3 Unsere Identität
Wie wir den Verlust unseres Mitgefühls kompensieren
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Wenn das Leiden an unserem frühen Opfersein unterdrückt werden muß, wird das Mitgefühl zum nächsten Opfer. An seinen Platz tritt das Selbstmitleid, von dem wir uns Rettung vor einem verstümmelten Menschsein erhoffen.
Selbstmitleid rettet uns auf zweierlei Art:
Zum einen »schützt« es uns davor, unser wirkliches Leid und unseren wirklichen Schmerz wahrzunehmen, insofern, als wir uns statt dessen selbst bemitleiden, weil unser Rollenspiel nicht genügend gewürdigt wurde. Zum anderen bewirkt unser Selbstmitleid eine Art Selbstliebe, einen Narzißmus, der uns vor dem Schmerz des Nicht-Geliebtwerdens ebenfalls »schützt«.
Dieser Narzißmus — von der klinischen Literatur verkannt und als unwürdige Selbstliebe geschmäht — sichert jedoch unser psychisches Überleben: Denn ein Kind kann den Schmerz und das Leid, die ihm angetan werden, nur dadurch ertragen, daß es sie ins Gegenteil verkehrt, sie also verneint und fortan so tut, als ob die Welt heil sei. Narzißmus ermöglicht Geliebtwerden in Form von Selbstliebe, die sich danach richtet, wie gut wir die Rolle des oder der Angepaßten spielen, wie »richtig« wir uns verhalten haben.
Die Geschichte unserer Kindheit ist deshalb nicht nur die Geschichte der Verleugnung unserer Kinder, sondern auch die Geschichte der Weitergabe des Hasses auf den eigenen Schmerz, auf das Opfer in uns, das uns wertlos macht. Da unser Sein von Haß auf unser Opfersein wesentlich bestimmt wird, ist die Geschichte unseres Menschseins über die vergangenen sechstausend Jahre hinweg eigentlich die Geschichte der Unterdrückung des Mitgefühls. Aus der Unterdrückung des Mitgefühls entwickelt sich aber jenes Bewußtsein, das Gewalt und Zerstörung legitimiert.
Zum Ziel des Lebens wird die Eroberung dessen, was außerhalb der Grenzen des eigenen Selbst liegt, das In-Besitz-Nehmen von Lebewesen oder Dingen. Diese nach außen gerichtete Handlung fungiert als »Fluchthelfer« vor der Konfrontation mit dem eigenen verletzten Selbst. Statt sich selbst ganz zu besitzen, werden äußere Dinge oder andere Personen in Besitz genommen — wobei das Besitzen-Wollen eine Eigendynamik entwickelt, da es Erleichterung verschafft.
Der amerikanische Dramatiker und Nobelpreisträger Eugene O'Neill brachte seine Kritik an den Amerikanern auf den gleichen Nenner: Sie seien immer darauf ausgerichtet, etwas außerhalb ihrer selbst zu besitzen, um in den Besitz der eigenen Seele zu kommen. Damit erfaßte er genau das Defizit, das aus der Entwertung des eigenen Selbst entsteht und das man vergeblich mittels des Besitzens von äußeren Objekten zu füllen trachtet (Gruen 1989).
Indem wir sowohl unser eigenes Opfersein als auch das Opfersein dessen, den wir erobern, leugnen, halten wir uns für gütig, verständnisvoll und mitfühlend. Doch ein solches Selbstverständnis ist nur eine Gefühlspose, die wir jedoch für gleichbedeutend mit dem echten Gefühl halten. Viele sind sich der Diskrepanz zwischen vermeintlichem und tatsächlichem Gefühl nicht bewußt. Man kann glauben, für den Frieden zu sein, und zugleich in den Krieg gehen, um für den Frieden zu kämpfen. Die Absicht wird dann nicht von der Tat getragen.
Aber viele erkennen das nicht. Sie beziehen ihre Identität aus der Identifikation mit einem Mächtigeren, weil dieser ihnen die Konfrontation mit dem eigenen verletzten Selbst abnimmt und für Feinde von außen sorgt. Das Ziel des Hasses und der Aggression wird mithin nach außen verlagert, die Angst vor dem inneren »Feind« dadurch kompensiert. Umgekehrt werden Macht, Inbesitznahme und Gewalt durch solche Gefolgschaft gestärkt.
Wir suchen — statt den Feind in uns selbst — den Feind »da draußen«, suchen ihn in Menschen, die anders aussehen, sich anders verhalten. Diese anderen werden dann zum »bösen Feind«, wie Nietzsche (1980) schrieb, sie werden zu »>den Bösen<, und zwar als Grundbegriff, von dem aus er (der Täter) sich als Nachbild und Gegenstück nun noch einen >Guten< ausdenkt — sich selbst!«
Warum wir Feinde benötigen
Henry Miller (1946) meinte über den Feind: »Ja, wer ist der Feind? Sicher wird er ein schreckliches Ungeheuer sein, sonst müßten wir nicht immer wieder gegen ihn zu Felde ziehen.« Feinde dienen uns als Zielscheibe für unseren Selbsthaß. Wir suchen uns Feinde, um sie für das zu bestrafen, was unsere Eltern in uns mißbilligten oder ablehnten.
