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   Neue Gemeinschaft — ein »Orden vom wahren Leben«    

 

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Die Neue Gemeinschaft war eine Schöpfung aus dem Friedrichshagener Dichterkreis heraus. In dem kleinen Dorf Friedrichs­hagen bei Berlin hatten sich im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts die Männer angesiedelt, welche in den voraus­gehenden achtziger Jahren als literarische Kritiker (so die Brüder Heinrich und Julius Hart) oder als kultur-politische Akteure (so Bruno Wille und Wilhelm Bölsche) die literarische Revolution des Naturalismus mit heraufgeführt oder in sozialdemokratischen bzw. anarchistischen Arbeiter­versammlungen einem linksradikalen Spontanismus das Wort geredet hatten (Teilhabe an der Partei-Opposition der »Jungen« 1890).

Der Wegzug von der ihrer Meinung nach gefühls- und geisttötenden Großstadt in die Fichtenwälder der Mark (in Parallele zur Gründung anderer ländlicher Künstlerkolonien in dieser Zeit) war bereits ein Indiz für das Verlassen der ursprünglichen literarischen und sozialen Positionen. Zwar lag Friedrichshagen im Osten der Großstadt Berlin und damit näher an den Arbeitervierteln als an den westlichen Wohnvierteln der Wohlhabenden, aber schon verdrängte ein gemütvoller Individualismus und eine elitäre Einstellung (»Sozialaristokratie«) das soziale Engagement bzw. limitierte dieses auf eine nach dem Muster der Revolution des Geistes verstandene Arbeiterbildung (1890 Gründung der »Freien Volksbühne« bzw. 1892 der »Neuen Freien Volksbühne«). 

Und ein bloß materialistischer und zolaesker Naturalismus genügte diesen »Idealisten« nun auch nicht mehr, da sie in der freien Natur den Weg zu einer pantheistischen Mystik beschritten. Damit war freilich keine prinzipielle Abwendung vom Darwinismus und den naturwissenschaftlichen Erkenntnissen ihrer Zeit verbunden, aber sie gaben dieser ihnen über Gustav Theodor Fechner und Ernst Haeckel (von dem sie den »Monismus« übernahmen) übermittelten Wissenschaft doch eine spezifische »naturphilosophische« Wendung: Die Evolutionslehre wurde als Begründung für die Möglichkeit der Perfektibilität von Mensch und Gesellschaft (»Entwicklungsgeschichte«) gedeutet und — nicht zuletzt unter dem Einfluß der Gedankenwelt Nietzsches — die Weiterentwicklung des Menschen zum Übermenschen nicht ausgeschlossen, wobei religiöse und naturwissenschaftliche Perspektiven miteinander versöhnt wurden (»poetischer Darwinismus«).

Ihr übergroßer Optimismus verleitete die Friedrichshagener dazu, enthusiastisch die Zukunft, das Neue (den neuen Menschen, die neue Gesellschaft, das neue Zeitalter) zu besingen, das ihnen keineswegs ein bloß utopischer Traum war (ihr Symbol dafür die aufsteigende Sonne; vgl. Nietzsches »Morgenröte«, aber auch die Sonnen-Embleme der Arbeiter- und Jugendbewegung). Und wie Nietzsches »Zarathustra« sahen sich besonders die Brüder Hart als die Verkünder von »Zukunftsland«, als Propheten eines kommenden »Dritten Reiches«.

Hatten sich die Friedrichshagener in den Achtzigern für die leidende Masse interessiert, so jetzt für die Weiterentwicklung des außergewöhnlichen Individuums, das Führer, ja Retter der Menschheit werden könne. Das hatte nichts mehr mit den sozialistischen Ideen eines Bebel oder Lassalle zu tun, welche sie früher beeinflußt hatten, sondern war entweder ethischer Sozialismus in der Nachfolge von Moritz von Egidy oder der typische anarchische »Idealismus« und Individualismus der Boheme.

 

Als die Brüder Hart zur Jahrhundertwende die Friedrichshagener Vorort-Boheme verließen und in Berlin ihre Neue Gemeinschaft gründeten, zeigte es sich, wie weit sie die Arbeitermassen »hinter sich gelassen« hatten: ihre neue Schöpfung war als »Orden« konzipiert, und nur das »freie« Individuum konnte davon profitieren. Wie der Friedrichshagener Kreis war so auch die Neue Gemeinschaft eine Sache für literarische Bohemiens in der geistigen Nachfolge des Individual-Anarchisten Max Stirner und seines Wiederentdeckers Henry Mackay.10) 

Den asketisch-lebensreformerischen und hart mit den Händen arbeitenden Gründern von »Eden« hätten diese weinseligen und zukunftstrunkenen »Armen Teufel« (dies ist auch ganz wörtlich zu verstehen) sicher wenig gefallen. Und doch wurden sie vom gleichen Impuls beseelt: vom Willen zur Flucht aus dem Wilhelminismus, aus dem industrialisierten und urbanisierten Deutschland und zur Suche nach einer wesenhafteren Existenz und Gesellungsform nahe von Natur und Boden. Ebenso wie in »Eden« sollten auch das Programm und die Praxis der Neuen Gemeinschaft die »Basis für eine höchst vorbildliche Sozialbildung« (Julius Bab) abgeben. —

10)  Vgl. Hans G. Helms, Die Ideologie der anonymen Gesellschaft. Max Stirners »Einziger« und der Fortschritt des demokratischen Selbst­bewußtseins vom Vormärz bis zur Bundesrepublik. Köln 1966.

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Zunächst war freilich der äußere Rahmen des neuen, im Frühjahr 1900 gestifteten Ordens höchst unwürdig. Man traf sich in Berliner Wirtshaussälen (was zudem teuer war). Doch bald konnte man zehn Minuten vom Stadtbahnhof Zoologischer Garten entfernt im besseren Wohnviertel von Berlin-Wilmersdorf (Uhlandstraße 144) eine Wohnung mit zunächst vier Zimmern — später wurde noch eine weitere Wohnung hinzugemietet — beziehen. Und nun begannen die weit- und menscherneuernden Aktivitäten: Öffentliche Versammlungen und »Weihe-Feste« wurden abgehalten. 

Vorträge, Rezitationen, musikalische und künstlerische Darbietungen zelebriert. In ihrem »Heim«, das sie mit einer Bücherei und einer Auslage für Zeitungen und Zeitschriften ausstatteten (die Herkunft von der Caféhaus-Boheme war also nicht vergessen), wurden zweimal wöchentlich Kinder in einfachen Handarbeiten unterwiesen (bald sprach man reichlich übertrieben von einer »Art Hochschule«!), und ebenso oft versammelten sich dort Frauen (denen sich auch einige Männer anschlossen) zur kunsthandwerklichen Betätigung (eine Werkstatt wurde für sie eingerichtet und dort u.a. Glasmalerei betrieben).

»Die Tendenz«, so hieß es, »geht auf ein gemeinsames Schaffen von Künstlern und Laien zur Verwirklich­ung einer tieferen und feineren Volkskunst«. Schließlich, und das mußte für hungernde Bohemiens besonders verlockend sein, hieß es in einer Annonce: »Auch für Trank und Speise soll Sorge getragen werden«, d.h. es wurde ein gemeinsamer Mittagstisch abgehalten.

Doch dies war nicht genug; die Harts drängte es zur Scholle zurück und zur »engeren wirtschaftlichen Organisation«, zu »Produktion und Konsum auf gemeinschaftlicher Grundlage«. Es sollte eine »Ansiedlungs­gemeinschaft«, eine »Landsiedlung« gegründet werden (war das Vorbild dazu »Eden« und der »Monte Verità« in Ascona?), aber dann kam doch nur ein Kompromiß zustande: mit einem »Frühlingsfest« wurde im Mai 1902 ein neues Heim in Berlin-Schlachtensee (Seestraße 35-37) eingeweiht.

Auch diesmal hatten die »Sozialaristokraten« Stil bewiesen und sich für ihr Experiment einer »engeren Lebens­gemeinschaft« eine Villenkolonie ausgesucht; die Wohnsiedlung Schlachtensee war nämlich 1874 mit der Eröffnung der Wannseebahn entstanden, um — so die offizielle Verlautbarung — die Gründung von <Sommerfrischen und ländlichen Aufenthaltsorten für den wohlhabenderen Teil der Berliner Bevölkerung> zu unterstützen.

Freilich holte die Stadtflüchtigen die Industrialisierung auch dort ein, denn im gleichen Jahr 1902 ließ sich in einem anderen Teil Schlachtensees die Märkische Lokomotiv-Fabrik nieder.

