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5.  Patienten in der Psychotherapie   

 

 

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Die meisten Kulturen23 müssen unter dem Aspekt gesehen werden, daß sie Instrumente sind, Spaltungen im menschlichen Bewußtsein zu erzeugen und aufrecht­zuerhalten.  

Wenn wir eine Zivilisation beschreiben und analysieren wollen, müßten die eigentlichen Fragen, die wir uns stellen, lauten: Inwieweit hindert die Zivilisation beziehungsweise Kultur das Kind, sich der Unterdrückung seiner Autonomie bewußt zu werden? Wie trennt sie im Prozeß der Bewußtwerdung das Kind von den wahren Ursachen seiner Hilflosigkeit und Wut ab? Wie bringt »Kultur« es zustande, diese Wut und den daraus entstehenden Destruktionstrieb in eine Richtung des Verhaltens zu treiben, die dem Bedürfnis des Menschen nach Liebe und Mitgefühl widersprechen, ihn für diese Strebungen unempfindlich machen?

Mit solchen Fragen sind wir dem Phänomen der Spaltung und Trennung in der Kultur auf der Spur, und es wird klar — so befremdlich dieser Aspekt zunächst erscheint —, welche Kulturen den Tod, den Haß der Destruktivität im Keime tragen und welche Kulturen wirklich dem Leben verpflichtet sind. Diese Fragen entsprechen einer Orientierung, die das angepaßte Dasein als Endstadium einer Entwicklung sieht, die auf Bewußtseins-Spaltung ruht. Dadurch löst sich auch das Rätsel der psychischen Erkrankung. Diese bedarf der umfassenden Perspektive einer Gesamtschau, in der die ganze Beziehung der Kultur zur Entwicklungsgeschichte des einzelnen miteinbezogen wird und in der sich dann der Sinn der seelischen »Erkrankung« herauskristallisiert: Jene Menschen, die mit der Spaltung als Grundstruktur nicht leben können, werden »krank«.

Diejenigen unter uns, die noch empfindsam sind, die noch Sehnsucht nach einem anderen Ufer der Empfindung haben,24) also jene, die die Möglichkeit, einen anderen Menschen im vollen Bewußtsein seiner Individualität lieben zu können, nicht aufgegeben haben und auch nicht ihre Sehnsucht, auf gleiche Weise geliebt zu werden, bezahlen einen Preis. Oft fühlen sie sich entfremdet, leiden, ohne zu wissen warum, sind oft voller Angst, können im Leben oder bei der Arbeit versagen; sie werden, auf welche Art auch immer, zu Außenseitern.

Manche dieser Menschen können von Anfang ihrer Entwicklung an nicht mit der im Grunde von der Kultur geforderten Spaltung leben. Manche erst von dem Moment an, in welchem sie plötzlich mit Gefühlen konfrontiert werden, für die sie scheinbar keine Erfahrung haben und deswegen nicht mit ihnen fertigwerden können. So kommt es, daß wir in der psychotherapeutischen Praxis eigentlich zwei Kategorien von Patienten sehen: Die einen, die »schon immer« Schwierigkeiten im Leben hatten, und die anderen, die »plötzlich« zusammenbrechen, scheinbar wie aus heiterem Himmel. Damit soll nicht gesagt werden, daß alle Menschen mit solchen Erfahrungen in einer Psychotherapie sind oder sein sollten. Viele von ihnen haben genügend Energie, auch Freunde und Partner, die ihnen helfen, einen Weg zu sich selbst zu finden.

Jene erste Kategorie von Patienten hat schon immer Mühe gehabt, die Mittel und Wege zu akzeptieren, die von der Kultur angeboten werden, um Hilflosigkeit und Wut zu »sublimieren«, nämlich Gehorsam, Konformität, Unterdrückung der eigenen Intensität, Beherrschung von Techniken. Solche Menschen weigerten sich schon früh, Herrschaft und Zwang in ihren vielfältigen Formen als Lebensstil hinzunehmen. Sie haben sich dem Druck zur Spaltung ihrer Gefühle nie vollkommen unterworfen. Die kulturelle Lüge, daß die Unterdrückung ihrer Autonomie aus Liebe geschehen sei, widersprach zu sehr der Kraft ihrer eigenen Wahrnehmungen. Sie wurden zu »Kranken«, weil sie es, ohne sich dessen bewußt sein zu müssen, ablehnten, bei diesem selbstbetrügerischen Arrangement mitzumachen. Hingegen tritt ihre Auflehnung und Weigerung oft nicht offen zutage. Von ihrer eigenen Wut erschreckt, sind sie eingeschüchtert. Sie steigert die Angst vor ihren faktischen Unterdrückern, deren »Liebe« sie als Kinder so sehr brauchten. So fürchten sie nicht nur ihre eigene Aggressivität, sondern glauben in bezug auf sich selbst, daß sie böse sind. Ihre Rebellion drückt sich daher meistens so aus, daß sie im Leben versagen.

