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Der Kartesianisch-Newtonsche Geist der mechanistischen Wissenschaft (4)

 

 

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In den letzten drei Jahrhunderten ist die westliche Wissenschaft vom kartesianisch-newtonschen Paradigma beherrscht worden. Dieses Denkmodell beruht auf den Arbeiten des französischen Philosophen Rene Descartes und des britischen Wissenschaftlers Isaac Newton. Auf der Basis dieses Modells hat die Physik erstaunliche Fortschritte gemacht und sich unter allen anderen Wissenschaftszweigen einen besonderen Ruf erworben. Ihre konsequente Anwendung mathematischer Prinzipien, ihre Effizienz beim Lösen von Problemen sowie die erfolgreiche Übertragung physikalischer Erkenntnisse auf verschiedene Bereiche des Alltagslebens haben Standards und Modelle für die gesamte Wissenschaft gesetzt. 

Die Möglichkeit, grundlegende Konzepte und Untersuchungsergebnisse mit dem von der Newtonschen Physik entwickelten Modell des Universums in Einklang zu bringen, wurde zu einem wichtigen Kriterium für seriöse Wissenschaftlichkeit in komplexeren und weniger entwickelten Bereichen wie in der Biologie, der Medizin, der Psychologie, der Psychiatrie und der Soziologie. Zu Anfang hatte dieses Festhalten an einem mechanistischen Weltbild einen sehr positiven Effekt auf den Fortschritt in diesen Disziplinen. Im Laufe der weiteren Entwicklung aber verloren die vom kartesianisch-Newtonschen Paradigma abgeleiteten Theorien ihre revolutionäre Kraft und wurden zu einem ernsthaften Hindernis für die wissenschaftliche Forschung und den Fortschritt.

Seit Beginn des 20. Jahrhunderts kam es in der Physik zu tiefgreifenden und radikalen Veränderungen, die über das mechanistische Weltbild und all die Grundannahmen des kartesianisch-Newtonschen Paradigmas hinausgingen. Im Laufe der Zeit wurden diese außergewöhnlichen Neuerungen für die meisten Wissenschaftler anderer Disziplinen unübersichtlich, esoterisch und unverständlich. Die Folge davon war, daß sich beispielsweise die Medizin, die Psychologie und die Psychiatrie nicht mehr an diese rapiden Veränderungen anpassen und sie in ihre Denkmodelle eingliedern konnten. So wird das Weltbild, das in der modernen Physik schon lange als überholt gilt, in vielen Bereichen noch immer für wissenschaftlich gehalten, natürlich zum Schaden des zukünftigen Fortschritts.

Beobachtungen und Daten, die mit dem mechanistischen Modell des Universums in Konflikt stehen, werden verworfen oder verheimlicht, und Forschungsprojekte, die für das dominierende Paradigma nicht von Relevanz sind, haben keine Chance, mit öffentlichen Mitteln gefördert zu werden. Exemplarisch dafür sind die Parapsychologie, alternative Heilmethoden, die Forschung mit psychedelischen Drogen, die Thanatologie sowie bestimmte Bereiche anthropologischer Feldforschung. In den letzten zwei Jahrzehnten ist der entwicklungs- und produktivitätshemmende Charakter des alten Paradigmas besonders offenkundig geworden, speziell in den Wissenschaftszweigen, die den Menschen zum Gegenstand ihrer Forschung haben. 

In der Psychologie, der Psychiatrie und der Anthropologie hat die theoretische Spaltung einen so hohen Grad erreicht, daß diese Disziplinen unmittelbar vor einer schweren Krise zu stehen scheinen, deren Ausmaß mit der Krise vergleichbar ist, die die Physik zur Zeit des Michelson-Morley-Experiments erschütterte. Es besteht das dringende Bedürfnis nach einem grundlegenden Paradigmawechsel, der dem ständig größer werdenden Zustrom von revolutionären Daten aus verschiedenen Bereichen, die sich absolut nicht mit den alten Modellen vereinbaren lassen, gerecht wird. 

Viele Forscher meinen, daß das neue Paradigma auch eine Überbrückung der Kluft ermöglichen sollte, die gegenwärtig die traditionelle Psychologie und Psychiatrie von der tiefen Weisheit des alten und östlichen Denkens trennt. Bevor ich im einzelnen auf die Gründe für die kommende wissenschaftliche Revolution und ihre mögliche Richtung eingehe, möchte ich die charakteristischen Merkmale des alten Paradigmas, dessen Angemessenheit nun ernsthaft in Frage gestellt wird, näher beschreiben.

