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4  Ohne Vergangenheit kann man nicht über sich selbst lachen: 
Die Bedeutung der Stimulation für das Lebendigsein   

 

 

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Im allgemeinen braucht jeder Organismus Stimulation, um am Leben zu bleiben und sich lebendig zu fühlen. Stimulation ist Anfang und Entwicklung des Lebens selbst. Sie führt zur Organisation der Organe und ihrer Funktionen. Der Mensch wird weitgehend von der Qualität der auf ihn einströmenden Stimulus-Intensitäten formiert. Roffwarg, Muzio und Dement (1966) schlagen vor, daß in utero und kurz nach der Geburt des Menschen, bevor genügend von außen kommende Stimulation für das Zentrale Nervensystem vorhanden ist, die REM-Mechanismen des Schlafes (und Traumes) als endogene Quellen der Stimulation dienen. 

Solche Stimulation würde zur strukturellen Reifung und Differenzierung der wichtigsten sensorischen und motorischen Zentren im Zentralen Nervensystem beitragen und sie für den plötzlichen Zufluß der Stimulation im postnatalen Leben vorbereiten. Die plötzliche Verminderung des REM-Schlafes, die mit der weiteren Entwicklung des Säuglings eintritt, bedeutet dann, daß das reifere Gehirn weniger Bedürfnis nach endogener Stimulation hat.

Die Relevanz der Stimulation ist eine andauernde. Die Forschungen über sensorische Deprivation zeigen, daß ein ununterbrochener Stimulusstrom von außen in das Nervensystem hinein eine Vorbedingung für die Organisation des Stoffwechsels ist, die wiederum grundlegend für alle Aktivitäten ist, von der Brutpflege bis zum Problemlösen.20) Ein Säugling, der zum Beispiel keine menschliche Wärme und Zärtlichkeit erfährt, stirbt; das Stillen von nur körperlichen Bedürfnissen ist nicht genug.21) Bei einem erwachsenen Menschen, der sogar nur teilweise von Stimulation (Sicht, Ton, Berührung, Geruch) isoliert wird, können sich geistige Störungen, öfters sogar Wahnsinn entwickeln.22)

Nun sind wir zum großen Teil in eine Reiz-Welt eingebettet — Musik, Radio, Fernsehen, Werbung, Bilder, Töne der Straße, Zeitungen, Bücher, Architektur, Kleidung, Farben etc. —, die von uns Menschen selber geschaffen wird. Diese Reize oder Stimuli haben weniger mit den rein körperlichen Erhaltungs­bedürfnissen zu tun als mit unserem seelischen Zustand. Ohne diese uns umgebende Stimulus-Welt fühlen wir uns meistens leer, gelangweilt und lustlos. 

Man kann in der Tat sagen, daß wir, ohne uns darüber Rechenschaft zu geben, diese Stimuli suchen, um uns das Gefühl zu geben, am Leben zu sein. Das heißt, daß wir im bewußten Sinne gar nicht die Wahl haben, uns jene Stimuli auszusuchen, die uns unser Gefühl, daß wir am Leben sind, erhalten. Die dadurch entstehende Abhängigkeit und Wahllosigkeit ist uns verschlossen, solange wir uns diese Abhängigkeit und Zwänge nicht bewußt machen können. Genauer genommen, müßte man vielmehr sagen, daß es Menschen gibt, die nicht im hier skizzierten Sinne abhängig sind; sie können auswählen, ohne sich dieser Fähigkeit bewußt zu sein. Zwischen diesen beiden Polen, wählen oder nicht-wählen zu können, gibt es viele Zwischen- und Mischformen.

Daß manche Menschen wählen können und manche nicht, hängt von der Qualität der Stimulus-Welt ab, der wir im frühesten Leben ausgesetzt wurden und die uns dann immer mehr in verschiedene Entwicklungsrichtungen zwingt. Das führt dann dazu, daß wir, obwohl wir alle in derselben Welt leben, verschiedene Arten von Stimuli suchen, wodurch wir letztendlich in verschiedenen Welten existieren.

