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3  Die Entmenschlichung des Mannes und die Unterdrückung der Frau  

 

 

  Die Sucht nach Macht  

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Die Sucht nach Macht zerstört die Seele des Mannes. In seinem blinden Beharren darauf mindert er sich selbst und die Frau, die er dazu braucht, herab, um sein Image des Mächtigen zu bestätigen. Es ist dieses Image, das — bewußt oder unbewußt — zum Sinn seines Seins geworden ist. 

Echte Liebe kann nicht entstehen, da niemand da herausgefordert werden möchte, wo er sensibel ist. Nur das, was jenes Image bestätigt, wird zum Annehmbaren innerhalb einer menschlichen Beziehung. Das Selbst, das einem jeden möglich gewesen wäre, wird gehaßt, weil es auch das Erleben der Hilflosigkeit und des Leidens umfaßt. Echte Verpflichtung, echtes Erkennen des anderen und sich selber werden vermieden. Wir leben Scharaden, und wenn diese nicht funktionieren, werden wir wütend und töten.

Wir sind dauernd auf der Suche nach Helden. Und wenn der, den wir zu unserem Helden (oder unserer Heldin) gemacht haben, zum realen Menschen wird, verlassen wir ihn (oder sie). Wir verachten ihn fortan. Dabei merken wir gar nicht, daß wir uns, der Logik unseres Verfahrens nach, durch den »Verlust« geschwächt fühlen — dem Tode nahe. Die hintergründige Depressivität und Verzweiflung in unserer vordergründig so strahlenden Kultur sind untrügliche Anzeichen dafür.

Als Männer verherrlichen wir die gefällige und zuvorkommende Frau, ohne je zu begreifen, daß der Preis, den wir dafür zahlen müssen, eine unvermeidliche Enttäuschung und Kränkung ist. Männer wünschen sich Wärme von Frauen, fürchten sich aber gleichzeitig davor. Also begnügen sie sich mit einer Fälschung: Sie lassen sieb zur Größe antreiben. Anstelle warmer Geborgenheit und offener Mitmensch­lichkeit wird die Beziehung zur Frau zum Nährboden, auf dem permanent gesteigertes Selbstbewußtsein, unendliche Größenphantasien und geheime Überlegenheits­ansprüche gedeihen. Das Komplott dieser unterschwellig gefälschten Liebe vermindert die Angst vor der wahren Liebe. Wir brauchen dann nicht zu fürchten, von unserem Bedürfnis nach Liebe gefangen zu werden. Die Frauen werden ebenfalls in dieses Spiel eingefangen und machen mit.

 

Ich denke an Alma Schindler (Mahler), die sich durch Gustav Mahler, Walter Gropius, Oskar Kokoschka und Franz Werfel verwirklichen wollte. Das Tragische war, daß sie dessen gar nicht bedurft hätte, da sie genug eigene Kraft besaß.

Es ist das Image der Stärke, der Entschlossenheit, der Macht und Furchtlosigkeit, des Wissens und der Kontrolle, ein Image ohne Angstgefühle oder Schuldbewußtsein, in dem ein Mann seine »Persönlichkeit« findet. Nur durch die Entwicklung dieses Image kann er sich selbst erspüren. Nicht was er wirklich fühlt oder fühlen könnte, wird entscheidend für ihn, sondern ein Image — also eine Abstraktion, eine Metaphysik des Heldentums —, in dessen System und Logik er sich bewegt und fühlt. Es ist dieses Denken, das letztlich dem Vermeiden der Wirklichkeit gewidmet ist und uns lenkt.

Wie sieht nun diese Wirklichkeit aus? Eine Gefühlswelt, die durchsetzt ist mit Erfahrungen der Unzulänglichkeit, Hilflosigkeit, des Leids, der Verzweiflung und der Angst vor dem Versagen. Eine Welt, in der Gefühle der Ohnmacht und der Wut ständig auf Unverwundbarkeit und Unanfechtbarkeit ausgerichtet sein müssen. Nicht alle von uns, und nicht alle, die solche Gefühle zulassen, werden in ihrem Verhalten davon bestimmt. Aber: Was geschieht, wenn wir (wohl die Mehrheit) zulassen können, wie leicht wir uns verachtet und beleidigt fühlen können!

Natürlich besteht die Wirklichkeit der wahren Gefühlswelt auch aus anderen Erlebnisinhalten: Freude, Ekstase, Mut und Trauer. Aber ich rede nicht von der Freude, die sich einstellt, wenn man einen anderen überrundet hat, oder der Ekstase, die ein erfolgreicher Wettbewerb auslösen kann; also all jene Erlebnisse, die schon selber einer »aufgesetzten« Realität entspringen: die Notwendigkeit, erfolgreich zu sein, um dem Versagen zu entkommen.

Ich spreche von der Freude, die auf Mitgefühl beruht: die Freude an der Entwicklung, des Wachsens eines anderen, sogar einer Pflanze; das Miterleben von Freude und Leid. Und: Es ist diese Art des Erlebens, die zu der Kraft führt, die nicht auf ständige Selbstbestätigung angewiesen ist. Diese ist ja nur das Spiegelbild der Furcht, ein Versager zu sein! Gegen diese Möglichkeit kämpft man und merkt gar nicht, daß man mit dieser Art Kraft in ständiger Gefahr ist, sie das nächste Mal zu verlieren.

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Hingegen die Kraft, die aus dem Erleben des Leids, des Kummers, der Hilflosigkeit, des Krankseins, des bitteren Schmerzes kommt, diese Kraft hat mit jenem transzendenten Erleben zu tun, das zur inneren Stärke führt. Diese Kraft ist nicht bedingt durch äußere Macht und deren ständige Bestätigung.

Es ist also der Zwang zum Macht-Image, der uns immer wieder vom Erleben der wahren Wirklichkeit abhält — mit allen verheerenden Konsequenzen! Dieser Zwang führt zu einem irrationalen Leitbild des »wirklichen« Mannes und der »richtigen« Frau, das uns nicht nur immer mehr von unseren echten Möglichkeiten trennt, sondern uns letztlich auch in die Selbst-Zerstörung stürzt.

Bei den Ituri im Regenwald des Kongo (Turnbull, 1961) gibt es keine solchen metaphysischen Modelle des Seins. Sie sind sich derer zwar bewußt, aber verulken sie. Dadurch gibt es keine Unterschiede in der Empfindsamkeit zwischen den Geschlechtern. Zärtlichkeit, Freude, Kummer, jegliche Leidenschaft werden gleichermaßen geteilt und ausgedrückt. Und da sich Männer hier nicht mit metaphysischen Begriffen ihrer »Männlichkeit« sichern und vergleichen müssen, wie es der englische Anthropologe Geoffrey Gorer (1966) beobachtete, scheint es bei ihnen keine Homosexualität zu geben, die bei uns ständig latent vorhanden ist: Jeder Mann verdächtigt sich selbst und muß sich beweisen, daß er es nicht ist — ein Beweis für die allgegenwärtigen Zweifel an unserer Zulänglichkeit als Männer. Wenn Männlichkeit zarte Gefühle verbietet, muß man die eigene Sehnsucht danach von sich abweisen. Indem sie auf einen anderen Menschen projiziert wird, kann man sie nun verneinen und auch im anderen bekämpfen.

So entscheidet jene Metaphysik unser Leben, unsere Beziehungen, unsere Gewalttätigkeit und am Ende unseren sich daraus ableitenden Drang zur Selbst-Zerstörung. Dieser muß sich entwickeln, denn das oft unbewußte Gefühl der Ohnmacht, das aus den Verzerrungen echter menschlicher Möglichkeiten in uns entsteht, erzeugt Wut. Wut, von deren Ursprung wir nichts wissen, kehrt sich unweigerlich gegen uns selbst oder den anderen — als Spiegelbild unseres Selbst.

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Leider werden diejenigen zu unseren Führern, die die Idealvorstellungen, die wir uns von Männlichkeit machen, am besten verkörpern. Viele Frauen unterliegen ebenfalls dieser Faszination und zwingen dadurch ihre männlichen Partner, an jenen »Idealen« festzuhalten. Beide fürchten das Innere und strafen diejenigen mit Verachtung, die nach der Wahrheit suchen. Ein unter Umständen tödliches Verhängnis: Der Männlichkeitswahn — oft unterstützt von Frauen — produziert Kriege und erbarmungslosen Konkurrenzkampf, wobei der Herzinfarkt nur eine Form der Selbstvernichtung ist.

Männer sind in einem Dilemma. Sie fürchten die Frau, die ihnen doch so wichtig für ihre eigene Selbstbestätigung ist. Wir bedürfen der Illusion, eine Frau zu besitzen, um unsere Einmaligkeit zu beweisen, um unsere Überlegenheit anderen Männern gegenüber zu bestätigen. Und doch geben wir Frauen insgeheim der Verachtung preis, um zu verbergen, wie wir ihren Wert mißbrauchen und um untereinander zu triumphieren. Diese Verachtung wird oft zum Zement der Beziehung zwischen Männern. Gemeinsam halten wir die Frau für unterlegen. Und doch wollen wir unter allen Umständen von ihr akzeptiert werden — und das als völlig fehlerlose Helden.

Wie kann es aber unter solchen Umständen wahre Intimität geben? Ihre Basis ist die Ebenbürtigkeit. Wie können wir sie erreichen, wenn wir uns an jedem Punkt unserer Begegnung, in der Tiefe unseres Seins, ungenügend, überlegen und/oder schuldig fühlen? Ungenügend, weil wir zuinnerst gar nicht wirklich an unseren Mythos glauben; überlegen, weil wir uns mit unserem Mythos betrügen wollen; und schuldig, weil unsere faktische Verachtung der Frau unsere Abhängigkeit von ihrer Anerkennung und Bewunderung leugnet und unsere Überheblichkeit genau das verdeckt. Aber das ganze Elend des männlichen Zwangs zum Triumph wird in bestimmten Phantasien dieser Männer beim Liebesakt deutlich. Diese Phantasien sind oft völlig a-personal, aggressiv und reduzieren die Frau zum beliebigen, passiven Objekt. Warum können viele Männer Sex nur mit einer Frau genießen, die ihre Sexualität verkauft oder mit der ihnen eine Huren-Phantasie möglich ist? Indem Männer Frauen verachten, können sie sich der echten Intimität mit ihnen entziehen, die sie ja fürchten, da sie an ihrer eigenen Zulänglichkeit zweifeln und selber nicht glauben, daß man sie kritiklos akzeptieren könnte. Es scheint mir, daß wir Männer aggressive sexuelle Phantasien brauchen, um uns über unsere Gefühle der Unzulänglichkeit hinwegzuhelfen.