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Feinde lenken uns von unseren eigenen Verletzungen ab. Solange man andere bestrafen, erniedrigen, sogar ausradieren kann, muß man sich nicht selbst ins Gesicht blicken. Denn dann würde man dem eigenen Opfersein ins Auge schauen müssen. So wie der auf Seite 18 f. erwähnte Patient bestraft man einen anderen für dessen Bedürftigkeit, weil man die eigene Bedürftigkeit nicht wahrhaben will und darf.
Feinde kompensieren unsere Hilflosigkeit. Wir zeigen uns stark, streng, sogar gewalttätig und verbergen dabei unser eigenes Gesicht, unsere Schwäche und Hilflosigkeit vor uns selbst wie auch vor anderen.
Heinrich Böll (1984) drückte dieses Sich-nicht-selbst-ins-Gesicht-sehen-Können so aus: »Ich muß aber versuchen, gar kein Gesicht mehr zu haben, wenn es mir gelingt, die nächsten zehn Jahre bei Glück und Seife zu überstehen.« Also nur ja kein Gesicht zeigen, das wahre Erfahrungen und Gefühle widerspiegelt.
Man wird sich erst dann ins eigene Gesicht sehen müssen, wenn die sorgfältig aufgebauten Schutzmechanismen zusammenbrechen: wenn die Strategie des Wegschauens nicht mehr funktioniert, wenn die uns aufgesetzten Rollen nicht mehr belohnt werden, weil der übergeordnete und stabiliserende soziale und wirtschaftliche Rahmen auseinanderzubrechen droht. Da uns aber die Konfrontation mit dem eigenen Opfersein unerträglich ist, werden wir unseren Haß immer nach außen, auf andere verlagern. Wir projizieren das verhaßte eigene Selbst auf einen äußeren Feind, um es/ihn endgültig zu vernichten. Dabei werden unsere Haßgefühle von falschen Propheten gebilligt und angeheizt.
Der von uns halluzinierte Feind ist allgegenwärtig, wir erleben das täglich in Form von Ausschreitungen der Fremdenhasser, von Kriegen auf dem Balkan, in Rußland, Südamerika, Afrika und Asien. Diese Gewalttätigkeit gegen andere kann die verschiedensten ideologischen Farben tragen und reicht von der Aggression gegen Schwächere — Arme, Kranke, Behinderte — über den Kampf für die »Rassenreinheit« zum »Heiligen« Kampf. Aber immer wurzelt der dahinterstehende Haß in einem Selbsthaß, in dem Haß auf das eigene Opfersein, das allerdings geleugnet werden muß.
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Das Werden von Bewußtsein
Die Suche nach unserer Vergangenheit ist ein Teil des Wunsches, uns selbst zu erklären, Sinn für unser Sein zu finden. Diese Suche ist davon abhängig, wie wir uns selbst wahrnehmen, sehen und verstehen. Wenn unsere Suche jedoch von vornherein das Ziel hat, Feinde zu finden, um das eigene Opfersein nicht wahrhaben zu müssen, dann wird unsere Aufarbeitung der Vergangenheit unserem eingeschränkten Bewußtsein entsprechend verzerrt sein.
Daß wir uns als zivilisiert, andere Völker jedoch als Primitive, Barbaren und Menschenfresser betrachten, ist nur ein Symptom unseres reduzierten Bewußtseins. Viele glauben sich jedoch der Aufgabe gewachsen, in ihrer Beurteilung der Vergangenheit sich und anderen gerecht zu werden.
Die erste Frage, die wir uns deshalb stellen müssen, ist die Frage nach der Art unseres Menschseins. Denn verstehen kann sich nur, wer das, was ihm selbst selbstverständlich geworden ist, hinterfragt und wer sich weder von sich selbst noch von seinen Mitmenschen entfremdet hat. Nur der wird in der Lage sein, sich und andere zu verstehen.
Wir müssen uns deshalb auch hier zuallererst mit der Entwicklung von Bewußtsein befassen. Die Schwierigkeit dabei ist eben die Selbstverständlichkeit von Bewußtsein. Wir haben Probleme, wenn wir selbst es in Frage stellen, und jeder andere, der das tut, wird automatisch zum Feind. Denn Feinde zu haben ist ein unausgesprochenes Bedürfnis dieses Bewußtseins.
Wie können wir uns richtig wahrnehmen und verstehen lernen?
Sofort stellt sich uns ein erstes Hindernis in den Weg zur Erkenntnis unseres Selbst. Wir nehmen es zum Beispiel als gegeben an, daß einem Kind von Anfang an Realität beigebracht werden muß. Wir glauben, daß wir ohne dieses »konstruktive« Müssen, Teil unseres Lebens, »nur von Vergnügen zu Vergnügen flitzen« würden, wie Henri Bergson (1992) es formulierte. Aber auch hier haben wir es mit einem Feindbild zu tun, einem Feindbild nämlich, das auf der Annahme basiert, ein Kleinkind täte nichts anderes, als sich zu vergnügen. Und sofort fühlen wir uns berechtigt, sogleich und energisch dagegen einzuschreiten. Allerdings erkennen wir unsere Gegenmaßnahmen nicht als solche an. Wir glauben, daß Lernen ohne Zwang zu nichts führe, sind uns dieses Vorurteils allerdings nicht bewußt.
