2. Zur Geschichte der Kindheit und des Kindseins
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Der Ursprung von Gewalt und Zerstörerischem liegt in unserem Umgang mit unseren Kindern. Durch die sechstausend Jahre alte Geschichte der Kindheit in den sogenannten Hochkulturen zieht sich wie ein roter Faden die Ablehnung der Lebendigkeit und des Eigenlebens der Kinder.
Wir verstehen ihre Sprache nicht. Und wir machen uns gar nicht erst die Mühe, denn in unserer selbstgefälligen Machtpositon erleben wir uns als so gut, so fortschrittlich, so allwissend. Unsere Sprache hat keine Worte für unsere Erlebnisse während unserer frühesten Kindheit. Erst heute befaßt sich die Forschung (u.a. Stern 1992, Dolto 1988) damit, und dies noch gegen großen Widerstand, als wollten wir nicht wahrhaben, was so traumatisierend auf Kinder und ihre Entwicklung wirkt.
Freud war sich dieser Wertlosigkeit bewußt, glaubte aber, sie entspräche einer Amnesie während der Kindheit, die auf der Verdrängung sexueller Konflikte beruhe. Doch hierbei geht es bei weitem um mehr als um sexuelle Tabus.
Die Amnesie, um Freuds Terminologie zu gebrauchen, entsteht während einer Verschiebung der Wahrnehmungen des Kindes vom Empathischen, Mitfühlenden, hin zum Intellektuellen. Diese Verschiebung spaltet unser Bewußtsein und dient nicht einfach der Unterdrückung sexueller Vorgänge. Sie können ein Teil dieses Spaltungsprozesses sein, sind aber nicht das Wesentliche. Es sind vielmehr die Traumatisierungen, verursacht durch das Nicht-Erkennen und das Ausnutzen der Hilflosigkeit des Kindes, die sein Bewußtsein reduzieren, indem sie wesentliche Teile abspalten. In dieser reduzierten Form besteht das Bewußtsein dann weiter — was wiederum Folgen für unser Leben und Miteinander in unserer Gesellschaft hat.
Die Wortlosigkeit während der frühesten Kindheit bedeutet allerdings nicht, daß Kinder keine Emotionen haben — sie sind existent, können aber nicht ausgedrückt werden. Und die Emotionen kommen erst recht nicht zum Ausdruck, weil sie verneint werden und weil die Eltern selbst keine Worte dafür haben. Am stärksten treten diese wortlosen Emotionen in der alltäglichen Gewalttätigkeit unserer Kinder hervor.
Sylvia Ashton-Warner (1963), eine neuseeländische Lehrerin, die Maori und Kinder aus weißen Familien unterrichtete, sann auf eine Methode, die Gewalttätigkeit unter ihren fünfjährigen Schülern zu reduzieren: Mit Hilfe von Wörtern stellte sie eine Verbindung zu dem verleugneten Schmerz der Kinder her. Mit dem Ergebnis, daß die Kinder, statt destruktiv und zerstörerisch zu agieren, kreativ wurden: malten, Gedichte erfanden oder auf andere Art schöpferisch tätig waren.
Wie brachte Ashton-Warner dies zustande? Zuerst verteilte sie Wortkarten an ihre fünf Jahre alten Schüler, auf denen jeweils ein Wort stand, das eine intensive Bedeutung für ein Kind hat, zum Beispiel »Mutti«, »Vati«, »Angst«, »Geister«. Dann fragte sie Mohi, einen neu hinzugekommenen, unfolgsamen Jungen: »Welches Wort möchtest du?« — »Jet«, antwortete er. Sie schmunzelte, schrieb das Wort auf eine kleine Karte, gab sie ihm und sagte: »Du kannst sie morgen zurückbringen.« Anschließend fragte sie Gay, ein klassisch diszipliniertes und schikaniertes Kind einer sehr geachteten Mutter: »Und welches Wort möchtest du, Gay?« — »Haus«, flüsterte Gay. Ashton-Warner schrieb auch dieses Wort auf und gab es dem Mädchen in die eifrig danach ausgestreckte Hand. »Was willst du, Seven?« Seven ist ein gewalttätiger Maori. »Bombe! Bombe! Ich will Bombe!« schrie er. Seven bekam sein Wort »Bombe« und forderte alle heraus, die versuchten, es ihm wegzunehmen.