Die Arten der Stimulation, die uns entgegenkommen, können in zwei Grundkategorien aufgeteilt werden: Da ist die eine Art der Stimulation, die unser Inneres anstößt, an unsere eigenen Gefühle und Bedürfnisse anknüpft, und die andere, die den Menschen zum Vermittler vorprogrammierter Reaktionen macht, so wie etwa Maschinen mit In- und Output-Charakteristiken. Weil die Stimuli der ersten Kategorie unser Inneres bewegen, führen sie laufend zu einerneuen inneren Integration. Diese löst dann entsprechende Reaktionen aus, die jedesmal das Selbst in einem neuen schöpferischen Akt ausdrücken. Diese Reaktion stellt eine immer wieder neue Integration von äußerer und innerer Bewegung dar. Die andere Art der Stimulation, die keinen unmittelbaren Zugang zu unserem Inneren herstellen kann, ist Ausdruck eines reduzierten Bewußtseins und führt wiederum zu nichts anderem als zu einem reduzierten Bewußtsein.

Beide Arten von Stimulusqualität geben dem Menschen die Bewegung, die er für sein Lebendigkeitsgefühl benötigt. (Ich rede hier nicht von denen, deren Leben ein Versuch ist, Bewegung und Anstoß auszuklammern; diejenigen also, die im Grunde das Totsein dem »Leben« vorziehen.) Beide Grundkategorien der Stimuli sind Leben, aber sie differenzieren sich in ihrer Beschaffenheit und in ihren Konsequenzen für das Menschsein.

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Ein Beispiel: Die Städtearchitektur des 19. Jahrhunderts mag insgesamt gesehen häßlich sein. Aber lassen wir unser Auge über ein öffentliches Gebäude dieser Zeit hinweggleiten: Unser Auge wird gesättigt. Unser Blick wird einmal hier, einmal dort verweilen, unbewußt eine Linie, einen Bogen, einen Winkel vervollständigen. Am Ende fühlt man eine innere Befriedigung. Etwas ist vor sich gegangen. Irgendwie ist man veranlaßt worden, eigenes hinzuzufügen, etwas zum Vorgang der Perzeption beizutragen. Ein aktives Verfahren, ein Prozeß wurde angeregt, einer, der das eigene Schöpferische ins Spiel brachte.

Oft ist es aber anders, wenn wir zum Beispiel die Fassaden der durchschnittlichen modernen Architektur mit unseren Augen überfliegen. Sie mag eindrucksvoll sein, sogar Schwung haben. Aber wenn wir fertig sind, befinden wir uns immer noch auf der Suche nach etwas mehr. Das Auge ist nicht »gesättigt«, man ist nicht zur Teilnahme angeregt worden. Ja, vielleicht gab es dem Betrachter sogar unmittelbar ein Gefühl von Macht; das füllt aber auch nicht aus, da es einen dazu bringt, nur nach mehr zu suchen.

Dieses Beispiel zeigt, daß unsere Stimulus-Welt uns nicht mehr in unserem Innern anrühren/bewegen kann. Sie zwingt uns, nach immer mehr Stimuli Ausschau zu halten, die uns dann wiederum nur von außen her bewegen. Die Spirale dreht sich immer weiter, und so werden wir in der Tat Stimulus-gebunden (engl, stimulus-bound).

Um uns lebendig fühlen zu können, werden wir immer mehr Äußeres brauchen, und das Stimulus-gebunden-Sein wird zu einem Lebensdrang! Die Stimuli selber treiben uns nun auf einen Kurs, der uns an sie bindet, obwohl sie uns innerlich leer lassen. Da wir aber meinen, daß wir nur mehr von ihnen brauchten, um die Leere zu füllen, steigert sich unser Bedarf für das, was im Grunde nur Leere bringt. Vielfältig ist die Art dieser Stimuli: laute Musik, große Autos, glitzernde Farben ohne Nuancen, schimmernde Geräte, irgend etwas, solange es nur Steigerung an Stimulation liefert. Schließlich ist das, was wir suchen, um uns als lebendig zu erfahren, bloß noch die Geschwindigkeit, mit der ein Wechsel sich vollzieht. Form oder Inhalt des Stimulus ist für uns kaum noch von Bedeutung. Überhaupt wird der Inhalt immer bedeutungsloser. Tatsächlich wird die Leere der Formen vorgezogen, denn Formen mit Inhalt und Sinn behindern das Tempo des Wechsels. Sinn erfordert immerhin etwas Zeit für innere mentale Organisation.

