T2      Start      Weiter  

Teil 2    Novemberrevolution und Inflation 

 

  Die Flucht aus der Stadt   

89-100

Die Lebensreformbewegung hatte den Weg gewiesen: Der Exodus aus der alten Zivilisation konnte nur dann gelingen, wenn es zur neuen Gemeinschafts­bildung mit neuen Wertsetzungen kam. Die bürgerliche Jugendbewegung folgte diesem Weg. Zunächst war es nur ein spielerischer Ausbruch aus der Plüschkultur der Erwachsenen, beschränkt auf das Wochenende oder die Ferien, und mit der bescheidenen Gegengründung des »Nestes« als einem nicht von den Erwachsenen bevormundeten Jugendtreffpunkt.

Weitergehende Anstrengungen, statt einem bloßen Rückzug aus der bestehenden Gesellschaft diese selbst auf dem Wege einer Kulturrevolution in Schule und Hochschule zu erobern (Gustav Wyneken und seine Anhänger), fanden auch innerhalb der Jugendbewegung keine ausreichende Unterstützung. Neben der Schaffung einiger »Sezessions-Schulen« (wie den Landerziehungsheimen und der Wende-Schule in Hamburg nach 1918) kam es durch die Wyneken-Anhänger lediglich zur Einrichtung von »Sprechsälen« als Orten freier Aussprache zwischen höheren Schülern, Studenten und ihnen wohlgesinnten Dozenten.

Jedoch wurde es einigen radikalen bürgerlichen Jugendbewegten immerhin schon vor dem Ersten Weltkrieg klar, daß der bloß temporäre Rückzug aus der alten Welt ungenügend war, daß es vielmehr gelingen müsse, ein eigenes Jugendreich neben der Welt der Erwachsenen zu errichten. Dazu bedurfte es aber auch dauerhafterer Formen des Zusammenlebens als sie »Fahrt« oder »Nest« boten. Vielmehr mußte sich die Jugend auch einen eigenen Produktionsbereich aufbauen — die ökonomische Realisierbarkeit hatte die Lebensreformbewegung auf dem Sektor der Nahrungs-, Kleidungs- und Kunstgewerbe-Reform bereits vorgeführt.

So begann bereits vor dem Ersten Weltkrieg, nicht zuletzt auch durch Anregungen aus der Genossenschafts- und Settlement-Bewegung, die Siedlungsdebatte innerhalb der Jugendbewegung. Verdingten sich zunächst nur einzelne Jungen und Mädchen auf Gütern oder schon bestehenden lebensreformerischen Siedlungen, so konzentrierten sich ab 1911 die Überlegungen auf die Gründung einer Handwerker-Siedlung »Junggau« auf gemeinnütziger Grundlage.

Auf dem freideutschen Meißner-Treffen 1913 stand diese Siedlung immer noch zur Debatte, aber es zeigte sich, daß die Mehrzahl für diesen »Kommunismus« noch nicht zu begeistern war1).

Der Krieg ließ solche Überlegungen zurücktreten; statt sich schwärmerisch nach innen zu wenden oder den Aufbau »kommunistischer« Inseln zu betreiben, standen das Bildungsbürgertum und seine Jugend hinter der imperialen Expansion nach außen, die freilich ebenfalls unter chiliastischen Vorzeichen (»Deutsche Apokalypse«) und mit dem Ziel einer erneuten Stabilisierung der bedrohten kulturellen Führungsposition der Gebildeten verstanden wurde.

Der von der Edener Gilde der älteren Wandervögel getragene »Erste Landsiedlungstag in Eden« 1916 zeigt immerhin, daß die Siedlungsproblematik von den älteren Jugendbewegten, bei denen es hier ja vor allem um eine Berufsfrage ging, am Leben gehalten wurde. Je mehr von den bürgerlichen alten Wandervögeln aus dem Krieg zurückkamen — ohne Studium (Kriegs-Notabitur!), ohne Beruf, teilweise kriegsbeschädigt (und so mit dem Anspruch auf eine Rente, die sie sich als Startkapital auszahlen lassen konnten), enttäuscht über das Versacken der Aufbruchstimmung vom August 1914, mit der ungebrochenen Absicht, die deutsche Erneuerung nicht aus der Hand zu geben, sie vor allem nicht dem revolutionären Proletariat allein zu überlassen —, desto drängender wurde der Siedlungswille.

