte, wenn sie sich die dazu geeigneten Menschen herangezogen hat, und auch nur insoweit, als sie sich mit den lebensreformerischen Voraussetzungen vereinigen lassen, und endlich auch nur dann, wenn sie ihre wirtschaftlichen Ziele nicht anders erreichen kann, oder die Erzeugnisse für den Verbrauch in der Genossenschaft selbst nötig sind.
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Wir haben im Vorstehenden die Menschenfrage insoweit erörtert, als es sich dabei um die Bewältigung von Gemeinschaftsaufgaben handelte. Von nicht geringerer Bedeutung ist sie aber bei der Auswahl derjenigen Anwärter, die den Stamm der eigentlichen Siedler bilden sollen. So mancher hält sich ja zum Siedeln für berufen; wie wenige ihrer aber auserwählt sind, hat sich in Eden an zahlreichen Einzelfällen gezeigt. Es ist ja gewiß jammerschade um die vielen erfolglosen Versuche, die von gesundheitlich und beruflich ganz oder teilweise ungeeigneten oder geldlich unzureichend gestützten Anwärtern gemacht wurden, um auf eigener Scholle Fuß zu fassen; denn sie haben neben Einbußen an Vermögen und neben verlorenen Lebensjahren auch herbe Enttäuschungen und manchmal tiefe Verbitterung gezeitigt. Aber nachdem die ersten Erfahrungen dieser Art vorlagen, hat die Edener Verwaltung es an Mahnungen und Warnungen nicht fehlen lassen und hat auch die Zulassungsbedingungen immer schärfer gehandhabt, ohne jedoch bis heute das Sieb gefunden zu haben, welches von vornherein mit Sicherheit alles Ungeeignete auszuscheiden vermag.
Mangelnde Eignung der Siedler im obigen Sinne war aber noch nicht das größte Erschwernis für das Gedeihen der Edener Gemeinschaft; vielmehr haben sich hier diejenigen Genossen als besonders störend erwiesen, die als Schwarmgeister der verschiedensten Zeitströmungen die Kolonie namentlich in den Anfangsjahren bevölkerten. Man kennt sie ja überall, diese Bedauernswerten, die, zu jeder ernsten Arbeit unfähig, sich in allem und jedem als Vorbild und Führer berufen fühlen, die mit Hilfe eines gesegneten Mundwerks alles in Grund und Boden kritisieren und unter den minder erfolgreichen, unzufriedenen Siedlern nur zu leicht Mitläufer finden.
Man kennt sie ferner, jene fast humoristisch anmutenden Menschenkinder, die, urteilslos bis zum Schwachsinn, sich als Apostel dieser oder jener »naturgemäßen« Lebensweise gebärden und überall da zu finden sind, wo man sie am wenigsten gebrauchen kann; die aller Welt mit ihrem Bekehrungseifer lästig fallen, und die, wenn der Himmel sie einmal in seinem Zorne hat Siedler werden lassen, alsbald rettungslos scheitern. Wobei sie dann niemals begreifen können, daß an ihrem Mißerfolg einzig und allein sie selbst schuld sind, vielmehr hartnäckig die anderen — und in unserem Falle namentlich die Leitung der Genossenschaft — dafür verantwortlich machen und im Bunde mit ihresgleichen beständig das Gemeinschaftsleben in Aufruhr versetzen und erhalten.
Man kennt sie endlich, jene politischen Wirrköpfe, die sich namentlich da herzudrängen, wo neue gesellschaftliche und wirtschaftliche Formen angestrebt werden, und die sich gerade von
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Eden mit seinem gemeinschaftlichen Bodenbesitz und seiner freiheitlichen Verfassung angezogen fühlten, weil sie hier ihre Parteisuppe mit dem größten Erfolg kochen und selbst am bequemsten dabei leben zu können glaubten.