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Zwang zur Leistung ist das Kreuz des Mannes. Dadurch entsteht sein unersättliches Bedürfnis nach Lob und Beifall, was wiederum die stets gegenwärtige Angst vor dem Versagen beim nächsten Leistungsanspruch mit sich bringt. In >The Way Of All Flesh< (Der Weg allen Fleisches) versucht Samuel Butler, der englische Schriftsteller und Satiriker des letzten Jahrhunderts, uns das klarzumachen, wenn er Edwards Vater sagen läßt: »Wir dürfen Männer nicht so sehr nach dem beurteilen, was sie tun, als nach dem, was sie uns fühlen lassen, was sie in sich haben . .. Ich will einen Mann nicht nach dem einschätzen, was er tatsächlich auf seine Leinwand gemalt hat, noch nach dem, was er sozusagen auf der Leinwand seines Lebens dargestellt hat, sondern nach dem, was er mich hat spüren lassen, was er gefühlt und worauf er gezielt hat.« (Butler, 1950) 

In seinem Essay zum 100. Todestag Goethes drückte es Ortega y Gasset etwas anders aus: »Das Leben ist seinem inneren Wesen nach ein ständiger Schiffbruch. Aber schiffbrüchig sein heißt nicht ertrinken ... Das Gefühl des Schiffbruchs, da es die Wahrheit des Lebens ist, bedeutet schon die Rettung. Darum glaube ich einzig an die Gedanken Scheiternder.« (Ortega y Gasset, 1934)

Leider zählt innerhalb unseres konventionellen Werte- und Normensystems nicht, wer wir in unseren Gefühlen sind, sondern lediglich das, was wir auf »erfolgreichen« Laufbahnen erreichen. Danach werden wir gemessen; danach beurteilen wir uns auch selbst. Erfolg ist der Maßstab, an dem der Mann gemessen wird, nicht seine Fähigkeit zu lachen, zu spielen oder zärtlich zu sein. Aber dieser Erfolg gründet letztlich auf dem Versagen eines anderen. Diese Lektion fängt im Elternhaus an, wird in der Schule verstärkt, so daß wir dann mit dem Erwachsensein von einem internalisierten Alptraum gezeichnet sind: Um in unserer Kultur erfolgreich zu sein, mußt du lernen, vom Versagen zu träumen. Der amerikanische Soziologe Jules Henry dokumentiert diesen Vorgang mit Schärfe und Schmerz in seinem Buch >Culture Against Man< (Die Kultur gegen den Menschen, 1963).

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Das trifft Frauen und Männer gleichermaßen, aber mit einem Unterschied. In unserer Kultur haben die meisten Männer keine Chance, der Notwendigkeit zu entweichen, ein Sein aufzubauen, das nicht von der Metaphysik des Erfolgs und der Leistung bestimmt wird. Und da sie uns zu einem scheinbar adäquaten Gefühlsbereich verhilft, wird sie zu unserem Bedürfnis. Für Frauen jedoch bietet sich eine andere Möglichkeit in ihrer Entwicklung. Indem es fast von Geburt an zum zentralen Thema für sie werden kann, ein potentieller Träger des Lebens zu sein, kann dieses reale "Ziel der Entstehung eines Lebewesens — und damit der Möglichkeit, es offen zu genießen, an seinen Schmerzen, Leiden, Freuden und Ekstasen teilzunehmen — zum zentralen Punkt des eigenen Leitbildes werden. Auf diesem Weg können Gefühle, die mit realem Leben verbunden sind, zu einem Sinn des eigenen Seins beitragen, der nicht auf Abstraktionen beruht.

Die meisten von uns Männern jedoch bauen, da wir nicht die Gnade einer vergleichbaren Determination fürs Leben und die Lebendigkeit haben, einen Lebenssinn auf, dessen Wege uns von der Freude, der Erwartung von Schmerz und Ekstase in der Erzeugung eines Lebens trennen.

Diese Wege führen auch dazu, daß wir unsere Ängste nicht zulassen können. Im Gegensatz zur Frau, die bei den Ängsten und Verzweiflungen ihres Kindes verweilen darf, wird für uns das Herrschen zum Mittel, die Angst zu verdrängen. Dadurch sind wir aber einer Angst vor der Angst ausgesetzt, die uns nie die Gelegenheit gibt, zu erfahren, daß die Ängste, die man auf sich zukommen läßt, hingenommen werden können und nicht als bedrohliche Niederlage zu fürchten sind. Die Angst vor der Hilflosigkeit bedeutet dann nie, daß man in einer gewissen Situation einfach hilflos ist. Hilflosigkeit ist nicht einfach gleichzusetzen mit völliger Ohnmacht und Versagen. Hilflosigkeit bedeutet die Anerkennung der Grenzen unseres Einflusses, die Fähigkeit, es zu ertragen, auf jemanden oder auf etwas angewiesen zu sein.

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Verhindert wird diese Erfahrung aber deswegen, weil uns eingeprägt wurde, jede Hilflosigkeit als Schwäche zu brandmarken. Wir lernen jede Form der Hilflosigkeit als Herausforderung zu betrachten, die zur Schwächung des eigenen Selbst führen könnte. Auf diese Weise kann man den anderen nicht als Ebenbürtigen erkennen. Der alte Cato, der uns in der Schule als Beispiel eines moralischen und pflichtbewußten Bürgers Roms überliefert wurde, illustriert den Irrsinn eines Herrschens, das die Angst verstärkt und wahre Beziehungen zwischen Frau und Mann und zwischen Männern unmöglich macht. Im zweiten Jahrhundert vor Christus rief er alle Männer auf, Frauen zu unterdrücken, denn: »... sobald sie die gleiche Möglichkeit haben, erweisen sie sich als überlegen.« (Zitiert in: Fester, 1979)

Der Preis für ein Leben mit dieser Gewaltsamkeit ist ein ständig nagender Zweifel, weil man etwas in seinem Innersten als Fiktion beargwöhnt. Es ist die Fiktion der Überlegenheit, eine Lüge, die allen unseren Beziehungen Gewalt antut, sei es zu Kindern, Frauen, Tieren, zur Natur oder zu uns selbst. Männer und Frauen leben im Bann dieser Fiktion. Und da sie Haß in beiden entzündet, zerstören sie sich gegenseitig. Männer werden reizbar, zornig und bösartig, weil sie ständige Angstträume von Niederlagen haben; Frauen zerstören ihn und sich selbst, indem sie den Mann an seinem Anspruch auf Heldentum festmachen.

Unter der Oberfläche tobt heimlich gegenseitige Verachtung, weil jeder Mann und jede Frau in ihrem Innersten wissen, daß es keinen Mann gibt, der nicht auch etwas von der Hilflosigkeit verspürt, die seinen Mythos widerlegt. Vielleicht ist das auch der Grund, warum so viele sich in ihrer gegenseitigen Verachtung eigenartig wohlfühlen. Sie entspricht ihren eigenen wahren Gefühlen sich selbst gegenüber.

Um was geht es uns Männern eigentlich? Wie bewußt und wirklich sind wir? Fühlen wir uns nur vollkommen, wenn wir Kommando, Kontrolle und Besitz haben? Wenn wir für jemanden sorgen und bezahlen, gibt uns das die Zuversicht, daß wir geliebt werden. Zugleich bedeutet diese Fürsorge, daß wir über den anderen bestimmen. Indem er unsere Macht bestätigt, legt er auch unser tiefstes Minderwertigkeitsgefühl bloß. Denn: Man wird geliebt für das, was man beweisen kann, für die Fürsorge — nicht für das, was man als Mensch ist. Es fällt uns schwer zu glauben, daß wir für unser Selbst, unsere eigene Gefühlswelt geliebt werden könnten, für unsere Wonne, Freude und Lust am Leben. 

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Und so rutschen wir immer tiefer in eine Falle des Sich-beweisen-Müssens hinein. Die Fürsorge ist dann ein unausgesprochenes Abkommen, dem wir uns unterwerfen und dessen Preis ein geheimes Übelnehmen, ein Groll ist. Aber der Mechanismus der Falle verbietet es, die Sache beim Namen zu nennen. Das ganze Spiel würde damit preisgegeben.

Und so geschieht es, daß die Partner eines solchen Verhältnisses den unterdrückten Groll durch Erhöhung ihrer Forderung ausdrücken. Die, die sich dem anderen unterwerfen, weil er (oder sie) für sie sorgt, erhöhen ihren Einsatz. Das ist ihre geheime Macht. Und derjenige, der die Fürsorge leistet, erhöht seine geheime Verachtung. Er hat ja den anderen in seiner Hand. Der Trick ist, zu wissen, wie dieses Spiel zu spielen ist, ohne das ganze Gefüge zu gefährden. Wenn man aber seinen Willen durch solche Manöver nicht durchzusetzen vermag, dann stellt sich Wut ein. Und da man diese auch nicht direkt ausdrücken kann, weil es das gegenseitige In-der-Macht-des-anderen-Stehen sichtbar machen würde und jenes untergründige Spiel illusionärer Liebe zerstören würde, entwickelt man psychosomatische Störungen. So setzt sich zum Beispiel uneingestandene Wut in Kopfschmerz oder Migräne um. Das ist einer der Gründe, warum psychosomatische Störungen in unserer Gesellschaft zunehmen.

Und hier, im Kopfschmerz und in der Migräne, zeigt sich die tiefste Malaise der männlichen Ideen seiner Überlegenheit und der Notwendigkeit des Herrschens. Die daraus abgeleitete Formulierung des Selbst funktioniert nicht, und da man sich dies nicht eingestehen darf, kann der Mann sich und seine Welt nur zerstören. Er fürchtet, daß sich sonst alles auflösen würde. Und es stimmt insofern, als die »Gefahr« der Vernichtung, der Auflösung unserer Persönlichkeit dann droht, wenn sie vorzugsweise auf Umgang mit Macht gegründet ist. Man fürchtet den Zusammenbruch des gegenseitigen Pakts, der Gefühlsmasche »wer über wen Sorge trägt« und die Bloßstellung der darin enthaltenen beiderseitigen Selbsterniedrigung. Das gilt nicht nur in bezug auf Mann, Frau und Kind. Dies gilt für alle Beziehungen, denen Macht zugrunde liegt. Die Basis der darin enthaltenen Selbstachtung ist verzerrt. Wird das erkannt, so droht Auflösung, Chaos und ungeheure Angst. Eine Selbstachtung, die auf Macht basiert, hat im Grunde dafür nicht die Stärke. Die Quelle der Heuchelei, die uns zerstört, ist also in der Entwicklung unseres Selbst zu finden.