Das mechanistische Universum Newtons ist ein Universum aus fester Materie, deren Grundbausteine kleine und unzerstörbare Teilchen, die Atome, sind.5) Sie sind ihrem Wesen nach passiv und unveränderlich. Newtons wichtigster Beitrag zu dem sonst vergleichbaren Modell der griechischen Atomisten bestand in einer präzisen Definition der Kraft, die zwischen den Teilchen wirksam ist. Er bezeichnete sie als die Schwerkraft und stellte den Grundsatz auf, daß sie direkt proportional zu den beteiligten Massen und umgekehrt proportional zum Quadrat ihrer Entfernung sei. In Newtons System hat die Schwerkraft ziemlich mysteriösen Charakter. Sie wird als eine intrinsische Eigenschaft der Körper, auf die sie einwirkt, betrachtet. Diese Einwirkung erfolgt unmittelbar über die Entfernung hinweg.

Ein anderes wesentliches Charakteristikum des Newtonschen Universums ist der dreidimensionale Raum der klassischen Euklidschen Geometrie, der absolut, konstant und immer in Ruhe ist. Die Unterscheidung zwischen Materie und leerem Raum ist klar und eindeutig. Entsprechend gilt die Zeit als absolut, autonom und unabhängig von der materiellen Welt. Sie fließt gleichförmig und unveränderlich von der Vergangenheit durch die Gegenwart in die Zukunft.

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Nach Newton können alle physikalischen Prozesse auf Bewegungen materieller Punkte zurückgeführt werden, die sich aus der zwischen ihnen wirksamen und ihre gegenseitige Anziehung bedingenden Schwerkraft ergeben. Newton war in der Lage, zur Beschreibung der Dynamik dieser Kräfte den neuen mathematischen Ansatz der Differentialrechnung, den er eigens zu diesem Zweck entworfen hatte, zu Hilfe zu nehmen.

Daraus resultiert die Vorstellung, daß das Universum ein gigantisches Uhrwerk mit vollkommen deterministischem Charakter sei. Die Teilchen bewegen sich nach ewigen und unveränderlichen Gesetzen. Die Ereignisse und Prozesse in der materiellen Welt werden von Ursache-Wirkungs-Ketten bestimmt. Daraus folgt, daß es — zumindest im Prinzip — möglich sein müßte, jede vergangene Situation im Universum genau zu rekonstruieren oder alle zukünftigen Ereignisse mit absoluter Sicherheit vorherzusagen. Praktisch ist dies eigentlich nie möglich. Der Grund dafür wird aber in der Tatsache gesehen, daß wir keine detaillierten Informationen über alle die Variablen erhalten können, die in einer bestimmten Situation beteiligt sind. Theoretisch wird ein solches Unterfangen niemals ernstlich in Frage gestellt. Diese grundlegende metaphysische Annahme stellt ein wesentliches Element des mechanistischen Weltbilds dar. Ilya Prigogine (161) nennt diesen Glauben an eine unbegrenzte Vorhersagbarkeit den »Grundmythos der klassischen Wissenschaft«.

Ein anderer wichtiger Einfluß in der Wissenschaftsphilosophie und -geschichte der letzten zwei Jahrhunderte ging von Rene Descartes aus, einem der größten französischen Philosophen. Sein wichtigster Beitrag zu dem vorherrschenden Paradigma war die extreme These von einem absoluten Dualismus zwischen Geist (res cogitans) und Materie (res extensa). Daraus leitete sich der Glaube ab, daß die materielle Welt objektiv, ohne Bezug zum menschlichen Beobachter, beschrieben werden könne. Diese Vorstellung half bei der rapiden Entwicklung der Naturwissenschaften und der Technik, aber in ihrer letzten Konsequenz führte sie zu einer ernsthaften Vernachlässigung einer Betrachtungsweise, die menschliche Wesen, die Gesellschaft und das Leben auf diesem Planeten in ein Ganzes einbezieht.