Nicht zu gedenken mancher städtischer Sommergäste, die alljährlich bei uns auftauchten, um »vielleicht« auch einmal Mitglied zu werden — denn sie waren ja auch »sehr für die Natur«; — die sich hier und dort einmieteten und sich dann auf ihre besondere Art unnütz machten, indem sie ihre Unkultur in Eden zur Schau trugen, den Siedlern gute Ratschläge gaben, das bisher Geleistete mit der ätzenden Lauge städtischer Kritik übergossen und dann und wann auch zu ernten versuchten, wo andere gesäet hatten. Aber dank seiner gesunden Natur hat Eden alle diese fremden Einflüsse und Bestandteile doch noch im Laufe der Zeit verdaut, d. h. sie teils sich angeglichen, teils ausgeschieden, bis auf vereinzelte Reste, die nach und nach aussterben werden.
12. Propheten-Auftritt: Lou Haeusser und Leonhard Stark (1922)
a. Aus einem Brief Haeussers an Friedrich Kiel, den bekannten Edener Produzenten von pflanzlichem Fleischersatz und Haeusser-Anhänger (14. 5. 1922)
Daß Ich am 10., 12., 17., 18. Mai [1922] nicht in Berlin redete, hat seine Ursache nur darin, daß dieses Babylon Mich noch nicht wert ist! Die müssen erst nach Mir schrein und nach Mir rufen: Gelobt sei der da kommt im Namen des Herrn! Denn:
Herr Wir preisen Deine Stärke, werden noch Alle Mir zurufen! Vor Mir beugt die Erde sich — und bewundert Meine Werke! Als Ich am 12. Juni 1920 das Erste Mal in Berlin reden sollte, wurde Ich am 10. Juni in Oranienburg ebenso grundlos verhaftet wie jetzt am 10. früh in Hamburg! Das deutet doch wohl deutlich genug an, daß Ich weder damals noch heute in Berlin reden sollte! Aber Berlin holt Mich noch --- hört Mich bald --- denn Eden-Berlin wird zum großen Haupt-Quartier, »Grand quartier General« !—!—! Dann ------ ist die Zeit nahe ---
b. Aus einem Brief Haeussers an Kiel (18. 5. 1922)
Alles deutet darauf hin, daß das Hauptquartier der Armee der Wahrheit bald nach Eden-Berlin verlegt wird.
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c. Öffentliche Erklärung des Vorstandes der Edener Genossenschaft
Haeusser-Stark und Anhang stehen außerhalb der Gesinnungs- und Arbeitsgemeinschaft der Obstbausiedlung Eden e.G.m.b.H. zu Oranienburg-Eden. Sie weilen lediglich als Gäste vorübergehend bei Edener Genossen. Die Genossenschaft hat nichts mit ihnen zu tun.
Im Auftrage der Gemeinde und Körperschaften der Obstbausiedlung Eden: Der Vorstand.
Friedrich Kiel
d. Brief Haeussers an den Vorstand (6.7.1922)
Ihre roten Vignetten mit obigem Text, in ganz Berlin angeklebt, kann Ich vorläufig nur bedauern! Weitere strenge Maßnahmen hängen ab von Ihrer ferneren Haltung! Sie sind gewarnt ...
Wer Mich verleugnet, den will auch Ich verleugnen! Auch richten will Ich ihn nach seinen Werken - - - Sünde wider den Geist! Ich habe probate Mittel und Wege, um Ihnen Duldung, Liebe, Achtung in starker Dosis einzugeben!!! Geduld ... Jungens ... der Tag der Rache kommt...
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e. Brief des Vorstands an Haeussers Edener Gesinnungsgenossen Friedrich Schneider (11.7.1922)
Von Herrn Haeusser haben wir eine Einschreibekarte mit folgendem Inhalt bekommen [folgt Text d]. Da Herr Haeusser sich über das Gastrecht weit hinaussetzt, so ersuchen wir Sie, dafür bemüht zu sein, daß Herr Haeusser die Obstbausiedlung Eden sofort verläßt. Wir können nicht annehmen, daß Sie als unser Genösse derartige Beleidigungen der Körperschaften und der Gemeinde der Obstbausiedlung Eden zulassen werden. Der Inhalt unserer roten Zettel entspricht, wie Sie ja selbst zugeben werden, der Wahrheit, und die Verbreitung der Wahrheit kann selbst ein Haeusser nicht aufhalten noch verbieten. Diese Kräfte sind stärker und diesen Kräften wird Haeusser unterliegen!