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Wir haben Angst, neu anzufangen, uns zu ändern, weil wir nicht glauben, es könne uns jemand lieben, wenn wir wir selbst sind. Und so spielen wir die uns zerstörenden Spiele weiter und behaupten, daß jene die guten Lehrer sind — Psychotherapeuten eingeschlossen —, die uns beibringen, wie man es noch besser spielen kann. Wenn wir offen, aufrichtig und authentisch sein könnten — Psychotherapeuten eingeschlossen —, brauchten wir zum Beispiel keine Kopfschmerzen zu haben.

Unser wahres Selbst, dasjenige, das wir hätten sein können, wird vom Szenarium der Macht verdeckt. Wir wurden in ihre Ausprägungen gepreßt, weil keiner uns in unserer Echtheit mochte. Kinder im ersten und manchmal bis zum zweiten Jahr erkennen noch die Wahrheit in ihrer nicht-verbalisierten Verzweiflung. Ich nenne es »nicht-verbalisiert«, weil die Erwachsenen sie nicht als solche erkennen, sie als Übellaunigkeit und Trotz verstehen. Es ist jener Widerstand, den sie in sich selbst vor langer Zeit hatten abtöten müssen, den sie jetzt bei ihren Kindern als Widerstand empfinden. Das ist das allgemeine Beispiel für Projektion in unserer Gesellschaft, die Projektion der Feindseligkeit und Aggression auf unsere Kinder.

Das Unglückselige daran ist, daß unabhängig von den Absichten unseres Herzens wir durch die Ideologie solcher verstümmelten Selbsts, das heißt der vorprogrammierten Arten des Liebens, die nicht Liebe sind, leben. Es gibt aber auch Menschen, die gleichsam ein Spiel im Spiel des Liebend-Seins spielen. Sie sind die wahrhaft bösen. Sie verbergen ihre Handlungen hinter Lügen und lavieren sich auf diese Weise durch. Da wir oft selbst durch unser Mitmachen darin involviert sind, können wir es uns meist nicht leisten, die Situation zu durchschauen. Darauf beruht der Erfolg von Psychopathen in unserer Zivilisation. Sie als das zu erkennen, was sie sind, würde uns zwingen, uns mit dem zu konfrontieren, was sie parodieren: falsche Liebe. So leiten wir dann unsere Wut um auf jene, die wirklich versuchen, uns aus unserer Unwirklichkeit herauszuhelfen.

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Ödipus als Ausdruck des männlichen Mythos der Macht

Dieser Verrat an dem, was wir sein könnten, ist die Grundlage unserer allgemeinen vernichtenden Kräfte. Er wird durch die Beziehung zu unseren Müttern bestimmt. Das zu sagen heißt nicht, die Mütter anklagen. Sie dienen in dieser Hinsicht nur als Bindeglied zu den Vätern und der Gesellschaft, in der das »Selbst als Ausdruck von Macht«, als einzig lohnende Realität, Geltung hat. Diese »Realität« bestimmt das Bedürfnis der Mütter, des Kindes Abhängigkeit auszunützen. Die Unterdrückung der Frau führt dazu, daß insbesondere dann, wenn sie selbst von dieser Ideologie beherrscht ist, sie Erleichterung und Ersatz für die Enttäuschung und das Defizit an Selbstverwirklichung in ihrer Beziehung zu ihren Kindern suchen wird.14) Sie mag dann selbst Macht in extenso über und durch ihr Kind suchen, aber es geschieht auf Wegen, die diese dominierende Absicht verbergen. Sie wird ihr Kind »lieben«, weil es sich als Werkzeug ihres eigenen Macht-Willens gebrauchen läßt. Was daraus entsteht, wird durch den »Mythos« des Ödipus verherrlicht und verborgen. Verherrlicht, weil des Kindes Verzweiflung als Liebe besungen wird; verborgen, weil es in Wahrheit um Macht und nicht um Liebe geht.

Es ist weder Liebe noch Sexualität im engeren Sinn, was ein Kleinkind versuchen läßt, seine Mutter zu besitzen. Es ist vielmehr ihre — oft unbewußte — Ablehnung seiner eigenen Authentizität. Das Verlangen, das Kind als Werkzeug mütterlicher Macht zu gebrauchen, bewegt das Kind dazu, sich an die Mutter zu klammern, sie zu besänftigen oder zu beherrschen oder ihr zu dienen.

Die tiefste Verletzung, die einer Mutter in unserer Gesellschaft angetan wird, ist nicht nur ihre Unterdrückung, sondern ihre Anpassung an den männlichen Mythos seiner Überlegenheit und die Annahme ihrer eigenen Wertlosigkeit. Insoweit die heutige Frauenbewegung Gleichberechtigung als Recht versteht, genauso schlimm zu sein wie die schlechtesten der Männer, verewigt sie des Mannes Herrschaft in neuen Formen. Noch schlimmer: Solche Frauen werden, indem sie die Kraft ihrer eigenen kreativ wirkenden Liebe verneinen, weiterhin Frauen und Männer erziehen, die ihrerseits ihre eigene wahre Stärke zurückweisen und sich für rücksichtslose Entfaltung ihrer Macht entscheiden werden. Das ist es, was Ödipus wirklich verkörpert: die ursprüngliche Verletzung, die sich zum Streben nach Dominanz verwandelt.

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Menschen, die uns als »neurotisch« dargestellt werden, sind einfach immer noch relativ zurückhaltend in ihrer Machtgier. Entweder macht sie ihnen Angst, oder sie halten sie für falsch. Was oft als das »Durcharbeiten« eines Ödipus-Komplexes in Psychotherapie oder Psychoanalyse gilt, ist die »Befreiung« von Skrupeln, das Verstärken von Ehrgeiz, Wettbewerb und Macht. Die tiefen Verletzungen, die zu Gefühlen unakzeptabler Hilflosigkeit und Ängsten führten, können in einer Therapie, die der Ideologie der Herrschaft und der Macht verhaftet ist, nicht wirklich berührt werden. Aber nur solch eine Konfrontation führt zur verlorenen oder gefürchteten Menschlichkeit zurück. Das ist aber nicht möglich, solange dem Therapeuten seine eigenen Ohnmachtsgefühle — dem männlichen Mythos zuliebe — unerkannt bleiben, und es wird ihm unmöglich sein, den Patienten zu seinem eigenen Selbst zurückzuführen.

 

Die Angst vor der Lebendigkeit

Aber diese »Ödipus«-Situation verursacht noch einiges mehr. Indem sie Ausdruck des Besitzes und nicht der Liebe ist, erzeugt sie einen fundamentalen Betrug. Wieder ist es das männliche Begriffsschema des Besitzes als Macht, das darin zum Tragen kommt. Wird Besitzergreifen mit Liebe gleichgestellt, so wird der Frau die »Macht« gegeben, diese »Liebe« dem Mann zu schenken. Ein vielleicht überraschender Aspekt! Aber was verleiht der Mann eigentlich der Frau, indem er sie verherrlicht? Ist es nicht die Lebendigkeit und der kreative Lebensdrang, die er von sich selbst wegweist, weil er sie im Grunde fürchtet?

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Männer denken über sich selbst logisch, geordnet, ohne zu bemerken, daß solche Begriffe ihre Spontaneität erdrücken, vor der sie sich fürchten. Das Leben ist nicht logisch und nicht ordnungsgemäß. Das was lebendig ist, ist chaotisch. Das beunruhigt vor allem jene Männer, welche Chaos mit Hilflosigkeit gleichstellen. Und so haben wir die Fiktion des Penisneids, um nicht bemerken zu müssen, daß wir etwas von den Frauen wollen, nämlich jene Vagina zu beherrschen, die uns so lebendig erscheint, so strotzend von Lebenskraft. Dieser Neid ist eine uns selbst dienende Erfindung. Sie tarnt unseren Neid auf etwas, das sich uns entzogen hat und von dem wir glauben, daß Frauen es besitzen: Lebendigkeit und Kreativität. Und so müssen wir die Frauen besitzen, denen wir diese Kräfte verleiben, weil wir sie uns selber nicht zugestehen können.

Es gibt natürlich Frauen, die das, was sie sein könnten, verraten haben, indem sie die männliche Propaganda seiner Überlegenheit übernehmen. Es sind Frauen, die so tun, als ob sie jene Macht nötig hätten, die die Männer allein für sich beanspruchen. Und solche Frauen sind bereit, alles zu tun, um dieser »magischen Stärke« durch ihre Sexualität habhaft zu werden. Nur hier, in diesem Zusammenhang, gewinnt der Penisneid Bedeutung. Aber von dem Moment an, in welchem diese Frauen ihren Mann besitzen, erleben sie ihn als erniedrigt. Da sie mit der Überlegenheit des Mannes zugleich seine Verachtung für Frauen erworben haben, können sie im Grunde nur sich selbst verachten. Dadurch wird alles, was sie besitzen, durch ihren eigenen Mangel an Selbstrespekt zwiespältig und kontaminiert.

In diesem Sinne gibt es Frauen mit Penisneid. Ihr Verlangen ist auf das gerichtet, was angeblich nur wir Männer besitzen: Macht. Freud machte aus diesem Phänomen eine treibende Lebenskraft. Er verwechselte den Phänotypus dieser Erscheinung mit dem Genotypus. Dadurch charakterisierte er Frauen mit einer Triebkonstellation, die eigentlich nur Ausdruck männlicher Mythologie ist. Gleichzeitig verschleierte er einen anderen Zusammenhang: Männer haben um so eher die Tendenz, ihren Penis überzubewerten, als sich ihnen die Kreativität des Lebens entzieht.

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Dem gegenüber hat es in der Geschichte durchaus Männer gegeben, die intime Kenntnis vom Leben hatten, seiner Schönheit, seiner Herrlichkeiten, sei es die aufgehende Sonne, ein Wasserfall oder das Glucksen eines Säuglings. Und es gibt Gesellschaften wie die Ituri (Turnbull, 1961) im Regenwald des Kongo oder die Yequanas im Dschungel Venezuelas, in denen Männer heile Menschen sind.15) Wir aber sind es nicht.

