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6.  Das Ringen um das Selbst und sein Verrat  

Gruen-1984

 

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Das, was wir als Menschlichkeit verstehen, unterliegt im Grunde keiner geschichtlichen Denkentwicklung. Menschlichkeit entwickelt sich nicht aus dem Nachdenken über moralische Werte, wie es im allgemeinen dargestellt wird. Die Moralität kommt nämlich aus Kräften, die vitaler sind als eine dem Menschen aufgesetzte Denkweise. Wo die Moralität auf etwas Äußerlichem basiert, werden wir auch die Bedingungen aller Unmoralität und letztlich Unmenschlichkeit finden. Die behauptete Primitivität unserer Vorfahren und anderer Völker ist ein Mythos, mit dem wir unsere eigenen moralischen Defekte verdecken. Es gibt in diesem Sinn keine Primitiven, sondern nur Menschen, die in ihrer Menschlichkeit beschädigt sind.

Ein Selbst, das in Autonomie gründet, kann nicht mit Destruktivität leben. Das Zerstörerische im Menschen hat sich entwickelt. Es ist ihm nicht angeboren, sondern braucht im Gegenteil eine komplizierte Entwicklung, die um das Scheitern der Autonomie kreist. Was dem Zerstörerischen im Menschen zugrunde liegt, ist eine Spaltung in seiner Seele. Ein Kind im Alter von nur einem Monat leidet schon, wenn es in der ganzheitlichen Wahrnehmung seiner Mutter beeinträchtigt wird.25)

Wenn aber Anpassung an die soziale Realität die Spaltung der Seele verlangt und diese zum Grundsatz der Entwicklung macht, wird der Mensch böse. Er wird dann fortwährend versuchen, sich selbst zu besitzen, nämlich jenen inneren Teil, der ihm abhanden gekommen ist, und zwar in einer Suche nach außen. Der Ausdruck dieses Tuns mag gesellschaftlich gebilligt sein (wie zum Beispiel in Kriegen im Namen einer Ideologie, eines Gottes oder einer »moralischen« Überzeugung) oder un-getarnt kriminell. Was hinter beiden steckt, ist Ausdruck einer früh entwickelten Begierde, das Innere durch einen äußeren Besitz zu erobern.

Jakob Wassermann beschreibt diesen Vorgang in seiner Schilderung des Mörders Niels Heinrich (>Christian Wahnschaffe<, 1919). Er zeigt uns in diesem Roman einen Mann, der in dem unversöhnlichen Haß gegen alles Lebendige und Gute zuletzt auch noch das innige und reine Mädchen Ruth ermordet. Darin drückt sich für ihn die Rache und Verachtung aus für die Heuchelei, der er seine Existenz verdankt; gleichzeitig aber auch der Haß auf sein Bedürfnis nach dem Teil seiner Seele, der ihm abhanden gekommen war, der liebende Teil, von dem er getrennt wurde. Seine Figur verkörpert den unverschönerten Sinn des Besitzergreifens, die Ver-Äußerlichung dessen, was im Innern fehlt, um auf diese Weise dieser Lücke doch noch Herr zu werden.

»Käme es auf ihn an, Niels Heinrich Engelschall, so bliebe kein Stein auf dem andern stehen, alle Regel würde ausgerottet, alle Ordnung über den Haufen geworfen, alle Städte in die Luft gesprengt, alle Brunnen zugeschüttet, alle Brücken zerbrochen, alle Bücher verbrannt, alle Wege zerstört, und Vernichtung würde gepredigt, einer gegen alle, alle gegen einen, alle gegen alle. 

Mehr sei die Menschheit nicht wert; das könne er wohl behaupten, denn er habe sie studiert und durchschaut. 

Er kenne bloß Lügner und Gauner, erbärmliche Narren, Geizhälse und Streber; er habe die gemeinen Hunde kriechen sehen, wenn sie hochkommen wollten, nach oben kriechen und nach unten kläffen. Er kenne die Reichen mit ihren satten, faulen Redensarten und die Armen mit ihrer niederträchtigen Geduld. Er kenne die Bestechlichen und die Nackensteifen, die Prahler und die Düsterlinge, die Flaumacher und die Blümeranten, die Diebe und die Fälscher, die Weiberhelden und die Kopfhänger, die Dirnen und ihre Zuhälter, Kupplerinnen und junge Herren, die Bürgermadams mit ihrer Scheinheiligkeit und ihrer Geilheit, den Neid da und die Heuchelei dort, und die Maskeraden und das Getue, er kenne alles, und ihm imponiere nichts, und er glaube an nichts außer an den Gestank und an den Jammer und an die Habsucht und an die Freßsucht und an die Tücke und an die Bosheit und an die Wollust. Eine Schandenwelt sei es, und hin werden müsse sie, und wer zu solcher Einsicht mal gelangt sei, der müsse den letzten Schritt tun, den allerletzten, wo die Verzweiflung und der Hohn durch sich selber erstickt werde, wo es nicht weitergehe, wo man an der stumpfen Hautwand den Engel des Jüngsten Tages pochen höre, wo das Licht nicht mehr hindringe und auch die Nacht nicht mehr, wo man allein sei mit seiner Wut, daß man sich doch endlich spüre und vergrößere und was Heiliges packe und zerschmettere; was Heiliges, darum handle sichs; was Reines, darum handle sichs; und Herr werden darüber, es niederzuzwingen, es auslöschen.«