Viele von diesen Patienten kommen in der verzweifelten »Hoffnung« zu uns, daß ihre Lage wirklich ihre eigene Schuld ist. Deswegen hoffen sie, mit Hilfe der Therapie zu dem gemacht zu werden, was wir übrigen sind: angepaßt, gehorsam, erfolgreich, als Bürger frei, zerstörerisch zu wirken. Andere dagegen wollen wirklich den Dingen auf den Grund gehen; ihre Ratlosigkeit bezieht sich auf das Wie

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Die ersteren, einmal von ihrem Schuldgefühl befreit, können durchaus zu erfolgreichen, ehrgeizigen, angepaßten, eher unempfindlichen oder rücksichtslosen Mitgliedern der Gesellschaft gemacht werden. Die anderen bereiten ihren Psychotherapeuten oder Psychoanalytikern mehr Mühe. Sie werden oft als »Grenzfälle« angesehen, zu krank, als daß ihnen wirklich zu helfen wäre. Das heißt, wenn man ihre dauernde Klage — öfters in verhüllter, undurchsichtiger und total unangemessener Form —, daß da draußen in der Welt etwas nicht stimme, nicht akzeptiert. Ich persönlich finde die Zusammenarbeit mit ihnen am hoffnungsvollsten.

Die zweite Kategorie, also jene, die sich plötzlich mit Gefühlen konfrontiert sehen, die sie durch die offizielle, kulturell bedingte Bewußtseinsspaltung bisher vermieden haben, erscheinen wiederum in zwei Gruppen. Die einen wollen nichts anderes, als in den Zustand des Nichtfühlens — der Unempfindlichkeit — zurückgebracht werden. Die anderen möchten ihre Schwierigkeit und Krise als Chance nützen, um ihre Spaltung zu überwinden. Die ersten sind die Lieblingspatienten von Psychotherapeuten und Psychiatern, die vorwiegend mit Psychopharmaka, Elektroschocks, systematischem Verhaltenstraining und manchmal auch mit bestimmten Methoden der Gruppentherapie arbeiten. Hier wird versucht, dem Patienten bei dem Wegschaffen der sich ihm zutiefst aufdrängenden Gefühle zu »helfen«. Die anderen hingegen können zu echten Kämpfern werden, die die Gelegenheit ihres Zusammenbruchs ausnützen, um sich ein für allemal zu integrieren. (In der Stärke ihrer Motivation — nicht in der Art ihrer vorherigen Anpassung — sind sie den »Grenzfällen« der ersten Gruppe oft ähnlich.)

 

Als ein Beispiel stelle ich eine vierzigjährige energische, erfolgreiche Geschäftsfrau vor. Mehrere Monate, bevor sie zu mir in die Therapie kam, begegnete sie einem Mann, der ihr das Gefühl gab, umsorgt, getragen, getröstet zu werden. Zum ersten Mal fühlte sie sich ohne eine Bürde auf ihren Schultern. Sobald sie aber begann, spontan zu reagieren, ihren Partner ihre Bedürfnisse wissen ließ, zog er sich zurück. Da aber er es war, der diese Bedürfnisse in ihr auslöste, meinte sie, daß ihr Schicksal in den Händen dieses Mannes liege. Ohne ihn erschien ihr ihr eigenes Leben plötzlich bedeutungslos.