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Wir haben die Vorstellung, daß ein Mensch so wenige Fehler wie möglich machen dürfe, um zu lernen. Doch diese irrige Annahme versperrt unseren Kindern die Möglichkeit, spielerisch zu lernen. Wenn ein Kind nicht auf Entdeckungsreise gehen darf, wird es auch seine Fähigkeit zur Wahrnehmung nicht entwickeln können (Heinrich Jacoby 1987).
Kinder werden also von Geburt an mit Verboten bombardiert. Und die Erwachsenen, die in ihrer eigenen Kindheit unter Verboten gelitten haben, empfinden jetzt Genugtuung dabei, die Verbote auszusprechen. Wir bestrafen unsere Kinder im Namen des kindlichen Wohls, ohne uns dies aber einzugestehen. Statt dessen empfinden wir uns als gute und fürsorgliche Eltern. Dem Kind »Realität« beizubringen, es zum Gehorsam zu zwingen bringt uns moralische Befriedigung.
Und so entwickelt sich früh, was Bergson weiter als »die Gewohnheit, uns unseren Eltern und anderen Autoritäten zu fügen« beschreibt. Denn das Kind erlebt das Bestraft-Werden immer als Folge eines eigenen schuldhaften Verhaltens. Als Erwachsene und selbst Eltern bestrafen wir dann zum einen das Kind in uns selbst und zum anderen unsere Kinder, die durch ihre Lebendigkeit die alte Schuld wiedererwecken. Wir geben weiter, was uns selbst angetan wurde, ohne uns jedoch dessen bewußt zu sein.
Sollten wir dennoch unser uns selbstverständlich gewordenes Selbst in diesem Zusammenhang einmal hinterfragen, werden wir uns sogleich selbst beruhigen, daß Erziehung eben so sei. Was also passiert dabei? Und was kann dabei schiefgehen?
Problematisch wird es überall dann, wenn Kinder nicht wegen ihrer selbst, sondern wegen der Leistungen geliebt werden, die sie erbringen und die auch ihre Eltern einmal erbringen mußten. Erikson (1958) schreibt dazu, daß ein Kind in einen verhängnisvollen Kampf um seine Identität getrieben werde, weil es vor einem Dilemma stehe: Es möchte von seinen Eltern um seiner selbst willen geliebt werden, die Eltern jedoch lieben und belohnen es nur für das, was es tut — und nicht für das, was es ist. Manchen wird diese Unterscheidung unverständlich sein. Das, was man tut, entspricht für viele Menschen dem, was man ist, denn so wurde man immer definiert, und so definiert man sich selbst seit jeher. Eltern, schreibt Erikson weiter, meinten, daß ihr Kind dazu da sei, sie zu rechtfertigen. Die zwar nicht verbalisierte, aber ganz klar implizite Forderung an das Kind laute: Welche Leistung hast du erbracht, was hast du für mich getan?
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Hier werden drei miteinander untrennbar verbundene Gefühle auf den Weg gebracht. Erstens: die Angst, es nicht schaffen zu können. Zweitens: die (berechtigte) Aggression gegen die das Kind nicht anerkennenden Mächtigeren. Gleichzeitig macht diese Aggression dem Kind angst, weil die Eltern sie nicht zulassen. Drittens: Gehorsamkeit, die mittels Belohnung und Lob erzeugt wird, statt daß das Kind um seiner selbst willen geliebt wird. All dies verstärkt die Abhängigkeit des Kindes von seinen Eltern und sorgt dafür, daß Belohnung und Lob als Motivation, zu lernen, höher bewertet werden als echte Liebe.
Ein solcher Sozialisierungsprozeß scheint in allen sogenannten »Hochkulturen« gleich zu sein. Man lernt, daß man lernen muß, geliebt zu werden, daß Liebe kein Recht an sich ist. Sogar Psychoanalytiker (Eckstein und Motto 1969) haben diese Sicht untermauert in einem Werk, das den Titel »From learning to love to love of learning« (Vom Lernen zu lieben zur Liebe für das Lernen) trägt. Daß uns diese Haltung, die auch unsere Identität formt, aber von außen, von unserer Kultur aufgenötigt wird, wird in diesem Buch nicht bemerkt. Dies zeigt, nebenbei gesagt, wie stark auch jene in Unbewußtheit leben, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, Menschen zur Bewußtheit zu bringen. Zugleich zeigt dies, wie sehr wir in dieser Selbstverständlichkeit von Identität befangen sind, wie wenig wir in der Lage sind, diese in Frage zu stellen.
Zusätzlich wirkt sich verheerend aus, daß Lernen auf Belohnung ausgerichtet ist und daß Belohnung zu einem Bedürfnis wird — daß wir davon abhängig werden. Wir entfremden uns dadurch von unserem eigenen Selbst, und dies muß sich zerstörerisch auswirken.