Dazu kam eine durch den Krieg verstärkte Nähe zur Natur und die Sehnsucht nach lebendigem Tun. Waren sie vor dem Krieg der Natur nur als romantische Touristen begegnet, so erlebten sie an der Front die durch die Kriegstechnologie bewerkstelligte systematische Zerstörung der »Mutter Erde«, insbesondere im Stellungskrieg im Westen mit den zerschossenen Städten und Dörfern, den wegradierten Wäldern, der metertief von Granaten aufgerissenen Erde. Aber inmitten der Greuel dieser Verwüstung öffneten sich die Herzen der kämpfenden Bildungsbürger, die jetzt auf eine neue Weise »naturgemäß« leben mußten, weit den Schönheiten der Natur.

1) Vgl. Friedrich Muck-Lamberty, Siedlungsmöglichkeiten (= Flugblätter für jungdeutsche Siedlung. Hrsg. v. Verlag Jungborn zu Sontra, 3. Blatt). Sontra 1919. August Messer, Die freideutsche Jugendbewegung. 5. Aufl. Leipzig 1924, S. 21. Dort heißt es auch, der Anstoß zur Siedlung »Junggau« sei von dem Schriftsteller Emil Gott ausgegangen.

90


Unzählige Male wird in den Kriegsbriefen der gebildeten Jugend2) die bunte Frühlingsflora beschworen, steigen Lerchen in die Lüfte, schluchzt des abends die Nachtigall — ironischer Kontrast zum Soldatengrau und zur Maschinerie des Tötens. Während der Krieg immer unterirdischer wurde, die Soldaten im Wasser der Unterstände und im Schlamm der Gräben zu »Sumpflebewesen« mutierten, wurde die Sprache der Naturpoesie zur entlastenden Phantasie derer, die in Todesnähe lebten. Und jeder neue Kriegsfrühling evozierte im Modergeruch der Laufgräben und Unterstände bereits Träume vom neuen Völkerfrühling. Ist es da ein Wunder, daß in jenem ersten Frühjahr nach Kriegsende viele von ihnen aufbrachen, überzeugt von der gesellschafts-regenerierenden, heilenden Kraft des Bodens?

Aber nicht nur die Natur, sondern auch das »Volk« wurde im Krieg zum vertieften Erlebnis. Denn erst jetzt kam es zur konkreten Begegnung der Bürgersöhne mit diesem »Volk«, das für die Wanderer eher Staffage gewesen war und in Ammen und Dienstmädchen eine eher mythische Qualität angenommen hatte. Und es war nicht mehr der verklärte Landmann, den sie sahen, sondern die immer kriegsmüdere Unterschicht. Doch die Begegnung mit dem Proletariat fand nicht in dessen Alltagswelt, sondern in der Ausnahme­situation des Schützengrabens und innerhalb einer militärischen Befehlshierarchie statt. Daraus wurde gewiß die falsche Schlußfolgerung gezogen, die Frontgemeinschaft (gerade die jugendbewegten Offiziere erwiesen sich als verantwortungs­volle »Führer« ihrer Männer) könne auch in den kommenden Frieden hinein gerettet werden, sie lasse sich ausbauen zum Modell einer die Klassenunterschiede überwindenden Volksgemeinschaft.

Die Volksgemeinschaft war wohlgemerkt nicht allein die Vision des konservativen Flügels der bürgerlichen Jugendbewegung, sondern das einigende Band zwischen deren deutsch-völkischer und »sozialistischer« bzw. »menschheitlicher« Richtung. Erstere betonte natürlich das besondere Wesen der deutschen Volksgemeinschaft (sie hatten schließlich ihren Fichte gelesen), während letztere den Gemeinschafts­gedanken (»Zusammenleben, Zusammenarbeiten und Zusammenwirtschaften«) herausstellte, der potentiell alle Menschen umfasse.

2) Philipp Witkop (Hrsg.), Kriegsbriefe gefallener Studenten. München 4. Aufl. 1928. Vgl. auch: Helmut Kopetzky, In den Tod — Hurra! Deutsche Jugendregimenter im Ersten Weltkrieg. Köln 1981.

91


Aber ob Deutschtums-Metaphysik oder Jugendsozialismus — gemeinsam war allen diesen Jugendbewegten der Glaube an eine Möglichkeit zur Überbrückung der alten parteipolitischen Gegensätze — schließlich hatte ja auch Wilhelm IL zu Kriegsbeginn »keine Parteien, sondern nur noch Deutsche« gekannt und die Sozialdemokratie im Innern den Burgfrieden geschlossen. Eine nicht-antagonistische Gesellschaftsordnung aus dem Geiste der Jugend war modellhaft in der Notsituation des Schützengrabens vorweggenommen worden, jetzt sollte der Ausnahmefall zur Norm werden, realisiert in jugendbewegten Siedlungen. 