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Diese Patientin hatte ihr ganzes Leben ohne wirkliche Liebe gelebt. Die interessierte Kühle ihrer Mutter war ihre ganze Erfahrung mit »Liebe«. Aber als ihre längst verdrängten Wunschvorstellungen, von einem unbekannten Vater emporgetragen zu werden, durch diesen Verehrer stimuliert und zum Leben erweckt wurden, fühlte sie sich vollständig jenen Gefühlen ausgeliefert, die sie ein Leben lang dadurch in Schach gehalten hatte, daß sie »stark«, effizient und erfolgreich war. Die Komponenten ihres Selbstbildes, nämlich Stärke, Unabhängigkeit und Effizienz dienten zur Stabilisierung dieses Bildes im gleichen Moment, wo diese von ihrer Welt als lohnend und gut geheißen wurden. Diese Aufspaltung in ihrem Bewußtsein, die ihr erlaubte, sich mit der Tatsache ihrer Verletzung durch eine unempathische Mutter nicht auseinandersetzen zu müssen, war auch der Motor, der sie ständig antrieb, erfolgreich, unabhängig und stark zu sein.

Von dem Moment an aber, in welchem ihr Bedürfnis nach Wärme, nach Umsorgtwerden geweckt worden war, wie unrealistisch und aussichtslos diese Hoffnung auch gewesen sein mag, schien ihre Stärke zu verdunsten und nichts als der Selbstbetrug schien übrigzubleiben. Das durch Spaltung und Verleugnung zusammengehaltene Selbstbild brach auseinander, psychisch und somatisch, wobei ein zu hoher Blutdruck zum bezeichnenden Aspekt ihres körperlichen Leidens wurde. Die Patientin wollte jedoch ihre Probleme nicht mit Beruhigungsmitteln lösen, sie hatte in sich »ein anderes Ufer«, das andere Welten versprach, gespürt. Ihr Arzt unterstützte sie in diesem Begehren. Für diese Frau wurde die Psychotherapie zur Entdeckung ihres Selbst. Sie fand heraus, daß die Angst vor dem Alleinsein, ihr Klammern an diesen Mann, im Grunde die Angst davor war, ein eigenes Selbst zu haben. Ihre »Stärke« und »Unabhängigkeit«, in deren Erscheinungsformen sie sich und anderen imponierte, erwies sich als Ausdruck der Erwartungen und des Willens ihrer Mutter und ihrer Umwelt. Ihre eigene Lebendigkeit war verdeckt.

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In dem Moment, als ihre verschütteten eigenen Bedürfnisse wieder zum Vorschein kamen, klammerte sie sich an einen Mann, der genau wie ihre Mutter zutiefst Angst vor diesen Bedürfnissen hatte. Die in einer solchen Situation hervorgerufene Angst ist der Versuch, das eigene Selbst weiterhin auszuklammern — weil die neue Situation die mannigfaltigen Möglichkeiten enthält, zu einem lebendigen Selbst zu kommen. Das Wiedererleben von ursprünglichen Gefühlen bringt die Angst zurück, sich auf den Entstehungsprozeß eines eigenen Selbst einzulassen. Deswegen wird das Alleinsein jetzt zum Greuel. Man braucht den anderen unbedingt, um vor der nun realen Möglichkeit der Erfahrung des Selbst und der damit verbundenen Angst aus frühester Kindheit ausweichen zu können.

Manche Menschen klammern sich aneinander, um ihrem eigenen Selbst zu entkommen. Diese Frau jedoch wagte es, sich selbst wiederzuentdecken, zu ihrer Empfindsamkeit zurückzufinden, jenen Teil von sich zu ändern, der so vom Äußeren, zum Beispiel dem wirtschaftlichen Erfolg, besessen war.

In dieser Frage unterscheiden sich Psychotherapien fundamental, nämlich jene, die die Spaltungstendenzen in der Kultur unterstützen, und jene, die auf der Suche nach der umfassenden Wahrheit des Individuums und seiner Welt sind. In letzter Instanz ist jede Psychotherapie ein moralischer Eingriff, denn das Übel im Menschen fängt damit an, daß manche von uns die Erfahrungen ihrer Kindheit und Jugend, die zu den Spaltungstendenzen im Bewußtsein führten, nicht verarbeiten können. Die moralische Herausforderung der Psychotherapie ist dann die Frage, ob die Therapie dem Patienten zu der Kraft verhelfen soll, jene schmerzlichen Erfahrungen zu integrieren, oder ob die Therapie ein subtiles Mittel ist, ihn sich weiterhin verleugnen zu lassen, seine Empfindsamkeit, die ihn zum Rebellieren brachte — auch da, wo er sich dessen gar nicht bewußt war —, wieder zu verdrängen? Teilweise, wie in dem Beispiel geschildert, hängt es vom Patienten ab. Aber es besteht ein unaufhörlicher Zusammenhang zwischen dem »Kranksein« und der eigenen Empfindsamkeit, die einen nicht in Ruhe läßt.