In einem gewissen Sinne erwies sich das Vermächtnis Descartes' als ein widerspenstigeres Element in der westlichen Wissenschaft als das mechanistische Weltbild Newtons. Sogar Albert Einstein (26), das Genie, das die Newtonsche Physik in ihren Grundfesten erschütterte, allein die Relativitätstheorie formulierte und die Quantentheorie einführte, vermochte nicht, sich vom Geist des kartesianischen Dualismus zu befreien.

Immer wenn wir vom kartesianisch-Newtonschen Paradigma sprechen, sollten wir uns dessen bewußt sein, daß die mechanistische Wissenschaft des Westens das geistige Erbe dieser zwei großen Denker verzerrt hat. In den Philosophien und Weltanschauungen Newtons wie auch Descartes' spielte Gott eine wesentliche Rolle. Newton war ein zutiefst spiritueller Mensch, der großes Interesse an Astrologie, Okkultismus und Alchemie hatte. Wie sein Biograph John Maynard Keynes (100) es ausdrückte, war er einer der letzten großen Magier und nicht der erste große Wissenschaftler.

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Er glaubte zwar, daß das Universum seiner Beschaffenheit nach materiell sei, dachte aber nicht, daß dessen Ursprung mit materiellen Ursachen erklärt werden könne. Nach seiner Vorstellung war es Gott, der zu Anfang die Materieteilchen, die zwischen ihnen wirkenden Kräfte und die Gesetze ihrer Bewegung erschaffen hatte. Nachdem das Universum erschaffen worden war, funktionierte es weiter wie eine Maschine und kann auch wie eine solche beschrieben und verstanden werden. Rene Descartes glaubte, die Welt existiere objektiv und unabhängig vom menschlichen Beobachter. Ihre Objektivität beruht aber auf der Tatsache, daß sie ständig von Gott wahrgenommen wird.

Die westliche Wissenschaft hat Newton und Descartes in der gleichen Weise behandelt, wie Marx und Engels es mit Hegel taten. Bei der Formulierung der Prinzipien des dialektischen und historischen Materialismus sezierten sie Hegels Phänomenologie des Weltgeistes. Sie behielten seine Dialektik, ersetzten aber Geist durch Materie. Ähnlich entspricht das theoretische Denken in vielen Wissenschaftszweigen einer direkten logischen Erweiterung des kartesianisch-Newtonschen Modells, doch die Vorstellung von einer göttlichen Intelligenz, die den Spekulationen dieser zwei großen Denker zugrundelag, verschwand.

Ein systematischer, radikaler und konsequenter philosophischer Materialismus wurde die neue ideologische Basis des modernen wissenschaftlichen Weltbilds. Das kartesianisch-Newtonsche Modell hat sich in all seinen zahlreichen Verzweigungen und Anwendungen in verschiedenen Bereichen als außerordentlich erfolgreich erwiesen. Es leistete einen umfassenden Beitrag zur Erklärung der Grundmechanismen des Sonnensystems und ließ sich auch effektiv auf das Verständnis der kontinuierlichen Bewegung von Flüssigkeiten, der Schwingung elastischer Körper und der Thermodynamik anwenden. Es wurde zur Basis und zur treibenden Kraft hinter den bemerkenswerten Fortschritten in den Naturwissenschaften im 18. und 19. Jahrhundert.

Die Wissenschaftszweige, die sich an Newton und Descartes orientierten, haben ein detailliertes Bild vom Universum entworfen, wonach dieses ein ungeheuer komplexes mechanisches System und eine Ansammlung von passiver und träger Materie darstellt. Es entwickelt sich ohne jede Beteiligung des Bewußtseins und der kreativen Intelligenz. Demnach soll vom Urknall angefangen über die Expansion der Milchstraßensysteme hinweg bis hin zur Bildung des Sonnensystems und der frühen geophysikalischen Prozesse, die diesen Planeten schufen, die kosmische Evolution einzig und allein von blinden mechanischen Kräften geleitet worden sein. 

Nach diesem Modell entstand das Leben im Urozean als das Ergebnis rein zufälliger chemischer Reaktionen. Der Zellaufbau der organischen Materie und die höheren Formen des Lebens entwickelten sich mechanisch ohne Beteiligung jedes intelligenten Prinzips durch Zufallsmutation von Genen und natürliche Selektion von Lebensformen, die das Überleben des Stärkeren garantierte. Dies resultierte schließlich in einem verästelten phylogenetischen System, in dem verschiedene Spezies nach zunehmender Komplexität hierarchisch angeordnet sind.