Es fängt an mit der Angst, der Angst vor der Hilflosigkeit. Eine Angst, so groß, daß wir die Hilflosigkeit meiden, die den Beginn unseres Menschseins charakterisiert, anstatt sie anzunehmen und sie in unser Erleben zu integrieren. Mit der Ablehnung dieser fundamentalen menschlichen Eigenschaft verblaßt für viele Männer das Leben zu einer Farce.

Warum hassen die Männer ihre Hilflosigkeit so sehr? Und warum hassen manche Frauen, häufig jene, die als besonders attraktiv und erfolgreich gepriesen werden, hilflose Männer? Hilflosigkeit ist gefürchtet, weil sie oft zur Vorbedingung unserer Unterjochung wurde. Wenn Eltern die Hilflosigkeit ihrer Kinder ausnützen, um sie zu Objekten zu machen, durch die sie ihre eigene »Selbstachtung« erhalten, wird Hilflosigkeit zu unserem Feind. Es ist also nicht die Hilflosigkeit an sich, sondern ihr instrumenteller Charakter, der Kontext unserer Erfahrung von ihr, der uns Hilflosigkeit so gefährlich, so unannehmbar macht.

Wenn das Kind nie zu fühlen bekommt, daß es um seiner selbst willen geachtet und geliebt wird, wird aus der Hilflosigkeit, mit der es auf allen seinen Entwicklungsstufen konfrontiert ist, eine unaufhaltsame Angst. Die Winzigkeit des Kindes, seine Machtlosigkeit, seine Bedeutungslosigkeit — außer als Objekt anderen Menschen Bedeutung zu geben —, kurz: seine Minderwertigkeit, machen es unmöglich, sein eigenes Selbst zu finden. Unter solchen Umständen kann ein Kind nicht an sich selbst festhalten, da es dem Chaos ausgesetzt ist, dem überflutenden Einströmen von ungeordneten Sinnesempfindungen: eine unmögliche Hilflosigkeit.

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Seine seelische Integration wird dann entweder auseinanderfallen, oder es wird seine Kohäsion durch die von den Eltern gebotene Struktur finden. Deswegen wird Hilflosigkeit mit dem Verlust des Selbst gleichgesetzt. Der klassische Weg aus dieser Verzweiflung ist der von der Gesellschaft offerierte: Macht. Macht über andere. Das Kind erspürt in den Umgangsformen der Eltern, wie diese sich gegenseitig ausbeuten. Empathisch erkennt es ihre Verzweiflung und ihre scheinbaren Triumphe durch das einander Demütigen und Heruntersetzen. Macht, so die unausgesprochene Verheißung, ist das Heilmittel in seiner Situation.

Das Kind spürt genau, wo Eltern seine Hilflosigkeit ausnützen und sie erhalten, um ihren Selbstwert zu etablieren. Und indem es nun seine eigenen Reaktionen unterdrückt — sie sind ja eine Gefährdung —, wird die »Harmonie« mit den Eltern hergestellt. Es beginnt zu glauben, daß die elterliche Welt und wie die Eltern ihm begegnen, das Beste für es sei. Das kindliche Leiden wird verneint, und allmählich verlernt das Kind, auf sein Inneres zu hören. Aber die durch das Zerstören seiner Autonomie hervorgerufene Wut wird selbst zum zerstörerischen Trieb, der sein Verlangen nach Macht nun weiter fördert. Bleiben solche Vorgänge ungemildert, zum Beispiel durch Menschlichkeit, lernen Kinder bald, daß der Schmerz selbst ein wirkungsvolles Mittel zur Herrschaft ist. Sie haben gelernt, daß es ihr Gemüt ändern kann, und so fangen sie an anzunehmen, daß alle und alles auf diesem Weg bezwungen werden könnte. Auf diesem Weg — durch kindliche Phantasien, in denen die Quellen der Taten machtvoller erwachsener Männer zu suchen sind — werden die Themen unserer »Geschichte« erzeugt.

 

Männer sind mehr geschädigt

Noch etwas wird hier ausgebrütet. Unter den Bedingungen einer Kultur, die Macht als Leitprinzip des Selbst fördert, lernen Kinder so zu tun, als ob sie verletzt wurden, um jene zu manipulieren, die einem wirklich weh taten. Solche Kinder erlernen die Heuchelei der Macht-Welt schnell: Wirkliches Leid,

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das sich in Depression und in Formen des Sichzurückziehens ausdrückt, irritiert die Erwachsenen. Dagegen bewirkt ein trügerisches Manöver, wie tränennasse Augen, eher Großzügigkeit und erfüllt Erwachsene mit Machtgefühlen. Über dem augenscheinlichen Erfolg solcher kindlicher Manipulationen darf nicht vergessen werden, was für eine Quelle der Verachtung das darstellt! So verewigt sich Falschheit. Der Verrat am Selbst führt dazu, die Welt mit Lügen zu manipulieren.

Unter diesen Bedingungen unserer Entwicklung ist es für Männer und Frauen schwierig, ihre Hilflosigkeit als eine Vorbedingung zu akzeptieren, sich selbst hören zu können. Jedoch ist der Druck auf Männer, sich der Ideologie der Macht zu fügen, stärker. Ihre Metaphysik des Selbst zerstört ihre eigene Menschlichkeit. Wie schon beschrieben, haben Frauen oft mehr Möglichkeiten, ihren Sinn des Lebens außerhalb solch einer Ideologie zu finden. Sie können Leben in die Welt bringen. Und wohl viele von uns Männern rettet, daß die Mütter in einer Realität leben, welche von Erfahrung und nicht von Metaphysik geprägt ist, die Erfahrung zum Beispiel mit der Hilflosigkeit ihrer Kinder, Kinder, auf die sie sich bewußt freuen. Damit soll nicht die Plackerei und starke Gebundenheit von Frauen glorifiziert werden, mit denen das Kinderaufziehen in unserer Kultur so oft verbunden ist.

Das Entscheidende ist, daß viele Frauen trotzdem immer bereit waren, auf die Hilflosigkeit ihrer Kinder einzugehen. Die Hilflosigkeit des Säuglings, eingebettet in die Lebendigkeit und Freude der Mutter, wird nicht als Bedrohung oder Druck erfahren. Sie führt für das Kind zur Entdeckung, daß ihm geholfen wird, die Welt zu erfassen und zu erreichen. Gleichzeitig führt eine solche Empfänglichkeit einer Mutter — durch ihr Erleben der eigenen Kreativität — zur Verläßlichkeit und Erweiterung ihrer empathischen Fähigkeiten. Dieses Entfalten der empathischen Wahrnehmungsfähigkeit fördert nicht nur das Wachstum des Kindes durch die angemessene Antwort auf seine Bedürfnisse, sondern verstärkt auch die Gefühle der Mutter für Angemessenheit, Kraft und Freude.

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Das Erlebnis der Hilflosigkeit eines Wesens, das man hegt und nährt und an dessen Heranwachsen man Anteil nimmt, könnte an sich jedermanns Erfahrung sein. Dort aber, wo die Struktur des Selbst diese Erfahrung als Ausdruck von Schwäche und Mangelhaftigkeit zurückweist, wird solch eine Möglichkeit verworfen. Da der Druck unserer Kultur, jenes durch Hilflosigkeit irritierte Selbst zu erzeugen, größer auf Männer ist als auf Frauen, entsteht ein fundamentaler Unterschied im Umgang mit Hilflosigkeit zwischen Männern und Frauen.

Wir müssen uns mit der Tatsache abfinden, daß dieser Unterschied hauptsächlich darin liegt, daß Frauen im allgemeinen realistischer, wirklichkeitsoffener sind als Männer. Sie sind in dem Sinne menschlicher, als sie weniger von ihren Gefühlen abgetrennt, weniger geneigt sind, ihnen durch Abstraktionen zu entfliehen.

Wie schon darauf hingewiesen, gab es durch alle Zeiten Männer, die auf die Hilflosigkeit anderer in hegender Weise einzugehen verstanden, sie weder fürchteten noch sich dadurch vernichtet fühlten. Aber in unserer von der Bewunderung der Macht beherrschten Kultur müssen gerade die Frauen, die wirklichkeitsoffener sind, viel mehr als die Männer auf zwei Ebenen leben, da ihre tiefste Erfahrung der offiziellen Wirklichkeit widerspricht. In anderen Worten: Wenn offizielle Logik und erlebte Gefühle nicht isomorph (übereinstimmend) sind, kann man nicht auf einer integrierten Ebene leben.

Für Männer bedeutet das sehr häufig, daß Frauen in unterschiedlichen Graden »hysterisch« sind, beherrscht von Irrationalität und Mangel an Logik. Was für eine Vereinfachung und wunderliche Selbsttäuschung unsererseits! Aber diese verächtliche Einstellung Frauen gegenüber hilft den Männern, ihre wahn-sinnigen Annahmen über die vermeintliche Notwendigkeit der »Stärke« und Macht nicht in Frage stellen zu müssen.

Wie sollten Frauen anders als gespalten erscheinen, wenn die »Vernunft« der Macht ihrer Offenheit und Disponibilität, ihrer kreativen Erwartung, Lebendigkeit und Zärtlichkeit und ihrem Eingehen auf Hilflosigkeit und Leiden widerspricht? Sich nicht dem Diktat der logischen Erwartung zu unterwerfen setzt sie leicht dem Verdikt der Inkonsequenz aus. Die »Logik« der Männer lehnt solche »inkonsequenten« Lösungen ab, sie sehen sich in ihren Handlungen als konstant an.

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Ich meine, wir müssen dafür danken, daß es noch Unbeständigkeit und Irrationalität gibt; denn dadurch bleiben wir überhaupt noch mit dem Leben in Kontakt. Wir alle würden Robotern noch ähnlicher sein, als wir es ohnehin schon sind, wenn alle Mütter sich in das Abspalten von Gefühlen drängen lassen. Die Tatsache, daß es auf dieser Welt noch immer geistige Gesundheit gibt, spricht für die Kraft und Verbreitung der unmittelbaren Erfahrungen, die in echten Bedürfnissen und Zielen wurzeln.

Wir Männer müssen uns über den Mangel klarwerden, der in den Schranken besteht, die uns von jenen Bedürfnissen trennen, die um Hilflosigkeit, Leid und das Schaffen von neuem Leben kreisen. Das hat unsere Trennung von der Wirklichkeit des Am-Lebenseins, von uns selbst, von Frauen und Kindern vertieft.