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Das große Grundstück um das ehemalige Sanatorium lag malerisch am See und diente teilweise dem Gartenbau. Die Villa selbst besaß 30 Zimmer, so daß sich hier endlich die »ländliche« Wohngemeinschaft voll entfalten konnte. Eine besondere Neuerung schien den interessierten Zeitgenossen die gemeinsame Küche. Freilich ähnelte das Ganze doch eher einer Pension als einer Kommune, denn die Bewohner mußten sowohl für ihr Zimmer eine Miete wie für ihre Verpflegung einen Tagessatz entrichten. Es scheint aber, daß das Unternehmen sich finanziell nicht selbst tragen konnte, sondern auf Mäzene angewiesen blieb. Dem armen Poeten Peter Hille wurde unentgeltlich ein Gartenhäuschen zur Verfügung gestellt.

 

Wie bei allen anderen gescheiterten Siedlungen lagen auch die Gründe für das baldige Ende des Schlachtenseer Experiments im Jahre 1903 einmal am Geldmangel (das Vermieten von Zimmern an nicht innerlich an die Gemeinschaft gebundene Sommergäste hatte da keine Abhilfe geschaffen), dann aber auch an inneren Zerwürfnissen. Insbesondere hinterließ die enttäuschte Abwendung Gustav Landauers von der Neuen Gemeinschaft eine nicht zu schließende Lücke.

Doch dieses kurzlebige Experiment wirkte weiter; die Mitglieder der Neuen Gemeinschaft hatte ihr fehlgeschlagenes Unternehmen eher stimuliert als entmutigt. So wurden Ende 1902 die Harts die Initiatoren bei der Gründung der ersten deutschen »Gartenstadt-Gesellschaft«11). Erich Mühsam zog aus Berlin in die Vegetarier-Siedlung in Ascona, und sein väterlicher Freund Gustav Landauer, der selbst nie siedelte (er wohnte damals aber auch am Rande Berlins in Hermsdorf), wurde zum literarisch wirksamsten Propagandisten der Lehre von der sozialen Regeneration durch ländliche Kommunen.  

In seine Spuren wiederum sollte der Kulturzionist Martin Buber treten, der 1898 Theodor Herzl (dessen >Altneuland< erschien ebenfalls 1902) und ein Jahr darauf Gustav Landauer kennengelernt hatte, von diesem der Neuen Gemeinschaft zugeführt worden war, dort einen Vortrag über »Alte und neue Gemeinschaft« hielt und später zum glühenden Verteidiger des freien Sozialismus und der Kibbuzim wurde. 

11)  Vgl. Die Deutsche Gartenstadt-Bewegung. Berlin-Schlachtensee 1911; Hans Kampffmeyer, Die Gartenstadt-Bewegung. Leipzig-Berlin 2. Aufl. 1913.

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Sowohl Landauers wie Bubers Prophetenton hatte starke Impulse durch die Harts und ihren »Orden« erhalten. (So entschied sich wohl nicht zufällig Buber 1901 gegen die Hochschullehrerlaufbahn und für seine Berufung als seherischer Dichter.) Aber nicht nur Landauers »Mystik« und sein »völkischer Sozialismus« hingen eng mit der Neuen Gemeinschaft zusammen, auch Fidus (Hugo Höppener), lebensre-formerisch-völkischer Illustrator und ebenfalls Mitglied der Neuen Gemeinschaft, begann genau in dieser Zeit mit der Veröffentlichung seiner Tempel-Entwürfe. Schließlich sei auch daran erinnert, daß Henry van de Velde seinen programmatischen Vortrag >Zu neuer Kunst. Von den Fundamental-Prinzipien des neuen Stils. Costume, Schmucksachen, Beleuchtungskörper, / Möbel, Architekturen, Innendekorationen vor der Neuen Gemeinschaft hielt.

Viele wollten um die Jahrhundertwende dem Neuen Jerusalem zur Verwirklichung verhelfen, und es schien ihre übereinstimmende Meinung zu sein, daß das Heil nur von der Sonne und der Erde und nicht von der Stadt und der Maschine kommen könne. 1901 wurde in Berlin das erste »Licht-Luft-Sportbad« eröffnet; und im gleichen Jahr bildete im Steglitzer Ratskeller Karl Fischer den »Ausschuß für Schülerfahrten - Wandervogel«. Die Jugendbewegung war geboren, welche die Frohbotschaft von der Sonnenkindschaft des Menschen verbreiten und der Lehre von der Erlösung durch Lebensreform und Landsiedlung eine ungeahnte Breitenwirkung verschaffen sollte.

 

17. Die Brüder Hart  

a. »Prachtmenschen« (Erich Mühsam)

Was für Prachtmenschen waren die Harts! Julius Hart, ewig in seligster Seid-umschlungen-Stimmung, schwelgend in der Lust seiner All-Einheits-Erkenntnisse und im Glück, den Gästen die von Fidus und dem Bildhauer Metzner geschmückten Räume der Uhlandstraßenwohnung vorführen zu können, wo nun alle Gegensätze praktisch überwunden werden sollten, küßte Männer und Frauen, duzte jeden, der sich mit ihm freute und verbat sich das Sie, und der Bruder strahlte neben ihm, etwas gehaltener, mit einem kleinen Stich Selbstironie, aber ebenso voll innerer Festlichkeit, voll strömender Gastgeberfreude. Das Brüderpaar — die fröhlichste Kreuzung von Weinwirten und Religionsstiftern.

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b. Die Neue Gemeinschaft: Ein »Orden vom wahren Leben« (Heinrich Hart)

[....] mein Bruder und ich [waren] an der Arbeit, einen Grund zu legen zu jenem menschlichen Gemeinschaftssein [....] Zu einem feineren, reicheren, edleren Gemeinschaftsleben, als es sonst in der Welt von heute nur denkbar ist. Wir dachten an ein neues Kloster ohne die Beschränkungen der Möncherei, an einen Orden, der nicht irgendeine Einseitigkeit verfolgen, sondern ethisch-religiös-ästhetisch das ganze Leben zu einem Kunstwerk gestalten sollte.

 

18. Ein »Kristallisationspunkt«? Gustav Landauer und die Neue Gemeinschaft

a. »Religiöse Stimmung« (1900)  

Mittwoch nach Pfingsten [1900] schließlich fand ein Ausflug der Hartgemeinschaft, etwa 70 Personen nahmen teil, nach Friedrichshagen statt. Ein schöner Moment voll religiöser Stimmung war es, als wir uns an einer schönen Stelle am Seeufer gelagert hatten; ein wundervolles Abendlicht auf dem See und den Kiefern, Gewitterwolken am Himmel und fernes Donnern, während eine Prologdichtung Heinrich Harts [»Zur Weihe«] vorgetragen wurde, der ein längerer ernster und aus der Tiefe schöpfender Vortrag Julius Harts [»Der neue Mensch«] folgte. Leben, Leben! klang aus diesen Worten der beiden Brüder, und die Natur rief uns dasselbe zu.

b. »Die beiden Harts ... hätten mich am liebsten geküßt« (1900) 

Von meiner Ansprache [»Durch Absonderung zur Gemeinschaft«] am Montag [in der Neuen Gemeinschaft] wäre schon einiges zu erzählen. Es waren etwa 60 Personen da, Schriftsteller, Künstler, Musiker. Ich führte zunächst einen meiner Lieblingsgedanken aus, daß es neben den autoritären Zufallsgemeinschaften, die uns umgeben, noch eine andere, größere gibt, die mit dem tiefsten Wesen des Individuums zusammenfällt. Was die Gelehrten mit einem unzulänglichen Wort Vererbung nennen, ist nichts anderes als die tatsächlich vorhandene, unablässig wirksame, durchaus reale Macht der Vorfahrenwelt. 

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Je tiefer wir in die Schächte unseres Individuallebens hinabsteigen, um so mehr werden wir dieser realen Gemeinschaft mit den Mächten der Rasse, der Menschheit, der Tierheit und schließlich, wenn wir uns von Begriffsdenken und sinnlichem Schauen in unsere verborgensten Tiefen und in das unsagbare Stillhalten zurückziehen, der ganzen unendlichen Welt teilhaftig. Denn diese Welt lebt in uns, denn sie ist unsre Ursache, d.h. fortwährend in uns wirkend, sonst hörten wir auf zu sein was wir sind. Unser Allerindividuellstes ist unser Allerallgemeinstes. 

Wenn wir diese Gemeinschaft mit der unendlichen »Vergangenheit« in uns herstellen, werden wir reif zum Bruch mit den Zufallsgemeinschaften der Gegenwart, werden wir die Liebe finden zu den Mitmenschen, die ja dieselbe Gemeinschaft in sich selber tragen, wie wir, und werden den Mut finden, um der Gemeinschaft willen und um der Vorbilder willen, uns zu neuen Lebensgemeinschaften zusammenzuschließen. Etcetera. Es ist schwer, das so nachträglich in andren Worten zu sagen. Indessen besteht die Absicht, daß ich den Vortrag für eine der nächsten Flugschriften ausarbeiten soll; ich will sehen, ob er mir gelingt. Der Eindruck schien mir stark und nachhaltig zu sein; jedenfalls waren die beiden Hart innerst ergriffen, tasteten, während ich sprach, nach meiner Hand, und hätten mich am liebsten geküßt.