Soll der Therapeut seine Anstrengungen darauf richten, diese Empfindsamkeit zum Schweigen zu bringen? Verrät er auf diesem Weg aber nicht die Wahrheit? Und wenn er das tut, geschieht es, um den Patienten zu beschützen oder wegen der eigenen Identifikation des Therapeuten mit den bestehenden Mächten und seiner eigenen Verflochtenheit mit der kulturellen Spaltung?

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Wie könnte sonst ein psychoanalytischer Autor, wie etwa Michael Maccoby, in seiner Beschreibung der Helden (>Die Neuen Chefs<, 1979), die ihre Männlichkeit tatsächlich danach bewerten, aus welcher Distanz sie gegen einen Baum urinieren können oder wie sehr sie sich als Frauenverächter geben können, nicht merken, in welchem Ausmaß diese und andere Verhaltensweisen und Einstellungen im Grunde doch Ausdruck von (Größen-)Wahnsinn sind? Maccoby berichtet über solche Verhaltensmuster in den Kreisen führender und anerkannter Manager, betrachtet dies aber alles als völlig normal. Inwieweit sitzt er da nicht seiner eigenen Identifikation mit Erfolg und Macht auf? Meines Erachtens verwechselt er das Fehlen von Angst mit psychischer Gesundheit.

Aber gerade das ist der entscheidende Zusammenhang: Wer Gefühle zuläßt, setzt sich eben auch Angstgefühlen aus. Machtphantasien hingegen bewahren uns vor der Angst und eben auch allen anderen differenzierten und empfindsamen Gefühlen — und das so lange, bis die verdrängten Gefühle unerwartet emporkommen. Maccobys Haltung ist ein Beweis für die eigenartige Abspaltung und Aufspaltung von Gefühlen, oder anders ausgedrückt: Es werden hier nur Gefühle zugelassen, die im Dienste einer künstlichen Identität stehen, die ausschließlich auf Macht basiert.

Das Leiden unserer Patienten entsteht gerade dadurch, daß sie durch die Identifikation mit Macht von ihrem eigenen Selbst ferngehalten werden. Trotz der Identifikation bleibt allen, auch den Angepaßten, die Angst, verletzt zu werden, sich als »schwach« zu verurteilen, weil sie sich auch fürchten, vom Bedürfnis nach einem anderen Menschen überwältigt zu werden. Da sie bewußt leiden, wissen sie aber etwas über ihre Ängste.

Im folgenden möchte ich aufzeigen, wie verwirrend es wirklich ist, unter den Bedingungen unserer Kultur zu einer Integration unserer vielfältigen und widersprüchlichen Erfahrungen zu kommen. Indem unsere kulturellen Muster vorwiegend Kontrolle, Herrschaft und Macht als Heilmittel, richtigerweise müßte man Schmerzmittel sagen, offerieren, verhindern sie den wirklich heilenden Prozeß, der die Zerrissenheit rückgängig machen könnte.

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Ich möchte von einer Patientin berichten, einer kraftvollen, lebendigen, sprudelnden Person. Sie kam einmal zu einer Sitzung voller Zorn, den sie aber nach Kräften zu verhüllen suchte. Kaum daß sie sich hingesetzt hatte, sprach sie über ihr Vertrauen zu mir. Ich fühlte, daß das Gegenteil der Fall war, und fragte sie schließlich, ob sie wütend oder verängstigt sei.

Sie sah überrascht hoch: »Wütend? Ja, Wut kenne ich, aber Angst?« Und gleich darauf brach es aus ihr heraus: »Ich werde mich nicht beherrschen lassen, ich muß meine Sache selber tun!«

Wie kommt es, fragte ich mich, daß ein Teil der Patientin sich mir anvertrauen möchte, ein anderer aber nicht mit einem anderen Menschen teilen konnte.

