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 4  Sprache, Bewußtsein und die linke und rechte Gehirnhemisphäre

 

 

 

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Unsere sprachliche Kommunikation hat immer einen Kontext. Dieser Kontext ist zuallererst eine emotional geprägte Interaktion zwischen Mutter und Kind, die später durch das gesellschaftliche Netz ersetzt wird. Die meisten Theorien über Sprachentwicklung ziehen den emotionalen Aspekt gar nicht in Betracht. Sie gehen davon aus, daß Sprache realitätsbezogen ist und daß ihre Entwicklung von rationalen Prozessen gesteuert wird. Dadurch wird das Bewußtsein, das George Trow <Nicht-Sein> genannt hat, ausgeschaltet. 

So können wir nicht wahrnehmen, daß Sprache selbst ein Wahrnehmungsorgan ist und bei uns die männliche Ideologie vertritt. Carol Gilligan weist in ihrem Buch <Die andere Stimme> (1988) darauf hin, daß unsere Sprache keine Entsprechung für die Strukturen des weiblichen Selbstgefühls hat. 

Daß auch die Entwicklung unserer Sprache sehr früh von unserem reduzierten Bewußtsein abhängig ist und wie subtil dies vor sich geht, lassen die Forschungen von Tomatis (1987) erahnen.

Unser Gehör ist schon im vierten Schwangerschaftsmonat funktionsfähig. Spätestens im letzten Drittel der Schwangerschaft hört das Kind die Stimme seiner Mutter (Locke 1994). DeCasper und seine Mitarbeiter (1980) fanden heraus, daß das Neugeborene schon in den ersten drei Tagen seines Lebens nicht nur die Stimme seiner Mutter von der anderer Menschen unterscheidet, sondern daß es auch versucht, sie durch Mundbewegungen beim Saugen zurückzuholen.

Reagiert nun eine Mutter auf die Bedürfnisse ihres Kindes, wird es von Anfang an merken, daß es in einem Austausch zu seiner Welt steht, daß es etwas in Gang bringen, daß es lenken und mitbestimmen kann. Die Entwicklung seiner Sprache und seines Selbst vollzieht sich miteinander.

Töne, Rhythmen, die Emotionen seiner Mutter, ihre Erwartungen und korrespondierende Reaktionen bilden das Setting der Sprachentwicklung des in seinem Selbst sich entfaltenden Kindes. Wenn aber seine Umwelt, und das ist in erster Linie seine Mutter, nicht genügend auf das Kind eingeht, wird sich sein Bewußt­sein verengen und seine Sprachfähigkeit entsprechend eingeschränkt sein.

Dies geschieht dann, wenn die Mutter das reduzierte männliche Bewußtsein übernommen hat und nur in diesem beengten Rahmen agieren kann. Auch neuere Forschungs­ergebnisse zeigen deutlich, daß ein Erlernen von Sprache eingebettet ist in die frühesten zwischenmenschlichen Erlebnisse des Kindes (Saffran, Aslin und Newport 1996, Bates und Elman 1996).

Wir wissen seit mehr als einem Jahrhundert, daß ein Erwachsener aphasisch wird, wenn seine linke Gehirnhälfte verletzt wurde. Aphasie heißt Verlust des Sprechvermögens, er wird also Wörter weder finden noch aussprechen können. Das Sprachzentrum des erwachsenen Menschen ist meist in der linken Gehirn­hemisphäre angesiedelt. Bei Kleinkindern ist das noch nicht so. Die Asymmetrie tritt erst zwischen dem 3. und 7. Lebensjahr auf.

 

Die rechte Gehirnhälfte wird in der Forschung der letzten Jahrzehnte als zuständig für die Integration der Gefühlserlebnisse, die linke als zuständig für das logische Denken, den präzisen Ablauf von Bewegungen und auch die Ausschaltung des direkten Affekts betrachtet. Deshalb ist es auch nicht verwunderlich, daß wir auf der linken Seite unseres Gesichts, das neurologisch von der rechten Gehirnhälfte bedient wird, mehr Emotionen zeigen als auf der rechten (Locke 1994). Die Nerven, die diese Gesichtsmuskeln unter anderem kontrollieren, verlaufen von der rechten Gehirnhälfte zur linken Seite des Körpers, umgekehrt verlaufen die Nerven von der linken Gehirnhälfte zur rechten Seite des Körpers.