In Studien über das autonome Selbst an der City University of New York haben Helen Bluvol (1972) und Ann Roskam (1972) herausgefunden, daß bei Gymnasiasten, bei denen das Bedürfnis nach Bestätigung geradezu herangezüchtet worden war, die unbewußte Angst vor den eigenen Möglichkeiten am größten war. Damit verbunden war die Unfähigkeit, Autoritätsfiguren wie Eltern oder Lehrer differenziert zu sehen und sie als eigenständige Personen mit guten und schlechten Eigenschaften wahrzunehmen. Statt dessen wurden diese einfach stereotyp positiv eingestuft. Bezeichnend für diese Gruppe von Schülern war, daß sie sich als autonom empfanden, wenn sie andere zu Unterlegenen machten. Autonomie war also bei ihnen und für sie zu allem anderen als Autonomie geworden.
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Sie stellten nicht ihr Selbst, ihre eigenen Gefühle und Wahrnehmungen in den Mittelpunkt ihres Wollens, sondern suchten sich andere, gegen die sie kämpfen konnten — sie suchten sich Gegner. Im Namen ihrer Autonomie unterdrückten sie also andere, und sie bemerkten dabei nicht, daß das Motiv ihres Handelns ein umfassendes Bedürfnis nach Bestätigung durch Autoritätspersonen war. Die Angst, nicht zu genügen, zu versagen, den Wünschen der Eltern oder anderen Leitfiguren nicht zu entsprechen, hatten sie ins Unterbewußte verdrängt.
So verhält es sich auch mit unserer Vorstellung von Realität. Realitätssinn ist nicht die Wahrnehmung der Wirklichkeit, wie sie ist, sondern die Anpassung an die Verhaltensnormen einer Gesellschaft, die sich über das Wesen der Liebe selbst belügt und die diese Lüge zur Wahrheit erhoben hat. Menschen, die sich dagegen auflehnen, werden für psychisch krank gehalten.
Wir befinden uns in einem Teufelskreis: Menschen, deren Identität verformt ist, weil sie ihr Lebendigsein eingebüßt haben, können ihre Kinder auch nicht in der ihnen eigenen Lebendigkeit wahrnehmen und sie demzufolge auch nicht auf ihre Kinder zurückspiegeln. Doch ein Kind bedarf dieser Rückkoppelung — zuerst der Mutter, später des Vaters —, um sich selbst erleben und ein autonomes Selbst ausbilden zu können. Dieser Prozeß ist in wissenschaftlichen Studien schon oft beschrieben worden (u.a. bei Pawl 1995), ohne als solcher erkannt worden zu sein.
Es ist nicht einfach, den Prozeß der Entstehung eines autonomen Selbst zu beschreiben. Die Selbstfindung eines Kindes hat zunächst eine unmittelbare Verbindung zur Mutter und zum Vater als Voraussetzung. Ein Kind kommt zur Welt mit bestimmten Bedürfnissen und Reaktionsmöglichkeiten auf sich und seine Umwelt (Stern 1992, Dornes 1993, Gruen 1969,1974,1986,1993). Diese Umwelt entsteht aus der Interaktion zwischen Eltern und Kind und ist geprägt von der Qualität der Stimuluswerte, die in diesem engen Beziehungsgefüge vorherrschen, das heißt der Anwesenheit von »sanften«, also relativ niedrigen Stimuluswerten. Sind die Reaktionen der Eltern adäquat, dann sind die Stimuluswerte relativ sanft, und der Säugling kann sich intensiv seiner Umwelt zuwenden. Gehen die Eltern dagegen nicht auf ihr Kind ein und formen sie es entlang ihren eigenen Bedürfnissen und Vorstellungen, ist die Umwelt des Säuglings geprägt von hohen Stimuluswerten, die von intensiven Gefühlen wie Ablehnung, Verzweiflung und Wut herrühren.
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Schneirla (1959) zeigt in seinen Forschungsarbeiten, daß sich nur bei sanften Stimuluswerten die menschliche Fähigkeit zum Integrieren und Wachsen entwickelt. Eine Mutter, die ihr Kind vor Reizüberflutung schützt, fördert die Entwicklung seines Selbst wesentlich. Denn nur unter sanften Bedingungen vermag das Kind Verbindungen herzustellen zwischen relevanten Reizen und der inneren Bereitschaft, darauf zu reagieren. Auch Füllers (1967) Arbeit über Reizverminderung bezieht sich auf diese Interaktion: Er zeigte, daß Lernen nur dann möglich ist, wenn man sich in einer Lebenssituation, also einer Stimulussituation, auf deren wesentliche Elemente konzentrieren und andere Elemente ignorieren kann. Denn das ist das Essentielle beim Lernen des Eigenen. Dieses kommt nur zustande, wenn die innere Reaktionsbereitschaft den ihr entsprechenden auslösenden Stimulus findet. Hingegen kommt es nicht zustande, wenn die innere Reaktionsbereitschaft keinen entsprechenden auslösenden Reizstimulus finden kann.