So ging es weiter, bis jeder Schüler an der Reihe gewesen war. Als dann jeder von ihnen den Kern einer Lesevokabel errungen hatte und Ashton-Warner wußte, daß die Kinder damit zufrieden waren, zeigte sie ihnen das Wort »Angst«. Alle zugleich platzten heraus mit dem, was ihnen angst machte. Für fast alle Maoris waren das Geister, die weißen Kinder nannten vorwiegend Tiere wie »Tiger« oder »Krokodil«, die sie zwar noch nie gesehen hatten, die aber als gefährlich gelten. Es ist immer das Unbekannte, das angst macht. Die gefährlichen Tiere symbolisierten für die europäischen Kinder die unbenennbare Angst, die sie zudem nicht haben durften.
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Sylvia Ashton-Warner schreibt weiter: »Dennis ist das Opfer einer ehrwürdigen, geldmachenden, gut angezogenen Mutter, die ihn auspeitscht. Mit fünf hatte er schon einen psychischen Zusammenbruch. <Ich habe keine Angst vor nichts>, schreit er. Ich konnte für ihn nie die Angst-Wörter finden. Dennis' Mutter hatte mich besiegt. Morgens, wenn alle malen, mit Ton arbeiten, tanzen, streiten, singen, zeichnen, sprechen, schreiben oder bauen, ist Dennis jeweils dran, meine Sachen vom Boden aufzuheben und die Matten gerade zu legen. Aber das Bild, das ich von ihm habe, ist das eines Kindes, das von einer nicht zu nennenden Angst verfolgt wird.« Das bedeutet mithin, daß er die Quelle seiner Angst, den Schmerz, den ihm seine Mutter zufügte, nicht nennen, nicht kennen darf.
»Es sind die Angst-Wörter, die alles dominieren«, konstatiert Ashton-Warner. »Daddy«, »Mommy«, »Geister«, »Bombe«, »Kuß«, »Bruder«, »Metzgermesser«, »Gefängnis«, »Liebe«, »Tanz«, »weinen«, »kämpfen«, »streiten« — das sind die Wörter ihrer Kinder. In den anderen Schulen von Neuseeland hört man etwas anderes: »Komm doch, Jonnie, guck mal, Jonnie«, heißt es da, »siehst du die Schiffe?« Das Vokabular der englischen höheren Mittelklasse ist, so Ashton-Warner, zweidimensional und angepaßt.
Wenn ein Kind keinen Zugang zu seinem Schmerz in seinem Inneren findet und ihm dabei auch nicht geholfen werden kann, atrophiert seine Lebendigkeit. Dann verlagert es sein inneres Leben ins Äußere, ins Materielle. Es kauft sich das Leben in den unzähligen Fertigprodukten, die unsere Konsumgesellschaft dafür bereithält. »Von mechanischen Apparaten bis zu gleichschaltenden Erlebnissen in den Filmen kann man fast alles kaufen, von dem man glaubt, es zu benötigen. Auf diese Weise«, schreibt diese außergewöhnliche Lehrerin, »kann man das Leben selbst kaufen — wie Leben in Konserven (canned life).«
»Vor kurzem sagte ich zu einem Freund, einem Professor«, schreibt Ashton-Warner, »<was für Menschen kommen zu dir an die Universität?> Er sagte: <Sie sind alle genau gleich!> — <Aber>, sagte ich, <wie kann das sein? Das ganze Ziel der Grundschulerziehung ist doch Mannigfaltigkeit?> — <Nun>, antwortete er, <sie kommen zu mir wie Muster aus einer Schreinerei.> — <Im Kindergartens sage ich ihm, <haben wir noch Identitäten>« (Übersetzung von A. G.).
Das Nicht-Hören der Schmerzen unserer Kinder brachte DeMause (1980) dazu, seine Geschichte der Kindheit <Hört ihr die Kinder weinen?> zu betiteln. Es ist eine grausame Geschichte, die hier in aller Kürze vorgestellt werden soll.