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Dann — irgendwo hoch oben im Darwinistischen Stammbaum — passierte etwas Spektakuläres und bisher Unerklärliches: die unbewußte und träge Materie wurde sich ihrer selbst und der sie umgebenden Welt bewußt. Obwohl sich der an diesem wundersamen Ereignis beteiligte Mechanismus vollkommen selbst den gröbsten Ansätzen wissenschaftlicher Spekulation entzieht, wird die Richtigkeit dieser metaphysischen Annahme für bare Münze genommen und die Lösung dieses Problems stillschweigend an die zukünftige Forschung verwiesen. Die Wissenschaftler sind sich noch nicht einmal darüber einig, auf welcher Stufe der Evolution das Bewußtsein entstand. Die Überzeugung aber, daß es sich auf lebende Organismen beschränkt und ein sehr hoch entwickeltes Zentralnervensystem erfordert, ist ein Grundpostulat der materialistischen und mechanistischen Weltanschauung. Das Bewußtsein wird als das Produkt hoch organisierter Materie — des Zentralnervensystems — und als Begleiterscheinung physiologischer Prozesse im Gehirn aufgefaßt.6

Die Annahme, daß das Bewußtsein ein Produkt des Gehirns sei, ist natürlich nicht vollkommen willkürlich. Sie basiert auf einer Unmenge von Beobachtungen im Rahmen der klinischen und experimentellen Neurologie und Psychiatrie, die enge Verbindungen zwischen verschiedenen Bewußtseinsaspekten und physiologischen oder pathologischen Hirnprozessen wie Traumen, Tumoren oder Infektionen nahelegen. So können beispielsweise eine Gehirnquetschung oder mangelnde Sauerstoffzufuhr zu einem Bewußtseinsverlust führen. Ein Tumor oder eine traumatische Schädigung des Schläfenlappens bewirken mannigfaltige Verzerrungen bewußter Prozesse, die sich eindeutig von Verletzungen des Stirnlappens unterscheiden. 

Gehirninfektionen oder bestimmte Medikamente mit psychoaktiven Eigenschaften wie Schlafmittel, Stimulantien oder psychedelische Drogen haben charakteristische Bewußtseinsveränderungen zur Folge. Gelegentlich sind die mit neurologischen Störungen verbundenen Bewußtseinsveränderungen so spezifisch, daß sie zur richtigen Diagnose beitragen können. Außerdem kann sich an eine erfolgreiche Gehirnoperation oder andere medizinische Eingriffe eine deutliche Besserung der klinischen Symptome anschließen.

Diese Beobachtungen demonstrieren ohne jeden Zweifel, daß es eine enge Verbindung zwischen dem Bewußtsein und dem Gehirn gibt. Sie beweisen aber damit nicht automatisch, daß das Bewußtsein vom Gehirn produziert wird. Die Logik dieses von der mechanistischen Wissenschaft gezogenen Schlusses ist höchst problematisch, und es lassen sich selbstverständlich theoretische Systeme vorstellen, die die vorhandenen Daten vollkommen anders interpretieren. Dies kann an einem einfachen Beispiel verdeutlicht werden, nämlich anhand eines Fernsehapparats. Die Qualität von Bild und Ton hängt entscheidend vom richtigen Funktionieren aller Bestandteile ab. Sind einige davon nicht in Ordnung oder werden sie zerstört, dann ergeben sich ganz bestimmte Bild- oder Tonverzerrungen.

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Ein Fernsehmechaniker kann den nicht funktionierenden Bestandteil anhand der Art der Verzerrung erkennen und das Problem beseitigen, indem er das betreffende Teil ersetzt oder repariert. Niemand von uns würde dies aber als wissen­schaftlichen Beweis dafür ansehen, daß das Programm im Fernsehapparat erzeugt wird, da das Fernsehen ja ein Werk des Menschen ist und man bestens weiß, wie es funktioniert. Dies ist jedoch genau die Schlußfolgerung, die die mechanistische Wissenschaft in bezug auf das Gehirn und das Bewußtsein gezogen hat. In diesem Zusammenhang verdient es erwähnt zu werden, daß Wilder Penfield, der weltberühmte Neurochirurg, der auf dem Gebiet der Gehirnforschung bahnbrechende Leistungen vollbracht und Grundlegendes zur modernen Neurophysiologie beigetragen hat, eine ähnliche Ansicht vertritt. In seinem letzten Buch Mystery of the Mind (144), in dem er sein Lebenswerk zusammenfaßt, äußert er tiefen Zweifel, daß das Bewußtsein ein Produkt des Gehirns sei und sich auf der Basis der Gehirnanatomie und -physiologie erklären ließe.