Ob diese »kommunistisch« oder »völkisch«, christlich3), freikirchlich oder jüdisch waren — gemeinsam war ihnen allen der Glaube an eine Überwindung der alten Klassengegensätze im Geiste einer »kommunistischen« Gemeinschaft. Geflissentlich übersehen wurde dabei, daß sich die Klassenkonflikte durch den Bruch des Burgfriedens und die Spaltung der Sozialdemokratie, durch die Revolutionierung der proletarischen Jugend, die Revolution und Gegenrevolution und schließlich durch die Inflation verschärft hatten. Oder gab diese Erfahrung vielleicht gerade den jugendbewegten Gemeinschaftsexperimenten ihre Dringlichkeit?

In einem Punkte griff die jugendbewegte Siedlung über die Frontgemeinschaft hinaus: War diese reiner Männerbund gewesen, so erwies sich nun auch die junge Frau als gemeinschaftsfähig. Schon in der Vorkriegsjugendbewegung waren die Schwestern bald dem Beispiel ihrer Brüder gefolgt und hatten eigene Mädchengruppen des Wandervogels gegründet. Und während die Brüder an der Front waren, bedroht vom Tode, verloren die Bürgertöchter ihre seelische Unschuld, brachen aus dem für sie nicht mehr schützenden Schöße der Familie aus und wandten sich den umfassenderen Problemen und Aufgaben der sozialen Gemeinschaft zu.

3)  Als unmittelbare Vorläufer solcher christlichen Lebensgemeinschaften in Deutschland vor dem Ersten Weltkrieg werden genannt: die »Hausgemeinde« des Pfarrers Johann Christoph Blumhardt und seines Sohnes Christoph Blumhardt in Bad Boll (vgl. R. Bohren, Die Hauskirche J. Chr. Blumhardts. In: Evangelische Theologie, 1961, S. 291 ff.) und die Gästearbeit von Johannes Müller, erst in seiner »Freistatt persönlichen Lebens« auf Schloß Meinberg bei Schweinfurt, dann in seinem Ferien- und Bildungshotel Schloß Elmau. Vgl. Johannes Müller, Vom Geheimnis des Lebens. Erinnerungen. 3 Bde., Elmau 1936, 1938 und 1953.
Eine deutsche katholisch-jugendbewegte Landsiedlung wurde dem Verfasser nicht bekannt. Nikolaus Ehlen, der Schwärmer unter den Jungkatholiken und »Siedlervater« aus Velpert, setzte sich unter dem Einfluß Adolf Damaschkes für den Bau von Siedlungshäusern für Kinderreiche ein und wurde damit zum Pionier des sozialen Wohnungsbaus.

92


Schon der Mädchen-Wandervogel hatte einen nicht zu unterschätzenden Beitrag zur Emanzipation der bürgerlichen Mädchen geleistet (wie ja darüber hinaus die Jugendbewegung eine Loslösung von der doppelten Sexualmoral der Eltern in Gang setzte). Wie sehr durch den Krieg das Selbstbewußtsein der jungen Frauen gewachsen und die Gleichberechtigung der Geschlechter beschleunigt worden war, beweist die Tatsache, daß nun auch reine Frauensiedlungen entstanden.

Dazu muß noch ein weiteres gemeinsames Charakteristikum der linken und rechten sozialreformerisch-jugend­bewegten Siedlung und der von diesen vorgelebten Volksgemeinschaft genannt werden: der bildungsbürgerliche Führungsanspruch. Der Krieg hatte ja einerseits nicht gerade zur Festigung des Glaubens an die Bildungsbesitzer beigetragen. Denn wo blieb im Zeitalter der Materialschlachten und des Siegeszugs der angewandten Wissenschaften der alte idealistische Geist?

 

Das »Schwert des Geistes« war auf mancherlei Weise stumpf geworden — nicht zuletzt dadurch, daß sich die Geisteswissenschaftler durch blinde nationale Parteinahme heillos kompromittiert hatten. Und doch — hatte sich nicht die Überlegenheit des geschulten Geistes bereits an der Front tausendfach erwiesen bei der Führung der Soldaten durch den von der Jugendbewegung geprägten neuen Offizierstyp? Hatte nicht der Geist ein jahrelanges Durchhalten gegen eine Welt von Feinden ermöglicht (auch wenn dieser Geist sich als durch staatliche und kirchliche Propaganda recht manipulierbar erwies)?

Freilich war die Revolution der kritische Punkt für den bildungsbürgerlichen Führungsanspruch. Denn siegte nicht mit der Novemberrevolution der Materialismus der Arbeiterklasse und ihre bloß aufs Wirtschaftliche gerichtete eudämonistische Gesinnung? Drohte nicht der Kulturverlust? War damit nicht die eigene Proletarisierung, der Abstieg zum »geistigen Arbeiter«, zum »Kopfarbeiter«, der seit dem Aufstieg von organisiertem Kapital und organisierter Arbeiterschaft drohte, unwiderruflich?