Ich sprach sie darauf an, und sie antwortete: »Ich weiß es nicht, ich will nicht nachgeben.«

Ich sagte: »Das hört sich an, als ob Sie gegen mich kämpfen müßten.« Denn ich hatte das Gefühl, daß sie gegen ihr eigenes Vertrauensbedürfnis ankämpfte, weil es für sie Schwäche bedeutete. Ich äußerte dann meinen gefühlsmäßigen Eindruck, indem ich ihr sagte, daß das, was sie sagte, sich genauso anhöre, wie das, was sie von ihrer Mutter gesagt hatte: schrill, eisig und verächtlich. Plötzlich änderte sich ihr Verhalten. An diesem Tag sah sie mir zum ersten Mal voll ins Gesicht und sagte mit Traurigkeit: »Es ist grauenhaft.«

Aber das war die Wahrheit. Indem sie genauso garstig und kalt war und auf diese Art auch »Nein« zu dem Mann sagte, der sie wirklich liebte, blieb sie ihrer Mutter gegenüber loyal und rechtfertigte ihr Verhalten. Auf diese Weise verstärkte die Patientin die Spaltung, die Verleugnung ihrer Gefühlswelt, die durch die Mutter hervorgerufen worden war. Indem sie das Muster ihrer Mutter wiederholte, war sie nicht sie selbst.

»Ich halte mich auf Distanz, nur um gemein zu sein.«
Ich entgegnete: »Ja, Sie verbinden sich mit ihr. Sie können das ändern, aber Sie werden dann Angst haben.«
Sie sagte: »Das hört sich richtig an — aber wieso?«
»Das werden wir sehen«, meinte ich.

Etwas später: »Wirklich, ich traue keinem Mann — auch Ihnen nicht. Mutter traute auch nie einem Mann. Es ist nicht Liebe zu ihr — aber ich glaube, sie verließ sich auf mich. Es bedeutet für mich, daß ich für sie das einzige war, dem sie sich zuwenden konnte.«

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So machen Eltern aus einem Kind genau das, was sie möchten, und verstümmeln dadurch das Selbst ihres Kindes. Der Tochter solch ein Gefühl ihrer Wichtigkeit vorzuspielen, war die List der Mutter, die kleine Mary zu beherrschen. Der verführerische Trick bestand darin, sie »Macht« über ihre Mutter fühlen zu lassen, während die Wirklichkeit der Beziehung dem Gegenteil entsprach.

Und dann entwirrte sich in dieser Sitzung alles übrige, die vielen Arrangements und die täglichen Wege, auf denen wir Mythen wiederholen, die uns durch das Triumphieren über andere scheinbar in unserer Selbstachtung unterstützen, uns in Wirklichkeit aber zerstören.

»Es stimmt! Warten Sie, da ist ein Zusammenhang mit Doris (der geschiedenen Frau ihres Mannes) —, eine Art Phantasie —, weiß nicht —, es fällt mir gleich ein —, es kommt nicht... Da ist ein Zusammenhang zwischen ihr und Mutter. Sie gleichen sich. Ich komme mir vor wie Peter Pan (der siegreiche Held des Kinderbuchs, der aber nie erwachsen werden wollte). Ich glaube, ich fühle mich siegreich — ich fühle, daß ich besser bin als sie.«

Ich: »Warum siegreich? Warum ist das so wichtig? — Wozu einen Triumph aus dem Gefühl machen, daß Sie eine eigene Person sind? Indem Sie daraus einen Triumph machen, wird das zur Bindung an Ihre Mutter.«

»Warten Sie mal, ich hatte daran gedacht, eine Geschichte zu schreiben.« Es stellte sich heraus, daß Marys Erzählung um Ereignisse kreiste, die die Verachtung der Mutter für ihre eigene Familie rechtfertigte.