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In der Antike waren bestialische Strafen für Kinder, sogar Kindesmord Alltag. »Kinder wurden in Flüsse geworfen, in Misthaufen und Jauchegruben geschleudert, in Gefäßen <eingemacht>, um sie darin verhungern zu lassen, auf Bergen und an Wegrändern ausgesetzt als Beute für Vögel, Futter für wilde Tiere, die sie zerreißen würden« (Euripides, zitiert bei DeMause). Ein in Gestalt oder Größe von der Norm abweichendes Kind oder ein Kind, das sich von dem unterschied, was in gynäkologischen Schriften als »würdig, erzogen zu werden« (Soranus: Gynäkologie, zitiert bei DeMause) beschrieben wurde, wurde getötet. In der Regel ließ man erstgeborene Jungen am Leben. Hier die Anweisung, die der Kaufmann Hilarian im 1. Jahrhundert v. Chr. seiner Frau gab: »Wenn du, was ja gut möglich ist, ein Kind gebären solltest, und ist es ein Junge, so laß es am Leben; wenn es aber ein Mädchen ist, so setze es aus« (N. Lewis 1990).
Kinder waren ständig sexuellem Mißbrauch ausgesetzt. In der Antike gab es in jeder Stadt Knabenbordelle. Männliche Säuglinge wurden bereits in der Wiege kastriert, um später in Bordellen von Männern mißbraucht zu werden. Die ethische Problematik wurde auf die Frage des Gehorsams reduziert: Der Philosoph Musonius Rufus beispielsweise fragte, ob ein Junge, der von seinem Vater an ein Bordell verkauft worden war, sich weigern dürfe zu gehen. Wäre er dann ungehorsam? (De Mause) — Noch Martin Luther, für den Autoritätsgläubigkeit gleichbedeutend mit Verachtung für das eigene Selbst war, sprach davon, daß ihm ein toter Sohn lieber sei als ein ungehorsamer (A. Siirala, 1964b).
Es mag stimmen, daß sich — wie DeMause hofft — die offene Grausamkeit Kindern gegenüber über die Jahrhunderte hinweg gemildert hat. Nicht geändert hat sich jedoch die dahintersteckende Ablehnung des Kindes und das Bestehen auf Gehorsam. Das übergeordnete Prinzip Macht wurde zu keiner Zeit in Frage gestellt. Die Formen der Unterdrückung von Kindern haben sich zwar verändert, nicht aber die Tatsache selbst. Nach wie vor wird der Schmerz des Kindes verneint.
Erst mit dem Christentum entstand allmählich so etwas wie eine offizielle Moral. Zum ersten Mal wurde im Jahr 374 n. Chr. das Töten von Kindern gesetzlich bestraft. Jedoch bis ins Mittelalter hinein wurden Säuglinge in Flüsse, Gossen und Misthaufen geworfen. Bis ins 18. Jahrhundert war es üblich, Säuglinge Ammen zu übergeben, obwohl dies oft den Tod der Babys bedeutete. Im Jahr 1780 schätzte der Polizeichef von Paris, daß von den einundzwanzigtausend Neugeborenen zwei- bis dreitausend in Kinderheime verbracht wurden, siebzehntausend in die Obhut von Säuglingsammen auf dem Land kamen, siebenhundert zu Hause von Säuglingsammen versorgt wurden und nur siebenhundert von ihren eigenen Müttern gestillt und großgezogen wurden. Noch Ende des 19. Jahrhunderts waren tote Babys auf den Straßen Londons kein ungewöhnlicher Anblick.
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Die christliche Ethik leitete vorwiegend eine Veränderung in den zur Schau gestellten Gefühlen ein. Moral war kein Ausdruck einer inneren Haltung, sondern lediglich Pose. Sonst hätte sich auch die Beziehung zu Kindern gewandelt, hätte zu einer Anerkennung des kindlichen Wesens geführt.
Doch obwohl die christliche Lehre dies beinhaltet, da sie das Bewußtsein für innere Gefühlswahrheiten stärkt, hatte die Moral der etablierten Kirche wenig damit gemein. »Die von den Kirchenvätern geübte Kritik am Kindesmord schien (...) mehr dem Interesse (der Kirche) an der Seele der Eltern als dem Leben des Kindes zu entspringen. Diese Einstellung zeigt sich zum Beispiel bei dem Märtyrer und Heiligen Justinus, der sagte, ein Christ solle keine Kinder aussetzen, damit er sie nicht später im Bordell wiederfinde« (DeMause).