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Das Bewußtsein, das diese Stimulus-Welt von heute gestaltet, ist selbst reduziert. Geformt aus abstrakten Begriffen über unser Sein, reduziert dieses Bewußtsein immer stärker den Menschen, der seiner Wirkung ausgesetzt ist. Indem es zunehmend davon ausgeht, daß der Mensch ein Objekt mit In- und Output-Charakteristiken ist, verhindert es den Zugang des Menschen zu seinen inneren Vorgängen, läßt sie sich nicht entwickeln, und letztendlich wird der Mensch genau dem entsprechen, was von ihm angenommen wird. In der Psychologie ist dieser Prozeß fast ein bewußt gewollter. Der amerikanische Psychologieprofessor B. F. Skinner und seine Schule, die die Verhaltenspsychologie in der ganzen Welt nachhaltig beeinflußte, befaßt sich mit dem Menschen, als ob Freiheit und Würde gar nicht existierten: Der deutsche Titel eines seiner berühmtesten Bücher heißt Jenseits von Freiheit! Aber indem der Mensch dann tatsächlich zu dem wird, wie man ihn sieht, beweisen wir die Wissenschaftlichkeit solcher Prämissen. Auf diese Weise wird der Mensch homogenisiert und simplifiziert. Das Unbehagen in ihm, gefördert durgh das unzugängliche Innere, wird dabei nicht im Zusammenhang mit der vorhergegangenen Reduktion seiner möglichen Dimensionen gesehen.

Ein anderes Beispiel unserer eigentlichen Verstümmelung durch eine reduzierende Begrifflichkeit — diesmal weniger bewußt beziehungsweise gewollt — kommt aus der Architektur. Hugo Kükelhaus (1978), der europäische Architekturphilosoph, hat darauf hingewiesen, daß die meisten von uns das Licht nie als ein Sichentfalten erleben. Das geschieht unwillkürlich zum Beispiel in einem Wald, aber fast nie unter den Voraussetzungen moderner Architektur, die Licht als etwas begreift, das auf oder durch weite ungebrochene Oberflächen fallen muß (je größer, desto besser). Auf diese Weise kann einströmendes Licht nie als Bewegung empfunden werden.

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Das ist der entscheidende Punkt. Die angedeuteten Vorgänge führen zu einer Verringerung der nach innen belebenden Stimuli. So verlieren wir immer mehr die Möglichkeit eines Erlebens der Resonanz innerer Bewegungen und werden jener Erfahrungen beraubt, die das Gefühl des Lebendigseins bereichern.

In diesem Zusammenhang haben die Forschungen des verstorbenen amerikanischen Psychologen, Tierforschers und Neurologen H. G. Birch ebenfalls eine Bedeutung. Er zeigte schon vor Jahren (1950), daß Katzen, die keine Erfahrungen mit sich bewegenden Stimuli hatten, sich nie zu vollständigen Katzen entwickeln. Im Experiment hatten die Katzen keine Möglichkeit, bewegliche Gegenstände wahrzunehmen, auch keine bewegten Schatten. Die Käfige wurden durch indirekte Beleuchtung erhellt; der Boden selber war aus Draht, so daß Futterkugeln sofort wegfielen. Katzen, die sich unter diesen Bedingungen entwickelten, jagten später nie einer Maus nach. In ähnlicher Weise zeigten Ratten, wenn ihre Möglichkeit, sich selbst zu lecken, reduziert wurde (durch einen »Elisabethanischen« Kragen), bei der Geburt ihres Wurfes kein normales mütterliches Verhalten. (Birch, 1945)