»Der Sinn dieser Geschichte damals — und noch heute — ist, daß Sie Ihrer Mutter recht gaben, sich überlegen zu fühlen, es bedeutete für Sie, daß andere wesentlich schlechter waren als Ihre Mutter, dadurch wurde Ihre Mutter in Ihren Augen weniger schlimm —, und das rettete Sie vor Ihrer Verzweiflung über diese Mutter. Was Sie aber hier haben, ist ein hohler Triumph. Es stimmte schon, die anderen waren schlimmer, aber das, was ungesagt blieb, war, daß ihr alle von derselben Sorte seid —, so sind Sie nicht frei, sich von ihnen zu trennen ... Es ist eben keine Frage eines Triumphes, Sie sind anders, da ist keine Verbindung zwischen Ihnen, ihr und den anderen.«

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Eine lange Pause folgte, dann: »Hah! Was für eine Offenbarung, daß ich anders bin —, ich wollte nie anders sein —, wollte mich in einer Masse von dicken Frauen verlieren ... Ich bin anders . .., aber, vielleicht möchte ich es gar nicht!«

Aber sie war es. Sie hatte mutig gegen ihre Vergangenheit angekämpft, ohne es zu wissen. Zuerst auf selbstzerstörerische Art und Weise. Sie heiratete ihren ersten Mann, der, indem er für sie sorgte, aber auch herumnörgelte, ihre Verachtung für sich selbst und alle Frauen bestätigte. Dennoch rang sie ständig mit sich, ihr Leben zu meistern. Sie tat ihr Bestes für ihre Kinder, kämpfte um ihre Kreativität, indem sie schrieb und malte, und konnte sich sogar zeitweise darüber freuen.

»Ich fühle plötzlich solch eine Welle der Liebe für John (ihren jetzigen Mann). Wenn ich wirklich anders bin, kann ich ihn lieben! Wissen Sie, mich anders zu fühlen, macht mich aber ängstlich, furchtsam. Was mache ich?«

»Lernen, damit zu leben. Sie glaubten, Ihre Mutter sei stark, weil sie nie ängstlich zu sein schien. Sie leugnete ihre Angst, schob sie weg als Schwäche, verachtete das, was unsere Menschlichkeit ausmacht.«

»Ja, sie kam mir immer gigantisch vor.«

Aber die Angst, sie selbst zu sein, bleibt für Mary wie für uns alle. In der nächsten Sitzung erzählte sie von den Zielen, die sie erreicht hatte. Mehrere ihrer Arbeiten erschienen gleichzeitig in verschiedenen Zeitschriften. Aber indem sie das alles erzählte, wirkte sie auf mich gar nicht sicher.

»Gestern abend kam ich nach Hause und küßte und küßte John. Es hatte alles mit dem zu tun, über was wir in der letzten Sitzung redeten, daß ich anders bin. — Ich weiß und weiß doch nicht, wovon wir reden.«

»Was wird sterben«, fragte ich, »wenn Sie jemand loslassen?« (Damit meinte ich ihre Mutter.)

Sie: '»Ich — für mich war meine Mutter immer die Lebendigkeit selber —, ihre Vitalität!«

Das stimmte, ohne Frage hatte ihre Mutter Vitalität. Aber ich fragte weiter: »Was ist der Terror in Ihnen?«

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Sie: »Ich hatte Phantasien, ohne John zu sein, es war erschreckend, wer wird sich um mich kümmern, wenn ich allein bin? — Das hat etwas mit Mutter zu tun, etwas würde auseinanderfallen —, etwas, das unter Schleim vergraben ist! Uff! Vielleicht, wenn ich loslassen würde — es klingt verrückt —, hätte ich nichts mehr, das zu rechtfertigen wäre, was dreckig in mir ist.« (Sie spielte damit auf in früheren Sitzungen herausgearbeitete Zusammenhänge an: Wenn ich nicht mehr meiner Mutter gleiche, dann trage ich selbst die Verantwortung dafür, eine andere Person als Mutter zu sein, denn ich würde ja dann in Übereinstimmung mit meinen eigenen Gefühlen sein.) »Ich habe es getan!! Ich wußte das nicht! Da ist es, endgültig. —Was mache ich jetzt? Oh! Die alte Silberschnur, die Nabelschnur. «

Sie verstand, daß diese Frage selbst eine Wiederholung war, sich zum Beispiel mir gegenüber so zu verhalten, als ob sie Besitz der Mutter (oder von mir oder eines anderen) sei, und sie nicht über sich selber verfügen könne.