An die Stelle von wahrer Verantwortung für Kinder werden Schuldgefühle ihnen gegenüber gesetzt. Dabei handelt es sich jedoch nicht um Schuldgefühle, die aus der Tiefe des Miterlebens von Schmerz, dem man einem anderen zufügt, emporsteigen, sondern um Schuldgefühle, die eher moralische Pose sind. Es ging also nur darum, sich in den Augen anderer richtig zu verhalten, das Bild eines frommen und gerechten Menschen aufrechtzuerhalten, und nicht um Nächstenliebe. Jesus sprach von Verantwortung sich selbst gegenüber, die Kirche von Pflicht und Gehorsam gegenüber einer Autorität. Demnach resultierte Selbstwert aus der Wahrung des Scheins. Und dies trug gerade nicht dazu bei, dem Kind gegenüber mitfühlend zu sein.
In der Folge wurde die moralische Pose zum Richter über menschliches Verhalten. Aus diesem Grund konnten selbst schlimmste Greueltaten unter dem Deckmantel der Moral vollbracht werden. Menschen wurden und werden »höherer« Ideale wegen gefoltert und ermordet. Der Schrei nach Reinhaltung völkischen Blutes kann überall gehört werden — ob im ehemaligen Jugoslawien, in Rußland, Südamerika, Ruanda oder Indonesien. Wir halten uns aber für zivilisierte Menschen, erklären solche Taten zu Ausartungen, hervorgerufen durch soziale und wirtschaftliche Umstände. Und keiner sieht, daß hier etwas fehlt, nämlich die Basis, die Menschen menschlich macht: das Mitgefühl.
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Mit unseren Erklärungen, die jedoch nicht zum Kern des Problems vordringen, versuchen wir permanent die Malaise, in der sich unsere Welt befindet, ungeschehen zu machen. Anstatt wirklich Verantwortung zu tragen, die auf dem Mitfühlen des Leidens und der Freude unserer Mitmenschen beruht, befreien wir uns nur von Schuldgefühlen, die in unseren Augen unseren Selbstwert herabsetzen. Die Art von Schuld, die wir empfinden, resultiert nicht aus einem tiefen Mitgefühl für die schlimme Lage, in die wir den anderen gebracht haben, resultiert nicht aus dem Gefühl, ihm etwas angetan zu haben, sondern resultiert aus dem Gefühl, nicht das »Richtige« getan zu haben. Und so handeln wir weiterhin destruktiv, ohne uns dies eingestehen zu können. Mehr noch: Wir rechtfertigen unsere Gewalt, deren Quellen zu sehen wir verlernt haben, dadurch, daß wir uns »höheren Idealen« verpflichtet fühlen.
Dies beginnt beim Nicht-Erkennen des Eigenlebens unserer Kinder. Und dies werden wir so lange tun, solange es uns nicht gelingt, unsere eigene Gewalttätigkeit zu erkennen. Wenn wir unser Verhalten unseren Kindern gegenüber umtrainieren, hat dies nur eine Verschiebung der Problematik zur Folge. Lösen können wir sie nur, wenn wir erkennen, daß wir Kinder als Projektionsfläche für unsere Wünsche benötigen, sie nur dazu benutzen, unser schwaches Selbstwertgefühl aufzuwerten. Erst dann hat es ein Ende mit der Gewalt.
Der Gestus von Interesse und Liebe für das Kind macht die Sache nur schwieriger. Er ist die Quelle unserer Heuchelei, die uns entweder destruktiv oder tatsächlich krank macht. Ich werde später erläutern, warum ich glaube, daß die Schizophrenie, eine der sogenannten seelischen Krankheiten, eine Reaktion auf diese Heuchelei ist und daß ihre Analyse uns helfen kann, diese zu beseitigen.
Aber wenden wir uns wieder der Geschichte der Kindheit zu und sehen wir, wie der erhoffte Wandel zum »Besseren« eben doch keiner ist. Heroard, Leibarzt von Ludwig XIII. von Frankreich (1755-1824), schildert, wie der Dauphin im Alter von zwölf Monaten in die sexuellen Spiele des Königs und der Königin sowie anderer Mitglieder des »hochzivilisierten« Hofes verwickelt wurde (Marvick 1974). »Er (der Dauphin) läßt jeden seinen Piephahn küssen (...) Die Marquise legt ihre Hand öfter unter sein Kleid; er läßt sich auf das Bett seiner Amme legen, und diese spielt mit ihm, indem sie mit ihrer Hand unter sein Kleid fährt.« Nachdem er seinem Vater, dem König, als sexuelles Spielzeug gedient hat, »droht ihm dieser mit einer Peitsche«.