Natürlich gebe ich mich keinen Illusionen hin; es sind viele da, die bloß die Sensation hinzieht oder das angenehme Behagen, sich von andern anwärmen zu lassen. Aber schön ist es doch, in andern wieder zu sehen, daß auch sie zu dem gekommen sind, was in der Luft liegt. Eine junge Generation ist da, die einen Kristallisationspunkt bilden kann; fragt sich bloß, ob die Kraft da ist.

 

c. »Vorhut« (1900)

Ungeheuerlich und fast unaussprechbar groß ist der Abstand geworden, der uns, die wir uns selbst als die Vorhut fühlen, von der übrigen Menschheit trennt. Ich meine nicht die Entfernung zwischen denen, die man gewöhnlich Gebildete nennt, und den übrigen Massen. Die ist auch schon schlimm genug, aber es ist nicht so 'weit her damit. Mancher geweckte Arbeiter, der schon Berührungspunkte mit unserer Vorhut hat, ist durch eine tiefere Kluft von dem gebildeten Philister getrennt.

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Nun sind wir, die ins Volk gegangen waren, von unserer Wanderung zurückgekehrt. Einige sind uns unterwegs verloren gegangen, bei einer Partei oder bei der Verzweiflung. Etwas haben wir mitgebracht: einzelne Menschen. Einzelne Menschen, die wir aus dem Meer des Alltags herausgefischt haben, mehr haben "wir nicht gefunden. Unsere Erkenntnis ist: "wir dürfen nicht zu den Massen hinuntergehen, wir müssen ihnen vorangehen, und das sieht zunächst so aus, als ob wir von ihnen weggingen. Die Gemeinschaft, nach der wir uns sehnen, die wir bedürfen, finden wir nur, wenn "wir Zusammengehörige, wir neue Generation, uns von den alten Gemeinschaften absondern.

 

d. »Meine letzten Erfahrungen ... haben ihren Stachel zurückgelassen« (1901)

»Es sind eine Unmenge Ausschüsse gebildet worden, die natürlich nie zusammenkommen« [so Mühsam an Landauer].

Soll ich über dieses Thema, das allmählich das Leitmotiv der »Neuen Gemeinschaft« wird, vielleicht Vorträge halten? Sowie unsere N. G. etwas andres ist als eine »vielversprechende« Vereinigung, werde ich überall, wo ich meinen Fuß hinsetze, für sie öffentlich Propaganda machen.

Vorerst begnüge ich mich damit, mir als Privatmensch ein Leben aufzubauen, das für mich auch neue Gemeinschaft ist; aber immer mit dem bitteren Gefühl, daß es unter uns Freunde gibt, die derlei Lebensführungen nicht nur nicht für neue Gemeinschaft, sondern sogar für eine Todsünde gegen die Allerweltsduselei halten. — Du siehst, meine letzten Erfahrungen in der Uhlandstraße [im Heim der Neuen Gemeinschaft] haben ihren Stachel zurückgelassen. Ich kann's nicht leugnen.

 

e. »Von den Personen enttäuscht« (1902)

Lieber [Albert] Weidner, wollen Sie, bitte, den Lesern des »armen Teufel« mitteilen12):

1. [....]

2. daß ich in der »Neuen Gemeinschaft« mit ganzer Kraft für positives Schaffen gewirkt habe nicht wegen des positiven Glaubens, um den sich die Brüder Hart mühen, sondern trotz desselben;

3. daß die Ziele, die ich dort verfolgt habe, noch unverändert meine Ziele sind, daß ich nur in den Personen enttäuscht bin;

 

12)  Vgl. auch Landauers diesem vorausgehenden Leserbrief »Ein Wort über Weltanschauungen«. In: Armer Teufel 1. Jg. (1902) Nr. 2, S. 5 und seine dortigen Auslassungen gegen die Weltanschauungsspekulationen der Friedrichshagener.

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4. daß ich die theoretischen Grundlagen der Anschauungen der beiden Harts ebenso scharf wie heute abgelehnt habe im Jahre 1899 in der »Gesellschaft« bei Besprechung des »Neuen Gottes«13 und im Jahre 1900 in der »Zukunft« bei Besprechung der ersten Flugschrift der beiden Harts14. Gustav Landauer.

 

19. Enthusiasmus und Verleumdungen: Erich Mühsam

a. »Zügelloser Enthusiasmus«  

Ich kann doch an diese Zeit der Neuen Gemeinschaft nicht ohne eine gewisse Rührung zurückdenken. Und doch, wie arg ist es mir da ergangen. Das war der erste große, zügellose Enthusiasmus, dem ich mich hingab! Wie ich das wenige Geld, das ich hier und da zusammenscharrte, der »Sache« zutrug. [Dann aber sei er verleumdet worden, er suche dort nur Anschluß an bekannte Namen und wolle die Freunde ausnutzen.]

b. Verleumdungen: aus einem Brief an Heinrich Hart (Dezember 1901)  

[. . .] bitte ich Dich sehr herzlich und dringendst, mir ganz unverblümt und schonungslos Deine Meinung darüber zu sagen, ob Du mit [Heinrich] Michalski darin übereinstimmst, daß ich der Neuen Gemeinschaft eher schädlich als nützlich bin. In diesem Falle würde ich Euch selbstverständlich augenblicklich von mir befreien und würde mich damit begnügen, später, wenn ich im Besitz von Geldmitteln bin, die Dir zugesagten Bedingungen zu erfüllen, im übrigen aber meine Neue Gemeinschaft mit mir allein, solange ich keine andre Seele gefunden habe, leben.

[...] Haltet Ihr mich für denselben überflüssigen Ignoranten, als den mich Michalski fortgesetzt hinzustellen bemüht? Ich möchte die Wertunterschiede nicht mitmachen, die Michalski und Stöber heut Abend wiederholt aufstellten, indem sie ihren Nutzen für die Neue Gemeinschaft als bei weitem größer darstellten als den meinen. Ich kann das nicht so beurteilen, wenigstens nicht bei Michalski. Ich kann mir aber nicht denken, daß der Unterschied so groß ist, daß die beiden Grund haben, ihn so nachdrücklich zu betonen [....]

 

13)  Vgl. Gustav Landauer, Der neue Gott. In: Die Gesellschaft. Hrsg. v. M. G. Conrad und L. Jacobowski, 15. Jg., 4. Bd. (1899), S. 119-122.
14) Vgl. Gustav Landauer, Zukunfts-Menschen. In: Die Zukunft. Hrsg. v. Maximilian Harden, Bd. 31 (1900), S. 529-534.

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20. Die »dienenden Brüder« und Schwestern des »Ordens«

Die ersten Veranstaltungen der Neuen Gemeinschaft, an denen ich teilgenommen hatte, führten sofort Bekanntschaften herbei. Heinrich Hart stellte mich seinem Bruder Julius vor. Ich 'wurde zur Betreuung dem Photographen Fritz Löscher übergeben, einem Bekenner konsequentesten Tolstojanertums, dessen schöne Frau Ida die erste Werkstatt für moderne Frauenbekleidung eröffnet hatte, aus welcher in meiner Erinnerung alle violett-samtenen hängenden Gewänder der dem Reiche der Erfüllung zustrebenden Damen hervorgingen. Durch Löscher lernte ich die Gemeinschaftsanhänger kennen, die dem »Orden vom wahren Leben« sozusagen als dienende Brüder die Kleinarbeit besorgten, Arbeiter und Künstler, auch Kaufleute, junge Mädchen und Idealisten aller Art. Sie hielten im Architektenhause Tür- und Kassenwacht, führten die Vortragsbesucher zu ihren Plätzen, verkauften Broschüren und verteilten Zettel und Programme.

 

21. »Weihe-Feste«  

a. Religionsersatz   

Die Neue Gemeinschaft, die im Einzel- wie im Gesamtleben der ihr Angehörigen die sozialen, künstlerischen und religiösen Ideale der modernen Kultur zu verwirklichen strebt, hat im Laufe der zwei letzten Jahre eine Reihe von Festen veranstaltet. Frühlings- und Sonnenaufgangsfeste, Feste des Todes und der Freude, Nachtfeiern usw., - Weihe- und Weltanschauungsfeste, in denen die Erkenntnisse, Gefühle und Ideale des modernen Menschen zum Ausdruck gelangen sollen. Sinn und Bedeutung dieser Feste geht darauf hinaus, den Menschen mit den vollkommensten Vorstellungen von seinem Leben zu erfüllen. Aus unserem dumpfen Hinvegetieren, aus den engen und verworrenen Auffassungen, den Sorgen und Fürchten des alltäglichen Lebens wollen sie uns zu den ewigen Höhen des Geistes emporheben, wo wir mit gesammelter Seele die Welt rein anschauen und unseres unzerstörbaren Allseins in allen Dingen und durch alle Dinge bewußt werden.