Nach Auffassung der materialistischen Wissenschaft sind individuelle Organismen ihrem Wesen nach voneinander getrennte Systeme, die mit ihrer Umwelt und den anderen Organismen nur mit Hilfe der Sinnesorgane kommunizieren können. All diese Arten von Kommunikation werden durch bekannte Energieformen vermittelt. Geistige Prozesse werden in Form von Reaktionen des Organismus auf die Umwelt und auf kreative Neukombinationen von Sinneseindrücken erklärt, die im Laufe seines Lebens auf ihn eingewirkt haben und die im Gehirn in Form von Gedächtnisspuren gespeichert sind. Hier greift die materialistische Psychologie auf das Credo der englischen Empirikerschule zurück, wie es John Locke (121) knapp formuliert hat: »Nihil est in intellectu quod non ante fuerit in sensu« — es gibt nichts im Intellekt, was nicht vorher mit den Sinnen wahrgenommen worden wäre.

 

Aufgrund des linearen Charakters der Zeit gehen vergangene Ereignisse unrettbar verloren, wenn sie nicht in speziellen Gedächtnissystemen gespeichert werden. Erinnerungen jeder Art müssen demnach ein jeweils bestimmtes materielles Substrat besitzen. Es sind dies die Zellen des Zentralnervensystems oder der physio-chemische Kode der Gene. Die Erinnerungen an Ereignisse im Leben des einzelnen Organismus sind in bestimmten Teilen des Zentralnervensystems gespeichert. Die Psychiatrie hat die überwältigenden klinischen Belege dafür akzeptiert, daß diese Erinnerungen beim Menschen nicht nur bewußt reaktiviert, sondern unter bestimmten Umständen die ihnen zugrundeliegenden Ereignisse in einer lebhaften und komplexen Weise wiedererlebt werden können.

Das einzige theoretisch vorstellbare Substrat für die Übertragung von Informationen von den Vorfahren und der Stammesgeschichte ist der physio-chemische Kode der DNS-und RNS-Moleküle. Das gegenwärtige medizinische Modell erkennt die Möglichkeit einer solchen Übertragung in bezug auf die Informationen an, die die embryologische Entwicklung, die konstitutionellen Faktoren, die Erbanlagen, die Charaktermerkmale oder Talente der Eltern und ähnliche Phänomene betreffen, aber natürlich nicht in bezug auf komplexe Erinnerungen an spezielle Ereignisse, die vor der Empfängnis stattgefunden haben.

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Abbildung 1 

Bild von einer psychedelischen Sitzung, in der der Klient seine biologische Geburt wiedererlebte. Die destruktiven uterinen Kräfte werden als mythologische, vogelähnliche Monstren dargestellt. Der zerbrechliche und erschrockene Fötus hängt an der Nabelschnur.

 

Abbildung 8  

Das amniotische Universum: Identifikation mit der glückseligen Existenz des Fötus in einem Gefühl der Einheit mit dem ganzen Kosmos. Dieses Bild wurde durch eine von der ersten perinatalen Matrix bestimmten LSD-Sitzung inspiriert.

 

OD, 2005: Die Abbildungen befinden nicht fortlaufend im Text. Abbildung 2, die man hier erwarten würde, befindet sich auf Seite 49. usw.

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Unter dem Einfluß des Freudschen Modells haben sich die dominierenden Psychiatrie- und Psychotherapie­richtungen die Auffassung zu eigen gemacht, daß das neugeborene Kind eine »tabula rasa« (eine blanke oder ausradierte Tafel) sei und daß seine Entwicklung vollständig vom Ablauf seiner frühen Erfahrungen bestimmt werde.