Jakob Wassermann vermittelt uns in dieser Figur, wie ein gespaltener Mensch sich nur noch durch Wut am Leben spürt.

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Das grauenhafte Paradox besteht darin, daß seine Destruktivität die Quelle seiner Lebendigkeit ist. Das ist ein fürchterlicher Tatbestand, dem wir aber in gewisser Weise täglich begegnen, da solche Menschen — man findet sie auf allen Ebenen der Gesellschaft — nicht ohne Destruktivität leben können.

Diese Menschen ohne ein echtes Selbst geben durch ihr Anpassungsvermögen an das gebilligte gesellschaftliche Verhalten nur allzu oft den Anschein, Menschen mit akzeptablen Gefühlen zu sein. Da sie aber außer ihren Rachegefühlen gegenüber dem Lebendigen, von allen anderen Gefühlen getrennt sind, scheinen sie ohne Angst, Unruhe und Spannung zu sein. Das imponiert jenen, die ihre eigenen Ängste und Spannungen nicht ertragen können. Und so werden solche Menschen bewundert, insbesondere wenn sie voller Ehrgeiz sind.

Der schmerzliche Hauptaspekt des Nazismus geht verloren, wenn wir ihn nur als eigenartige deutsche Verirrung nehmen, von der wir andern ausgenommen sind. Das, was zum Erfolg der Nationalsozialisten und gleichzeitig zum Erfolg ihrer Machtstruktur führte, war nicht nur der Judenhaß und die offene Kriminalität. Der »neue Mensch«, der da emporstieg, war der Mensch ohne Persönlichkeit, ohne Selbst.

In welchem Ausmaß dies der Fall war, zeigt uns schlagartig ein Detail von Eichmanns Verhalten. In einem Fernseh-Interview berichtete einer seiner Entführer, daß, wenn er seinen Stuhlgang erledigen mußte, er sich auf die Toilette setzte und dann seinen Wächter gehorsam fragte: »Darf ich jetzt?« Über seine eigensten körperlichen Vorgänge ließ er den anderen, den, der jetzt Macht über ihn hatte, bestimmen!

Das Entsetzliche der »Banalität des Bösen« (H. Arendt, 1963) liegt nicht im Alltäglichen der Person, sondern in der Menge der Menschen ohne Selbst, die uns als Menschen mit menschlichen Gefühlen erscheinen, uns auch als solche vorgehalten werden. Aus einem Gespräch, das Hans Frank, der General-Gouverneur des Protektorates Polen, mit G. N. Gilbert, dem amerikanischen Gerichtspsychologen, während des Nürnberger Prozesses führte, können wir ersehen, woraus solche Gefühle wirklich bestehen. In diesem Gespräch nannte Hans Frank Hitler einen Verführer und fuhr dann wörtlich fort: 

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»Wissen Sie, die Menschen sind wirklich weiblich ..., so emotional, so wankelmütig, so abhängig von Stimmung und Umgebung, so beeinflußbar ..., so bereit zum Gehorsam, nicht nur daß sie gehorsam sind, sie sind bereit sich zu ergeben, wie eine Frau ... Und dann ließ uns Hitler im Stich, überließ uns die Schuld für alles, was passierte ... Da muß etwas grundsätzliches Böses in mir sein — in allen Menschen ... Massenhypnose — nein, das erklärt es nicht. Ehrgeiz, das hatte viel damit zu tun. Stellen Sie sich mal vor, ich war mit dreißig Jahren Minister, wurde in einer Limousine gefahren, hatte Diener .. . Für einen Moment ist man betrunken ..., dann öffnet man seine Hand, und sie ist leer — vollkommen leer.« (Manvell, R. und Fraenkel, H., 1967; übersetzt von A. Gruen)

