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1.  Die Problematik von Opfern und Tätern   

 

 

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Wenn ein Mensch seinen eigenen Schmerz nicht erleben darf und kann, weil er dazu angehalten wurde, ihn als schwach abzutun, wird er ihn in anderen Lebewesen suchen müssen. Ein solcher Mensch wird andere erniedrigen, quälen oder verstümmeln, um des eigenen verdrängten und verneinten Schmerzes habhaft zu werden. Zugleich wird er dieses Tun leugnen, um seine eigene seelische Verstümmelung zu verbergen. 

Diese Verleugnung aber macht aus Opfern Täter, und sie führt ferner dazu, daß wir alle bis zu einem gewissen Grad Schwierigkeiten haben, Opfer und Täter zu unterscheiden: Die Opfer werden als Täter und die Täter werden als Opfer gesehen. Diese Verwechslung ist charakteristisch für unsere Kultur.

In unserer Kultur werden Kinder — Jungen stärker als Mädchen — dazu erzogen, sich für ihre Tränen, ihre Verzweiflung, ihre seelischen Verletzungen zu schämen. Indem wir aber dem Zwang, Schmerz zu verneinen, ausgesetzt wurden, in welchem Maß auch immer, werden wir unseren eigenen Schmerz nicht erkennen können. Und wir werden aus demselben Grund auch den Schmerz, der einem anderen zugefügt wird, nicht wahrhaben wollen.

Dafür gibt es viele Beispiele:

In Liverpool entführen zwei elfjährigen Jungen, selbst Opfer verheerender Lieblosigkeit in ihren Familien, einen Zweijährigen und ermorden ihn (NZZ vom 25.11.1993). Die Vernehmung von siebenundzwanzig Zeugen läßt erkennen, daß die Bluttat leicht zu verhindern gewesen wäre, hätten die Passanten rechtzeitig interveniert. Doch obwohl diese das Schreien des Kindes hörten, schritt niemand ein. Indem sie sich vor der Not des Opfers verschlossen, stellten sie sich auf die Seite der Täter.

Nicolaie Ceausescus Securitate-Truppen, die so grausam gegen das rumänische Volk vorgingen, wurden aus ehemaligen Waisenkindern rekrutiert (Frefel 1989). Gezielt wurden diese Kinder, deren Leben von Liebesentzug und Hoffnungslosigkeit geprägt war und deren Überleben von der erfolgreichen Unterdrückung ihres Schmerzes abhing, zum Töten erzogen.

Der Film »Geraubte Kindheit« von Johannes Guide und Stefanie Landgraf (gedreht für Terre des Hommes) handelt von zehnjährigen Kindern in Mocambique, die von der sogenannten Rebellenorganisation Renamo gekidnappt, vergewaltigt und schließlich dazu gebracht werden, wie Roboter andere Menschen zu ermorden. Der Film veranschaulicht drastisch, wozu ein Sozialisierungsprozeß auf der Grundlage von Gehorsam und Terror im Extremfall führen kann. Indem die Angst, Verletzlichkeit und Scham des Kindes durch Bestrafung ausgelöscht werden, wird dieses zum Werkzeug seines Unterdrückers. Mehr noch: Es sucht selbst Erlösung von dem Schmerz, den es nicht fühlen darf, indem es anderen Schmerz zufügt (Guide und Landgraf 1991).

Wie unterschwellig solche Mechanismen funktionieren, zeigt folgendes Beispiel (vgl. Tages-Anzeiger, T. A., Zürich vom 11.2.1994). 

Beim Aussteigen aus einer Straßenbahn fühlt sich ein siebenundsiebzigjähriger Mann von einem anderen Mann behindert, weil dieser, da er mit dem Fahrer spricht, den Ausstieg blockiert. Der ältere Mann zieht einen Revolver, gibt aus einer Distanz von zwei bis drei Metern vier Schüsse auf den anderen ab und verschwindet. Zufällig wird der Schütze vier Wochen später in einem Restaurant wiedererkannt und verhaftet. Er streitet ab, geschossen zu haben, trägt aber eine Waffe ohne Waffenschein bei sich. Bei der Durchsuchung seines Hauses entdeckt die Polizei ein Waffenlager.