4)  Vgl. Ulrich Linse, Die Entschiedene Jugend 1919-1921. Deutschlands erste revolutionäre Schüler- und Studentenbewegung. Frankfurt am Main 1981; ders., Hochschulrevolution. Zur Ideologie und Praxis sozialistischer Studentengruppen während der deutschen Revolutionszeit 1918/19. In: Archiv für Sozialgeschichte 14 (1974), S. 1-114; ders., Die Jugendkulturbewegung. In: Klaus Vondung (Hrsg.), Das wilhelminische Bildungsbürgertum. Göttingen 1976, S. 119-137.

93


In dieser für sie bedrohlichen Situation griff die jugendbewegte Gebildetenrevolte4) auf die lebens­reformer­ische Position des »Dritten Weges« zurück: Wollten sie nicht durch die proletarische Revolution endgültig depossediert werden, dann konnte man die geistlose Revolution der Arbeiter nur durch eine Geist-Revolution überhöhen, um so vielleicht doch noch den Materialismus zu transformieren, der nun weniger vom Kapitalismus und mehr vom siegreichen Proletariat drohte, das ja schon die »Friedrichshagener« zu vergeistigen versucht hatten. 

Darüber hinaus hatten die jungen Bildungsbürger in einem Punkte wirklich recht: Die durch Krieg, Revolution und Inflation ausgelöste Krise war nicht nur wirtschaftlicher und sozialer, sondern auch spiritueller Natur; neue geistig begründete gesellschaftliche Ordnungsentwürfe waren zur Meisterung dieser Krise (wollte man sie nicht einfach verdrängen und in den alten Trott zurückkehren oder gar die Vergangenheit glorifizieren) bitter notwendig. So ist es nicht verwunderlich, daß neben der sozialistischen Revolution eine zweite Revolution ablief, die geistiger Natur5) war. Sie zeigte sich in der Sehnsucht nach einer Erneuerung von Christentum und Glauben (in der christlichen Jugendbewegung ebenso wie bei den »Inflationsheiligen«), in einer »konservativen Revolution« (ein Musterfall ist der Zug der Neuen Schar von Muck-Lamberty durch Thüringen), in einem bewußtseinsrevolutionären Linksradikalismus und in der jugendsozialistischen Kulturrevolution an Schule und Hochschule samt dem Zugriff auf die Kultusministerien, die jetzt Kommissariate für Volksbildung hießen (so Gustav Landauer in München, Rudolf Steiner in Stuttgart, Gustav Wyneken in Berlin und Georg Lukács in Budapest).

Die Bemühungen, auf diesem Wege die bildungsbürgerliche Führungsposition wiederzugewinnen, schienen zunächst nicht ganz erfolglos zu sein. In den Siedlungen, die nach Kriegsende wie Pilze aus dem Boden schossen, arbeiteten — noch während in den Metropolen zur Diktatur des Proletariats aufgerufen wurde — Jungarbeiter und Bürgersöhne eng zusammen — wobei letztere freilich die Führungsrolle übernahmen. 

5) Vgl. Armin Mohler, Die konservative Revolution in Deutschland 1918-1932. Darmstadt 1972; William L. Bischoff, Artists, Intellectuals and Revolution. Munich 1918-1919. Diss. Cambridge, Mass. 1970 (Mschr.); Walter Fahnders und Martin Rector, Linksradikalismus und Literatur. Untersuchungen zur Geschichte der sozialistischen Literatur in der Weimarer Republik. 2 Bde. Reinbek 1974; Hans-Harald Müller, Intellektueller Linksradikalismus in der Weimarer Republik. Kronberg/Taunus 1977; Lothar Peter, Literarische Intelligenz und Klassenkampf. >Die Aktion« 1911-1932. Köln 1972.

94


Und nachdem die Revolution zusammengebrochen war, fanden Männer wie Gustav Landauer mit seinem Verwirklichungssozialismus und Rudolf Steiner mit seiner Dreigliederungslehre gerade in der Arbeiterschaft Anhänger. Dies hatte mannigfache Gründe. Die Sozialdemokratie hatte trotz der Abwehr der Führungsansprüche der »Jungen« und der »Friedrichshagener« in den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts versäumt, eine eigene nicht-bürgerliche Bildungskonzeption (wobei man an keinen Proletkult denken muß) aufzubauen — es ist sicher kein Zufall, daß Landauer und Steiner von der proletarischen Berliner Arbeiterbildungs- bzw. Volksbühnenbewegung der Jahrhundertwende ihren Ausgang nahmen. 