Es ist also nicht nur die ausbleibende beziehungsweise verhinderte Bereicherung, die in Frage gestellt wird. Es geht vielmehr auch um unsere Verkrüppelung. Denn ein Mensch ohne die Möglichkeiten solcher nach innen zielenden Erfahrungen wird zu einem anderen Wesen. Das Bedürfnis für solche Stimulation ist zwar vorhanden, wenn es aber nicht gestillt wird, fühlt man sich leer und unzufrieden. Das ist einer der Gründe für das Unwohlsein, der ewigen Unzufriedenheit inmitten einer uns mit Stimuli überflutenden Wohlstandsgesellschaft. Diese Stimuli sind Ausdruck und Aktivation des reduzierten Bewußtseins. Wenn unsere Lebendigkeit von dem andauernden Zufluß äußerer Stimulation abhängig ist, können wir uns aus dieser Abhängigkeit nicht lösen. Im Gegenteil: Uns treibt die innere Unzufriedenheit, zu deren wahren Gründen wir den Zugang verloren haben, unmerklich in immer mehr Äußerlichkeiten. Denn dort, so haben wir es gelernt, können wir eine Art Lebendigkeit finden.

Nur, diese Art von äußerer Stimulation löst bloße Reaktionen aus, niemals Kreativität. Sie macht uns zum Roboter. Wir handeln dann mit uns, als ob wir uns in den Dingen da draußen finden können, zum Beispiel in den Sachen, die wir besitzen.

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Infolgedessen befassen wir uns mit dem Leben, als ob es Ausdruck eines Besitzes von Dingen außerhalb unseres Selbst wäre. Dadurch wird das Lebensbewußtsein reduziert zu dem, was der Markt an Ware bietet. Unsere Persönlichkeit ist dann tatsächlich durch die Produkte der Industrie definiert. Das Resultat ist, daß wir von Begierden motiviert werden, die wohl den Bedürfnissen des Kommerz entsprechen, nicht aber unseren eigenen.

Die Verstärkung dieser Art von Verlangen, von Appetit, wird oft und gern mit Bewußtseinserweiterung und Entfaltung der Persönlichkeit gleichgesetzt. In Wirklichkeit trennt uns das noch mehr von dem inneren Unbehagen und der Leere, die dann nur als blindes Gefühl einer ständigen Reizbarkeit zum Vorschein kommen. Diesem aber versuchen wir durch neue Anschaffungen, neue äußere Veränderungen beizukommen. Aber die innere Not und die sie begleitende Wut erkennen wir nicht.

Unser Streben, so scheint es, geht nach immer mehr Technik und Techniken, denn sie geben uns die Illusion einer Großartigkeit. Beobachten wir jedoch die Menschen, so sehen wir, wie viele umherhasten, sich in unzählige Aktivitäten stürzen, um ihrem unbekannten, aber störenden Inneren zu entgehen, das sein Recht fordert. Dieses Innere macht ihnen Angst, wobei die Einsicht, daß sie Angst haben und daß sie Unfähigkeit und Hilflossein fürchten, völlig fehlt. Statt Angst fühlen sie zum Beispiel Langeweile, wodurch sich ihre rasende Aktivität nur verstärkt. Man bekommt öfters den Eindruck einer blinden Wut, die in ihrer Intensität selbstmörderisch ist. 

Daß das nicht nur ein suggestiver Eindruck ist, entnehmen wir den Untersuchungen des Soziologen David Phillips (1977, 1978). In einer Reihe von Forschungsstudien legte er dar, daß die Meldungen in den Massenmedien über Morde und Selbstmorde ihrerseits Auto- und Flugzeugunglücke provozierten. Je mehr Morde und Selbstmorde publiziert wurden, desto mehr häuften sich Unfälle auf Autobahnen, im privaten Sport- und Geschäftsflugverkehr. Es ist daraus zu schließen, daß diese Berichte latent vorhandenen, aber diffusen Triebwünschen Form und Auslöser gaben.