Adäquates mütterliches Verhalten ermöglicht ein Lernen, das mit inneren Prozessen verbunden ist. Eine Mutter, die ihr Kind intuitiv vor Reizüberflutung schützt, legt in ihm den Grundstock, aus dem eigenen Selbst heraus zu lernen. Wenn die Mutter oder der Vater nicht dazu in der Lage sind, wird das Bewußtsein des Kindes entweder von der Erfahrung der Hilflosigkeit beherrscht, oderdas Gefühl des Ausgeliefertseins wird verdrängt und von dem sich bildenden Selbst abgespalten. Wenn das geschieht und wenn die Umwelt daraufhin zu eirfer umfassenden Bedrohung für das Kind wird, dann kann das Kind nur noch mit Angst auf diese Umwelt reagieren.
Die Angst wiederum führt öfter dazu, daß die Erfahrung der Hilflosigkeit und das empathische Vermögen ausgeschaltet werden, da beides von der Umwelt geleugnet wird. Auf diese Weise werden ganze Teile des sich entwickelnden Menschseins vom Bewußtsein abgespalten. Um diese Spaltung dann aufrechtzuerhalten, müssen Hilflosigkeit, Schmerz und Mitgefühl zu Objekten des Hasses und der Ablehnung werden. Bei diesem Prozeß wird die innere Welt völlig ausgeschaltet. Bewußtsein wird dabei zu einem nach außen hin ausgerichteten »Realitätssinn«.
Piaget hat erkannt, daß ein Reiz nur dann wirklich von Bedeutung ist, wenn er einem inneren Schema entspricht (Flavell 1963). Davis (1957) hat den Vorgang, in dem eine Reaktion ihren Stimulus »sucht«, experimentell belegt. In einer von Reizüberflutung und Angst beherrschten Welt bleiben solche Vorgänge allerdings aus und machen ein inneres Lernen unmöglich. Denn eine solche Entwicklung mündet in ein Selbst, das völlig von geleugneter Angst, mithin Unterwerfung — oder, anders gesagt, Identifizierung mit dem und Idealisierung des Aggressors — bestimmt ist. Es entsteht das »falsche Selbst«, wie es R. D. Laing (1987) beschrieben hat.
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Das Bewußtsein ist von der Art der Entwicklung des Selbst abhängig: Die existentielle Not unserer Einsamkeit
Seine ersten Erfahrungen über sich und die Welt erhält ein Kind über den taktilen, visuellen und kinästhetischen Kontakt mit seiner Mutter. Wenn ein Neugeborenes direkt nach seiner Geburt auf den Bauch der Mutter gelegt wird, wird es sich hochstemmen und ihr in die Augen schauen. Wird es jedoch zuvor erst gewaschen und entfällt diese allererste Kontaktaufnahme, dann entsteht eine Beziehung gleicher Qualität erst nach einem viel längeren Zeitraum (Welch 1994).
Das In-Kontakt-Treten des Säuglings mit seiner Umwelt geschieht unmittelbar mit und durch die Mutter. Erikson (1958) nannte diesen Vorgang »passive Aufnahmefähigkeit«, und er sah darin die früheste und zugleich am meisten vernachlässigte menschliche Erfahrung. Eriksons Begriff besagt, daß die Mutter das Setting ist (unter »Setting« versteht man das Umfeld, das Entwicklung benötigt), in dem ein Kind ein Gefühl dafür entwickelt, wer es ist, ein Gefühl für sein Selbst. Von grundlegender Bedeutung ist dabei auch, daß das Kind sich als jemand erlebt, der für diesen anderen Menschen Bedeutung hat. Denn ein Kind muß das Gefühl von Bedeutung haben, um überleben und weiterleben zu können. Seine Existenz hängt davon ab, wie es sich diese Bedeutung sichern kann.
So gesehen, entwickelt sich die kindliche Sinngebung des eigenen Lebens spiegelbildlich zur mütterlichen Sinngebung seines Lebens. Das Kind schließt den Sinn und die Bedeutung seines Lebens aus der Bedeutung, die es für seine Mutter hat. Deshalb hängen die Möglichkeit und die Art Entwicklung von der Bereitschaft der Eltern ab, ihm diese auch zuzugestehen. In jedem Fall ist der Weg der Selbstwerdung begleitet von Kummer, Angst und Gefahr. All dies muß durchlebt werden, und auch hier spielt die Bereitschaft der Mutter, später auch des Vaters, das Kind auf diesem Weg zu begleiten, eine große Rolle. Nur mit einer liebenden Begleitung kann ein Kind sich später auch von den Eltern trennen und sich zu einem autonomen Menschen entwickeln.