 

Die heutige medizinische Theorie verneint die Möglichkeit einer Speicherung des Geburtserlebnisses im Gedächtnis des Kindes. Der Grund dafür, den man üblicherweise in den medizinischen Lehrbüchern findet, ist die mangelnde Reife der Gehirnrinde des Neugeborenen (die unvollständige Ausbildung der Myelinscheiden in den Neuronen des Gehirns). Die einzigen vorgeburtlichen Einflüsse, die im allgemeinen die Psychiater und Psychologen in ihren entwicklungstheoretischen Spekulationen anerkennen, sind Vererbung, vage konstitutionelle Faktoren, physische Schädigung des Organismus und eventuelle Unterschiede in der relativen Stärke verschiedener Instinkte.

Nach Auffassung der materialistischen Psychologie ist der Zugang zu jeglichen neuen Informationen nur möglich durch das direkte Einwirken neuer Reize oder durch die Kombination alter Daten miteinander bzw. mit neu erworbenen Daten. Die mechanistische Wissenschaft versucht sogar solche Phänomene wie menschliche Intelligenz, Kunst, Religion, Ethik und die Wissenschaft selber als das Ergebnis materieller Prozesse im Gehirn zu erklären. 

Die Wahrscheinlichkeit, daß sich die menschliche Intelligenz aus dem chemischen Schlamm des Urozeans bis zu ihrem heutigen Stand einzig und allein durch die Abfolge zufälliger mechanischer Prozesse entwickelt hat, ist vor kurzem treffend mit der Wahrscheinlichkeit verglichen worden, daß sich durch einen Wirbelsturm über einem gigantischen Schrottplatz zufällig ein Jumbo-Jet zusammenfügt. Diese höchst unwahrscheinliche Annahme ist eine metaphysische Aussage, die nicht mit den gegenwärtigen wissenschaftlichen Methoden bewiesen werden kann. Sie ist alles andere als ein Stück wissenschaftlicher Information, wie es die Verfechter dieser These leidenschaftlich behaupten, sondern beim gegenwärtigen Wissensstand nur wenig mehr als einer der Leitmythen der westlichen Wissenschaft.

Die mechanistische Wissenschaft hat sich eine viele Jahrzehnte lange Übung bei der Verteidigung ihres Glaubenssystems angeeignet. Sie belegt jeden, der in seiner Wahrnehmung oder seinen Theorien stärker von kartesianisch-Newtonschen Modell Vorstellungen abweicht, mit dem Begriff »psychotisch« und wertet jegliche Untersuchung, die zu paradigmatisch unvereinbaren Ergebnissen führt, als wissenschaftlich unsaubere Arbeit ab. Diese Strategie hat sich vermutlich am schädlichsten auf Theorie und Praxis der Psychiatrie ausgewirkt. Die gegenwärtige psychiatrische Theorie ist nicht in der Lage, adäquate Erklärungsmodelle für viele verschiedenartige Phänomene zu liefern, die außerhalb des durch frühere Lebenserfahrungen geprägten Bereichs des Unbewußten liegen, etwa die perinatalen oder transpersonalen Erfahrungen, die ich in einein späteren Abschnitt dieses Buches ausführlicher besprechen werde.

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Da eine genaue Kenntnis transbiographischer (jenseits früherer Erfahrungen liegender) Erlebnisbereiche für ein echtes Verständnis der meisten Probleme, mit denen es die Psychiatrie zu tun hat, unerläßlich ist, hat diese Situation ernste Konsequenzen. Insbesondere ist ein tieferes Verständnis des psychotischen Prozesses faktisch unmöglich, ohne die transpersonale Dimension der Psyche anzuerkennen. So liefern die bestehenden Erklärungsmodelle oberflächliche und nicht überzeugende psychodynamische Interpretationen. Sie reduzieren die beteiligten Probleme auf biographische Faktoren aus der frühen Kindheit oder postulieren unbekannte biochemische Faktoren, die sie als Grundlage für die Verzerrungen der »objektiven Realität« oder anderer bizarrer und unverständlicher Erscheinungen annehmen.