In der Vergangenheit mußten Frauen, wollten sie die Verbindung zu ihren wirklichen Gefühlen behalten, einen Teil ihres Lebens mit Bewunderung ihrer ehrgeizigen Ehemänner oder dem Zujubeln auserkorener Helden verbringen. Das erlaubte ihnen nämlich, sich einen Freiraum zu schaffen, in dem ihr anderes Selbst ohne allzuviel Einmischung von außen Ausdruck finden konnte. Kinder und Heim wurden zu solchen Bereichen. Hier konnten sie unter dem Deckmantel weiblicher »Minderwertigkeit« eine Art von Freiheit und geistiger Gesundheit für sich selbst entwickeln.

Wenn ich allerdings jene Frauen sehe, die glauben, Gleichberechtigung bedeute die Freiheit, so ehrgeizig und machthungrig zu sein wie die »männlichsten« der Männer,16 dann fürchte ich, daß Frauen, die auf ihre Weise heilgeblieben sind, durch die eigenen Geschlechtsgenossinnen gefährdet werden. Denn nun werden sie sich nicht nur gegen Männer wehren müssen, sondern auch gegen jene Frauen, die die männliche Auffassung von Freiheit übernommen haben. Die »Freiheit«, der Macht nachzujagen, um nichts von Furcht wissen zu müssen, verbündet sie mit der Verachtung, die Männer für das weibliche Geschlecht haben. Ein Selbst, das vor der Hilflosigkeit davonläuft, kann nur sehr beschränkt Teile seines inneren Geschehens erfahren. Es kann nicht mit seinen eigenen Schrecken und Unsicherheiten umgehen, kann sie nur negieren durch Verachtung und der Jagd nach Unverwundbarkeit. Das ist natürlich eine vergebliche Jagd für beide, da für Männer und Frauen die Hilflosigkeit, gerade weil sie gefürchtet wird, hinter jeder Ecke lauert. Diese Jagd führt zu Paranoia, Abwehr, Säbelrasssein und zum Wahnsinn des Wettrüstens.

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Bewunderung

 

Die Abhängigkeit von Bewunderung, das heißt das Bewundertwerden, scheint die ersehnte »Stärke« zu versprechen. Für sein »Starksein« will der Mann bewundert werden. Und dieses Bewundertwerden wird Liebe genannt, dabei ist es eher dazu angetan, die wahre Liebe zu ersticken. Meistens ist das nicht die bewußte Absicht, in der Wirkung bleibt es jedoch gleich.

Wenn wir für Eroberungen und Heldentaten geliebt werden wollen, deren Entstehung auf Angst beruht, auf der Angst, daß wir wirklich schwach sein könnten, dann verachten wir uns selbst und dazu jene, die uns dafür »lieben«. So verlangen wir nach weiterem Bewundertwerden, denn nur so müssen wir auf unsere eigenen Zweifel nicht aufmerksam werden und fühlen uns geliebt. Aber die wahre Liebe, die wir alle wünschen, entrinnt uns. Und desgleichen auch Intimität, jene Nähe, die wir nötig haben, vor der wir uns aber fürchten, da sie Offenheit und Echtheit verlangt. Gefangen in der Verlogenheit »männlicher« Metaphysik, gelingt es manchen Männern niemals, in der Begegnung der Intimität auch zu sich selbst zu kommen. Und so wird das Nichtselbst-Sein fortgesetzt. Wie soll ein Mann (oder eine Frau) für etwas bewundert werden, was letztlich auf Selbstbetrug beruht? Solange Angst vor Hilflosigkeit dahintersteht, die man sich nicht eingestehen kann, muß der Bewunderer seine eigene Hilflosigkeit verleugnen. Dadurch verliert er sich selbst. Was übrigbleibt, ist vielleicht ein Kalkulieren, ein Manipulieren. Aber das ist Falschheit und widerspricht der Liebe, so erfolgreich auch jemand damit sein mag!

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Eine meiner Patientinnen gab mir Aufschluß über diese Art Bewunderung. Sie brach in einer Sitzung in einen Schrei aus: »Meine letzte Zuflucht war, Teil meiner Mutter zu werden, ihr ganz zu gleichen. Was für ein Trick! Wenn ich sie bewunderte, wie sie war, konnte sie mich ja nicht finden. Ich war nicht mehr da!« Eine bemerkenswerte Einsicht. Indem man sich den idealisierten machtvollen anderen angleicht, kann niemand uns finden. Man ist ja nicht da! Der Preis, den wir alle zahlen, ist der Verlust unseres Selbst und als Folge der Verlust der Nähe zueinander.

Bewunderung hat noch einen anderen, äußerst ambivalenten Aspekt. Der, der bewundert, kann Macht ausüben! Es ist die Macht, die ihm der, der bewundert werden möchte, gibt. Ein Paradox — aber trotzdem wahr! Wir gebrauchen Bewunderung und Idealisierung, um die so Idealisierten zu stürzen. Es ist dies die Rache des Unterdrückten: »Du bist nicht so, wie du es mir versprochen hast!« Der, an den wir bislang glaubten, kann im Handumdrehen gestürzt und vernichtet werden. Unsere Geschichte ist voller solcher Wandlungen. Warum sollten wir denn so gläubig gewesen sein?

 

Verfügen Menschen nicht über die notwendige Intelligenz und Bildung? Ich glaube, daß solch eine Erklärung eine Verhüllung wäre. Sie entfernt uns von der Wahrheit, daß wir uns unseren Unterdrückern ergeben, um unser Selbst zu verlieren; daß wir aber im geheimen sie in ihrer vorgegebenen Gottähnlichkeit fixiert halten, um uns sicher dereinst rächen zu können. Bei Tyrannen und Diktatoren geben wir das nicht zu — außer wenn sie schon am Stürzen sind. Aber in unseren Beziehungen zu unseren weniger bedrohlichen Mitmenschen praktizieren wir dies täglich. Wir idealisieren unseren Mann oder unsere Frau, unseren Geliebten oder die Geliebte. Dadurch brauchen wir dem anderen, wirklichen Menschen nie nahe kommen, nur dem erträumten. Und eines Tages verlieren wir unsere Bewunderung. »Der andere hat uns enttäuscht.« Das ist der Trick, um uns nie in eine enge Verbundenheit zu verlieren, wie wir sie alle vor langer Zeit in unserer Kindheit erfuhren. Damals getrauten wir uns noch, unsere Hilflosigkeit zuzulassen, wurden dann aber oft ausgenützt. In dieser Erfahrung stecken der Schmerz und die Wunde, deretwegen wir unseren wirklichen Bedürfnissen nach Liebe und Nähe ausweichen. Wären wir uns dessen bewußt, so müßten wir uns mit dem Selbst, das auf Macht zielt, konfrontieren. Statt dessen idealisieren wir, wiegen uns im Glauben, zu bewundern und zu lieben, und halten uns gegenseitig auf Armeslänge fern.

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In dem Ausmaß, in dem wir andere zu unseren Bewunderern machen, geben wir ihnen Macht über uns. Und so spielen Männer mit Frauen und Frauen mit Männern. Jeder wird durch sich selbst zum Schiedsrichter der Stärke des anderen. Jeder besitzt Macht, obwohl jeder sich unfähig fühlt, sein eigenes Leben zu leben. Was sich uns so darbietet, ist der Anblick einer Jagd von Männern auf Frauen und von Frauen auf Männer, alle auf der Suche nach einer halluzinierten Macht im anderen. Und einer haßt den anderen, weil er sich in des anderen Gewalt fühlt.

 

Nochmals Ödipus

 

Wohin nun führt uns der Mythos von der Überlegenheit des Mannes? Im Grunde ist es nicht die Liebe, die wir suchen, sondern die Frau oder den Mann, die/der uns stärken wird. Dadurch verstricken wir uns in einem Gewebe von Haß, glauben aber, daß die Jagd auf den außerordentlichen anderen die Suche nach Liebe ist. Dies treibt den Mann zu immer größerer Leistung und zum Herzinfarkt oder in Depressionen und in den Selbstmord. Für Frauen führt es zu jener Form ehrgeiziger Mutterschaft, in der es als Liebe gilt, Kinder zum Werkzeug des eigenen Selbstbewußtseins zu machen. Am Ende steht für alle, Männer, Frauen, Kinder, der Besitzanspruch als einzige geltende Realität der zwischenmenschlichen Beziehung. Jemanden zu besitzen ist Macht und gibt Macht. Wir wissen dies meistens nicht im positiven Sinn. Aber erinnern wir uns an all die Situationen, in denen wir uns in unserem Besitzanspruch bezüglich Frau, Mann, Freundin, Freund oder Kind bedroht fühlten. Wer fühlte sich da nicht im Innern gefährdet, wenn unsere Frau über einen anderen Mann — oder auch nur eine andere Frau — begeistert redet? Oder unser Kind eine andere Mutter beziehungsweise einen anderen Vater lobt?

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So fühlen sich viele Männer dauernd verlassen, gekränkt, angegriffen, verletzt. Das fängt früh an, und dieses Gefühl des sofortigen Verlassenwerdens und des Verrats wird Ödipus-Komplex genannt. Das ist der Bumerang der männlichen Notwendigkeit von Überlegenheit und Herrschaft. Es ist die eingebaute Rache eines menschenunwürdigen Vorgangs, der Macht für Liebe eintauscht. Eine umfassende Theorie von der Liebe der Söhne zur Mutter und deren Unerreichbarkeit wurde aufgebaut, ohne in Betracht zu ziehen, welche Auswirkungen die Herrschaft der Väter über diese Mütter auf die Kinder hat.

Wenn Knaben fühlen, daß sie sich nicht von ihren Müttern lösen können, so hat das vielleicht mit der Art und Weise zu tun, mit der solche Frauen ihre Söhne zu einer solchen Bindungs-Jagd bringen. Direkte Verführung führt da zum selben Resultat wie Unerreichbarkeit. Was dabei gelernt wird, ist, daß das Besitzen des anderen das Wichtige ist.