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Hier das Beispiel eines Kindes, dessen Ringen um sein eigenständiges Selbst von Anfang an von seinen Eltern unterstützt wurde. Das Beispiel zeigt auch, wie ungleichförmig und von Rückschlägen geprägt diese Selbstwerdung ist, weil Kinder immer verschiedene Möglichkeiten ausprobieren. Die vierjährige Zoe fragt ihre Mutter, ob sie Angelika zum Spielen einladen dürfe. Ihre Mutter fragt: »Wer ist Angelika?« — »Du kennst sie.« — »Meinst du die Angelika aus der >Sesamstraße<?« — »Nein.« — »Im Kindergarten ist auch keine Angelika. Wen meinst du also?« — »Das solltest du wissen.« — »Zoe, ich kann keine Gedanken lesen. Als du ein Baby warst und geschrien hast, da wußte ich, daß ich dich wickeln oder füttern oder ins Bett legen muß. Aber jetzt denkst du dir was, und deine Gedanken kann ich leider nicht lesen.« Nach einer kurzen Pause erwidert Zoe: »Du meinst, wenn ich mich jetzt auf den Boden werfe und rumkreische wie ein Baby, dann wirst du wissen, wer Angelika ist?«
Hier ist die Komplexität des Selbstwerdungsprozesses erkennbar. Obwohl sich Zoe zu einem eigenständigen Menschen entwickelt, versucht sie, an ihrer früheren Verbundenheit mit ihrer »allwissenden« Mutter festzuhalten. Einerseits arbeitet sie an der Trennung von ihr, besteht aber andererseits zugleich auf der alten Verbundenheit, welche ja entstanden war aus dem Verständnis ihrer Mutter für ihre Bedürfnisse. Zoe muß jedoch etwas aufgeben — die Unmittelbarkeit der Verbundenheit mit ihrer Mutter —, um zu erfahren, daß sie zwar in gewisser Hinsicht allein ist, aufgrund dieses Alleinseins aber auch etwas empfangen und darüber hinaus auch etwas geben kann. Und all das ohne Angst.
In gewisser Weise erreicht man ein eigenes Selbst durch einen Prozeß, der immer wieder unterbrochen wird, um neue Integration zu ermöglichen. In diesem Sinn ist dieser Vorgang eine Abfolge von Stufen (»discontinuities«), das heißt von voneinander getrennten und in sich abgeschlossenen Entwicklungsperioden. Alle diese Perioden beinhalten das Ausprobieren des Alleinseins als zentrales Anliegen. Wenn das Alleinsein jedoch schon immer mit dem terrorisierenden Gefühl des Nichtseins verbunden war, weil die Mutter ihrem Kind weder ein Feedback gab noch ihm bei seinen ersten Schritten in die Welt ein Gefühl von sicherem Geborgensein vermitteln konnte, dann wird, was Autonomie sein sollte, ein Zustand, der von Terror und Wut begleitet ist. Das macht Alleinsein unmöglich.
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Eine Patientin war nicht in der Lage, das Bedürfnis ihres Sohnes, die Welt zu entdecken, zu tolerieren oder gar zu unterstützen. Diese Unfähigkeit führte zu einem Bruch in ihrer Beziehung, den das Kind nicht überwinden konnte. Der Junge wuchs in einer Atmosphäre von Streit und gegenseitiger Verachtung seiner Eltern auf, für seine Mutter war er jedoch zunächst das Objekt großer Liebe. Als er an seinem ersten Geburtstag vor allen Gästen plötzlich von seiner Mutter wegkrabbelte, begann diese ihn zu hassen. Danach reagierte die Patientin entweder überschwenglich liebevoll auf ihr Kind oder kalt und mit feindseliger Wut. Als er schließlich gänzlich abhängig von ihr wurde, haßte sie ihn deswegen, weil er nun ihr keine Freiheit mehr ließ. In seiner Pubertät wurde der Junge schizophren.
Im Fall einer anderen Patientin kam die Mutter ebenfalls nicht mit dem Streben ihrer Tochter nach Autonomie, die sich in wachsender Aufmerksamkeit und Verständigkeit zeigte, zurecht. Die Mutter konnte diese Entwicklung weder verstehen noch nachvollziehen, worauf die Tochter sich zunächst minderwertig, dann schuldig, deprimiert und leer fühlte. Zuvor hatte sich die Patientin als in den Augen ihrer Mutter wertvoll und liebenswert erlebt. Jetzt erlebte sie sich als jemand, der die Gefühle ihrer Mutter aufzehrte, sie aussog, und sie verurteilte sich dafür. Dann aber begann sie, ihre Mutter abzulehnen, fühlte sich jedoch gleichzeitig verlassen und hilflos. Hier entwickelte sich eine Art von Autonomie, in der Unabhängigkeit zugleich von verminderter Spontaneität und reduziertem Einfühlungsvermögen gekennzeichnet war. Auch das Empfinden von Mitgefühl und Schmerz war in dieser abwehrenden Autonomie nur schwach ausgebildet.
Erkennen wir die Dialektik des Autonomwerdens, dann vermögen wir auch zu sehen, wie dieser Prozeß zu einem Bewußtsein führen kann, das der Realität der Macht ergeben und deshalb zerstörerisch ist, ohne daß dies jedoch bewußt ist. Was Eltern an ihre Kinder weitergeben, ist eine sich selbst produzierende Realität, geschaffen von einer sich selbst produzierenden Lernweise, die das Empathische ausschaltet. Eltern sind nicht bereit, ihre Machtposition gegenüber ihren Kindern aufzugeben, da sie dieses Gefühl von Allmacht zur Kompensation ihres gestörten Selbstwertgefühls benötigen.