Ferner war auch in der Arbeiterbewegung im neuen Jahrhundert der Generationskonflikt ausgebrochen, so daß eine neue, den alten Klassenantagonismus übergreifende Frontstellung möglich schien — der »Klassenkampf der Jugend« gegen die »Alten«. Außerdem zeigte sich in der Revolutionszeit die Führungsschwäche der drei sozialistischen Parteien, die noch dadurch verstärkt wurde, daß die revolutionäre Massenbewegung selbst tendenziell anti-parteipolitisch ausgerichtet war, da sie von der Einheit der Arbeiterklasse ausging. Und schließlich erwies sich in und nach der Revolution die reale Möglichkeit einer Aktionseinheit zwischen Links-Kommunismus und linksbürgerlichen Zielsetzungen dank einer gemeinsamen Zurückweisung der Parteipolitik und des »Materialismus« zugunsten einer Bewußtseinsrevolution (so etwa in Bremen und München).

Weisen auch die gerade vorausgegangenen Bemerkungen auf die besondere historische Rolle der linksbürgerlichen »kommunistischen« Siedlungsunternehmen, so darf man nie aus dem Auge verlieren, daß es bei der Politik des »Dritten Weges« eben keine deutliche Grenze zwischen Links und Rechts gab, sondern die gesamte lebensreformerische und jugendbewegte Gebildetenrevolte sich schillernd zwischen revolutionären und reaktionären Zielsetzungen bewegte und — wie etwa die bescheidenen Ansätze zu einem Zusammenschluß der Siedlungsunternehmen beweisen — man sich dieser Gemeinsamkeit aus gleichem Geiste auch immer bewußt blieb. 

So basierten die Siedlungsunternehmen der Jugendbewegung (als dem gewichtigsten Teil der jugendbewegten lebensgemeinschaftlichen Wirtschafts­unternehmen, zu denen außerdem die Handwerker-Gemeinschaften und Spielscharen zu rechnen sind) ebenso wie die vorausgehenden Weltanschauungs- und Reform-Bünde des Wilhelminischen Reichs und später die Jugendbünde der Weimarer Zeit auf einer Vielzahl unterschiedlicher Ideologien. 

95


Obwohl sie sich eigentlich hätten gegenseitig ausschließen müssen, konnten sie doch merkwürdig synkretistische Verbindungen eingehen (etwa christlich-völkisch oder anarcho-christlich) und waren durch den Geist der gleichen apokalyptischen Erregtheit verbunden.

Mit dieser Sehnsucht nach der Wende und dem Neuen hing auch eine weitere wesentliche Gemeinsamkeit der jugendbewegten Siedlungen zusammen. Sie waren nicht auf wirtschaftsrationalen Überlegungen im Sinne Max Webers aufgebaut, sondern auf einer gefühlsmäßigen Ablehnung des kapitalistischen Geistes: »Die Jugend wandte sich gegen die seelenlose Mechanisierung der Arbeit, gegen den egoistischen Geschäftsgeist und gegen die Hast und Unrast der Profitwirtschaft.« (Manfred Fuchs) Stattdessen wollte sie innerhalb der Siedlung und vorbildhaft für die umgebende Gesellschaft eine echte menschliche Gemeinschaftsbildung zuwege bringen, das heißt das Zusammenleben auf einer nicht-kapitalistischen Organisation von Produktion und Konsumtion aufbauen. Insofern waren alle jugendbewegten Siedlungen, auch die völkischen, »sozialistisch« oder »kommunistisch«, indem sie dem Egoismus des Kapitalismus die Gemeinschaftsbildung und Gemeinwirtschaft entgegensetzten. Andererseits lehnten es alle Siedlungen, die völkischen (Kritik an der Zuwendung der Jungdeutschen unter Frank Glatzel zur Parteipolitik!) wie die »kommunistischen« ab, sich auf ein bestimmtes Parteiprogramm und eine Parteiorganisation festzulegen. Sie wollten vielmehr den »Sozialismus« leben und den neuen sozialen Menschen durch eigene Bewußtseinsänderung schaffen.

Wesentliche Elemente dieses jugendbewegten »Sozialismus« waren: keine Trennung von Arbeits- und Wohnstelle, vom Ort der Produktion und der Konsumtion, von Tätigkeit und Freizeit. Die Gemeinschaft sollte stets präsent sein, gemeinsam wurden die Mahlzeiten, möglichst noch aus einer Schüssel an einem Tisch im Gemeinschaftsraum, eingenommen. Beim Arbeiten wurde ebenso die Kooperation gesucht wie in den durch Erzählen, Diskutieren, Vorlesen, Spielen oder Tanzen zu gestaltenden Mußestunden. Das Privateigentum, besonders an den Produktionsmitteln, wurde abgelehnt, da es gemeinschaftsstörend sei. 