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Das Selbstzerstörerische verstärkt sich so lange, als wir uns nur dann »am Leben fühlen«, wenn wir durch Reaktionen gesteuert werden, die uns ständig weiter auf das Äußere fixieren. Auf diesem Weg kann man nicht bei sich selbst bleiben noch bei der eigenen Kreativität, die geweckt werden muß, damit wir uns wirklich lebendig fühlen. Um wirklich lebendig zu sein, muß man fühlen, nicht nur reagieren. Dann verweilt man bei den Dingen, weil die schöpferische Kraft, die jeder besitzt, Zeit braucht, aufzusteigen und in unser Tun einzudringen. Statt dessen werden wir zu Robotern in der Gewalt von Stimulusketten. Wir sind blind und verfehlen unsere eigenen Möglichkeiten zur Entwicklung, weil die Äußerlichkeiten, an die wir uns hängen, uns den Zugang zu unserem Inneren versperren. Wenn dann ein solcher Mensch tatsächlich von den auf ihn zukommenden Reizen isoliert wird, fällt seine Reaktionsweise — also seine Persönlichkeit und ihre Kohäsion — auseinander; es sei denn, daß er eine innere Stärke, seine innere Welt, entwickelt hätte.

Eigenartig ist, daß die Forschungsarbeiten über die sensorielle Deprivation bei der Schilderung der Wirkungen der Isolation stehen bleiben und uns nichts über das letztere, das heißt über die einzige Möglichkeit, den verheerenden Wirkungen der sensoriellen Deprivation zu entgehen, berichten. Bei der statistischen Bearbeitung der meisten Forschungsansätze fallen jene Individuen, die auch unter diesen Bedingungen in ihrer Persönlichkeit nicht dekompensieren, heraus. Um darüber Auskunft zu bekommen, müssen wir uns der Biographie besonderer Menschen und der Literatur zuwenden.

Ich möchte zwei biographische Beispiele erwähnen: 

Admiral Byrd, der als erster den Südpol erreichte, und die englisch-ungarische Ärztin Evelyne Bone. Beide waren sensoriellen Deprivationen ausgesetzt, aber in vivo und nicht unter experimentellen Bedingungen. Byrd war monatelang in einer einförmigen Polarregion isoliert. Seine Autobiographie (1938) gibt uns einen detaillierten Einblick in den Reichtum seines inneren Lebens, welcher Unabhängigkeit von äußerer Sinnes-Stimulierung erzeugt. Er überwand dadurch die völlige Desorientierung, die sonst bis zum Wahnsinn hätte führen können. Ähnliches geschah im Leben von Evelyne Bone (1957). Sie war sieben Jahre lang in einem politischen Gefängnis in Isolationshaft. Die Stimulation ihrer Sinneswelt war extrem reduziert. Aber durch ein inneres Gedankenleben erhielt sie ihre geistige Gesundheit und ihr Leben.

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Beide waren Menschen, deren persönliche Entwicklung ihnen ein Inneres geschaffen hatte. Daß die Resultate der Deprivations-Forschung so sehr die Auswirkungen in Richtung der geistigen Störungen betonen, ist sehr bezeichnend für den allgemeinen Druck, dem wir Menschen gegenwärtig ausgesetzt sind und der uns in eine Entwicklung treibt, durch die wir in einem zunehmenden Maße abhängig von der äußeren Stimulus-Welt werden.

Es ist sehr interessant, in der Belletristik zu verfolgen, was uns die wissenschaftliche Forschung zu unserem Thema nicht oder nur unzureichend erklären kann. Stefan Zweig schildert zum Beispiel in seiner kurzen >Schachnovelle< (1974, erstmals 1943 erschienen) ein seelisches Überleben unter den zermürbenden Bedingungen der Gestapohaft, die mit einem fast totalen Isolierungsprozeß identisch waren. Für den Held der Novelle wird das mit sich selbst gespielte Spiel der Spiele, Schach, das er auf eine phantasierte Fläche projiziert, zur geistigen Rettung.