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Dieser Vorgang führt zu einer eigentlichen Fehlentwicklung im Menschsein. Wie schon im Vorwort gesagt, ist das Resultat ein Menschsein, gefangen in Emotionen, welche, losgelöst von ihren eigentlichen Ursprüngen, zu diskontinuierlichen Erfahrungen verkümmern.
Wenn ein Kind trotz allem an der Macht der Eltern rüttelt, wird es mit Liebesentzug bestraft. Also muß es sich unterordnen. Dadurch entsteht aber eine Grundspaltung, die kennzeichnend für unsere Kultur ist: einerseits der Wunsch nach Verbundenheit mit wahrhaft liebenden Eltern, andererseits der Haß auf sie. Diese widersprüchlichen Emotionen existieren nebeneinander, aber ohne ein Bewußtsein für dieses Nebeneinander.
Indem unsere Kultur Feindbilder erlaubt und fördert, lenkt sie von dieser Spaltung ab und erhält sie zugleich aufrecht. Das Potential für destruktive Wut bleibt bestehen. Das Schlimme daran ist, daß unsere Aggression in erster Linie mit unserer ambivalenten Gefühlswelt zu tun hat und dazu dient, dieses uns bestimmende Bewußtsein zu verteidigen. Und noch verheerender ist, daß keiner von uns davon frei ist, selbst wenn er sich dagegen auflehnt. Dieses Bewußtsein, das so stark von der Identifikation mit Autorität bestimmt ist, ist nicht leicht zu revidieren.
Der Geschlechterkampf als Ausdruck eines unzulänglichen Selbst
Niemand möchte wahrhaben, daß sein Selbst von Ängsten bestimmt und darauf ausgerichtet ist, ständig Feinde außerhalb zu suchen, um damit seine eigene Unzulänglichkeit zu vertuschen. Auch der Kampf der Geschlechter ist Ausdruck einer solchen verfälschten und verzerrten Aggression gegen andere.
Anstatt die eigentliche Ursache unseres Unbehagens, unsere Gefühle von Unzulänglichkeit, Hilflosigkeit, Leid, Verzweiflung und Angst, als Grund für unsere Aggression zu erkennen, projizieren wir dies auf die vermeintliche Rivalität von Mann und Frau. Wieder einmal gehen wir davon aus, daß für uns die Notwendigkeit besteht, uns zu wehren, und diesmal wehren wir uns gegen die Herrschaft des jeweils anderen Geschlechts.
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Die Männer tarnen mit diesem Kampf der Geschlechter ihre Angst vor dem Lebendigen, dem Schmerz und dem Leid. Das Weibliche in ihnen, das mit dem Lebendigen verbunden ist, wird dadurch abgetan, verachtet. Ebenso lehnen Frauen, die sich mit dem Mythos, nur Männer hätten Kraft, Stärke und Macht, identifiziert haben, ihre eigene Weiblichkeit ab. Für manche von ihnen wird das dergestalt reduzierte Selbst des Mannes zum Ideal. Solche Frauen verherrlichen Macht und verachten — meist unter dem Banner der Gleichberechtigung — ihre Weiblichkeit.
Das Weibliche, das Frauen wie Männern eigen ist und das sie deshalb eigentlich vereint, wird im Kampf der Geschlechter zum Trennenden. Es wird mißbraucht, um die Spaltung in »männlich« und »weiblich« zu untermauern. Männer und Frauen kämpfen lieber gegeneinander, statt gemeinsam gegen das anzukämpfen, was sie wirklich zerstört.
Mit ihrer Verachtung der Weiblichkeit schränken sich Männer in ihrem Selbst ein. Außerdem wird jeder Mann, der das Mütterliche in sich hat, bei Männern und Frauen, die dieses reduzierte Bewußtsein haben, als Schwächling eingestuft. Diese Sichtweise und somit auch das reduzierte und verengte männliche Selbst wird jedoch weitergegeben und verfestigt sich.
Shakespeares <Hamlet> als Kommentar über das reduzierte Bewußtsein des Mannes
Daß dieses Problem auch in der Weltliteratur vorkommt, belegt der amerikanische Schriftsteller George Trow (1992) in seiner tiefgreifenden Deutung des Hamlet-Monologs »Sein oder Nichtsein«.
Dieser Monolog gibt selbst Shakespeare-Kennern immer wieder Rätsel auf. Dieser Monolog berührt uns seit Jahrhunderten, obwohl er sich direktem Verstehen offenbar verschließt. Also muß er uns so stark berühren, weil Shakespeare offenbar hier sehr stark mit Zweifeln, die in uns allen sind, verbunden war. Im Theater stellt Shakespeare unsere Konflikte dar, indem ein Schauspieler sie ausspricht. Dadurch können wir sie erleben, ohne daß wir uns ihnen selbst stellen müssen.
Trow schreibt, daß der Sinn von Hamlets Monolog genau den Vorgang beschreibe, bei dem eine sich entfaltende Welt mit einem verengenden, reduzierten Bewußtsein konfrontiert wird. Es geht genau um diese Widersprüchlichkeit des uns reduzierenden Bewußtseins mit unseren eigenen empathischen Möglichkeiten.