Mit genossenschaftlichem Gruß: Fritz Hampke. Otto Willkommen.
f. Antwort Schneiders an den Vorstand (12.7.1922)
Zum Schreiben vom 11. Juli 1922 bemerke ich: Wen ich beherbergen will, darüber bestimme ich allein. Eine Bevormundung von selten des Vorstandes lehne ich ab. Eine Beleidigung finde ich nicht in der Haeusserkarte. Haeusser ist Wahrheit, die Wahrheit wird siegen!
Übrigens steht Matthäus 25,43: »Ich bin Gast gewesen und ihr habt mich nicht beherberget.. . und was ihr nicht getan habt Einem unter diesen Geringsten, das habt ihr mir auch nicht getan.«
In diesem Sinne grüßend: Friedrich Schneider.
13. »Die wohltätigen Wirkungen einer verbesserten Aufzucht der Jugend«
Hier kündigen sich denn auch in Eden die wohltätigen Wirkungen einer verbesserten Aufzucht der Jugend schon mit aller Deutlichkeit an. Dank ihren lebensreformerischen Grundsätzen und ihrer vertieften Einsicht in die natürlichen Bedingungen menschlichen Gedeihens haben sich die Edener Eltern von jeher eine vernünftige Säuglingspflege besonders angelegen sein lassen. Vor allem muß zum Lobe der Edener Mütter gesagt werden, daß sie es mit ihrer Pflicht, dem Kinde die erste Nahrung zu reichen, durchaus ernst nehmen.
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Von den bis jetzt auf Eden geborenen 132 Kindern hat denn auch mit nur zwei Ausnahmen noch keins die Mutterbrust ganz zu entbehren brauchen. Die Folge davon ist die erfreuliche Tatsache, daß Eden die günstigste Säuglingssterblichkeitsziffer unter allen deutschen Gemeinden (3,8% nach zwanzigjährigem Durchschnitt) aufzuweisen hat! Daneben vergleiche man die bisher bekannten niedrigsten Ziffern: Gartenstadt Letchworth (England) = 5,5%, Villenkolonie Hampstead bei London = 6,6%, Gartenstadt Hellerau bei Dresden = 9%, - und anderseits den deutschen Reichsdurchschnitt (aus der Vorkriegszeit) = 18%! Noch auffälliger wird der günstige Befund bei einem Vergleich mit dem Eden benachbarten Germendorf, welches seiner Lage und seinen klimatischen Bedingungen nach die gleichen Verhältnisse zeigt und trotzdem (nach zehnjährigem Durchschnitt) 18,6% Säuglingssterblichkeit zu verzeichnen hat! Die Ursache ist nicht weit zu suchen: von allem anderen abgesehen ist hier der Umstand entscheidend, daß in Germendorf mehr als die Hälfte der Neugeborenen vom ersten Tage an mit der Flasche aufgezogen wird!
Sicherlich trägt zu der niedrigen Säuglingssterblichkeit auch die planmäßig betriebene Abhärtung bei; denn schon früh wird der Verzärtelung entgegengearbeitet, ja, die Abhärtung beginnt schon bald nach der Geburt. Der Säugling schläft vom ersten Tage seines Lebens an im reichlich gelüfteten Zimmer und -wird schon zeitig ohne allzu ängstliche Rücksicht auf das Wetter an die Luft gebracht. Je nach der Jahreszeit bekommt er seine ersten Luft- und Sonnenbäder, noch bevor er kriechen kann. So wird ihm das Leben in Luft, Sonne und Freiheit zur zweiten Natur. Wächst das Kind heran und stellt es sich auf die eigenen Füße, dann lernt es sich mit der leichtesten Bekleidung begnügen. Überkleider, Kopfbedeckung, Schuhe, vereinzelt auch Handschuhe werden nur im Winter oder bei rauhem Wetter getragen. Im übrigen ist Barhaupt- und Barfußgehen bei der Edener Jugend im Sommer an der Tagesordnung und bürgert sich mehr und mehr auch bei den Erwachsenen ein.