Ich erwähne diese Beispiele nicht, um die Wichtigkeit der äußeren Stimulus-Welt zu negieren, sondern um unsere Aufmerksamkeit auf etwas zu lenken, was sonst fast unbewußt vor sich geht: Unter den Stimulus-Bedingungen der Entwicklung, der wir immer mehr ausgesetzt sind, werden wir zunehmend von jenen Stimulusarten bewegt, die unser Inneres nicht anrühren und uns infolgedessen immer mehr vom Außen abhängig machen. Solch eine Entwicklung fördert im übrigen die Illusion, daß wir uns selbst besitzen. Indem wir den Zufluß an Stimuli von außen her suchen, unsere Reaktionen auf sie aber keine inneren Prozesse auslösen, verstärkt sich unsere Abhängigkeit von den äußerlichen Stimuli. Dieser circulus vitiosus — am Ende eine Jagd auf den Wechsel selber — wirkt zerstörerisch, da er im Grunde eine Sucht ist, die es dem Menschen unmöglich macht, seine wahren Bedürfnisse zu erkennen. Verlangen und Gelüste dominieren. Wenn das Innere unberührt und unbefriedigt bleibt, wird es zusätzlich zur Quelle eines Unbehagens, das zu Wut und Zerstörung führt.

Und es wird schwer, einen Weg zu sich selbst zurückzufinden. Man brauchte Lehrer — aber man weiß es nicht. Denn im maßgebenden Umfeld eines jeden handelt jedermann nach gleichem Muster: die Raserei des nach außen zielenden Suchens.

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Man ist nicht in der Lage, die eigenen Verletzungen anzuerkennen, den Verlust des Zugangs zu eigenen Bedürfnissen und Gefühlen. Was wir hier vor uns haben, ist der Tod des menschlichen Erlebens! Unsere Realität ist unwirklich geworden, da wir mit uns selbst nur noch in abstrakten Begriffen, von außen her bestimmt, umgehen können. Unsere wirklichen Bedürfnisse, die wir nicht kennen, gehen verloren.

Umgeben vom toten Besitz, vom Wechsel um seiner selbst willen, treten wir einfach auf derselben Stelle. Je mehr Veränderungen wir im Äußeren suchen, je öfters wir unsere Kleider, Orte, Autos, Apparätchen wechseln, desto intoleranter werden wir gegenüber der Ungewißheit, der wir täglich ausgesetzt sind. Scheinbar ein Paradox, bis man merkt, daß die Raserei für das Neue einer Furcht entspringt, jener Furcht nämlich, mit unseren inneren Gefühlen in Berührung zu kommen, von denen wir ferngehalten werden und die uns deswegen fremd und gefährlich vorkommen müssen. Sie sind die neue Unsicherheit von heute, die uns zu erdrücken scheint. Jedoch: Nur wenn es uns gelingt, uns wieder mit unseren inneren Gefühlen zu verbinden, wird es für uns einen Ausweg geben.

Damit ist aber etwas verbunden, was wir nicht vergessen dürfen: Humor ist ein wichtiger Bestandteil unseres Lebens. Wir brauchen ihn nicht nur, weil er uns über die Nöte des Lebens hinweghilft, sondern auch, weil wir uns durch ihn lebendiger fühlen. Ohne Humor ist man tot, und tatsächlich sind die Humorlosen unter uns jene, die wir als tot oder tödlich empfinden. Jedoch, auch hier vollzieht sich immer mehr eine Reduzierung.

Wenn wir die heutigen Filmkomödien mit älteren vergleichen, so merken wir, daß sich etwas geändert hat, daß etwas fehlt. Die neueren Filme sind zwar in der Regel technisch meisterhaft gemacht, aber ihr Inhalt, selbst wenn sie uns zum Lachen bringen, hinterläßt Leere.