 

Der amerikanische Dramatiker und Nobelpreisträger Eugene O'Neill rang mit diesem Rätsel in allen seinen Werken mit außergewöhnlicher Prägnanz, besonders in >More Stately Mansions< (1962). Hier sucht eine Mutter, geschwächt durch eine vom Mann beherrschte Welt, die ihr die eigene Selbstverwirklichung untersagt, Zuflucht in romantischen Phantasien, die sie aus ihrem Elend tragen — aber selbst auf dem Reiz männlichen Machtstrebens aufgebaut sind! Für ihren Sohn bedeutet ihre tägliche Zuflucht und ihr Rückzug in eine Phantasiewelt ein Verlassenwerden. In einer Familie, in der das Besitzen des anderen zugleich »Liebe« bedeutet, muß es für den Sohn heißen, nicht geliebt zu werden, wenn die Mutter sich distanziert, also ihn nicht besitzen möchte. So versucht er ein ganzes Leben lang, Zugang zu ihrem »Traumhaus« zu finden. In diesem Bühnenstück flüchtet die Mutter jedesmal in ein Gartenhäuschen, um ihre Phantasien ungestört träumen zu können. Und so hofft dieser Sohn, daß er, wenn er in dieses Haus eindringen könnte, sich dort ihrem Besitzanspruch unterwerfen könnte und damit der »Liebe«, die sie ihm vorenthält. Was er schließlich als Erwachsener eines Tages entdeckt, ist die Leere ihres Besitzstrebens, die Tatsache ihrer Wut und ihres Wahnsinns. Dadurch aber wird er sich dieser Tendenzen auch in seinem eigenen Innern bewußt und wird wahnsinnig.

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Was hier gespielt wird, ist das Drama um das Besitzenwollen, nicht um Liebe. Indem wir es aber Liebe nennen, bewirkt es in uns Gefühle, die uns befähigen, dafür zu töten und/oder zu sterben. Wenn eine Mutter ihrem Sohn das illusionäre Gefühl gibt, daß er sie besitzen kann (oder mit O'Neill: daß er sie nicht besitzen kann), spielt sie ihn gegen seinen Vater aus. Der Vater — oder sein Stellvertreter in der Seele der Mutter — wird zum Rivalen. Das Ausspielen des Vaters gegen den Sohn (und vice versa) hat seinen Ursprung in der gegenseitigen Verstrickung in Machtkämpfen von Männern und Frauen. Wenn ein Junge das Gefühl hat, daß er seine Mutter an den Vater verliert, so kann das nur in Beziehung auf das Bedürfnis, sie zu besitzen, geschehen, das die Mutter zuerst in ihm erweckt hat. Und wenn sie das tut, dann doch als Folge von Herrschaftsverhältnissen, die ihr nicht erlaubten, ihre Erfüllung in einer wahren Selbstverwirklichung zu finden.

Die Wut, die die Herrschaft über Frauen durch den Mann bei Frauen hervorruft, bleibt den Beteiligten meistens verborgen. Aber wenn in einer Beziehung alles um Besitz kreist, wie sollen Frauen anders reagieren, als das Spiel, sich besitzen zu lassen, als Waffe zu benutzen? Einen Sohn dazu zu bringen, mit seinem Vater zu rivalisieren, weil er das Gefühl hat, nie ausreichend in den Besitz seiner Mutter gelangt zu sein, ist kein Problem. Man gibt ihm einfach nicht die Aufmerksamkeit und Liebe, die er braucht, oder hält ihn mit Versprechungen für etwas hin, das er bekommen könnte, fände er nur den magischen Schlüssel. Die Freudsche Interpretation des Mythos von Odipus verbirgt, aus unserer Sicht, daß die Besitzgier eine Masche um das zerstörerische Spiel der Herrschaft des Mannes über die Frau ist. Es entsteht nicht aus der Liebe, sondern aus ihren Verzerrungen.

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Die »Überlegenheit«

 

Zutiefst aber plagen den Mann Zweifel an seiner Überlegenheit. Diese Wahrheit wird meistens verdeckt. Aber hie und da desavouiert sich einer von denen, die am meisten auf ihrer männlichen Überlegenheit bestehen. Ich kannte einen von ihnen, dessen Selbstbewußtsein so sehr auf Machtausübung beruhte und dessen Image hoch angesehen war. Er war ständig auf der Jagd nach schönen Frauen. Meistens war er erfolgreich, obwohl er sich ihnen gegenüber »niederträchtig und gemein« (seine eigenen Worte) verhielt. Er vertraute mir einmal an: »Wenn du jemanden genügend demütigst, brauchst du dir keine Sorgen zu machen, denn dann hast du ihn auf deiner eigenen Stufe.« Das ist die Wahrheit über diese Art von männlichem Selbstbewußtsein!

Der Mann will Liebe, aber der Teufelskreis seiner »Überlegenheit« bringt ihn dazu, Mütter zu produzieren, die ihren Söhnen keine wirkliche Liebe geben können. Das ist schlimm genug. Da sie aber ihre Feindseligkeit dem männlichen Geschlecht gegenüber vor sich selbst und der Welt, gerade wegen ihrer Anpassung, verhüllen müssen, befinden sich solche Söhne in einer äußerst widersprüchlichen Situation: Ihre Mütter tun, als ob sie ihre Söhne annehmen würden, lehnen sie in Wirklichkeit aber ab. Ich habe diese Konstellation in einem Forschungsbericht beschrieben (A. Gruen, 1980b). Es scheint, daß für Männer ihre Mutterbeziehungen viel weniger klar sind als für Frauen, deren Mütter ebenfalls ablehnend waren.

Es ist interessant, daß der amerikanische Psychiater G. E. Vaillant (1978) in seiner Studie über die psychische Gesundheit von Männern schizoide und überideatorische Entwicklungstendenzen gehäuft da fand, wo Männer von ihren Müttern bis ins Erwachsenenalter dominiert wurden. Aber genau das passiert, wenn ein Kind eine Mutter voller Widersprüche erlebt, die es nicht meistern kann. Und so führt die männliche Überlegenheit dazu, daß ihre Opfer nicht nur die Frauen, sondern auch die Söhne sind.

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Aber leider ist dies nicht so leicht zu erkennen, da zahlreiche Männer gerade jenen Frauen nachlaufen, die ihnen im Grunde nichts zu geben haben. Die Krankheit, von der ich hier spreche, ist die große Suche nach Liebe dort, wo nichts zu bekommen ist. Diejenige, die nichts zu geben, zu schenken hat, wird zum Objekt unseres äußersten Verlangens: Die, die keine Liebe zeigen, müssen sie ja verstecken, sie vorenthalten. Dagegen die, die Liebe geben wollen, können ja nichts wert sein — sonst würden sie sie doch als wertvollen Besitz verstecken!

 

Erlösung und »Heiligkeit«

 

Des Mannes Mythos zerstört ihn selbst und alles das, was er berührt. Selbstverständlich sind nicht alle von uns im selben Maße von ihm geprägt. Aber er ist immer da, weil er gebraucht wird, um vor dem eigenen Selbst ausweichen zu können, das einem Angst macht. Wie könnten wir es sonst erklären, daß sich immer wieder Menschen gerade denen ergeben, die, selbst das Image der Stärke und Herrschaft personifizierend, sie zur größten Selbstaufopferung bringen. Nichts löst das Messianische — das Gefühl des Heiligseins — mehr aus, als die Hörigkeit einem »höheren« Ziel gegenüber. Der Aufruf, für einen Gott, eine Nation, eine Idee Blut zu vergießen, löst Gefühle der inneren Reinheit aus, eine Ekstase absoluter »Liebe«, einen Taumel von tugendhafter Selbstverliebtheit. Warum erkennen wir aber jedesmal erst dann, wenn dies in die Geschichte als Geschichte eingeht, daß es sich um Unterwerfung unter den Wahnsinn eines Mächtigen gehandelt hat? Oft sind es die Besten unter uns, jene, die frei sein möchten, die alles, was ihnen lieb ist, verlassen. Sie wenden sich gegen ihre eigenen Vorsätze, gegen ihre eigenen Gefühle in dem Moment, in dem ein Diktator, ein Führer, ein Oberpriester, Premierminister oder Duce sie zum Kampf aufruft — und fühlen sich erhoben. Dieses heilige, tugendhafte Gefühl, was hat es mit dem wahren Selbst zu tun?

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Warum verhalten wir Männer — und manche Frauen — uns immer wieder wie Schafe in unserer eigenen Geschichte, gerade bei denen, die uns am meisten verachten, beherrschen, unterdrücken, zerstören? Warum verschafft Gehorsam ihnen gegenüber ein so gutes Gefühl? Warum erlöst es uns von der Angst, der Unruhe nach einem eigenen Selbst, der eigenen Verantwortung?

Ist die Angst vor der eigenen Hilflosigkeit so tief in uns Männern ausgeprägt, daß wir jedem Führer entgegenlaufen, der uns Erlösung durch Zuflucht in seine Verachtung für uns anbietet? Ja, seine Verachtung für uns, unser Am-Leben-Sein erlöst uns, weil wir uns selbst verachten. Unser Streben nach Macht, Überlegenheit, Herrschaft, Erfolg und Eroberung verhüllt die immer präsente Furcht vor dem Versagen, der Hilflosigkeit, die wir nur als Schwäche zu erleben gelernt haben. Trotz der erstaunlichsten Errungenschaften zweifeln wir an unserer »Männlichkeit«.

Unsere Partnerin hat zum Beispiel keinen Orgasmus, und schon haben wir das Gefühl, daß sich in dieser Tatsache unsere ungenügende Potenz widerspiegelt! Es ist unsere eigene geheime Selbst-Verachtung, von der der Unterdrücker uns befreit, indem er uns in der Tat und ganz offensichtlich verachtet. Wie sonst wird ein Stalin zu einer Vaterfigur? Ein Hitler zu einem fehlerlosen Gott? Wir verherrlichen sie — und fühlen uns dann selber erhoben —, weil wir in der Tiefe ihre Minderwertigkeit, Leere und Haß auf das Leben erkennen. Bis auf den heutigen Tag versehen Historiker Hitler mit magischen Eigenschaften, um zu erklären, wie ihm die ganze Welt verfallen konnte. Aber die Gründe liegen vor allem in uns selbst. Wir statten solche Führer mit nicht existenten Qualitäten aus, weil ihre Verachtung uns befreit.

Dazu ein Beispiel aus der jüngeren Geschichte: Jedermann wußte, daß Nixon, als er 1952 mit Eisenhower kandidierte, gestohlen hatte. (Er hatte als Senator 18235 Dollar von verschiedenen kalifornischen Geschäftsleuten erhalten und für sich selbst verbraucht. White, 1975). Er gab es eigentlich in seiner berühmten Verteidigungs-Sendung,17) in der er sich auf die »Barmherzigkeit« seiner Hörer berief, zu. Aber man fühlte sich mit ihm wohl, nicht mit Adlai Stevenson, der ein ehrlicher Mann war.