Die Ernährung des Kindes ist im allgemeinen einfach, meist ganz vegetarisch; dabei gedeiht es mindestens so gut, wie bei jeder anderen Kost. So tritt es, körperlich wohl vorbereitet, in die Edener Schule ein, deren Anforderungen es dann auch ungleich besser genügt, als es in anderen Verhältnissen die Regel ist.
Daß es gesundheitlich auch hier den Kindern anderer Schulen überlegen ist, geht z.B. aus einer vergleichenden Statistik der Schulversäumnisse hervor, nach welcher in Germendorf je Kind und Jahr 6,1, in Eden nur 4,8 — wegen Krankheit versäumte Schultage gezählt wurden; — ferner daraus, daß die Edener Schule in den 22 Jahren ihres Bestehens, währenddessen sie von über 300 Kindern besucht wurde, noch keinen einzigen Todesfall zu verzeichnen gehabt hat!
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Wie sehr die Gesundheit und die körperliche Leistungsfähigkeit der Edener Jugend durch die verbesserte Aufzucht gehoben wird, dafür zeugen auch ihre Sportleistungen. Nicht nur werden die Spiele und Leibesübungen der jeweiligen Jahreszeit mit großer Ausdauer betrieben, sondern es sind auch von Edener Kindern auf größeren Wanderfahrten und unter schwierigen Verhältnissen Marschleistungen erzielt worden, wie sie in so jugendlichem Alter ganz ungewöhnlich sind. Durch dies alles erhält unser Jungvolk eine Vorbereitung für das spätere Leben, die im Hinblick auf die mannigfachen, im Kampfe ums Dasein eintretenden Belastungsproben unschätzbar genannt werden muß, und die ihren besonderen Wert namentlich da offenbart, wo die Jugend in die Fußtapfen der Erwachsenen tritt, d. h. selbständig zu siedeln beginnt.
14. Wandel der Frauenkleidung
Deutlicher schon beginnt die Kleidung, namentlich die weibliche, sich zu wandeln; ob hier eine neue Tracht sich ankündigt, ist noch nicht entschieden, sicherlich gelangen aber auch hier die gesundheitlichen Gesichtspunkte immer mehr zur Geltung. Zum mindesten darf man behaupten, daß die herrschende Frauenmode in Eden ihre Rolle bald ausgespielt haben wird; denn wo sie gelegentlich bei neu Zuziehenden noch auftaucht, wird sie bereits als etwas Fremdes, Überlebtes empfunden. Am meisten fortgeschritten ist die Abkehr von der bisherigen Bekleidungs-Unnatur bei den Mädchen und bei der jüngeren Frauenwelt; das Korsett z.B. ist schon gänzlich verschwunden, ebenso der modische Schuh und der Sonnenschirm, z.T. auch der Muff; ein Hut wird, wenn überhaupt, nur noch außerhalb der Kolonie getragen. Das Eigenkleid herrscht vor; die alten, gediegenen Stoffe werden bevorzugt; die Anfertigung geschieht vielfach von eigener Hand. Im übrigen ist namentlich die Arbeitskleidung, auch bei den Männern, so leicht und einfach wie möglich, so wie es eben das Freiluftleben, die Rücksicht auf Hautpflege und Abhärtung verlangt.
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15. »Hebung der Sittlichkeit«
Andererseits bewirkt diese genossenschaftliche Ordnung, daß Eden rechtlich ein Privatgrundstück darstellt, von dessen Betreten ein Jeder, dessen auch nur vorübergehende Anwesenheit unerwünscht ist, ausgeschlossen werden kann. Die Verwaltung übt das Hausrecht und wacht darüber, daß die lebensreformerischen Ziele der Siedelung von niemandem gefährdet werden; sie beschränkt also ganz bewußt die Freizügigkeit und Gewerbefreiheit.