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Sie wollen dem modernen Menschen ein Ersatz sein für die alten religiösen Feiern, die mit dem Verfall der alten Religionen und Kulturen für ihn Inhalt und Bedeutung verloren haben. Denn der ewige, tiefste und künstlerische Drang der Menschheit verlangte zu allen Zeiten und an allen Orten nach solchen Weihefesten des Lebens, an denen wir uns unserer Beziehungen zu den Unendlichkeiten des Daseins bewußt werden. 

 

  

MITTEILUNGEN
FÜR MITGLIEDER UND GLEICHGESINNTE
HERAUSGEGEBEN VON ALBERT WEIDNER, 
FRIEDRICHSHAGEN. BERLIN.
Diese Mitteilungen enthalten die Veröffentlichungen der Neuen Gemeinschaft. Die regelmässige
Zustellung erfolgt gegen Einsendung von Alk. 1,50 pro Quartal.
Alle Sendungen sind an die persönliche Adresse des Herausgebers zu richten.
No. 6. * 1. DEZEMBER 1900. 

 

In mystischen Feiern, in Götter-und Naturfesten brachte der Mensch in bedeutsamen Symbolen seine kosmogonischen Vorstellungen zum Ausdruck und erfüllte seine Seele mit den reinen Stimmungen, deren wir mehr als jeder andern bedürfen, um die Widerwärtigkeiten und Bitternisse des Lebens zu ertragen. Auch das Kind der Gegenwart bedarf dieser Feiern, und sie neu zu erwecken, mit neuem Geist und Inhalt zu erfüllen, das ist eins der Ziele, die sich die »Neue Gemeinschaft« gesetzt hat. [...]

 

Für das Jahr 1903 sind folgende Feste geplant: 

25. Januar: Das Tao-Fest.

Für die Nacht vom 21. zum 22. Februar: Neue Dionysien (Trachten-Fest)

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22. März: Das Fest der Frühlingsstürme 13. April: Das Fest der Versöhnungen 21. Mai: Das Fest der Seligen

21. Juni: Sonnwendtag

Für die Nacht vom 25. zum 26. Juli: Unendlichkeit

23. August: Das Fest der Schönheit 20. September: Das Fest des Friedens 18. Oktober: Das Fest der Erfüllung 18. November: Das Fest des Todes

26. Dezember: Das Fest der Selbsterlösung

 

b. Gesamtkunstwerk  

Indem wir, anknüpfend an eine bestimmte Erscheinung und an einen bestimmten Vorgang in der Natur und im menschlichen Leben, in jeder von diesen Festaufführungen und Festdarstellungen eine tragende und durchgehende Idee zum Ausdruck bringen, eine einheitliche Anschauung, ein beherrschendes Gefühl, wollen wir jeder Feier das Gepräge eines in sich abgeschlossenen, organisch zusammenhängenden Kunstwerkes aufdrücken, in dem alle einzelnen Teile — Rede und Musik, Gemälde, Plastik, Dekoration und Schmuck — in inneren wesentlichen Beziehungen zu einander stehen.

 

22. »Zu große Korsettlosigkeit« (Paula Modersohn-Becker)

Gestern am Sonntag war ich mit M. in der »Neuen Gemeinschaft«, von Heinrich Hart errichtet in Friedrichshagen, Du weißt. Es war am Vormittag. Es wurde viel über Nietzsche gesprochen, gelesen, etwas über den jetzigen Stand der Dinge und Gedichte von Herrn Hart deklamiert. Es scheint mir viel Eitelkeit zu sein, langes Künstlerhaar, Puder und zu große Korsettlosigkeit. Ich bin ja nicht gerade für jenes Kleidungsstück, nur soll man es nicht vermissen. Wenn alle diese Simsons doch eine Dalila hätten, die ihnen die Locken schneiden wollte. Und wenn auch ihre Kraft von ihnen wiche, ich glaube, die Welt würde nicht darunter leiden.

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23. »Tischgemeinschaft«

Die »Neue Gemeinschaft« ließ den sprühenden Glanz ihres Heiligenscheins rasch matt werden. Weihe in Permanenz schafft Narren, Zeloten und Spekulanten. Die Wohnung in der Uh-landstraße diente uns Jungen immerhin in den weihefreien Stunden als Klubraum zur Selbstbeköstigung. Zuerst hatten Gustav Landauer und ich uns die Erlaubnis erwirkt, dort zu kochen. Mir wurde die Erlaubnis dazu allerdings von Landauer bald entzogen, und er, der damals keine Familie hatte, übernahm die Bereitung der Mahlzeiten allein, nachdem ich einmal zur Herstellung von Omeletten alle Milch- und Eiervorräte verrührt hatte, ohne daß die Eierkuchen aufhörten zu zerbröckeln; ich hatte nämlich eine falsche Tüte genommen und statt Mehl Gips erwischt. Bald fand sich als dritter Mittagsstammgast ein Blumen- und Ansichtskartenmaler Albert Jung ein, und als Landauer dann zur Begründung seiner zweiten Ehe mit Hedwig Lachmann nach England abreiste, etablierten etliche junge Leute eine reguläre Tischgemeinschaft, und eine Anzahl Damen der Neuen Gemeinschaft übernahmen je einen Wochentag, um uns mit einem regelmäßigen Mittagessen zu versorgen [.. .] Wir sollten bestimmte Verpflegungsbeiträge leisten, taten es aber selten und ließen uns recht gern von unseren freiwilligen Köchinnen gratis bewirten, am liebsten von der schönen, jungen Ludmilla von Rehren, die stets erlesene Speisen auf den Tisch stellte und in die wir samt und sonders verliebt waren.

Diese Tischgemeinschaft hatte mit Boheme herzlich wenig zu schaffen, sie war für die eigentlichen Zigeuner unter uns Verbürgerlichung, für die zu bürgerlichem Wandel Hinstrebenden so etwas wie Sturm und Drang, für uns alle eine faute-de-mieux-Angelegenheit, die kennzeichnender für die Entwicklung der Neuen Gemeinschaft war als für uns.

 

24. Die Alterung der Neuen Gemeinschaft

Die Neue Gemeinschaft selbst alterte mit unheimlicher Geschwindigkeit. Die Harts und einige der Gläubigsten erhielten sich ihren Optimismus, andere fanden sich bald enttäuscht. Denn aus dem Überschwang des Sternenfluges zu neuen Lebensformen wurde Gewöhnung und in Jugendstil, der dazumal revoltierend modern war, gekleidete Spießerei. 

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Regelmäßig zweimal wöchentlich gab es Vortragsabende, bei denen manchmal ausgezeichnete Köpfe ausgezeichnete Gedanken entwickelten: Martin Buber z.B., noch sehr jung, aber schon priesterlich versonnen, sprach im modernen Geiste von altjüdischer Mystik, Dr. Magnus Hirschfeld erzählte von sexuellen Absonderlichkeiten, die beim Namen zu nennen damals noch grauenvoll verwegen schien, es gab sehr interessante und wertvolle Diskussionen — aber der Freiheitsdrang derer, die im »Orden vom wahren Leben« grundstürzende Erschütterung von Himmel und Erde fördern und feiern wollten, blieb ungestillt.

Kritik schuf Verstimmung, und der Zorn der Eiferer wandte sich nicht gegen das Kritisierte, nicht dagegen, daß schöngeistige Damen sich gewöhnten, mit Häkelarbeiten dabei zu sitzen, wenn Julius Hart unsere Seelen mit All-Einheit impfte, nicht dagegen, daß spleenige Weltreformer zu Dutzenden in der Neuen Gemeinschaft ihre Traktätchen zu verhökern suchten, sondern gegen uns junge Stänkerer mit dem Eigensinn des unbestechlichen Idealismus, die wir Verwirklichung forderten und die Gemeinschaft der Vereinsversimplung anklagten.