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Kurt Tucholskys Beschreibung, als er eine Hitlerrede anhörte, ist hierfür zutreffend: 

»Merkwürdiges ... Dann war nämlich gar nichts ... nichts, nichts, nichts. Keine Spannung, keine Höhepunkte, er packt mich nicht, ich bin doch schließlich viel zu sehr Artist, um nicht noch selbst in solchem Burschen das Künstlerische zu bewundern, wenn es da wäre. Kein Humor, keine Wärme, kein Feuer, nichts. Er sagt auch nichts als die dümmsten Banalitäten, Konklusionen, die gar keine sind — nichts.« (Tucholsky, 1959)

Aber das muß es sein: Wir statten sie mit dem Leben aus, das wir fürchten, gerade weil sie Haß projizieren, den wir als Lebensersatz akzeptieren, und weil sie uns von der Verantwortung befreien, ein wirkliches und verantwortungsvolles Leben zu führen. Wir sind unsere eigenen Feinde; sie könnten unsere Seelen nicht zerstören, wenn wir nicht willige Partner wären. Es genügt nicht, diese psychopathischen Mörder zu bekämpfen, wir müssen unsere eigenen Bedürfnisse entdecken, durch die wir uns von unserer inneren Leere fernhalten. Man denke nur an zwei so verschiedene »Staatsmänner« wie Chamberlain und Stalin, die beide auf Hitler hereinfielen. Unter dem Deckmantel der »Heiligkeit«, die uns unsere Unterwerfung verleiht, drücken wir da nicht unsere eigene Verwüstung aus, indem wir andere zerstören, die »Feinde«, an denen wir uns für unsere uneingestandenen Wunden rächen?

Es sind unsere Kinder, denen wir kein eigenes Selbst gestatten, die sich an uns und der Welt dafür rächen, indem sie sich bis zum letzten Atemzug für einen Führer oder einen Gott aufopfern. Unsere Geschichte ist durchdrungen mit den »Heldentaten« der Kinder in Kriegen und Schlachten; wie sie noch heutzutage durch Minenfelder laufen, für »höhere Ziele« sterben, weil sie kein Selbst haben. Ob wir von den Kinderkreuzzügen reden, den Jugendorganisationen der totalitären Staaten, dem Verraten der eigenen Eltern, das so verbreitet unter Hitler und Stalin war, können wir in ihrer Unterwerfung unter eine Ideologie nicht eine Parodie des Selbst sehen? Unterwerfung soll zum Selbst führen! Ein Paradox im Leben, ein Horror, in dem das Sichauflösen zum Ziel des Lebens wird! Und immer wieder dient das den Unterdrückern, denn unter diesem »Idealismus« und »Erhobensein« steckt die aufgestaute Wut des in seiner Autonomie verletzten Kindes.

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Nicht alle: nicht etwa Hermann Hesse in >Demian< oder andere künstlerische Seelen, die uns immer wieder auf andere Wege gewiesen haben. Manche, vielleicht sogar viele, finden den Weg trotz gesellschaftlichen Drucks zu sich selbst zurück. Manche führt Angst zur eigenen Stärke und nicht zur Anpassung an eine Ideologie der Stärke. Ein erschütterndes Beispiel waren die Geschwister Scholl und ihr Freundeskreis, die aus ihren inneren moralischen Motiven heraus den Nazis während der schrecklichen Jahre 1942/1943 Widerstand leisteten (Inge Scholl, 1977).

Caroline Muhr drückte es einmal in ihrem Roman >Freundinnen< (1979) in anderen Worten aus: »... alte Männer sehen immer viel einsamer aus als alte Frauen, viel hilfloser.« Sie meint damit, daß Männer mehr und schneller als Frauen etwas zu verlieren haben, gerade das, wonach Männer laufen, was ihnen aber aus der Hand läuft: Macht und das Selbstbewußtsein, das darauf basiert. Frauen dagegen sind zufriedener, denn »sie haben sich schon lange ans Verlieren gewöhnt«.

Vieles in unserem Leben ist grundsätzlich falsch. Der Mann kämpft für ein Selbst, das kein Selbst ist. Es ist nur eine Form, basierend auf Abstraktionen, die nicht dem Leben, sondern seinem Verhüllen dienen. Frauen, die sie selbst sind, das heißt mit ihren eigenen wahren Lebenskräften verbunden, sind niemals für den Krieg. Männer, auf die das gleiche zutrifft, sind ebenfalls gegen den Krieg. Häufig werden aber die, die der Ideologie der Macht widersprechen, verfolgt. Ihr Sein bedroht die Existenz der Lüge. Es war immer schon so.

 

Nehmen wir die Gnostiker als Beispiel. Sie wurden vor bald 2000 Jahren vom sich institutionalisierenden Christentum, das um der Macht und Herrschaft willen eine Ideologie der Macht und Unterdrückung benötigte, als ketzerisch empfunden. Während die Bürokratie der Kirche ihre Rolle nach dem Vorbild Roms aufbaute: bedingungsloser Glaube an Autorität, an eine einzige katholische Kirche, eine einzige Wahrheit, deswegen einen einzigen Bischof als Cäsar, schrieben Gnostiker über das Untergraben des Menschlichen durch die Macht.

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Tertullian (circa 190) regte sich zum Beispiel über die Gnostiker auf, gerade weil keine Klassenunterschiede zwischen Priestern, Bischöfen und Gemeinden unter ihnen existierten. Er war entsetzt, daß Frauen gleichberechtigt sein könnten (Pageis, 1981). Es ist interessant, wie die Kirche, selber in Opposition zu Rom, mit Rom als Vorbild der Macht identifiziert war. Ihre Ideologie der Gottheit war eine andere, aber nicht die der Seele. Diese war immer noch auf Macht selbst aufgebaut. In dieser Sicht bringt uns Mario Erdheims >Nach Aller Regel< (1981) gleich in die Gegenwart. Sein Aufsatz kreist um die unbewußte Identifikation mit Herrschaft: »Was Horkheimer und Adorno >Dialektik der Aufklärung< nannten, ist auch das Produkt der unbewältigten Ambivalenz der Aufklärer, denen nur ihre Kritik an der Herrschaft, nicht aber die Identifikation mit ihr bewußt war.« Nur, was Erdheim Ambivalenz nennt, ist eine psychoanalytische Vereinfachung. Das Selbst ist so auf Herrschen aufgebaut, daß es sich nicht davon lösen kann, ohne erstmal auseinanderzufallen; es sei denn, daß es wie bei Frauen und manchen Männern noch dem Leben zugewandte Grundpfeiler hat.

Im >Tripartite Tractate< (Pagels, 1979),18) von einem Schüler Valentinus' geschrieben, lesen wir: Diese Christen »wollen einer den anderen beherrschen, wobei in ihrem eitlen Ehrgeiz einer den anderen überbieten will«. Sie sind aufgeblasen von »Machtlust«, »jeder einzelne bildet sich ein, er sei den anderen überlegen«.

Die Gnostiker dagegen kamen zusammen als Gleichberechtigte, genossen gegenseitige Liebe und halfen einander auf spontane Weise. Frauen und Männer waren gleichberechtigt. Sie verstanden, daß einer Gruppe beitreten dazu mißbraucht werden kann, um durch den Gruppendruck einen anderen zu bezwingen. Sie wußten vom Machtanspruch derer, die aus eigener Verachtung sich kriecherisch einer Gruppennorm unterwerfen, um einen anderen zu unterdrücken: »Du mußt dasselbe tun und denken wie ich, sonst bist du ein Feind.«

Dieses implizite »sehet wie ich mich selber aufopfere«, nie direkt in Worten ausgedrückt, gibt das Gefühl von Heiligkeit, noch während man die schrecklichsten Taten ausübt. Es verhüllt die Verhaßtheit der eigenen Lage und die daraus entstehenden Untaten. Es ist aber der Selbsthaß, der hinter dieser Art von Tödlichkeit steht. Sogar das Martyrium wird hier zur Liebe für den Tod, nicht zum Leben. 

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Als Ignatius, Bischof von Antiochien, circa 165 von den Römern zur Folter und zum Tode verurteilt wurde, mahnte er seine Glaubensgenossen, nichts für ihn zu unternehmen: »Laßt auf mich kommen Feuer und das Kreuz und Kampf mit den wilden Tieren, Zerstückeln und Auseinanderreißen, Knochenbrechen und Gliederzerschlagen, Zerquetschen meines ganzen Körpers ..., möge ich bloß zu Jesus Christus kommen!« (Ignatius, Römer 4, 1-5, 3; zitiert in Pagels, 1981) Er wollte von den wilden Tieren zerrissen werden, um seine Treue zu Christus zu beweisen. (Pagels, 1981)

Verfolgung und Gefahr werden herausgefordert, denn sie rechtfertigen den Haß gegen den anderen. Und der andere ist nicht der Römer, sondern derjenige, der die Ideologie der Macht zerstören würde, die genau wie bei den Römern die Basis für einen Selbstsinn war, der auf der Notwendigkeit des Herrschens, der Überlegenheit, der Unterdrückung anderer aufbaut. So finden wir Irenaeus 177 n. Chr. in der französischen Stadt Lyon, wo gerade fünfzig Christen zu Tode gefoltert wurden, auch ihr Bischof, ohne Feindseligkeit gegen die Römer, aber voller Haß gegen die Gnostiker, die den Enthusiasmus für den Märtyrertod als einen Betrug am Leben, an Christus und an seiner Lehre ansahen.

Wir können einige Parallelen zur Moderne erkennen. Erinnern wir uns nur daran, daß Stalin Hitler nicht haßte, aber die Trotzkisten und Idealisten — nicht die, die gegen ihn waren, weil sie selbst Macht haben wollten, sondern die, die seinen persönlichen Selbstbetrug gefährdeten.

Die Gnostiker wußten, daß nur eine innere Transformation zum Wohlsein führt; anders als die Erlösung durch das Bestätigtwerden einer Autorität, der wir uns ergeben haben. Markus berichtet, wie die Jünger Jesu ihn als ihren König betrachteten (Markus 8, 27-29).

Das Evangelium nach Thomas erzählt diese Geschichte anders: Jesus sprach zu seinen Jüngern: »Vergleicht mich mit jemandem und sagt mir, wem ich gleiche.« Simon Petrus sagte ihm: »Du gleichst einem gerechten Engel.« Matthäus sagte ihm: »Du gleichst einem weisen Philosophen.« Thomas sagte ihm: »Meister, mein Mund ist ganz unfähig zu sagen, wem du gleichst.« Jesus sagte: »Ich bin nicht dein Meister. Da du getrunken hast, hast du dich berauscht an der sprudelnden Quelle, die ich gespendet habe.« (Thomasevangelium 34, 30-35, 7; zitiert in Pagels, 1981.)