So wird z.B. kein Alkoholausschank geduldet; Eden ist daher bis jetzt die erste und einzige »trockengelegte« Gemeinde in Deutschland. So könnte sich in Eden auch keine Schlächterei, kein Tabakladen, kein Vertrieb von Schmutzliteratur, kein »modernes« Kino, kein Tingeltangel, kein Bordell, keine Spielhölle, kein Wettbüro auftun; derartige Betriebe würden schon an der Schwelle der Kolonie zurückgewiesen werden.
Diese planmäßige Sauberhaltung der Siedelung von mehr oder weniger anrüchigen Gewerben kommt naturgemäß am meisten der Jugendpflege zu Hilfe; denn man weiß ja, wie sehr unter anderen Verhältnissen das schlechte Beispiel der Erwachsenen die Erziehung erschwert. Daß aber einem derartigen Vorgehen der Erfolg nicht versagt bleibt, lehrt das Edener Beispiel insbesonders auf dem Gebiet der Alkohol- und Tabakbekämpfung. Wurde doch erst kürzlich bei einer in der Edener Schule veranstalteten Erhebung die bemerkenswerte Feststellung gemacht, daß 4/5 der Kinder (in allen Altersklassen von 6-14 Jahren) noch niemals geistige Getränke genossen hatten, und auch bei den übrigen handelte es sich nur um ganz vereinzelte Gelegenheiten meist außerhalb Edens; von gewohnheitsmäßigem Genuß war in keinem einzigen Falle die Rede. Dementsprechend hatten sämtliche Kinder noch niemals in Eden, Vs von ihnen aber überhaupt noch nie einen Betrunkenen gesehen. Was andererseits das Kulturlaster des Rauchens betrifft, so ist es Tatsache, daß jene leidige Verkörperung städtischer Jugend»kultur«, der zigarettenrauchende halbwüchsige Bengel, in Eden eine unbekannte Erscheinung ist.
16. »Eine Oase inmitten der kapitalistischen Wüste« (Franz Oppenheimer)
Es ist ein Zeichen für die greuliche Verwahrlosung unserer öffentlichen Meinung und nicht zuletzt auch der soziologischen Wissenschaften, daß ein Erfolg von dieser Größe unbekannt oder wenigstens trotz aller meiner wiederholten Hinweise unbeachtet geblieben ist.
So klein die Genossenschaft ist: hier ist der Beweis erbracht, daß Bedingungen geschaffen werden können, unter denen Menschen in leiblicher und seelischer Harmonie zu wirklicher Kultur aufleben können.
Und es ist völlig gewiß, daß diese hocherfreuliche Entwicklung durchaus keinen andern Grund hat als die gesunde wirtschaftliche Grundlage: den gemeinsamen Besitz aller Existenzbasis, des Grund und Bodens. Alle Siedlungen auf dieser Grundlage haben die gleichen günstigen Ergebnisse gezeitigt, und gerade bei Eden kann gar nicht die Rede davon sein, daß der Erfolg einer gemeinsamen starken religiösen Überzeugung verdankt ist.
Diese kleine Siedlung blüht wie eine Oase inmitten der kapitalistischen Wüste mit ihrer Häßlichkeit, Verderbtheit und körperlichen Degeneration; wenn die soziologische Wissenschaft der Neuzeit wäre, was sie sein sollte, die Wegweiserin zur Rettung, so müßte diese erste vollgereifte Frucht des liberalen Sozialismus in jedem Lehrbuche der Ökonomik und sozialen Psychologie mindestens ein ganzes Kapitel füllen, von rechtswegen aber den Ausgangspunkt der gesamten Betrachtung bilden.
Aber kein Wort davon! Es sieht wahrhaftig beinahe so aus, als dürfe es nicht bekanntwerden, daß es möglich ist, Menschen in Wohlstand, Frieden und sittlicher Zucht zusammen zu ordnen; dann könnten ja vielleicht die anderen unverschämt genug sein, es auch so gut haben zu wollen!
Der berüchtigte Gentz, Metternichs böser Geist, soll einmal ausgesprochen haben: »Wir wollen gar nicht, daß es den Menschen gut geht; wie sollten wir sie dann beherrschen?«
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(d-2015:) wikipedia Friedrich_von_Gentz 1764-1832 in Wien