Schließlich gesteht der Mann die Tat. Er macht jedoch geltend, »im Affekt« gehandelt zu haben, vom anderen »erschreckt« worden zu sein. Eine gerichtliche Untersuchung wird eingeleitet und dann eingestellt. Laut Stellungnahme der Staatsanwältin habe sich der Siebenundsiebzigjährige in einem »Sachverhaltsirrtum« befunden. Er habe irrtümlich angenommen, er befinde sich in einer Notwehrsituation und sei deshalb berechtigt gewesen, sich zu wehren. Es sei verständlich, so die Staatsanwältin, daß er »übersensibel auf aggressive Spannungen und Äußerungen« reagiere.

»Was habe ich getan«, fragte das Opfer einen Journalisten, »daß er auf mich schießen durfte?«

Wie sollen wir das »Mitgefühl« dieser Staatsanwältin verstehen? Warum stellt sie sich auf die Seite des Täters und schützt andere Bürger nicht vor ihm? Gibt ihre Haltung nicht jedem die Erlaubnis, zu morden? Was ist das für ein Mitgefühl, das uns gegen unsere eigenen Bedürfnisse und Interessen verstoßen, das uns den Schmerz des Opfers beiseiteschieben läßt und die tödliche Gefahr, die vom Täter ausgeht, verneint? 

Diese Staatsanwältin muß unfähig sein, selbst Schmerz zu empfinden. Indem sie die tödliche Handlung des Täters als gerechtfertigt ansieht, mißachtet sie die Not des Opfers. Sie nimmt den Schmerz des Opfers nicht wahr, glaubt ihn aber im Erschrecken des Täters zu finden.

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Das Verhängnisvolle, aber zugleich Bezeichnende an diesem Fall ist, daß ein Mensch, der sich seinen eigenen Schmerz nicht zugesteht, auch nicht in der Lage ist, den Schmerz eines anderen Menschen wahrzunehmen.

Täte er dies, würde ihn das an seinen eigenen, lange zurückliegenden Schmerz erinnern. So empfindet er Mitgefühl mit dem scheinbaren Schmerz des Täters, weicht aber vor dem wahren Schmerz des Opfers zurück. Das Nicht-wahrhaben-Dürfen des in der eigenen Lebensgeschichte erlebten Schmerzes führt zu einer Verleugnung des Schmerzes anderer.

Eine solche Verleugnung wahren Schmerzes ist überall zu finden. So erregt sich ein Psychoanalytiker in einem Fachzeitschriftenartikel (Erb 1991), daß der Autor einer kulturkritischen Studie kein Mitgefühl mit einer Mutter zeigt, die ihren kleinen Sohn ermordete (Gruen 1989). Die Mutter hatte fast zwei Stunden lang auf der Brust ihres Sohnes gesessen, um ihn dafür zu bestrafen, daß er mit Streichhölzern gespielt und sechs Cents aus dem Küchenschrank genommen hatte. Die zehn Jahre ältere Schwester des Jungen, die ihn nach Luft schnappen hörte, verständigte schließlich die Polizei. Mehrere Tage später starb der Junge an einem Gehirnschlag, der durch die Erstickung verursacht worden war. Die Jury von Geschworenen entschied, daß diese Mutter »nicht gefühllos mit Leben umgegangen« sei. Und auf diese Perversion des Mitgefühls machte die Studie aufmerksam.

Dieser Fall ist einer von mehreren, in denen dem Mörder Mitleid oder Bewunderung ausgesprochen werden, sei es von seiten der Medien oder von seiten akademischer oder religiöser Gruppierungen, während den Angehörigen der unschuldigen Opfer nie ein Wort des Beileids zuteil wird. Auch der Psychoanalytiker, der sich darüber beklagt, daß der Autor der Studie der Mutter kein Mitgefühl entgegenbringt, gehört zu jenen Verfechtern eines pervertierten Mitleids. Zu jenen, die sich mit den Tätern identifizieren und den Schmerz des Opfers verneinen. Wahres Mitgefühl wird ausgeschaltet, weil man das Opfer in sich selbst verachtet.