Nehmen wir hingegen zum Beispiel einen alten Film der Marx-Brothers. Einer von ihnen zeigt Groucho bei der Rückkehr von einer Afrikasafari. Die Szene beginnt damit, wie er in einem eleganten, von Eingeborenen in voller Kriegsaufmachung getragenen Stuhl in Amerika ankommt. Als er in New York abgesetzt wird, fragt er den Häuptling: »Wieviel?« Der Häuptling antwortet: »Einundzwanzig Dollar.« Groucho vorwurfsvoll: »Ich habe euch doch gesagt, ihr sollt nicht via Australien laufen!«

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Ein anderer: Groucho kauft in einem New Yorker Bahnhof eine Fahrkarte nach Kalifornien. Der Schalterbeamte sagt ihm, sie koste einhundertsechzehn Dollar. Groucho reicht ihm ein Bündel Scheine und sagt: »Sie brauchen nicht nachzuzählen.« Der Beamte zählt natürlich doch und sagt ihm, es fehlten noch sechzehn Dollar. Groucho entrüstet: »Ich habe doch gesagt, Sie sollen nicht zählen!«

Warum bleiben diese alten Komödien mehr als nur in unserem Gedächtnis? Irgendwie aktivieren sie etwas in uns, rufen etwas in uns wach, das unser eigenes inneres Erleben anspricht. Die neueren Filmkomödien dagegen scheinen mehr wie Stimuli zu wirken, die unmittelbare Reaktionen auslösen, aber keine vermittelnden inneren Prozesse einschließen. Sie gleichen mehr Roboterreaktionen. Kein innerer, empathischer Prozeß wird in Gang gesetzt. Dadurch stirbt etwas.

Ich besuchte ein Kino, in dem zwei Filme gezeigt wurden. Einer ein alter der Marx Brothers und der andere ein Komödienfilm vom neuen Typus. Das Publikum, vorwiegend Jugendliche, wußte mit dem Marx-Brothers-Film nichts Rechtes anzufangen. Hingegen konnten sie während des folgenden neuen Films über Szenen, in denen sich Wörter wie »ficken« und »Scheiße« häuften, vor Lachen brüllen. Der szenische Kontext war minimal, es schien eher, als ob die Wörter selbst in ihrer antisozialen Andeutung aufgestaute Wut durch rauhes Gelächter freisetzten. Sie dienten einfach als Auslöser dieser von der reduzierenden Welt geformten Wut. Die Reaktion war in diesem Sinne »preformed« (vorgeprägt).

Den Marx-Brothers-Film genießen zu können erforderte ein inneres Lebendigsein, eine eigene, schöpferische Reaktion. Die jungen Menschen waren offensichtlich ohne Zugang zu ihrem Inneren. Wenn überhaupt, so weigerten sie sich aggressiv, daran erinnert zu werden, indem sie sich demonstrativ langweilten.

Es haben sich natürlich nicht nur diese Filme verändert. Eine allgemeine Veränderung in unseren Beziehungen zu unseren Gefühlen und unserer schöpferischen Kraft kann allenthalben beobachtet werden. Wenn unsere echten Gefühle und unsere Kreativität nicht gefordert werden, so sterben sie allmählich ab, und wir verarmen. Die Leere, die auf diese Weise in uns entsteht, macht uns wütend, um so mehr, als das Unbehagen, das dadurch ausgelöst wird, uns bedroht. Unser Potential für Destruktivität nimmt zu.

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Wenn Kunst uns dazu bringt, sich an ihr zu beteiligen, wenn ein Film uns innerlich anrührt, lernen wir — auch ohne Worte — etwas über uns selbst. Aber in zunehmendem Maße sind wir einer Welt ausgesetzt, durch die wir unser Inneres nicht erkennen können. Unser Leben wird zu Sequenzen vorgeformter Reaktionen anstelle empfundenen Erlebens. Und das Schnellfeuer der ständigen Umschaltungen wird zum Ersatz für Gefühle. Wir haben keine Chance, bei uns selbst zu verweilen, über die Dinge nachzudenken. Alles wird uns »portionsgerecht« zum sofortigen Gebrauch dargeboten; auch vorgekaut. Dadurch haben wir keine Erfahrung mehr mit der Spannung als einer Quelle unseres eigenen Tuns.