Die Erklärungsschwäche des alten Paradigmas wird noch offenkundiger im Hinblick auf bedeutsame soziokulturelle Phänomene wie den Schamanismus, die Religion, die Mystik, die Übergangsriten von Naturvölkern, die alten Mysterien und die Heilungszeremonien verschiedener vorindustrieller Kulturen. Die gegenwärtige Tendenz, mystische Erfahrungen und das spirituelle Leben auf kulturell akzeptierte quasi-psychotische Zustände, auf primitiven Aberglauben oder auf ungelöste frühkindliche Konflikte und Abhängigkeiten zu reduzieren, offenbart ein schwerwiegendes Unverständnis ihrer wahren Natur. Freuds Versuch, die Religion mit der Zwangsneurose gleichzusetzen, mag bestenfalls in bezug auf einen Aspekt der Religion, nämlich auf das Ausüben von Ritualen, als relevant betrachtet werden. Er geht aber völlig an der wesentlichen Bedeutung von unmittelbaren visionären Erfahrungen anderer Realitäten vorbei, die diese für die Entwicklung aller großen Religionen gehabt haben. Gleichermaßen zweifelhaft sind die zahlreichen, von der Psychoanalyse inspirierten Theorien, die historische Ereignisse apokalyptischen Ausmaßes wie Kriege, blutige Revolutionen, Völkermord und totalitäre Systeme mit Kindheitstraumen und anderen Ereignissen aus der Lebensgeschichte der beteiligten Personen erklären wollen.

Die Tatsache, daß die alten Modelle für die Erklärung verschiedener Phänomene nicht mehr ausreichen, ist nur ein Aspekt ihrer negativen Rolle innerhalb der Psychiatrie. Sie üben sich auch stark hemmend auf eine aufgeschlossene Erforschung solcher neuer Beobachtungen und Bereiche aus, die mit ihren Grundannahmen über die Realität unvereinbar zu sein scheinen. Dies läßt sich daran verdeutlichen, daß die dominierenden Psychologie- und Psychiatrierichtungen immer noch zögern, eine Unmenge von Daten aus vielen verschiedenen Gebieten anzuerkennen, so etwa aus der Praxis der Jungschen Analyse und der neuen Selbst­erfahrungstherapien, aus der Thanatologie, aus der Forschung mit psychedelischen Drogen, aus modernen parapsychologischen Untersuchungen und aus Berichten von »seherisch begabten Anthropologen«.

Ein starres Festhalten am kartesianisch-Newtonschen Paradigma hat sich besonders schädlich auf die Praxis der Psychiatrie und Psychotherapie ausgewirkt. Dies ist zum größten Teil für die inadäquate Anwendung des medizinischen Modells auf die psychiatrischen Bereiche verantwortlich, die sich mit Lebensproblemen statt mit geistigen Krankheiten auseinandersetzen. Das von der westlichen Wissenschaft geschaffene Weltbild ist pragmatisch nützlich und trägt dazu bei, die gegenwärtig verfügbaren Informationen und Daten zu ordnen. Es wurde aber im allgemeinen als zutreffende und umfassende Beschreibung der Wirklichkeit mißverstanden. Aufgrund dieses erkenntnistheoretischen Irrtums gilt mit dem kartesianisch-Newtonschen Weltbild übereinstimmendes Wahrnehmen und Denken als wesentliches Kriterium für geistige Gesundheit und Normalität. Stärkere Abweichungen von dieser »richtigen Realitätssicht« werden als Anzeichen für ernsthafte psychopathologische Veränderungen gewertet, die eine Störung oder Beeinträchtigung der Sinnesorgane und des Zentralnervensystems, also eine Krankheit widerspiegeln. 

In diesem Zusammenhang werden außergewöhnliche Bewußtseinszustände fast ausnahmslos als symptomat­isch für eine Geisteskrankheit gesehen. Schon der Begriff »veränderte Bewußtseinszustände« macht deutlich, daß die korrekte Wahrnehmung der »objektiven Realität« verzerrt oder verfälscht ist. Angesichts solcher Bedingungen erscheint die Annahme, daß diese Zustände irgendeine ontologische oder erkenntnistheoretische Relevanz haben, als absurd.

Ebenso unwahrscheinlich wäre die Vermutung, daß diese außergewöhnlichen Bewußtseinsformen, die ihrem Wesen nach als pathologisch gelten, irgendein therapeutisches Potential beinhalten. So dominiert in der psychiatrischen Therapie die Auffassung, daß Symptome und ungewöhnliche Phänomene jeder Art beseitigt werden müssen und die betroffene Person zu allgemein akzeptierten Wahrnehmungs- und Erfahrungsformen zurückzuführen sei.

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