 

Die Idee, auf eigener Scholle Verbindung von Arbeit und Verbrauch zu schaffen, lockte sogar Makler herbei, die mit sauber ausgerechneten Voranschlägen in der Tasche an Sonnwendfeiern draußen in der Mark teilnahmen und zwischen Chorgesang und Weiherede ein smartes Grundstücksgeschäft anregten. Schließlich versackte die ganze Siedlungsidee in einem Kompromiß, der den Bohemecharakter des Plans, Menschen, fern von aller Konvention, ein freies Leben in selbstgewählten Formen führen zu lassen, zur komischsten Karikatur verzerrte. Statt Land zu erwerben, wurde in Schlachtensee ein Säuglingsheim gemietet, dessen Räume nach Bedarf und Zahlfähigkeit unter die Familien verteilt wurden, welche sich bereit zeigten, die Überwindung der Gegensätze durch Benutzung einer gemeinsamen Küche vorzuleben. Auch ein paar junge Adepten der neuen Weltanschauung durften mit hinausziehen; ich gehörte schon nicht mehr dazu, war aber in der ersten Zeit noch häufig als Gast draußen und sah ingrimmig und höhnend die erträumte Herrlichkeit in einem Lustspiel-Pensionat grotesken Kalibers dahinschwinden. Ein paar schöne Feste und künstlerische Veranstaltungen konnten die ursprüngliche Idee nicht retten.

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25. »Unsere erste Ansiedlung«

Im ersten Heft der Flugschriftenreihe <Das Reich der Erfüllung> heißt es an einer Stelle: »Die reife Kultur kehrt zur Natur zurück, eine innige Verbindung zwischen Geistes- und Schollenarbeit bildet den Grund, in dem sie gedeiht. In steter Berührung mit der Natur, aber auch mit allem geistigen Leben der Zeit, in reichem Wechsel zwischen lustvoller Arbeit und freudigem Genuß, zwischen Spiel und Ernst, erfüllt von den Anregungen, welche die Zurückgezogenheit hier, die Gemeinsamkeit dort bietet, so lebt unsere Gemeinschaft das Kulturideal.«

Nachdem seit den Frühlingstagen dieses Jahres unser Orden als weitumfassende Geistesgemeinschaft fest begründet erscheint, nachdem wir in zahlreichen Versammlungen, bei Festen und Liebesmahlen uns gegenseitig näher getreten sind und uns in mannigfachster Weise angeregt und gefördert haben, nachdem wir auch den ersten Grund zu einer Zeitschrift, als der -weitreichendsten Verkünderin unserer Ideen, gelegt haben, — ist es jetzt an der Stunde, unsere erste Lebensgemeinschaft zu verwirklieben. Nur mit dieser Gemeinschaft können wir den höchsten und endgültigen Beweis liefern, daß unsere Weltanschauung keine tote Spekulation vorstellt, sondern fruchttragendes und zeugendes Leben ist, daß unser Glaube keine flackernde Schwärmerei ist, sondern schaffenskräftiger Empordrang, daß unsere Zuversicht, die höchsten menschlichen Ideale und Sehnsuchten schon hier und allzeit in Wirklichkeit umsetzen zu können, aus dieser Weltnotwendigkeit entsprossen ist, daß wir in Wahrheit die Kraft haben, eine neue Menschheit zu sein und eine neue Kultur zu gestalten.

Diese Lebensgemeinschaft wird nicht wie die Mönchsorden der Christen und Buddhisten in einem Zellenkloster zusammenhausen, sondern jeder Einzelne wird für sich allein oder für sich und seine Familie ein Haus bewohnen, das sich inmitten seines ihm vorbehaltenen Gartenlandes erhebt. Im Zentrum dieser Einzelwohnstätten ragt das Gemeinschaftshaus, in dem sich die Freunde, wenn es ihnen paßt, zur gemeinsamen Tafel, zur Unterhaltung, zur gegenseitigen Geistesanregung und zu festlicher Andacht zusammenfinden. In wirtschaftlicher Hinsicht wird die Gemeinschaft eine Art Konsum- und Produktivgenossenschaft sein, die alle Vorteile eines Gemeinschaftsbetriebes wahrnimmt, dabei aber jedem Einzelnen ein möglichst weites Maß selbständiger Bewegungsfreiheit beläßt. 

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Die richtige Synthese zwischen den Anforderungen der Gemeinsamkeit und der Einsamkeit, des Sozialen und Individuellen nicht nur festzustellen, sondern auch zu leben, das ist eine der Hauptaufgaben unserer Lebensgemeinschaft. Näheres über die Organisation ein ander Mal!

Aber nicht nur in wirtschaftlicher Hinsicht, sondern auch nach allen andern Seiten soll die Lebensgemeinschaft das Kulturideal, das unserer Sehnsucht vorschwebt, erfüllen. Es soll in jedem Betracht eine Lust sein, mit uns zu leben, indem wir so leben, daß allen Bedingungen seelischen und leiblichen Wohlbehagens ihr Recht wird, indem wir ein Leben in Reinheit, in Fülle von Luft und Licht, in ständiger Abwechslung von Lustarbeit, Spiel und Weihe führen, indem wir ständig aneinander wachsen und einander in Liebe fördern und alle Künste in unseren Dienst stellen. Wie zu einem einzigen Tempel der Freude, der Andacht, der Kunst soll die Gesamtansiedlung sich ausgestalten. In großen Festspielen werden wir die Schaffenskraft der Gesamtheit betätigen.

So wird auch für diejenigen, die unserer Geistesgemeinschaft angehören, aber aus irgend einem Grunde nicht sofort an der Lebensgemeinschaft teilnehmen können, unsere Ansiedlung des Anziehenden in Hülle und Fülle bieten. Sie werden, wann immer es ihnen behagt, unsere Gäste sein und in der Ansiedlung die rechte Sommerfrische, die rechte Erholungsstatt finden.

Unsere erste Lebensgemeinschaft wird aus naheliegenden Gründen sich in der Umgebung Berlins ansiedeln. Es sind uns bereits mehrere große Grundstücke von fünfzig bis fünfhundert Morgen angeboten, die anmutig an Wald und Wasser gelegen und verhältnismäßig billig zu erwerben sind. Daher ist es dringend notwendig, daß wir, um die erforderliche Kaufsumme aufzubringen, uns alsbald zu einer wirtschaftlichen Genossenschaft zusammenschließen. 

So richte ich denn an alle diejenigen, welche den Willen und die Kraft in sich fühlen und auch äußerlich die Möglichkeit sehen, an unserer ersten Lebensgemeinschaft teilzunehmen, die Bitte, die auch bereits an anderer Stelle der »Mitteilungen« angedeutet ist, ihre Absicht brieflich oder mündlich mir kundzugeben. Aber auch denjenigen unserer Freunde, die noch nicht in der Lage sind, wird es sicherlich eine Freude sein, uns zur Verwirklichung unserer Pläne nach Möglichkeit zu helfen. Sie fördern damit ein Werk, wie es — wenn auch vorläufig nur dem Ziele nach — menschlich und menschheitlich bedeutsamer kaum zu ersinnen ist. Ein Kunstwerk, das nicht aus Worten, Farben, Tönen, sondern aus Menschen komponiert ist, nicht mit Phantasievorstellungen, sondern mit Leben und Wirklichkeit erfüllt ist. Heinrich Hart

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26. »Socialklostereien«: eine anarchistische Stimme aus Amerika

Aus den bisher angelangten Nummern [der »Neuen Gemeinschaft«] ist zu ersehen, daß sich die ganze Philosophenkolonie, welche früher den >Socialist< und >Armen Konrad< [zwei sozial-revolutionäre Blätter] befruchtete, an [Moritz von] Egidy und Nietzsche sich berauschte, für Tolstoi schwärmte und im Übrigen vor den Altären der Neuen und Allerneuesten gekniet, eine »Gemeinschaft« ins Leben gerufen hat, die nicht nur den Zweck haben soll, als geistiges Feinschmecker-Casino zu dienen, sondern auch in einem kommunistischen Boardinghaus oder solidarischen Consumationsdorf materiell verwirklicht zu werden. Wenn man die betreffenden Artikel liest, wird man unwillkürlich an die Schwärmereien der St. Simonisten, Fourieristen, Ikarier, Owenisten, Weidlingianer etc. etc. erinnert, und man gelangt zu der Vermutung, daß diese Neu-Gemeinschaftler von der Geschichte und den Ursachen der Niederlagen derselben gar keine Ahnung haben. Das ist schade um sie, denn sie sind ohne Zweifel ganz edle und prächtige Menschen und verdienen das Schicksal nicht, welchem sie nie und nimmer entrinnen können, falls sie wirklich den unglücklichen Versuch machen sollten, ihre projektierten Luftschloßbauereien realisieren zu wollen.

 

27. »Ein kommunistisches Idyll in der Berliner Bannmeile«: ein sozialdemokratischer Kommentar

Wer am Sonntagnachmittag mit der Wannseebahn dem Frühlingsfest der »Neuen Gemeinschaft« zustrebte, ohne mit den topographischen Verhältnissen der Villenkolonie Schlachtensee genügend vertraut zu sein, der wurde aus seinen Zweifeln über den einzuschlagenden Weg gerissen, noch ehe der Zug in den Bahnhof einlief. Kurz vorher erblickt man nach dem See-Ufer zu ein ragendes Gebäude, das schon verschiedenen Zwecken gedient hat. Es war dort einmal ein Asyl für verwahrloste Mädchen. 