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In dieser Version spricht Jesus vom tieferen Sinn, in welchem Autorität akzeptiert werden kann, ohne zu einem Sichergeben zu führen. Auf diesem Weg kann sogar Anerkennung einer Autorität zu seelischem Wachstum führen. Diese Gnostiker, Frauen und Männer, wußten auf ihre Weise, was wir heute oft vergessen: Sozialisierungsprozesse können uns in die Abhängigkeit und in den Infantilismus hineindrücken. Wenn man daraus nicht hinauswachsen kann, sehnt man sich danach, sich der Autorität anzupassen. Die Kern-Lektion des Lebens wird dadurch ein Gehorsam, der jenes Verhalten für lohnend erklärt, das die Autoritätsperson von unserem Vermögen, gefällig zu sein, überzeugt. Dadurch entwickelt sich eine amoralische und unreflektierte Haltung der gegenseitigen Bejahung, ein allgemeines Einander-auf-die-Schulter-Klopfen, ein Dauerzustand des lächelnden: »Du bist o.k., ich bin o.k.«, der den Aufstieg in die (Berufs-)Gruppe bestimmt. Diese Verhaltensrollen, verpackt in Bilder von Güte, Väterlichkeit, Mütterlichkeit oder Respekt, vertuschen die Absicht des Herrschens und des Ausnützens der Abhängigkeit des Untergeordneten.

 

Sigfried Bernfeld, einer der frühen Psychoanalytiker, daran interessiert, den Nebel, der den menschlichen Zustand umgibt, zu lichten, stellte fest, daß gerade in der Psychoanalyse, einem Gebiet, das mit der Befreiung des Menschen zu tun haben sollte, eine Situation herrsche, worin Abhängigkeit vom guten Willen der Autorität als wertvolle »Realitätseigenschaft« gefördert wird! Sein Essay >On Psychoanalytic Training< (1962) ist eine Abhandlung über die gegenwärtige Institution der Psychoanalyse, deren Ziel die Befreiung der Person ist, worin Schüler aber als Objekte abstrakter Regeln behandelt werden. Wie können dann Autonomie, Wachstum und Freiheit — wie übrigens auch in anderen revolutionären und der menschlichen Erneuerung gewidmeten Bewegungen, die dann später zur Institution werden, gefördert werden? Sicher nicht durch Institutionen, deren Gewebe von der Ideologie der Macht bestimmt sind. Die Konsequenz ist, daß man immer gegen Institutionalisierung sein muß, um das Menschliche zu erhalten.

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Das Furchtbare an der Lage des Menschen ist, daß, wenn er der Lüge der Macht ausgesetzt ist und dadurch leidet, er sich dennoch mit der Macht identifiziert. Er mag eine Form der Macht mit einer anderen austauschen und sich für einen Rebellen halten — aber alles, was er tut, ist der Wiederholung eines Sich-selbst-Ergebens gewidmet, nicht dem Etablieren eines wirklichen Selbst.

Das Leiden, das zu einem eigenen Selbst führt, ist wesensverschieden von dem Leiden, das zur Erlösung durch Identifizierung optiert. Nur wenn man bei seinem eigenen Leiden bleiben kann, kann man sich differenzieren. Wenn man aber immer hofft, daß derjenige, wie Marcel Proust es sagte, der einen zum Leiden brachte, auch derjenige ist, der die eigenen Schmerzen mildern kann, dann glaubt man an die Lüge der Macht, sucht immer die Autorität, durch die sie bestätigt wird, und wird nie das Göttliche in sich selbst finden.

Wie entsteht dieser Unterschied im Leiden? Vielleicht durch die Begegnung eines Kindes mit einer Mutter, deren Liebe aus eigener innerer Kraft dem Kind die Kraft verleiht, bei seinen eigenen Gefühlen zu bleiben, noch bevor es der Welt des Vaters ausgesetzt wurde. Wenn dagegen die Mutter, selbst von ihrem sie unterdrückenden Mann gefangen, das Kind als Ausdruck einer dem Mann angepaßten Selbstachtung benützen muß, wird ihre Begegnung mit dem Kind zu einer Machtprobe. Unter solchen Bedingungen wird die Entwicklung eines Kindes zu seinem Selbst gleichwertig mit ungestilltem Verlangen19 und dem Warten auf eine Befriedigung, die nie kommt. Hier wird Hilflosigkeit unerträglich und gefürchtet und das Kind zum Opfer der Kern-Lektion, daß Macht — wie auch das Beispiel der Beziehung zwischen den Eltern und zu ihm zeigt — den, der sie ausübt, weniger hilflos macht. Schon ein Kleinkind nimmt wahr, daß seine Mutter glaubt, sich stärker zu fühlen, indem sie seine Hilflosigkeit ausnützt.

Diese Erfahrungen sind in prä-verbalen und prä-logischen Entwicklungsphasen verankert. Buchstäblich wissen wir nichts von unserer Vorgeschichte. Was wir wissen könnten, ist verdeckt durch die Verzerrungen, mit denen die Absichten der Eltern verneint werden. Wir lernen dann früh, daß, um mit ihnen in einer erträglichen Beziehung zu stehen, wir sie so sehen müssen, wie sie gesehen werden möchten, nicht wie sie wirklich sind.

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Auf diese Weise verlieren wir unser eigenes Leben, unsere Ziele und suchen die Milderung unserer Leiden durch die, die es uns versprochen haben. Eigenartigerweise merkte Marcel Proust nicht, daß dahinter auch eine geheime Rache steckt: »Du mußt mein Leid lindern, sonst taugst du nicht.« Es ist dieser unausgesprochene Vorwurf, dem wir fortan unser Leben widmen.

Hier finden wir die Quelle der menschlichen Selbstzerstörung und des Bösen, in der Ätiologie eines Selbst, das auf der Unterdrückung und Beherrschung eines anderen, insbesondere der Frauen, beruht. Viele Männer spüren den Irrtum ihrer Lage. Irgendwo, irgendwann hatten sie doch entgegengesetzte Erfahrungen, vielleicht nur ganz früh durch die Verbindung zu einer sie anerkennenden empathischen Mutter, durch den eigenen »suchenden Mund«, wie Erikson (1958) es poetisch ausdrückte, der sie in Verbindung mit Wonne und Liebe ihrer Mutter brachte.

Aber dieser Zwiespalt des doppelten Erfahrens macht sie rasend, denn sie sind in einem Teufelskreis des Selbstzweifels gefangen. Sie können nicht an ihre eigene Wahrheit glauben, und so, weder angepaßt noch revolutionär, finden sie keinen Zugang zu ihren Mitmenschen. Sie sind die wahren Verlorenen. Ihre Wut schafft sich Entlastung in zerstörerischen Ausbrüchen, sogar mit tödlichen Folgen. Sie sind aber nicht die wirklich Bösen, sondern die wahrhaft Verzweifelten, gerade dann, wenn sie noch Zugang zu ihren Gefühlen haben. Es sind die anderen, jene, die die Mythologie der männlichen Lüge als Wahrheit ausgeben, vor denen wir uns schützen müssen. In unserem eigenen Wirrwarr sind sie es, die uns manipulieren können. Sie spielen mit der Hilflosigkeit in uns, so daß wir für die Lösung, die sie uns offerieren, anfällig werden. Und immer wieder verspricht diese Erlösung eine gemeinsame Entladung der in uns aufgespeicherten Wut unter dem Deckmantel erhabener Ziele. Krieg, Eroberung, nationale Gemeinsamkeit vermögen unsere Energien aufzustacheln und uns die Reste unseres Selbst aufgeben zu lassen.

Sigmund Freud war nicht ganz auf der richtigen Spur, wenn er Sublimierung als Antwort auf Wut und Aggression vorschlug. Wenn ein Volk in den Krieg zieht, ein anderes Volk aus seiner eigenen Überheblichkeit heraus unterdrückt, wenn Menschen einander aus ideologischen oder religiösen Gründen verfolgen und vernichten oder die Welt im Namen des Fortschritts zerstören, sind das alles bereits Sublimierungen. Sublimierung ändert nichts am zerstörerischen Drang, nur seine Einkleidung. Um diesen verhängnisvollen Drang zu reduzieren oder zu eliminieren, müssen wir mit der Ideologie unseres Selbst ins klare kommen, denn sie ist seine Quelle.

Der Mann muß sich mit seiner Angst und Hilflosigkeit konfrontieren. Nur dann kann er sich seiner Wut und ihren wirklichen Gründen bewußt werden. Nur dann kann er seine Aufmerksamkeit auf diejenigen Aspekte seiner Lebenssituation konzentrieren, die ganz spezifisch sein Dilemma hervorriefen. Auf diese Weise kann er seine Wut überwinden, sich die Möglichkeit geben, sich vom Gefühl der Hilflosigkeit zu befreien und gleichzeitig von der Wut. Die Annahme der Hilflosigkeit führt dazu, sich in der Welt als Bestandteil eines größeren Lebenszusammenhangs eingebettet zu sehen und nicht die Hilflosigkeit als Schwäche und Defekt zu definieren.

Indem ein Mann seine Grenzen akzeptiert, Kräfte außerhalb von sich selbst erkennt, sich dadurch aber nicht als mangelhaft empfindet, gibt er seine Grandiosität auf. Damit befreit er sich von primitiver und zerstörerischer Wut. 

Weder Repression noch Sublimation erreichen dieses; im Gegenteil, beide tragen dazu bei, die Quellen der Wut am Leben zu erhalten. Die Konfrontation mit Hilflosigkeit führt zu der einzigen Kraft, die wesentlich ist, zu der Stärke, die aus der Konfrontation mit Schwäche erwächst. Wenn man sich auf diese Konfrontation einläßt, entdeckt man, daß die Annahme der Hilflosigkeit zu einer Erfahrung führt, die einen nicht vernichtet, und daß wahre Beherrschung des Selbst möglich wird. Alles andere ist ein Ausweichen. Frauen wirklich als ebenbürtig anzunehmen, sie nicht als Stütze zur Vermeidung der eigenen Zweifel zu mißbrauchen, wird uns Männern die grundlegende Möglichkeit zur Konfrontation mit uns selbst geben.

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