96


Die Bestreitung alles Lebensnotwendigen durch gemeinsame Arbeit und aus einer Kasse war das Ideal. Ebenso wurde ein differenzierter Leistungslohn als gemeinschaftszersetzend betrachtet. Stattdessen sorgte die Gemeinschaft für Unterkunft und Verpflegung und gewährte höchstens ein individuelles Taschengeld. Natürlich wurde auch die kapitalistische Profitmaximierung als materialistisches Übel zurückgewiesen; stattdessen hielt man die geistfördernden Werte der Askese und der Einfachheit hoch — und tröstete sich damit über die eigene wirtschaftliche Not und Kärglichkeit der Lebensumstände hinweg. Aus dem Gesagten ergibt sich auch zwingend, daß die typische Jugendbewegungs-Siedlung kein Einzel-, sondern ein Gemeinschaftsunternehmen war6.

Der »Sozialismus« der Siedlungen äußerte sich aber auch im Dienst an der Gemeinschaft und der Einflußnahme auf sie. Der soziale Impuls wird besonders deutlich in der Tatsache, daß viele der jugendbewegten Siedlungen sich um gesundheitsgefährdete oder verwaiste Kinder kümmerten und in irgendeiner Form Kinderheime ins Leben zu rufen suchten (damit flossen ihnen auch staatliche Gelder zu). Daneben wollten sie fast alle erzieherisch auf die Gemeinschaft »draußen« einwirken, sei es auf die Kinder über Schulen, sei es — und hier griffen sie den Gedanken der Volkshochschulbewegung auf — über Bauern- und Heimvolkshochschulen (Ideal der Lebensgemeinschaft als Lehr- und Lerngemeinschaft: »Lebens- als Bildungsgemeinschaft«) oder über die ästhetische Erziehung durch Handwerksund Verlagsprodukte sowie Spielscharen (unter den Siedlungen war am bekanntesten Hans-Albert Foersters »Landsassen-Werkgemeinschaft«). So sollte der vorbildliche Gemeinschaftsgeist der Siedlungen auf die Gesellschaft ausstrahlen und zu ihrer Verwandlung in die ersehnte Volksgemeinschaft beitragen. Am auffälligsten ist dieser Dienst für das große Ganze bei den »Pionieren« der jüdischen Jugendbewegung und ihrer Vorbereitung für die Aufbautat in Erez Israel.

 

6) An gedruckten Erinnerungen an solche jugendbewegte Einzel-Siedlungen, die freilich nicht ohne die Mithilfe von Gesinnungsfreunden entstanden, liegen vor: Gustav-Adolf Küppers-Sonnenberg, Wege und Irrwege zur eigenen Scholle. Berlin 1924; ders., Sonnenkinder. Photostudien und Tagebuchaufzeichnungen aus dem Leben einer naturnahen Siedlung. Berlin 1930; Gudrun Pausewang (in Zusammenarbeit mit Elfriede Pausewang), Rosinkawiese. Alternatives Leben vor 50 Jahren. Ravensburg 1980.

97


Verbauern wollten die stadtflüchtigen Jugendbewegten in ihren ländlichen Siedlungen keinesfalls. Sie wollten ihre eigene jugend-bewegt-städtische Lebensart, »Kluft« und Ästhetik (in Kunsthandwerk, Verlagsprodukten, Musik, Architektur und Wandmalerei 6a) auf dem flachen Land bewahren — was den Graben zu den Alteingesessenen vertiefte. Die Jugendlichen stellten fest, daß es trotz guten Willens schwieriger war als gedacht, Stadtmenschen in die Landwirtschaft zu überführen. Es fehlten dazu das Wissen und die Ausbildung ebenso wie die Körperkraft. Enthusiasmus war auch kein Ersatz für mangelnde Fertigkeiten, Routine, Kapital und Maschinen. 

Am ehesten konnte man sich aus diesen Gründen noch mit dem intensiven Gartenbau befreunden, dessen Erträge sich entweder zur Bereicherung der eigenen Mahlzeiten oder zur Beschickung eines nahen Marktes verwenden ließen. Erschwerend kam zu den persönlichen Mängeln hinzu, daß die Lage der Siedlungen nicht primär von der Bodenqualität, dem vorhandenen Wasseranschluß und anderen wirtschaftlichen Notwendigkeiten bestimmt wurde.