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Generell glauben Menschen, sie seien frei in ihrem Denken, sie seien zu einem kritischen und »wissenschaftlich« begründeten Urteil fähig. Ganz besonders trifft dies auf Menschen zu, die sich einer als fortschrittlich geltenden Gruppierung oder einer Gruppierung mit revolutionärem Ideengut zugehörig fühlen. Doch bloße Zugehörigkeit schützt nicht davor, innerhalb vorprogrammierter Bahnen zu denken. Und es ist genau das verinnerlichte Leugnen des eigenen Opferseins, auf das wir programmiert sind. Programmiert deswegen, weil es von Generation zu Generation weitergegeben wird, ohne daß es denen, die es weitergeben, bewußt wird und ohne daß es von ihnen in Frage gestellt wird. Indem wir den Schmerz in uns einmauern, verschließen wir uns vor den wahren Opfern und bemitleiden die Täter.

Selbstverständlich sind auch die Täter Opfer. Sie unterscheiden sich jedoch von ihren Opfern dadurch, daß sie ihr eigenes Opfersein am meisten hassen und am stärksten zurückweisen und daß sie andere zu Opfern machen müssen, um ihre eigene Existenz zu erhalten. Wenn es uns gelingt, die Täter als Täter zu erkennen, werden wir sie nicht bemitleiden. Dann werden wir auch merken, daß unser Mitleid ihnen nur dazu dient, ihr Selbstmitleid zu bestätigen, mit dem sie die von ihnen begangenen Taten rechtfertigen. Wahres Mitgefühl bedeutet nicht, den Täter in seiner Selbstgerechtigkeit zu bestärken; wahres Mitgefühl bedeutet vielmehr, zu erkennen, daß der Weg zu wahrer Menschlichkeit zurückgehen muß zu einer Konfrontation mit dem eigenen, vergangenen Leid.

 

Es stimmt in gewissem Sinn, was Judith Herman in ihrem Buch <Die Narben der Gewalt> (1993) über traumatische Erfahrungen schreibt: Sie erklärt, das Erforschen psychischer Traumata bedürfe der Unterstützung politischer Bewegungen. Mit Bezug auf sexuelle Traumata, die wir als stellvertretend für das ganze Spektrum des Zum-Opfer-Werdens betrachten können, schreibt sie: »Die Erforschung traumatischer Erfahrungen im sexuellen und häuslichen Bereich ist nur legitim in einem Umfeld, das die Unterordnung von Frauen und Kindern in Frage stellt.« Mit anderen Worten: Wenn man die strukturellen Rahmenbedingungen, die Frauen und Kinder zu Opfern machen, nicht spüren kann, kann man auch deren traumatische Erfahrungen nicht sehen. Herman glaubt, daß eine starke politische Menschenrechtsbewegung nötig sei. Wenn diese fehle, »gewinnt unweigerlich die (tätige) Verdrängung die Oberhand über die aktive Auseinandersetzung mit dem Geschehenen«. Verleugnung, Verdrängung und Dissoziation seien ihre Folgen.

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Herman sieht allerdings nicht, daß Menschenrechtsbewegungen allein nicht genügen. Es muß zunächst bei uns selbst ein Bewußtsein über unser eigenes Opfersein entstehen, das wir anschließend im gesellschaftlichen Kontext betrachten müssen. Ohne ein solches Bewußtsein erkennen wir nicht die Notwendigkeit, uns der alten Autoritätsstrukturen zu entledigen, und unterwerfen uns erneut einer Autorität, die nur einen anderen Namen trägt. Erst wenn wir Identifikation mit Autorität in Zusammenhang mit der Verleugnung des eigenen Schmerzes erleben, können wir uns von der Identifikation mit dem Täter und der dazugehörigen Angst befreien.