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Shakespeare, so Trow, konfrontiert uns mit einem Dilemma von Hamlet: Auf der einen Seite steht das männliche Bewußtsein der Ehre, auf der anderen das erweiterte Bewußtsein, »in welchem Ehre nicht mehr geehrt wird«. Dieses erweiterte Bewußtsein entspricht dem lebensbejahenden weiblichen Bewußtsein.
Das Männliche, das reduzierte Bewußtsein, ist im Monolog das »Sein« — diese Alternative bedeutet, das Weibliche (im Monolog das »Nichtsein«) als Schwäche zu verwerfen.
Hier geht die Verwirrung bereits los: Eigentlich bedeutet (ich werde später noch einmal darauf hinweisen) »Sein« ja eher den umfassenderen Begriff — Shakespeare benutzt ihn hier eher in der Bedeutung »Mannsein«. Das »Nichtsein« dagegen ist das eigentlich umfassendere weibliche Prinzip des Denkens: Es bedeutet Einfühlungsvermögen und Menschlichkeit.
Im Drama wird von Hamlet eine sehr »männliche« Handlung von seinem Vater verlangt: Er soll seinen Onkel töten. Aber, so schreibt Trow, »Hamlet muß sich bewußt sein, daß die Rituale, die sein Vater zu befolgen fordert, sehr primitiv sind. Zudem weiß er, daß er selbst viel eher seinem Onkel gleicht als seinem Vater. Aber etwas in Hamlet sagt ihm zugleich, daß er dieses Ritual (der Rache) vollziehen muß.«
Bei Shakespeare:
Sein oder Nichtsein, das ist hier die Frage:
Ob's edler im Gemüt, die Pfeil und Schleudern
Des wütenden Geschicks erdulden oder,
Sich waffnend gegen eine See von Plagen,
Durch Widerstand sie enden?
Sterben, schlafen — Nichts weiter!Trow schreibt dazu:
»Eigentlich würde man nach der Fragestellung <Sein oder Nichtsein> eine mehr oder minder rationale Debatte beider Alternativen erwarten — dies genau geschieht jedoch nicht.
Tatsächlich entsteht eine Anordnung von Worten, die in Wahrheit nur ein Ziel zu haben scheinen: eine Erkenntnis zu vermeiden, vor der wir alle Angst haben.
Dies ist die Erkenntnis des Defizits all der uns gemeinhin verborgenen Informationen, die wir benötigen würden, um mit uns selbst in volle Übereinstimmung zu gelangen.«
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Wenn wir dieses Defizit durch den Begriff »reduziertes Bewußtsein« ersetzen, sehen wir sofort, daß die Analyse Trows direkt dem entspricht, was ich oben postuliert habe. Das Defizit beinhaltet auch alle Informationen darüber, was mit uns allen geschah, um das Bewußtsein zu verengen — damals, als wir uns dem Aggressor anpaßten, um zu überleben.
Im Schauspiel selbst treibt Shakespeare den Konflikt so weit, daß Hamlet schließlich verzweifelt und vom Sterben redet und — am Ende, etwas weniger verzweifelt — vom Schlafen. Dies drückt aus, welche Schmerzen uns die Konfrontation mit unserer tiefsitzenden Angst, der Erkenntnis unseres reduzierten Selbst, bereitet.
Während des Rests des Monologs quatscht Hamlet fast sinnlos vor sich hin, so Trow: »Dies ist jetzt seine Art, die tiefste Angst zu entmachten.«
Am Ende erkennt Hamlet sogar, daß er Quatsch redet, er sagt: »So macht das Gewissen Feiglinge aus uns allen«, er ist an dem Kern des Problems gescheitert.
Uns vermittelt der Monolog, daß man erst dann sprechen kann, wenn man sich dem Entsetzlichen stellt. Das ist der Kern von Trows Deutung von Hamlets Monolog.
Shakespeare kommentiert also im Grunde die Spaltung in unserem Bewußtsein, die das Empathische vom abstrakten männlichen Gedankengut trennt. Das Männliche ist das reduzierte Bewußtsein. Es blockiert unser Leben, indem es darauf besteht, daß das Weibliche Schwäche ist. Damit verwirft der Mann das erweiterte Bewußtsein, das auf Zuwendung und Einfühlen basiert, verunglimpft das, was ihn retten, ihn wieder zum Menschen machen könnte. Der Kampf der Geschlechter ist die Folge dieses männlichen Bewußtseins, nicht ein von Natur gegebener Zustand. Würde diese Spaltung überbrückt, so Trow, könnten wir wirklich sprechen lernen. Bis dahin aber können wir auch kaum Sprache wahrnehmen, die uns nicht reduzieren würde.
Dies verweist uns nach der Analyse von Shakespeares Schauspiel auf ein weiteres Problem: Sprache und Wahrnehmung sind eng verbunden. Sprache selbst erweitert oder reduziert. Sie ist wie ein Organ unserer Wahrnehmung, das unseren Realitätsbezug prägt.
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