Wie Albert Speer, Hitlers Architekt und Rüstungsminister und einer von Franks Mitangeklagten, scheint er normal, gefühlsbetont, demütig, gewillt sich zu konfrontieren und klug. Ich erwähne Albert Speer, weil er, der vor allem im industriellen Bereich tätig war, dem organisatorisch erfolgreichen Mann unserer heutigen Gesellschaft entspricht: verbindlich, Genie im Erspüren des Pulses der Übereinstimmung und der Möglichkeiten der Manipulation, elegant und einem scheinbar unpersönlichen Ziel der Größe hingegeben; im tiefsten Grunde für alles geeignet, daher a-moralisch und trotz blendender sozialer Erscheinung ohne innere Identität.26

Was steckt aber nun wirklich hinter jener bekenntnishaften scheinbaren Ehrlichkeit, »die Menschen sind wirklich weiblich .. ., sie sind bereit sich zu ergeben«? Nichts außer Verachtung für Frauen, weil sie sich ergeben! Und das wird von jemandem gesagt, der selbstverständlich Ergebung von Frauen verlangt, von jemandem, der kein eigenes Selbst hat außer seiner Hingabe an den Erfolg. Dies ist die Folge der Grundhaltung, die sich immer wieder selbst erzeugt, indem man sich einem anderen Willen ergibt. Darin liegt wohl der Grund für die Verachtung des Weiblichen aller solcher Männer. Im geheimen verachten sie sich selber für die Kapitulation des eigenen Selbst, projizieren es aber auf die Frauen, von denen sie Ergebung verlangen!

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Diese Art von Selbst jedoch floriert heutzutage unter Menschen in den führenden politischen, wirtschaftlichen und auch wissenschaftlichen Positionen unserer Gesellschaft — zwar ohne die offene Mordlust Hitlers und seiner Kohorten, aber deswegen nicht weniger gefährlich.27 Vielleicht sogar noch mehr, weil dieses Selbst, das keines ist, hinter dem Schleier von Normalität, Erfolg, Nützlichkeit und scheinbarer Wertbezogenheit nicht ohne weiteres erkennbar ist.

Das Gegenmittel zum Bösen ist aber nicht das Gewissen. Schuldgefühle, oft selbst an den Verzerrungen der Entwicklung beteiligt, erneuern nur die Bedingungen für die abgrundtiefe Destruktivität. Wirkliche Veränderung kommt nur zustande, wenn ein Mensch sich mit dem Schrecken seiner unermüdlichen Jagd nach irrealer Sicherheit auseindersetzt. Nur durch diesen schmerzlichen Prozeß der Bewußtwerdung kann sich sein Herz öffnen und seine Sensibilität für seine Mitmenschen sich erweitern. Soren Kierkegaard schrieb 1849: »Das Gegenteil der Sünde ist nicht Tugend, sondern der Glaube.« Dieser Glaube ist die Absicht, sich die Möglichkeit eines Selbst, das auf Wahrheit beruht, zu schaffen.

Das ist alles andere als leicht, und viele von uns weichen dem aus, weil wir annehmen, wie man es uns versprochen hat, daß, wenn wir nur gehorsam sind, wir konfliktfrei leben können. So versuchte es eine Patientin, die sich ihr Leben lang »lieb« und »nett« und » folgsam« verhalten hatte. Eines Tages wurde sie mit einem unvorhergesehenen Ereignis konfrontiert. Diese dreißigjährige Frau hatte ihre Kindheit und Jugend unter äußerst ausbeutenden und gewalttätigen Bedingungen verbracht. Als sie sich beispielsweise als zehnjähriges Mädchen bei ihrer Mutter beklagte, daß ein Untermieter sie sexuell belästige, antwortete diese: »Wenn du willst, daß ich ihn fortjage, bring mir zuerst das Geld.« Solange sie sich fügsam verhielt, konnte sie mit alledem weiterleben. Aber jeder Gedanke über sich selbst und ihre Mutter wurde im Keim erstickt. Mit viel Anstrengung beendete sie ihre Schulzeit, um dann mit sechsundzwanzig Jahren ein Hochschulstudium als Sozialarbeiterin zu beginnen.

Im Verlauf des Studiums besuchte sie einmal im Rahmen eines Seminars ein Spital. Sie fand sich plötzlich auf jener Station wieder, auf der sie selbst im Alter von acht Jahren als Patientin eines chirurgischen Eingriffs wegen fast drei Monate verbracht hatte. In dieser unvorhergesehenen Wiederbegegnung stürzte ihre ganze zurückgehaltene Wut von damals auf sie ein: 

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Ärzte und Schwestern waren damals gefühllos und ohne Verständnis für sie als Kind gewesen. Im selben Augenblick, als sie sich ihrer Wut bewußt wurde, kam aber ein internalisiertes kulturelles Gebot zum Vorschein: Man soll nicht sich selbst bedauern! Das war genau die Art, auf die ihre Mutter (und ihre Gesellschaftsschicht) dem Innewerden und Erleben der Gewalt und des Schmerzes durch die Autoritäten zu begegnen pflegte.