Herman belegt ihre These auf originelle Weise anhand der Geschichte der Hysterieforschung. Es war der große französische Neurologe Jean-Martin Charcot, der erstmals Patienten — größtenteils waren es Patientinnen — behandelte, die traumatisiert worden waren und die in dem berühmten Pariser Krankenhaus Salpetriere Zuflucht vor Gewalt, Ausbeutung und Vergewaltigung gefunden hatten. Zuvor hatten nur Dichter diese Opfer erwähnt

Charcot folgten Janet (1889), Breuer und Freud (1895). Das Resultat der Pionierarbeit dieser Männer war die Einsicht, daß Hysterie durch psychologisches Trauma verursacht wird und nicht als typisch weibliche Krankheit abgetan werden kann.

In Freuds und Breuers Praxen berichteten Patientinnen von sexuellen Übergriffen, Mißhandlungen und Inzest. Bald wurde klar, daß es sich bei der Hysterie nicht nur um ein Phänomen innerhalb des Pariser Proletariats handelte, sondern daß diese auch im bürgerlichen Wien weit verbreitet war. Daß Hysterie zugleich ein gesellschaftliches Phänomen ist, wurde jedoch nicht erkannt. Und so war das Zuhören des brillanten und revolutionären Denkers Freud — laut Herman — in Wirklichkeit ein Nicht-hören-Können; desgleichen beruht auch die Psychoanalyse im wesentlichen auf der Leugnung der weiblichen Realität (Herman 1981). 

Statt die Frauen auf einen allfälligen Mißbrauch hin zu befragen, wurde gezielt danach gefragt, ob dabei nicht sexuelle Sehnsüchte erfüllt worden seien. Herman sieht diese Verkehrung als einen Spiegel des Machtkampfes zwischen Mann und Frau. Wenn wir diesen Machtkampf aber als eine Manifestation der tieferen Notwendigkeit unserer Gesellschaft sehen, die Unterdrückung des Kindes und seine Opferung auf dem Altar eines pathologischen Selbstwertes zu verschleiern, dann kommen wir auf den eigentlichen Grund dieses unbeendeten Kampfes: die Verleugnung des eigenen Opferseins, den daraus resultierenden Haß auf dieses eigene Opfersein und die Bereitschaft, andere zu Opfern zu machen.

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Noch etwas. 

Einer der Wege, wie wir den Blick auf den Haß und auf die daraus resultierende Gewalttätigkeit verschließen können, ist der, Haß und Gewalt nur als zur Unterschicht, zu den Untermenschen, zu den Primitiven unserer Gesellschaft gehörende Ausdrucksformen zu sehen. Es stimmt, die Unterschichten sind offen mit ihrem Haß und ihrer Aggression; wir, die oberen Schichten, nicht. Dadurch brauchen wir uns nicht selbst zu erkennen, wir verstecken uns hinter unserer »Kultur«, der universitären Erziehung, unserer Vorliebe für etablierte Werte. Freud beschreibt diese Verurteilung der Ausdrucksformen der Unterschicht durch die Oberschicht, mithin die Distanzierung von der eigenen Gewalttätigkeit in seiner Diskussion über Michelangelos Moses (1914): 

»Wie oft bin ich die steile Treppe vom unschönen Corso Cavour zu der einsamen Piazza (...) hochgeklettert und habe die wütende Verachtung des Blicks des Helden (Moses) betrachtet. Manchmal bin ich vorsichtig aus dem Halbdunkel des Innern hervorgekrochen, als ob ich selber zum Mob gehörte, auf den sich sein Blick richtet — der Mob, der sich an keine Überzeugung halten kann, der weder Glauben noch Geduld hat und sich freut, wenn er seine illusorischen Idole wiedergewonnen hat.«

Indem wir unsere Augen vor Gewalttätigkeit verschließen, fördern wir sie. Gleichgültigkeit und Angst vor wahrem Schmerz bewirken, daß wir diesen immer weniger wahrnehmen. Sonst müßten wir ja etwas tun. Aber Verantwortung übernehmen macht angst, und so bleiben wir lieber gleichgültig. Wer traut sich denn schon, was zu sagen, wenn Eltern ihr Kind auf der Straße demütigen, es bloßstellen? Kinder brauchen strenge Eltern, sagen wir uns dann. Das Kind aber schämt sich und fängt an, seinen eigenen Schmerz zu vergessen, aus Angst, den Eltern nicht zu genügen.