Unsere Abhängigkeit von der einseitigen Art der Stimulation vergrößert sich täglich. Manche können gar nicht mehr herumlaufen, ohne daß ihr Transistor-Radio auf ein Programm eingestellt ist. Entweder können sie ihre eigenen Erregungen nicht ertragen oder die Leere, die sich einstellt, wenn im Moment keine äußeren Stimuli vorhanden sind, die das künstlich erzeugte Lebendigkeitsgefühl aufrechterhalten. Es ist wichtig hervorzuheben, daß wir uns, weil wir uns diese Stimulus-Welt und -Werte aneignen, für autonom halten und gar nicht merken, daß Orwells 1984 schon mit uns ist. Das Erschütternde ist, daß sein Roman >1984< nicht nur in diktatorischen Terror-Regimen zu finden ist, sondern auch in hohem Grad da, wo keine offensichtliche offizielle Gewalt angewendet wird.

Diese Trennung vom wahren Selbst beeinflußt auch unser Verhältnis zu uns selbst und die Art, wie wir unsere eigene Entwicklung anschauen. Immer häufiger verhalten sich Menschen so, als wäre ihre Vergangenheit ohne Bedeutung für ihre Gegenwart.

 

Ich erinnere mich an ein Erlebnis mit einer Studentin an der Rutgers-Universität. Ich hatte über den amerikanischen Dramaturg William Hanley und sein Bühnenstück >Slow Dance On The Killing Ground< (Langsamer Tanz über den tödlichen Boden, 1964) gesprochen. In diesem Meisterwerk gibt es drei Figuren, die alle ein furchtbares, traumatisches Leben hinter sich haben, aber bis auf einen von ihnen keine entsprechenden Gefühle darüber empfinden.

Für Rosie, ein modernes Collegegirl, intellektuell und von ihren Gefühlen abgeschnitten, auf dem Weg zu einer Abtreibung, ist es nicht anders, als würde sie eine Leberwurst zerschneiden. Bei Glass, dem alten deutschen Kommunisten, wird der Horror, seine Frau den Nazis überlassen zu haben, durch seine ideologische Ergebenheit ausgelöscht. Nur Randall, der seine Mutter ermordete, weil ihre Hurerei ihn verletzte, erfährt bewußt das Grauen seiner Mordlust.

Aber die erwähnte junge Psychologiestudentin sagte, sie sehe nicht, warum es eine besondere Bedeutung haben sollte, eine Mutter zu haben, die sich prostituiert. »Soziale Amnesie« (wie Rüssel Jacoby es 1977 genannt hat) ist rings um uns. Sie ist das vorsätzliche Verdrängen von Dingen, von denen wir einmal wußten, vor denen wir uns aber dann fürchteten (um dann beides, die Furcht und das Geschehen, zu verdrängen).

Ich möchte nochmals, nach diesem Umweg, zum Humor zurückkehren. Ohne Bezug zur Vergangenheit kann man eigentlich nicht über sich selbst lachen. Humor setzt voraus, daß man mit der eigenen Vergangenheit einen lebendigen Kontakt hat.

Im Film <International Hotel> sehen wir den Komiker xxx in einer Art Vorläufer des Helikopters vergnügt durch die Wolken fliegen, als er plötzlich merkt, daß sein Vorrat an Bier zu Ende geht. Er landet auf dem Dach des Internationalen Hotels in Tientsin, China, wo die Elite der Stadt gerade dabei ist, ihren Nachmittagstee zu trinken. Mit schallender und zugleich leicht schwankender Stimme fragt Fields, wo er sei. »Tientsin, China«, wird ihm sehr vornehm geantwortet. »Ich suche Kansas City, Kansas!« ruft er voll entrüsteter Hilflosigkeit. »Sie haben sich verirrt, mein Herr«, quiekt eine Stimme. Worauf sich Fields zu voller Größe aufrichtet, in die Brust wirft und brüllt: »O nein, ich habe mich nicht verirrt, sondern Kansas City!«

Die Pointe ist die, daß derjenige, der nie sein Inneres erfahren hat, nie lebendig gewesen ist, dann auch nicht über die Vorstellung lachen kann, keinen eigenen Kern zu haben.

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