Die Patientin wies so ihre eigenen Gefühle sofort zurück und nahm am Seminar teil, als ob nichts geschehen wäre. Aber ihre Wut stimulierte ihre Schuldgefühle gegenüber ihrem Selbst und ihren Selbsthaß. Sie hielt sich ihrer Wut wegen für ungenügend angepaßt. Ihre Verstrickung: Sie mußte darauf bestehen, gegen sich selbst unaufrichtig und falsch zu sein, um jene für sie lebenswichtige Belohnung zu erhalten, deren Basis die Einhaltung von Regeln bildete. Diese Leistung erfuhr dann auch durch jede Autorität wohlwollende und gütige Bestätigung.

Weil die Patientin aber glücklicherweise ihre Gefühle nicht total zurückgedrängt hatte, war sie offen genug, um plötzlich das grausame Prinzip zu durchschauen, nach dem ihre Kollegen und Kolleginnen Kinder auswählten, die eine Therapie erhalten sollten. Sie spürte die Unaufrichtigkeit und Heuchelei ihrer Mitstudenten, als sie gewahr wurde, daß diese Kinder, die alle der untersten sozialen Schicht angehörten, nicht nach der Dringlichkeit ihrer Probleme, sondern nach den Kriterien der Nützlichkeit für die geplante Seminararbeit ausgewählt wurden. Nur mit einem »guten« Resultat erhielt man nämlich eine gute Note beziehungsweise eine Empfehlung des Professors. Auf diese Weise wurden Kinder zu Objekten, deren Bedürfnisse und Not einer Note wegen manipuliert wurden.

Es war für die junge Frau jedesmal qualvoll, ein Kind auswählen und dafür ein anderes ablehnen zu müssen. Für die anderen Studenten war das tiefe Dilemma ihrer Kollegin lediglich Ausdruck von Dummheit und Unangepaßtheit. Indem sie auf diese Weise das zutiefst Menschliche im Wesen ihrer Kommilitonin nicht zur Kenntnis nehmen mußten, brauchten sie auch ihre eigenen menschlichen Gefühle nicht aufkommen zu lassen.

Wie komplex das Problem für die Patientin selber war, zeigt sich darin, daß sie wohl mitmachen wollte, das aber nur tun konnte, indem sie ihre Wahrheit »verriet«. Wie sollte sie diese Widersprüche lösen?

Ihr Bedürfnis, sich »lieb« zu verhalten, und ihr Unvermögen, ihre Wut zu assimilieren, kamen in der folgenden Traum-Sequenz zum Ausdruck: Sie blickte in einen Spiegel, hatte aber Angst sich anzusehen, da ihr Spiegelbild nicht sie war, sondern eine rasende wütende »Sie«, die ihrer guten »Sie« schaden könnte. Sie versuchte das Bild im Spiegel wegzuwischen, erschrak dann aber und wurde verwirrt, weil dies bedeuten würde, sich selbst auszulöschen. Durch diesen Traum erkannte sie ihre Spaltung und ihren lebenslangen Versuch, sich gespalten zu halten. Jetzt entdeckte sie aber, daß das einen fundamentalen Teil ihres Selbst auslöschen würde. Das wollte sie nicht.

Es ist dieses Ringen um ein eigenes Selbst, das einem Menschen die Stärke gibt, das eigene Selbst und gleichzeitig den Kontakt zu einer auf vielen Ebenen unwirklichen gesellschaftlichen Realität aufrechtzuerhalten. Aus solchem Ringen kommt auch Freude an der eigenen Lebendigkeit und der des anderen.

Indem solch ein Selbst jedoch nicht ein abstraktes Bild eines Image ist, sondern ein Zustand der Verbundenheit mit den eigenen Gefühlen sowie mit denen der anderen, kann es nur bestehen, wenn das Ringen um solche Verbundenheit lebendig bleibt. Die Kontinuität des Selbst ist deswegen die andauernde Erneuerung dieser Bindungen mit ihren sie begleitenden Leiden, Freuden, Ekstasen und Ausgelassenheiten. Deswegen ist Lebendigkeit Wandel, nicht Beständigkeit; deshalb kommt Stabilität aus der Fähigkeit, Spannung zu ertragen; und kein einzelner ist immun gegen die verführerischen Versprechungen einer konfliktfreien Existenz.

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