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An die entschwundenen Tage eines anderen Instituts erinnert die zwar oberflächlich weggekratzte, aber noch leserliche Aufschrift: »Vegetarisches Familienheim«. Heute steht das stattliche, hotelartige Haus unter dem Wahrzeichen zweier Fahnen, die auf dem Dache lustig im Winde flattern: davon ist die eine wiesengrün, die andere dunkellila15). Hier muß es sein. Und in der Tat finden wir uns in der Erwartung nicht getäuscht: seit dem Monat März hat die »Neue Gemeinschaft« hier ihr Hauptquartier aufgeschlagen.

Eine buntgemischte Gesellschaft von etlichen hundert Köpfen findet sich allmählich in den Räumen der Gastgeber zusammen. Neben Künstlern mit wallender Mähne, Damen mit merkwürdigen, sezessionistischen Gewändern sieht man Herrschaften, deren eigentliche Heimat -wohl das Tiergartenviertel ist [. . .], das Haus und seine Umgebung durchwandeln, sich mit Kaffee, Kuchen und anderen harmlosen Genüssen erquicken, Klavier- und Gesangsvorträgen, Deklamationen und nicht zu vergessen den Ausführungen der Herren Heinrich und Julius Hart und des Herrn Michalski über die Bestrebungen der »Neuen Gemeinschaft« lauschen. Was die Tiergarten-Viertier hergeführt hat, ist schwer zu sagen: vermutlich die Erwartung eines besseren Überbrettls oder gar die Sucht, sich, wie es denn auch geschah, mit bekannten Gestalten der Boheme zusammen für die >Woche< photographieren zu lassen. Denn das eigentliche Ziel der »Neuen Gemeinschaft« in ihrem neuen Heim kann jenen Leuten kaum besondere Sympathie einflößen.

Es handelte sich für die Vereinigung von Künstlern und Idealisten, an deren Spitze die Gebrüder Hart stehen, darum - so kündigten sie im vorigen Jahre ihre Absicht an -, »ihre Freunde zu einer engeren wirtschaftlichen Organisation zusammenzufassen, zu Verbindungen, die in möglichst vielseitiger und umfangreicher Weise Produktion und Konsum auf gemeinschaftlicher Grundlage ermöglichen«. Mit nicht mehr und nicht weniger als einem kommunistischen Experiment hat man es also zu tun. Das zu diesem Zweck auf vorläufig drei Jahre gepachtete Grundstück kostet mit dem Hause zusammen eine jährliche Miete von 5000 Mk. und umfaßt im ganzen 35 Morgen. 

 

15)  In einem Artikel des <Börsen-Courier> hieß es dazu: »Die grüne soll die positivistische, die andere die metaphysische Weltanschauung symbolisieren, so wenigstens wurde draußen von Eingeweihten gesagt.«

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Davon ist der größte Teil Wald, ein kleinerer Teil Obst- und Gemüsegarten und der sehr erhebliche Rest unverfälschter märkischer Sand, dessen unerfreulicher Anblick dem Auge aber ehestens durch Bepflanzung mit genügsamen Lupinen entzogen werden soll. Im übrigen aber ist die Lage der Ansiedlung eine äußerst einladende; von dem flachen Dache aus genießt man ein prächtiges Panorama: zu Füßen der gewundene Schlachtensee mit seiner Waldeinrahmung, während im Osten der Blick bis Lichterfelde und Steglitz, im Westen bis zu den Höhen von Potsdam reicht.

 

Das Haus beherbergt in seinen ca. 30 Räumen 20 Erwachsene beiderlei Geschlechts — teils ledig, teils verheiratet —, wozu dann noch eine muntere Schar von Kindern kommt, deren jüngste manchmal recht vernehmlich in die Darbietungen der Festgeber hineinkrähten. Diese ganze Gemeinschaft nun bildet eine einzige große Familie, die aus gemeinsamen Mitteln einen gemeinsamen Haushalt bestreitet. Dazu hat man pro Tag für Beköstigung, exklusive Getränke, 1 Mk. beizutragen, wozu dann noch etwa 20-30 Mk. monatlich für ein Zimmer zu rechnen sind. Das reicht aber nicht zur Deckung der Unkosten, vielmehr kommen dazu freiwillige Beiträge für den gemeinsamen Zweck, deren Höhe sich nach Maßgabe der Kräfte und der Opferwilligkeit der Mitglieder bestimmt und zum Teil von großer Hingabe und Begeisterung Zeugnis ablegt. 

Wie die sämtlichen Mahlzeiten gemeinsam eingenommen werden, so bezweckt die »Neue Gemeinschaft« überhaupt brüderliches Zusammenleben und Zusammenwirken auf allen Gebieten, vor allem natürlich auf denen der Kunst und Wissenschaft: »Als eine Genossenschaft von Geistesmenschen sucht sie in jeder Hinsicht frei zu werden und frei zu machen von der Besitz- und Geschäftsgier und im Gegensatz zu der Geschäftskunst, Geschäftswissenschaft und Geschäftsreligion, die heute wie von jeher die Menschenwelt in ihrem innersten Wesen zersetzen, verderben, unentgeltlich zu schaffen und zu spenden.«

Die Organisierung der Produktion ist bis jetzt kaum über die ersten Anfänge hinaus gediehen. Die Garten­arbeiten werden mehr nur zur Erholung von geistiger Tätigkeit, nicht zu wirtschaftlichen Zwecken, betrieben: wie denn die Mitglieder der Gemeinschaft überhaupt nicht die Absicht haben, Bauern zu werden oder zu einem Rousseauschen Naturzustande zurückzukehren : bloß in steter Vereinigung mit der freien Natur wollen sie leben; es ist denn auch ein Waldtheater geplant. Von gewerblichen Erzeugnissen, die aus der Mitte der Vereinigung hervorgegangen sind, haben wir nur eine Ansichtskarte bemerkt, die, nebenbei gesagt, ziemlich mäßig aufgefallen ist.

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Es wäre kaum nötig gewesen, daß die Redner der »Neuen Gemeinschaft« ausdrücklich erklärten, dem Sozialismus fernzustehen mit ihrem Experiment, keinen Beweis für die Durchführbarkeit des Sozialismus liefern zu wollen, den sie gar nicht für wünschenswert halten. [....] Mit ihrer Verwerfung jeglicher politischen Betätigung, jeglicher Autorität, jeglichen Zwanges stehen sie noch am nächsten den Anarchisten [....], deren <Armer Teufel> übrigens in zahlreichen Exemplaren auslag; den feinen Leuten aus Berlin W. mag bei dem Anblick merkwürdig zu Mute geworden sein.

Wie lange das kommunistische Idyll in Schlachtensee währen mag? Allah weiß es. Wahrscheinlich nicht viel länger, als, wenn es erlaubt ist, Kleines mit Großem zu vergleichen, der ähnliche Versuch der Saint-Simonisten auf Enfantins Landgut Ménilmontant bei Paris (1830). Jedenfalls aber verlohnt es sich, von dem kommunistischen Idyll der »Neuen Gemeinschaft« Notiz zu nehmen, als von einer interessanten Zeiterscheinung.

 

28. »Von unserer Lebensgemeinschaft in Schlachtensee« (aus einer Art Hausordnung)

B. In der Welt da draußen ist Gesetz, Tun und Handeln ganz überwiegend mit Rücksicht auf die Masse, das heißt auf den geistigen Durchschnitts-, ja vielfach den Unterdurchschnittsmenschen geordnet und gerichtet. In der Neuen Gemeinschaft geht das Streben dahin, alle Einrichtungen im Sinne höchstentwickelter Menschheit zu treffen [....]

C. [...] Nicht eine Vereinigung von Schwachen zur gegenseitigen Stütze, sondern ein Bund der Starken soll die Neue Gemeinschaft sein. Ein Gesundungszentrum für die heutige Welt.

E. Jede Arbeit innerhalb der Neuen Gemeinschaft wird gleich geschätzt; es ist keine zu niedrig, keine zu hoch. Wer mehr begabt und mehr geneigt ist zur Handarbeit, zu körperlicher Arbeit in Haus, Hof und Garten, der wird vorzugsweise mit solcher Arbeit sich beschäftigen. Aber es ist seine Pflicht, sich nicht zu vereinseitigen, nicht durch einseitiges Tun zum Automaten zu werden. Und es ist seine und der Gemeinschaft Sache, dafür zu sorgen, daß ihm Muße und Gelegenheit zu Spiel, Ge-

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nuß und geistiger Tätigkeit aller Art gewahrt bleibt, daß er in ständiger Berührung, im Austausch mit den Geistesarbeitern der Lebensgemeinschaft bleibt. Dasselbe gilt umgekehrt vom Geistesarbeiter; er wird durch körperliche Arbeit den Wert dieser Arbeit schätzen lernen und Abwechslung und Erholung in ihr finden. Daraus folgt von selbst, daß es in der Neuen Gemeinschaft wohl Reifeunterschiede, aber keine auf Arbeitsverschiedenheit und Arbeitsertrag begründeten sozialen Unterschiede gibt. Ein öfterer Verkehr zwischen den einzelnen Kreisen und Gliedern der Gemeinschaft bei Tisch, in Versammlungen, bei der Arbeit, in der Werkstatt, gegenseitige Belehrung und Ermunterung ist selbstverständlich und allen Teilen gleich ersprießlich.