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Nach der Französischen Revolution änderte sich die Form der Gewalt:
An die Stelle der offenen Sexualität tritt das sadistische Verbot jeglicher Sexualität. Ende des 18. Jahrhunderts durften Kinder ihre Genitalien nicht mehr berühren. Beschneidungen, Klitorisektomien und Infibulationen waren in diesem Zusammenhang nichts Ungewöhnliches (DeMause). Solche chirurgischen Eingriffe waren in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts besonders in England »Mode«. Später wurden sie dann durch Gipsverbände und mit Eisenspitzen versehene Käfige ersetzt, die noch zu Beginn unseres Jahrhunders verbreitet waren. Im Hintergrund stand dabei immer das Bezwingen und Bestrafen der Kinder. Die Formen der Bestrafung veränderten sich, und je mehr sie sich veränderten, desto verschleierter war auch ihre Motivierung: die Gewalttätigkeit.
Bald danach wurden die kindlichen Exkremente zum Mittelpunkt elterlicher Sorge. Damals entstand die Sauberkeitserziehung. Als geeignete Erziehungsmaßnahme galt früher das Bestrafen, heute ist es das Belohnen. Aber auch das Belohnen ist nur eine als Güte und Selbstaufopferung bemäntelte Form der Gewalt.
Dies zu durchschauen wird für beide, Eltern und Kinder, jedoch zunehmend schwieriger.
Christopher Lasch (1986) verdeutlicht, wie elterliche »Sorge« heutzutage zu einem System von Zwang und Kontrolle über das Kind ausarten kann: Ein Kind, das sich weigert zu essen, wird aus »Sorge« zum Arzt gebracht. Die Autorität des Arztes schüchtert das Kind ein. Wenn es trotzdem ungehorsam bleibt, wird ein Psychotherapeut hinzugezogen. So wird dann dem Kind »geholfen«, mit »seinem« Problem fertigzuwerden. Autorität und die dahinter verborgene Gewalt werden zu »Freunden« des Kindes.
Die direkt ausgeübte und offen gezeigte Grausamkeit der Antike Kindern gegenüber wird heute von geheuchelter Güte abgelöst. Im Grunde genommen hat sich aber nur die Form verändert, nicht der Inhalt.
Und es ist zudem schwieriger geworden, ihn zu entdecken.
Unsere Lebensgeschichte ist geprägt von Verlust. Während unserer Kindheit verlieren wir weitgehend den Zugang zu unserem Menschsein, da unser Bewußtsein gespalten und dabei unsere Empathie unterdrückt wird. Wir werden unempfindlich gegenüber unserem eigenen Schmerz und dem eines anderen. Wir wollen oder können nicht erkennen, wie sehr unser Wertesystem auf Macht und Herrschaft ausgerichtet ist. Und somit können wir auch nicht erklären, warum Krieg und Zerstörung, Gewalt und Grausamkeit den Lauf der Geschichte bestimmen. Auch wenn es nur wenige Menschen sein mögen, von denen die Greueltaten ausgehen, so machen doch so viele mit.
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Was trübt unsere Sicht dermaßen, daß wir uns da als Opfer fühlen, wo wir es eigentlich gar nicht sind? Daß wir gegen vermeintliche Feinde ankämpfen, die im Grunde nicht anders sind als wir selbst? Das Kernproblem betrifft das Opfer in uns selbst, das wir nicht erkennen dürfen, das aber zu erwachen droht und deswegen zum Schweigen gebracht werden muß. Und wer käme da gelegener als ein vermeintlicher Feind von außen.