Wenn ein Schimpansenbaby sich verletzt, wird es sofort von seiner Mutter aufgehoben und umsorgt. Bei uns zivilisierten Menschen ist es nicht ungewöhnlich, daß Vater und Mutter gerade aus diesem Grund wütend werden. Als ein kleines Mädchen auf einer Eisbahn ausrutschte und sich das Gesicht verletzte, reagierten die Eltern wütend und befahlen ihm, zur Strafe nach Hause zu gehen. Eltern schützen ihre Kinder nicht, weil man nicht hilflos sein darf. Ihre Kinder dürfen nicht Opfer sein, weil sie in ihrer eigenen Kindheit selbst einmal eins waren und sich dafür schämen mußten.

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Eltern geben weiter, was ihnen selbst angetan wurde: 

Sie bestrafen ihre Kinder für das, was sie lernten, in sich selbst abzulehnen und zu hassen, nämlich Verletzlichkeit und Hilflosigkeit. Beides sind leidvolle Erfahrungen, die zu äußern jedoch bei uns einer Herabsetzung unseres Selbstwerts gleichkommt. Und so intervenieren wir auch nicht, wenn ein Kind kläglich schreit, weint oder verzweifelt ist. Wir schützen unsere Kinder nicht, obschon wir uns für ihre Beschützer halten. Wir sind beides, Opfer und Täter, weil wir den Bezug zum eigenen Schmerz verloren haben. Wir suchen dauernd Opfer, um das Opfer, das wir einst selbst waren, zu bestrafen.

Ein Patient berichtet, daß seine Frau gemeinsam mit ihm ein Wochenende verbringen wollte. »Ich wollte nicht. Danach fühlte ich Trauer, Schuld, Angst.« Ich frage, was in ihm hochsteigt. »Ein Gegenbild. Das Bild meiner Mutter. Sie wirkt so gewinnend. Annette (seine Frau) ist nicht gewinnend. Sie sagt, sie leidet darunter, daß ich so distanziert bin. Ich aber leide darunter, wenn sie mir zu nahe kommt. Das verletzt sie. Sie übertreibt. Eine Trennung erscheint mir daher sinnvoll.« Ich bitte ihn, mehr über das Gegenbild seiner Mutter zu sagen. »Komisch«, erklärt er, »es wirkt sich aus auf Annette. Meine Mutter hatte Vorstellungen davon, wie ich zu sein hatte: höflich, brav, nett, sie beschützend. Sie sagte immer, sie wolle nur das Beste für mich.« — 

»Und was möchte Annette?« frage ich. »Daß ich sie gern habe«, antwortet er, »ihr Aufmerksamkeit schenke, sie verstehe und stütze.« Ich frage ihn, worin er den Unterschied zwischen seiner Frau und seiner Mutter sehe. »Sie haben unterschiedliche Wertvorstellungen, aber beide haben eine Erwartungshaltung mir gegenüber.« — »Und was«, frage ich weiter, »wollten Sie als Kind von Ihrer Mutter?« — »Mütterlichkeit, Zuneigung, Anerkennung.« — »Aber das bekamen Sie nicht. Im Gegenteil, Sie schildern Ihre Mutter so, daß sie es war, die Zuneigung von Ihnen verlangte, und wenn sie ihr diese nicht gaben, wurde sie böse auf Sie.« Der Patient überlegt: »Mmh, Sie meinen also, wenn ich vorhin von dem gewinnenden Gegenbild meiner Mutter sprach, dann idealisierte ich sie, um nicht realisieren zu müssen, wie sehr mich ihre Ablehnung schmerzte.« — »Mir scheint, daß Sie Annette auf die gleiche Weise bestrafen, wie Ihre Mutter Sie bestrafte: indem Sie sich von ihr fernhalten, weil sie Zuneigung von Ihnen verlangt.«