F. Wer innerhalb einer Neuen Lebensgemeinschaft lebt, von dem ist es selbstverständlich, daß er sich all jener Eigenschaften befleißigt, die für den Umgang von Menschen mit einander die unumgängliche Grundlage bilden: Takt, Rücksichtnahme, Ordnung, ästhetische Leibespflege u. dgl. m. Ebenso selbstverständlich ist es, daß jeder den andern, soweit es sich um rein persönliche Neigungen und Bestrebungen handelt, nach seiner Facon selig werden läßt. Jeder ist unbedingter Herr in seiner Wohnung oder seinem Wohnhaus; ohne seine Zustimmung hat niemand seine privaten Räume zu betreten.

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G. Wer innerhalb einer Neuen Lebensgemeinschaft lebt, zahlt zu den festgesetzten Terminen die festgesetzte Miete für Wohnung oder Haus an die Mietskasse der Gemeinschaft. Jeder beteiligt sich überdies im Verhältnis zu der Zahl und dem Preis der Wohnräume, die er beansprucht, an den Kosten für Heizung, Beleuchtung, Feuer-, Hagel-, Einbruchsversicherung, Einrichtung der Gemeinschaftsküche und Gemeinschaftsräume, an den Kosten für alles das, was Land- und Gartenbau erfordern, sowie an den Kosten, die die Mitarbeit bezahlter Helfer und Helferinnen nötig macht.

H. Jeder, auch der zum äußeren Kreise Gehörige, opfert auf Grund seiner Selbsteinschätzung freiwillig und möglichst reichlich von seinen Einnahmen zu Gunsten der Gemeinschaft. Was auf diese Weise einkommt, wird teilweise für künstlerische Ausschmückung der Gemeinschaftsräume und festliche Veranstaltungen der Gemeinschaft, teilweise für Versicherungszwek-ke (Lebens-, Krankheits-, Arbeitslosigkeitsversicherung), teilweise für Erweiterungszwecke der Gemeinschaft, für Landerwerb und Häuserbau, Gemeinschaftszeitschrift und Gemeinschaftsschriften, Reisen im Gemeinschaftsdienste - verwandt. In der heutigen Gesellschaft ist jeder durch Zwang genötigt, Steuern zu zahlen. Aber er hat als Individuum keine Macht, zu bestimmen, daß sein Geld nur für Zwecke verwandt wird, die ihm, dem Einzelnen, sympathisch sind. So ist z.B. der Sozialdemokrat gezwungen, für Einrichtungen beizusteuern, die dazu dienen, ihm als Klassenkämpfer Fesseln anzulegen, oder der Friedensfreund für Kriegsrüstungen. In Neuer Gemeinschaft dagegen hat jeder das Recht, festzusetzen, zu welchem Zweck die Steuer, die er freiwillig aufbringt, verwandt wird. Nur wenn er auf das Recht verzichtet, bestimmt die Gemeinschaftsversammlung über die Verwendung. /. Grund, Boden, Wohn- und Wirtschaftshäuser sind Gemeineigentum der Gemeinschaft. Was sie an Überschüssen einbringen, wird derart zu Gemeinschaftszwecken verwandt, daß jedem Mitglied der Nutzen in gleicher Weise zufließt. Jährlich bestimmt die Gemeinschaftsversammlung — und zwar an einem der ersten Märztage — über die Verwendung der Überschüsse sowie über etwaige Zuwendungen, die von außen her der Gemeinschaft gemacht werden und die bis zum 1. März aufgesammelt werden. 

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Falls sich schon früher die Notwendigkeit von Ausgaben ergibt, die nicht aus den sonstigen Einnahmen gedeckt werden können, so kann jederzeit eine Gemeinschaftsversammlung über die Verwendung jener Überschüsse und Zuwendungen das Erforderliche festsetzen.

Bestimmungen, ob eine Entscheidung mit Mehrheit und mit was für einer Mehrheit zu erfolgen hat, sind auf dem Boden Neuer Gemeinschaft überflüssig. Unter den Menschen Neuer Gemeinschaft, die es in Wahrheit sind, erfolgt stets eine Einigung-

K. Wer sich mit Land- und Gartenarbeit befassen will, dem wird ein Stück Land oder Garten zu sorgfältiger Bebauung und Pflege zugewiesen. Was angebaut werden soll, darüber bestimmt die Gemeinschaftsversammlung oder der von ihr erkorene Fachmann. Der Ertrag wird in erster Reihe zu Garten- und Landbauzwecken, etwaiger Überschuß gemäß den Bestimmungen unter I. verwandt.

L. Jedes Mitglied einer Lebensgemeinschaft übernimmt, soweit es seine Kräfte und seine Zeit gestatten, in wechselnder Reihenfolge ein für die Aufrechterhaltung des Gesamtbetriebes nötiges Amt. Solche Ämter sind: Hausverwaltung (Aufsicht über Instandhaltung und Sauberkeit, Heizung, Beleuchtung, Verschluß des Gemeinschaftshauses), Küchenverwaltung, Gartenverwaltung, Ein- und Verkaufsverwaltung, Verwaltung der Bücherei und sonstiger Sammlungen, Zeitschrift- und Verlagsverwaltung, Erziehungsleitung. Jeder — in den Grenzen der Fähigkeiten und Kräfte - übernimmt möglichst jedes Amt einmal, damit keinerlei Diktatur sich ausbilden kann und jeder Einzelne sich so vielseitig wie möglich entwickelt. Der Wechsel in der Küchenverwaltung erfolgt in der Regel wöchentlich, der in der Hausverwaltung monatlich, der in der Ein- und Verkaufsverwaltung vierteljährlich, in allen übrigen jährlich. Bücher und Kassen sind dem Nachfolger auszuliefern. Jederzeit kann aber die Gemeinschaftsversammlung andere Dispositionen treffen, die Gültigkeitsdauer verlängern oder verkürzen.

Der Betrieb wird kaufmännisch geführt; die Einsicht in die Kassenbücher steht jedem Mitgliede einer Lebensgemeinschaft jederzeit frei.

M. Mindestens zweimal in der Woche finden Zusammenkünfte statt, an denen sich sämtliche Zugehörige einer Lebensgemeinschaft (Kinder, soweit es angeht) beteiligen, falls sie nicht behindert sind. Die Zusammenkünfte dienen zur Beratung über die wirtschaftlichen und ideellen Angelegenheiten der

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Gemeinschaft, zur gegenseitigen Belehrung und Unterhaltung, zu Vorträgen, ästhetischen Darbietungen und dergleichen mehr. Jede Mahlzeit, an der eine größere Zahl von Gemeinschaftsgliedern teilnimmt, wird mit einer religiös-künstlerischen Feier eingeleitet und beschlossen, ebenso jede Beratung. N. Gegenstände, die jemand zu Gemeinschaftszwecken hergibt, wie Bücher, Mobiliar u. dergl. m. bleiben Eigentum des Spenders; er kann sie jederzeit nach vorheriger Ankündigung zurücknehmen. Anspruch auf Ersatz für Abnutzung, unbeabsichtigte Beschädigung und für Verlust, der nicht auf leichtfertige Sorglosigkeit zurückzuführen ist, hat der Spender nicht. Für Beschädigung oder Verlust, die auf ungenügende Sorgfalt zurückzuführen sind, haftet der Beschädiger oder Verlierer. Gelder, die einmal als Geschenk gegeben worden sind, können nicht wieder zurückgefordert werden. Kapital, das als Darlehen gegeben worden ist, muß im Falle der Rückforderung mit mindestens sechs Monate Frist gekündigt werden. Alle hergeliehenen Gegenstände, auf deren Rückgabe verzichtet 'wird, werden — und alle Sachen, die aus Gemeinschaftsmitteln angeschafft werden, sind Gemeineigentum, an das kein Einzelner Besitzrecht hat, sondern nur die Gemeinschaft als solche. Der Einzelne hat nur das Recht der Mitbenutzung.