 

6a)  Bisher gibt es keine Gesamtuntersuchung dieser Siedlungs-Architektur; Marco de Michelis (Venedig) hat aber eine Arbeit über Lebensreform und Architektur angekündigt. Als ein besonders eigenständiger Beitrag ländlicher Kommune-Architektur müssen die »Schneckenhäuser« von Hans Weisen, Siedlung »Im Wießeloh« bei Hemfurth im Waldeckischen, genannt werden. Vgl. Hans Weisen, Baukunst. Leipzig 1919, 4. Aufl. 1925; ders., Schneckenhäuser. Leipzig 1920; ders.: Wiesse Loh. Leipzig 1920; vgl. Janos Frecot, Erinnerung an den Baumeister Hans Weisen. In: Rogners Magazin, Oktober 1977. Auch die Siedlung Vogelhof hatte ausdrücklich die Anschaffung von Weisen-Häusern beschlossen; lediglich aus Geldmangel mußte sie mit den vorhandenen Landwirtschaftsgebäuden vorliebnehmen. Der Vogelhof besaß auch eine »Fliegende Bauhütte«. Vgl. dazu Klaus Novy und Günther Uhlig, Bauhüttenbewegung in der Weimarer Republik. In: R. Nitsche (Hrsg.), Häuserkämpfe 1872/1920/1945/ 1982. Berlin 1981; diese schuf als Auftragsarbeit Häuser nach dem Vorbild von Bruno Taut. Taut war wiederum durch Gustav Landauer mit der Siedlungsbewegung verbunden; Bruno Taut, Architekturlehre aus der Sicht eines sozialistischen Architekten. Hamburg, Berlin 1977. Weitere Architekten, die in der Weimarer Republik für die Kleinsiedlungs-Bedürfnisse planten, waren Leberecht Migge (Leberecht Migge 1881-1935. Gartenkultur des 20. Jahrhunderts. Worpswede 1981), Hermann Muthesius (Kleinhaus und Kleinsiedlung. München 2. Aufl. 1920), Peter Behrens (Vom sparsamen Bauen. Ein Beitrag zur Siedlerfrage. Berlin 1918, mit H. de Fries) und Adolf Loos. Vgl. die gesamte Literatur über die Wiener Siedlungsbewegung, u. a. Klaus Novy, Selbsthilfe als Reformbewegung. Der Kampf der Wiener Siedler nach dem 1. Weltkrieg. In: Arche, Heft 55 v. Februar 1981. Vgl. zu dem gesamten Thema auch Klaus Novy und Günther Uhlig, »Wirtschaftsarchäologische« Bemühungen zur Vielfalt verschütteter Formen der Gegenökonomie. In: H.-J. Wagener (Hrsg.), Demokratisierung der Wirtschaft. Frankfurt a.M.,New York 1980. -Keine der expressionistischen Wandmalereien, wie sie etwa in Blankenburg, Lindenhof, Neu-Sonne-feld entstanden, hat sich erhalten; auch Heinrich Vogelers Barkenhoff-Fresken wurden bekanntlich durch die Nationalsozialisten zerstört. Vgl. u. a. Zofia Marchlewska, Wie eine Welle im Meer. Erinnerungen an Heinrich Vogeler und Zeitgenossen. Berlin 1968.

98/99


Der Grund dafür lag weniger in der ästhetischen Erwägung landschaftlicher Schönheit und Zivilisationsabgeschiedenheit der Niederlassung, wohl auch nicht ausschließlich beim mangelnden Blick für ökonomische Erfordernisse, sondern einfach beim fehlenden Anfangskapital, was bereits beim Kauf zu einem Ausweichen auf billige, d. h. ertragsarme Böden und heruntergewirtschaftete Höfe zwang. Da man zudem weniger knochenbrechende als »schöpferische« Tätigkeiten bevorzugte, wurden die Siedlungen, sofern sie nicht gleich scheiterten, zu Nebenerwerbswirtschaften. 

Offenbar war es auch leichter, kunstgewerbliche Produkte in der Stadt zu vermarkten (Dürerhäuser) als landwirtschaftliche Erzeugnisse, bei denen ja der Konkurrenzdruck von seiten der anderen Bauern und Gärtner bestand. Die Verderblichkeit der gärtnerischen Produkte verhinderte auch, daß sie städtischen Reformhäusern zugeführt werden konnten, und zu einer Verwertung zu Konserven, wie sie etwa Eden betrieb, fehlten die technischen Voraussetzungen.