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Nach einer Weile sagt der Patient: »Meine Mutter hat mich links liegengelassen. Sie erzählt, daß ich als Kind dauernd geschrien hätte. Sie ließ den Kinderwagen draußen vor den Geschäften stehen, weil ich so schrie. Sie schämte sich für mein Gebrüll. Spüre ich darum plötzlich Trauer, wenn ich nein zu Annette sage? Bestrafe ich sie dafür, daß sie <kindliche> Nöte hat? Mutter zeigt sich immer so bemüht um ihre Enkelkinder. Aber in Wirklichkeit ist selbst das Wickeln eines Enkelkinds für sie schon Stress. Sie hat immer das Gefühl, sie könnte was falsch machen. Und deshalb denke ich: Was für eine liebe Mutti, sie will nichts falsch machen. Wenn die Kinder meines Bruders bei ihr sind, werden sie oft bestraft, werden ohne Abendessen ins Bett geschickt. Mein Bruder erzählte mir, daß sie das mit uns auch gemacht habe. Ich kann mich nicht daran erinnern. Ich habe das Gefühl, ich verrate Mutter, wenn ich sie als böse hinstelle. Als Jugendlicher liebte ich mal ein Mädchen. Aber das war mein großes Geheimnis, denn eigentlich schuldete ich ja Mutter alle meine Liebe.« — 

»Mir kommt es so vor, als müßten Sie Annette dafür bestrafen, daß Sie Ihre Mutter lieben müssen. Sonst würden ja Sie bestraft.« — »Meine Mutter kann nicht böse sein. Sie ist so unsicher ... Wissen Sie, ich war letzte Woche nach langer Zeit mal wieder auf dem Berg, den ich als Kind oft zusammen mit meiner Mutter bestiegen hatte. Ich hatte ihn eher als einen kleinen, sanften Hügel in Erinnerung. Jetzt habe ich bemerkt, daß der Aufstieg gefährlich ist. Ich glaube, daß ich meine Angst vor mir selbst und vor meiner Mutter verbarg. Diesmal hatte ich Höhenangst.«

 

Dieses Beispiel verdeutlicht, wie ein Mann seine Frau bestraft, wie er sie für die Bedürfnisse, für die er selbst in seiner Kindheit bestraft wurde, verachtet. Sein Schmerz von damals ging ihm abhanden, aus Angst, der Mutter — wie auch dem Vater — nicht zu genügen. Aber die Angst kippte um in Geborgenheit, und dadurch gingen der Schmerz wie auch das Mitgefühl verloren.

Schmerz und Mitgefühl sind eng miteinander verbunden, ebenso ist unsere Fähigkeit, Schmerz zu erleben, auch bestimmend für unsere Fähigkeit zur Empathie. 

Gleichzeitig verhindert die Verneinung von Schmerz in der Lebensgeschichte eines jeden einzelnen die vollständige Entwicklung des eigenen Selbst, verursacht durch den Terror einer Welt, die Nicht-Liebe zur Liebe erklärt. Eine unter solchen Umständen sich bildende Identität kann nur die Angst, die sie formte, widerspiegeln und ist so alles andere als lebendig und originell. Unter derart eingeschränkten Bedingungen verkümmern viele mögliche Ausprägungen des Menschseins. Auschwitz ist ein Mahnmal dessen, was sich unter solchen Bedingungen des Aufwachsens entwickeln kann; es stellt uns vor die Frage, was Menschsein denn noch ausmacht, wenn die Fähigkeit, Schmerz und Mitgefühl zu empfinden, verlorengegangen ist.

In der Kindheit werden die Weichen für ein voll entfaltetes beziehungsweise verkümmertes Menschsein gestellt. Hier passieren die verhängnisvollen Fehler, die dann unbewußt von Generation zu Generation weitergegeben werden. Es ist daher sinnvoll, sich der Geschichte der Kindheit in unserem Kulturkreis zuzuwenden und sie auch mit der Kindheit in anderen Kulturen, die auf ganz anderen Grundlagen basiert, zu vergleichen.

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