 

O. Gemeinsame Mahlzeiten bilden die Regel; sie "werden von der Gemeinschaftsküche geliefert. Wer nicht an der gemeinsamen Mahlzeit teilnehmen, sondern in seiner Wohnung oder sonstwo seinen Anteil verzehren will, hat - falls nicht Krankheit der Grund der Absonderung ist — für die Übermittlung der Kost in jeden anderen, als den gemeinsamen Eßraum, selbst Sorge zu tragen. Daß möglichst oft, insbesondere an Sonntagen oder bei festlichen Gelegenheiten, jeder an der gemeinsamen Tafel teilnimmt, liegt im Wesen Neuer Gemeinschaft. Wer außerhalb des Heimes ißt, ohne durch Beruf dazu genötigt zu sein, oder private Küche führen will, zahlt gleichwohl den festgesetzten Pensionspreis zur Hälfte des Betrags. Dasselbe gilt für die Zeit, in der ein Mitglied sich auf Vergnügungsreisen befindet.

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1. Allen Einrichtungen liegt das Prinzip zu Grunde, daß die individuelle Selbständigkeit gewahrt bleibe, daß aber jeder stets, wenn er sich eine besondere Freiheit, einen besonderen Genuß vergönnt, der Anderen gedenk bleibe.

2. Um den individuellen Wünschen in Bezug auf die Küche möglichst Genüge zu tun, wird der Speisezettel für die Woche schon einen Tag vor Beginn der jedesmaligen Woche öffentlich zur Ansicht ausgehängt. Jeder kann daraufhin beim Küchenverwalter(-in) Änderungen beantragen, die nach Möglichkeit berücksichtigt werden. Auch ist ein besonderer Kasten zur Aufnahme von Wunschzetteln aufgestellt, die bei der Anfertigung des Speisezettels gebührend in Betracht gezogen werden.

3. Daß die Ernährung sich auf die gesicherten Ergebnisse der Ernährungslehre gründet, ist in Neuer Gemeinschaft selbstverständlich.

4. In Schlachtensee beträgt der Tagespensionspreis für den Erwachsenen vorläufig eine Mark. Dafür werden Morgenfrühstück, Einuhrfrühstück (ein warmes Gericht nebst Brot, Butter, Käse, Obst) und Abendessen geliefert. Das Abendessen bildet die Hauptmahlzeit, da auch denen, die tagsüber der Beruf dem Gemeinschaftsleben fernhält, Gelegenheit haben sollen, an der gemeinsamen Tafel teilzunehmen. Für Kinder wird je nach dem Alter ein Viertel bis ein Halb der Tagespension berechnet.

 

P. Alles für den Haushalt Nötige wird in möglichst großen Vorräten zu Vorzugspreisen angekauft. Es ist selbstverständlich, daß jedes Gemeinschaftsglied seine Bedarfsartikel nach Möglichkeit den Vorräten der Gemeinschaft entnimmt. Daß aus der Neuen Gemeinschaft Konsum- und Produktivgenossenschaften erwachsen, darauf ist beständig das Streben gerichtet.

Q. Eine besondere Aufmerksamkeit wird dem geistigen und leiblichen Wachstum der Kinder gewidmet. Die Erziehungsleitung sorgt dafür, daß den sämtlichen Kindern der zur Neuen Gemeinschaft Gehörigen die gleiche sorgsame Pflege zuteil wird, daß in ihnen die individuellen und Gemeinschaftstriebe zu harmonischer Entwicklung kommen. Erziehung ohne Zwang, möglichst im Freien, durch Anschauung und lebendiges Beispiel. Jede Belehrung zum Erlebnis gestalten.

R. Der Austritt aus der Gemeinschaft kann jederzeit erfolgen. Die Wohnung aber kann nur mit dreimonatiger Kündigungsfrist aufgegeben werden. Alles, was der Austretende von seinem Privateigentum der Gemeinschaft leihweise überlassen hat, wird ihm nach einmonatiger Kündigung zurückgegeben. Auf Rückzahlung von irgendwelchen Beisteuern zu den Gemeinschaftskassen, freiwilligen oder durch Gemeinschaftsbeschluß geforderten, hat er keinen Anspruch.

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Zu allen Gemeinschaftsberatungen wird durch öffentlichen Anschlag in dem dazu bestimmten Gemeinschaftsraum eingeladen. Wer nicht erscheint, wer durch Krankheit, Beruf, Reise gehindert ist, unterwirft sich vorläufig den Beschlüssen. Er kann jederzeit eine neue Versammlung einberufen und die betreffende Angelegenheit neu zur Erörterung bringen. S. Bei vorkommenden Uneinigkeitsfällen zwischen Mitgliedern der Gemeinschaft erwählt sich jede der in Betracht kommenden Parteien aus den Mitgliedern der Gemeinschaft zwei Fürsprecher. Die vier Fürsprecher "wählen aus den Mitgliedern der Gemeinschaft einen Schlichter. Der Schlichter tritt mit den Fürsprechern und Parteien zu einer Verhandlung zusammen und führt auf irgendwelcher Grundlage eine Einigung herbei. Wer der Einigung widerstrebt, dem werden acht Tage Bedenkzeit gelassen. Widerstrebt er auch dann noch, so schließt er sich damit ohne weiteres selbst von der Gemeinschaft aus.

 

29. »Ein Märchenleben«

 

Aber was bisher nur Begeisterung und Rede war, sollte nun zum Tun werden. Man hatte in Schlachtensee ein ehemaliges Sanatorium gepachtet, Park und Feld. Das Spatenstechen, das Wirtschaften mit Gleichberechtigung, das Gemeinschaftsleben auch im Häuslichsten und Familienhaftesten sollte nun ausgeführt werden.

Auch hier hielt noch eine große Weile die strahlende kindliche Sorglosigkeit der Harts stand. »Bruder Heinrich« waltete im Souterrain des Küchenpersonals, daneben aber ließ er sich ein Telephon machen, das ihn mit dem Scherischen Verlage in Berlin verband, dem er nach wie vor seine Kritiken und Feuilletons lieferte. Die mitgekommenen Vereinsschwestern, Frauen und sonstige Freundinnen der Gemeinschaft, übernahmen wechselweise das Wirtschaften. Wenn man dorthin kam, schien man in ein Märchenleben einzutreten. Die Gemeinschaftskinder spielten vergnügt in starkfarbigen phantastischen geschlechtslosen Kittelchen miteinander, auf dem Felde versuchte eine sanfte präraphaelitische Madonna sich im Rübenstecken, im Park stand ein Theaterchen, auf dem immer etwas vorging, Speise und Trank wurde einem am kühlen Laubenplatz von dem ersten Besten gebracht und nach irgendeinem undurchdringlichen Verfahren nicht mit Geld, sondern mit Gemeinschaftszettelchen und Marken bezahlt. 

Und über allem ein Aroma von Jugend, Gläubigkeit und Blindheitskraft, das hier, vor den Toren Berlins, wie ein Wunder wirkte, berauschend und mitreißend. Eine Raserei der Toleranz machte für eine große Weile es wirklich möglich, daß diese so verschiedenartigen Elemente sich nicht beständig bekriegten. Das göttliche Kind Peter Hille gab den Heiligenschein hinzu zu Bacchus wohligem Stöhnen und Satyr-Pans charakteristischem Gelächter. Tiefsinn und derbe Körperlust, Schwärmerei und Gespräch über Kunstform — alles hatte Raum und Wertung beieinander.
Bis es eben auch mit dieser Kolonie zu Ende ging.

 

30. »Hotelpension mit ethischem Firmenschild«

Ich sehe mancherlei Parallelen zwischen der Entwicklung des »Monte Verità« von einem ideellen Experiment Weniger (Leute -d-2006) — zu einem kapitalistischen Sanatorium, das jedem offensteht, der bezahlt, einerseits — und der Neuen Gemeinschaft der Brüder Hart in Berlin andrerseits, die in ihren Ideen und Prinzipien Großes verhieß, dann aber in dem sozialen Angstprodukt von Schlachtensee, das schließlich zu einer Hotelpension mit ethischem Firmenschild wurde, elend verendete.

Hier war es die dogmatische Unduldsamkeit der Begründer selbst, woran die Idee zugrunde ging, die glaubten, soziale Gebilde aus Weltanschauungen gestalten zu können, ferner der ungehemmte Zulauf harmloser Ethiker, die sich von der Welt mißverstanden fühlten, und nicht zum mindesten der Einfluß der Frauen, die auf der einen Seite die Neue Gemeinschaft zu ihrem Emanzipationsherd aufkacheln wollten, auf der andern Seite die philosophischen Ewigkeitsfragen, um die es sich handelte, im Kochtopf und Waschfaß ersäuften.

[....] So schmeichelte sich auch Julius Hart in Schlachtensee dann noch mit der Illusion, hier bereite sich das Leben einer neuen, abgeklärten Menschheit vor, als die Neue Gemeinschaft schon lange in den Kreis der wenigen Auserwählten jeden guten Bürger aufnahm, der sich bereit fand, in ihrem Heim ein Zimmer für sich zu mieten.

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