»Und wenn John sagt, er wisse nicht, wie er mich verdient habe, fühle ich mich so voller Verantwortung, oh, das ist es, ich vergesse es fast —, um mich zu rechtfertigen, klammere ich mich an Mutter, weil ihr Schmutz den meinen rechtfertigt —, es ist, als ob plötzlich mein ganzes Leben bedeutungsvoll wird — beinahe hätte ich mich selbst reingelegt.«

Hier sehen wir, warum viele von uns oft so wütend sind. So zu sein, wie wir wirklich sein könnten, an Menschlichkeit nicht geringer als andere, heißt aber auch, Angst zu haben und manchmal voller Unruhe sein. Wir treten so in Widerspruch gegen früheste Lernerfahrungen. Denn weniger zu sein als die uns umgebende Autorität (zum Beispiel unsere Eltern), uns auf eine Art klein machen und klein machen zu lassen, wird für viele ein Mittel, Autoritäten zu besänftigen und zu beschwichtigen. Solch ein Abwehrmanöver aufzugeben ruft verständlicherweise Angst und Unbehagen hervor. Deswegen werden wir wütend gegen das, was uns zur Änderung aufruft.

Das Widersprüchliche in der sogenannten Psychopathologie ist, daß Menschen krank werden, weil sie sich noch eine Empfindsamkeit erhalten haben, die der »Realität« der gespaltenen Welt, der sie ausgesetzt sind, widerspricht, und dabei aber gleichzeitig mit der sie bedrückenden Welt identifiziert sind. Dadurch sind sie selber gespalten, und das, was sie bedroht, ist ein Teil von ihnen. Deswegen glauben viele von ihnen, daß der Besitz jener Macht, von der sie verletzt wurden, ihr Leiden heilen würde.

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Jene Menschen, die uns am meisten gestört zu sein scheinen, die Schizophrenen, wehren sich am radikalsten gegen diese Identifizierung. Sie versuchen, sich unserer Welt und ihren Identifizierungen zu entziehen. Dadurch werden sie als dissoziiert angesehen, denn der Verlauf solch einer Dis-Identifizierung bringt eine Spaltung zwischen Affekt und der gesellschaftlichen Bedeutung angehender menschlicher Beziehungen mit sich. Wenn Mitleid als Waffe gebraucht wird, sich überheblich zu fühlen oder einen anderen Menschen zu unterdrücken, kann der Schizophrene kein Mitleid fühlen. Er mag dann lachen, wo wir, die mitmachen, Güte oder Trauer als »mitfühlende« Reaktion erwarten. Es ist dieser Sinn der Dinge, dem sie sich durch Dis-Identifizierung enthalten. So leben sie nicht in unserer Realität, wissen oder wußten aber von ihr, obwohl sie den Anschein erwecken, der Realität mit völlig unangemessener Wahrnehmung entgegenzukommen. Und es stimmt. Sie sind beides: der Wahrheit näher und der Realität entfernt.

Es ist wichtig, diesen Vorgang von der Spaltung im Bewußtsein zu differenzieren, dessen Ursache in den vielfältigen Formen falscher Liebe liegt. Durch diese Spaltung werden unsere Wahrnehmung, unser Sehen von uns selbst und unsere Reaktionen auf Beziehungen der Unterdrückung und der Liebe verzerrt bis unmöglich gemacht. Zumindest ein ganz wesentlicher Aspekt der sogenannten Spaltung des Schizophrenen dagegen steht im Zusammenhang ihres Erkennens dieser Wahrheit, obwohl sie diese oft präverbal sich einprägenden Zusammenhänge nicht realitätsgerecht ausdrücken können. Sie »sehen« die Heuchelei einer Liebe, die keine Liebe ist, aber sie haben nicht die Kraft und Möglichkeit, mit dieser Wahrheit in einer gespaltenen Welt zu leben.

Sie wissen nicht, daß die eigene Wahrheit die Quelle ihrer Kraft sein könnte, denn diese Wahrheit wurde ihnen zu früh aberkannt. Da liegt ihre fundamentale Verletzung. Indem sie aber die Heuchelei einer Liebe erkennen, die nur das Sichunterwerfen liebt, sind sie ständig darauf aus zu beweisen, daß sie von einer solchen Welt nicht geliebt werden können. Zur Förderung dieser Wahrheit machen sie sich sogar vollkommen unliebenswürdig. Der daraus entstehende schleichende lebendige Tod ist ihre subjektive und radikale Ehrlichkeit. Deswegen kann man auch auf jenen therapeutischen Wegen mit ihnen arbeiten, die am direktesten und ehrlichsten sind. 

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