Wir haben so viele Mittel und Wege, das Kind in seinem Sein zu zerstören. Gleichzeitig leugnen wir das, indem wir uns an die Pose des Guten und Zivilisierten klammern. Wenn wir uns umsähen, dann würden wir merken, wie häufig wir Kinder hänseln. Wir bringen ein Kind dazu, sich lächerlich zu fühlen, wenn es zu seinem Schmerz steht. Darüber zu lachen überdeckt unseren Sadismus und gilt als Beweis der Stärke des Kindes. Von da an zählt nur noch der Beweis, daß es nichts gibt, das einem noch etwas anhaben kann. So zeigte Eisner (1994) in seiner soziologischen Studie über Gewalt unter Züricher Jugendlichen auf, daß diese glaubten, durch Gewalt Stärke beweisen zu müssen.
All dies geschieht in einem Klima kognitiven pädagogischen Denkens, das die gütige und verständnisvolle Pose mit echten Gefühlen von Güte und Verständnis gleichsetzt. Wir halten unsere Gefühle für aufrichtig und echt, wenn wir voller Eifer versuchen, den Rollen zu entsprechen, die uns auferlegt wurden.
Betrachten wir dies nun im Zusammenhang der Idealisierung der Mutterrolle.
Pirkko Niemelä (1982 a und b), eine finnische Psychologin, untersuchte in einer Reihe von Studien Mütter aus durchschnittlichen Lebensverhältnissen, die nach einer normal verlaufenen Schwangerschaft in Erwartung einer komplikationsfreien Geburt waren. Sie teilte die Frauen in zwei Gruppen ein: Die Frauen der ersten Gruppe waren der Ansicht, daß eine Frau sich nur durch Mutterschaft als richtige Frau empfinden könne. Die Frauen der Kontrollgruppe teilten weder eine derartige Idealisierung der Mutterschaft noch die Auffassung, daß sich »richtiges« Frausein über Mutterschaft definiere.
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Die Frauen der ersten Gruppe hoben als wesentliche Merkmale des Frauseins Schönheit, Heiterkeit und Aufopferungsgabe hervor. Von körperlicher Intimsphäre wie ihrer Menstruation oder Sexualität waren sie eher irritiert. Sie bezogen ihr Selbstbild als Frau stärker aus ihrer Mutterrolle. Insgesamt hatten die Frauen dieser Gruppe ein geringeres Selbstwertgefühl, weniger eigene Interessen, und sie suchten ihre Identität und Lebendigkeit im Muttersein. Sie stellten die Familie über die Ehe, in der sie nicht selten unzufrieden waren, und werteten die aktuelle Beziehung zwischen Mann und Frau als nicht wesentlich. Aber sie empfanden es als wichtiger, Mutter zu sein und eine Familie zu haben, als eine intime Beziehung zum Ehemann zu haben.
Judith Hollenweger (1989) folgerte daraus, daß für diese Frauen der Wunsch, Mutter zu sein, wichtiger sei, als ein Kind zu haben. Sie seien eher auf die Rolle des Mutterseins ausgerichtet als auf das Kind selbst. Das Selbstbild dieser Frauen jedoch brächte sie dazu, zu glauben, daß sie über ihre Kinder glücklich seien. In Wirklichkeit setzten sie aber ihre Mutterrolle und das Bemühen, diese aufrechtzuerhalten, über ihre tatsächlichen Gefühle. So leugneten sie zum Beispiel Aggressionen ihren Kindern gegenüber in ihrem Bestreben, immer geduldig und ausgeglichen zu sein. Sie empfanden keine Wut ihren Kindern gegenüber und glaubten, diese von Anfang an außerordentlich zu lieben. Als Mütter ohne eigene Bedürfnisse sahen sie sich als perfekte Mütter.
Im Gegensatz zu den Müttern der Kontrollgruppe, die zu ihren ambivalenten Gefühlen und Ängsten stehen konnten, hatten sie im allgemeinen eine schwierigere Geburt und empfanden das Stillen als weniger angenehm. Dennoch betonten sie nach der Geburt — im Einklang mit ihrer Rollenerwartung —, wie glücklich sie seien. Gleichzeitig äußerten sie — wie um ihre Sorge um das Kind zu unterstreichen — Ängste, etwa daß das Kind im Schlaf ersticken könne oder daß sie etwas falsch machen könnten.