Wenn man auch das Ziel einer autarken Ernährung der Siedlungen anstrebte, so wurde doch der erzieherische Wert der Bodenarbeit (Verbundenheit mit der Scholle) stärker betont. Je mehr es sich in der Praxis herausstellte, daß Landwirtschaft und Gärtnerei zumindest anfänglich nur geringe Erträge abwarfen, diese zudem witterungsbedingt schwankten, mußte man sich nach anderen, ergänzenden Einnahmequellen umsehen. So traten in den Mittelpunkt der Siedlungen neben das die Landwirtschaft ergänzende Handwerk ein Verlag, ein Kinderheim, eine Schule, ein Landerziehungsheim, eine Druckerei. Spannungen zwischen den ursprünglich agrarisch-handwerklichen und den sie bald zurückdrängenden pädagogisch-literarischen Zielsetzungen (die natürlich den jungen Bildungsbürgern in Wirklichkeit viel angemessener waren) konnten nicht ausbleiben, vor allem dann nicht, wenn sich dieser Prozeß der beruflichen Spezialisierung entlang der Klassenlinie zwischen Bürgertum und Arbeiterschaft vollzog.

Wie bei allen anderen zahlreichen Krisen im Leben einer Siedlung kam es dann auf die Qualität der Führerfiguren in der Siedlung an. Anders als in einer antiautoritär erzogenen Jugend wurde die Notwendigkeit der Führung in der Jugendbewegung nie bestritten, sondern als Voraussetzung echter Gemeinschaftsbildung akzeptiert. Charismatische Führer und Führerinnen gehörten so zum Wesen der jugendbewegten Siedlungen.

(Ist es Zufall, daß auf den Frauensiedlungen Loheland und Schwarzerden sich jeweils zwei »Königinnen« herausbildeten, dagegen immer nur ein Mann im Zentrum der anderen Kommunen stand?) Trotzdem ist auch hier die Rede von der zu großen Distanz zwischen Unten und Oben, die dadurch verstärkt wurde, daß von der literarischen, rhetorischen oder künstlerischen Tätigkeit der Führer das finanzielle Überleben der Siedler abhing (sie waren es auch, welche Mäzene zu mobilisieren verstanden), und vom Eindruck der Beherrschung der »Arbeitsbienen« durch die »Drohnen«. 

Da aber gruppendynamische Konfliktverarbeitung in der Jugendbewegung nur ansatzweise entwickelt war (am weitesten gingen darin die »Things« in Muck-Lambertys »Schar«), hing das Überleben der Gemeinschaften weitgehend von der Integrationskraft der Führer ab, die darin lediglich von den in der Jugendbewegung allerdings gut ausgebildeten Gemeinschaftsritualen unterstützt wurden, durch welche die Gruppe ihre Identität erhielt.

Wenn man sich auch meist mit einer Subsistenzwirtschaft auf der Siedlung zufriedengeben mußte, stellte sich doch unausweichlich die Frage, welchen Stellenwert der ökonomischen Zweckmäßigkeit überhaupt in der Siedlung eingeräumt werden sollte: Mißachtete man sie gänzlich, dann konnten die Siedlungen nur so lange überleben, wie sie von außen mäzenatisch unterstützt wurden; nahm man aber die Wirtschaftlichkeit ernst, dann drängten sich das gemeinschaftsfeindliche Kapital, die Kalkulation, die Ertragsberechnung, die Berufsspezialisierung (das begann bereits damit, daß die Siedler auf dem Barkenhoff Vogeler aus der Landwirtschaft herausnahmen und ihn wieder hinter seine Staffelei setzten), Arbeitsorganisation, Selektion der Siedlungswilligen nach fachlichen Kenntnissen, leistungsorientierte Entlohnung, Technisierung und kapitalistische Geschäftspraktiken unangenehm in den Vordergrund. 

Jede Siedlung geriet an diese Grenze, an der sie sich entweder aufgeben oder mehr als zunächst beabsichtigt in die kapitalistische Konkurrenzwirtschaft einpassen mußte. Aber auch dann noch suchte man so viel wie möglich vom ursprünglichen Impuls zu retten, ging der mechanisierten Tätigkeit aus dem Wege und vermied den Erwerbs- und Spekulationshandel. 

Aber keine Siedlung konnte sich der ernüchternden Erkenntnis verschließen, daß sie nicht zu Keimzellen einer neuen Gesellschaftsordnung wurden, sondern aus eigener Kraft überlebensunfähige Inseln im kapitalistischen Meer blieben. Die Selbsterlösung durch den Liebeskommunismus konnte ebensowenig erreicht werden wie die chiliastische Gesellschaftstransformation. 

Der Aufbruch endete so meist in der schließlichen beruflichen und menschlichen Wiederanpassung.

99-100

 

www.detopia.de      ^^^^