Niemelä führte zwei, drei und vier Jahre später Folgeuntersuchungen durch. Die von ihren wahren Gefühlen abgeschnittenen Frauen der ersten Gruppe leugneten weiterhin jegliche negativen Gefühle und waren nicht in der Lage, auf die Impulse ihrer Kinder einzugehen. Da sie alle eigenen Bedürfnisse, die außerhalb ihrer selbstauferlegten Rolle standen, verdrängten, konnten sie die wirklichen, autonomen Bedürfnisse ihrer Kinder nicht erkennen. Ihre Kinder erwiesen sich deshalb auch als unselbständig und unsicher. Den Tests zufolge waren die Zweijährigen der ersten Gruppe weniger offen als die Kinder der Kontrollgruppe.
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Als sie dann als Vierjährige noch einmal getestet wurden, war der Unterschied eklatant: Die Kinder der ersten Gruppe waren angepaßt und überdurchschnittlich kooperativ. Doch sie, die immer nett und brav sein mußten, die — wie ihre Mütter — es sich nicht erlauben durften, Aggressionen auszudrücken, hatten im Projektiv-Test die höchsten Aggressionswerte. Beobachtungen ergaben zudem, daß sie von ihren Eltern weder echte Wärme noch Hilfe bei emotionalen Problemen erhielten. Im Vergleich zu den Kindern der Kontrollgruppe waren sie abhängiger und unterwürfiger.
Darüber hinaus belegt die Studie, daß Kinder das Verhaltensmuster, einerseits anderen Schmerz zuzufügen, dies aber andererseits zu leugnen, übernehmen und sich einverleiben. In ähnlicher Weise idealisierten die Mütter in Niemelas erster Gruppe wiederum ihre Mütter. Und das, obwohl die Beziehung zu ihren Müttern während ihrer Kindheit von Kälte gekennzeichnet war.
Hier zeigt sich deutlich der Mechanismus, in dem Opfersein weitergegeben wird, weil es nicht erkannt werden darf.
Zugleich erlaubt dieser Mechanismus ein menschliches Selbstverständnis, das das Vorhandensein von eigenen Verletzungen ausklammert. Männer wie Frauen unterwerfen sich idealisierten Rollen und erkennen den eigenen Schmerz nicht. Der Widerspruch dieses Ideals zu ihrer tatsächlichen Erlebniswelt indes bewirkt ihre Destruktivität. Und da all dies — auch das Verleugnen von Schmerz — der männlichen Ideologie des Herrschens entspricht, müssen wir diese als eigentliche Ursache unserer permanenten Selbstzerstörung betrachten.
Daß es auch andere Formen gesellschaftlichen Zusammenlebens gibt und immer schon gegeben hat, lehrt uns die Anthropologie. (Ausführlicher werde ich darauf in dem Kapitel über die sogenannten »Primitiven« eingehen.) Hier sei kurz auf Leacocks Arbeit über den Mythos der männlichen Überlegenheit (1981) eingegangen, der von einer ganz anderen Art der Eltern-Kind-Beziehung und daher auch von einer anderen Art des Empfindens von Schmerz und Opfersein berichtet. Leacock zitiert den Jesuitenpater Paul Lejeune, der den Winter 1632/33 bei den Montagnais-Naskapi-Indianern im St.-Lawrence-Flußbecken (in der Nähe des heutigen Quebec in Kanada) verbrachte, um sie kennenzulernen und zu missionieren. Lejeune klagte über große Schwierigkeiten bei seiner Missionsarbeit:
»Diese Primitiven machen es uns unmöglich, ihren Kindern etwas beizubringen. Sie lassen es nicht zu, daß ihre Kinder gezüchtigt werden, sie erlauben nur eine einfache Rüge (...) Ich möchte die Kinder von ihren Eltern getrennt an einem anderen Ort unterrichten, weil diese Barbaren es nicht aushalten, daß ihre Kinder bestraft oder auch nur gescholten werden. Sie schaffen es nicht, einem weinenden Kind irgend etwas zu verweigern. Sie würden sogar so weit gehen und ihre Kinder bei dem kleinsten Vorwand aus dem Unterricht entfernen.«
Für diese »Primitiven« war der Schmerz ihrer Kinder eine Richtschnur für elterliches Verhalten. Wir dagegen tun alles, um dem Willen des Kindes keinen freien Lauf zu lassen. Daraus entsteht ein Machtkampf, den wir uns aber nicht eingestehen. Denn er würde uns an unseren eigenen, lange zurückliegenden Schmerz erinnern und uns dazu zwingen, ihn zu erkennen.
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