Wenn aber vor dem 2. Lebensjahr die rechte Gehirnhemisphäre verletzt wird, dann verursacht dies größere Beeinträchtigungen im Sprachverständnis als Verletzungen der linken Gehirnhemisphäre. Dies ist zunächst ein überraschender Gegensatz zu dem, was beim Erwachsenen passiert: Es muß bedeuten, daß die allmähliche Differenzierung der beiden Hemisphären eher mit der fortschreitenden Entwicklung des Individuums zusammenhängt und nicht mit einem vorprogrammierten, immer gleich ablaufenden organischen Prozeß. Bei der Verlagerung unserer Gehirnaktivitäten in die linke beziehungsweise die rechte Hemisphäre muß also das vorherrschende reduzierende männliche Bewußtsein einen Einfluß ausüben.

Hier muß das in Gang kommen, von dem wir kein direktes Bewußtsein haben, das aber mit der Sprachentwicklung und mit der die Sprache formenden Bewußtseinsentwicklung synchron einhergeht. Ich glaube, daß es die Sprachentwicklung in unserer Kultur ist, die von Anfang an unseren Affekt von unserem Denken trennt. Doch diesen Vorgang herauszuarbeiten fällt nicht leicht. 

Ich will es dennoch versuchen.

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Edward Sapir schrieb im Jahr 1929, daß Sprache nicht nur dazu diene, Erfahrungen zu kommunizieren, sondern auch dazu, Erfahrungen zu definieren (Hoijer 1954). Benjamin Lee Whorf (1958) hat die Sprache sogenannter »primitiver« Völker betrachtet und herausgefunden, daß primitive Sprachen Konzepte beinhalten, die unsere wissenschaftlichen Kategorisierungen der Welt bereichern könnten. So hat seine Analyse der Hopi-Sprache, also der Sprache amerikanischer Plains-Indianer, ergeben, daß diese Sprache keine Wörter oder grammatikalischen Konstrukte für »Zeit«, »Vergangenheit« und »Zukunft« hat, und zwar in dem Sinn, in dem wir diese als universelle Gegebenheiten annehmen. Trotzdem kann diese Sprache alle zu beobachtenden Phänomene berücksichtigen, allerdings auf einem pragmatischen und operativen Weg.

»Die Hopi verwenden ihre Begrifflichkeit von Zeit und Bewegung (...) in einem operativen Sinn (...), so daß das Element Zeit nicht getrennt wird vom Element Räumlichkeit und damit in den beobachteten Vorgang eingebunden ist (...) Sie wandeln stets unsere Begriffe von Dingen in Begriffe von Ereignissen um.« (Hoijer 1954)

Hier wird die Rolle eines sich entwickelnden Bewußtseins via Formung von Sprache deutlich. Anstatt sich — so wie wir das tun — sprachlich auf eine abstrakte Ebene zu begeben, auf der wir die Bewegung, das Dynamische eines Vorgangs auf Dinge reduzieren, drückt die Sprache der Hopi die Verbindung zu den Gefühlen aus, die sie in Zusammenhang mit einem bestimmten Ereignis erlebt haben. Ihre Sprache treibt sie nicht von ihren Gefühlen weg, im Gegen­satz zu unserer Sprache, die alles verdinglicht.

Die Anthropologin Dorothy Lee sagt Ähnliches über die Trobriand-Inselbewohner im Pazifischen Ozean (1944). Sie beschreibt, wie in der Wintu-Gesellschaft die Ganzheit, nicht der Teil als Gegebenheit betrachtet wird. 

»Für die Wintu (...) ist die Substanz oder Qualität (eines Phänomens) ein Merkmal für seine Naturhaftigkeit; es ist permanent und nicht vom Menschen beeinflußt. Die Form der Dinge dagegen ist von Menschen aufgesetzt durch einen Akt des Willens (...) Das Partikulare (...) existiert im Bewußtsein des Sprechers, nicht in der Natur. Was für uns den Charakter von Klasse, von Pluralitäten, von Einzelheiten hat, ist für die Wintu eine Masse oder eine Qualität oder eine Eigenschaft.«

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Das Individuum ist für die Wintu ein differenzierter Teil der Gesellschaft, für uns hingegen besteht Gesellschaft aus einer Vielzahl von einzelnen, die undifferenziert eine gesellschaftliche Totalität, eine Einheit, bilden — und beide Betrachtungsweisen drücken sich im jeweiligen Sprachgebrauch aus.

Die geradlinige Kodifizierung der Realität in unserer Sprache trennt Dinge voneinander (Lynd 1958). Das Abgetrennte vermögen wir aber nicht mehr zu sehen und deshalb auch nicht auszudrücken, so daß Probleme auftreten, wenn wir Teile zu einem Ganzen integrieren wollen.

Schachtel (1959) zeigt in einer Studie über Kindheitsamnesie und Gedächtnis, wie sich dies auf unsere Sprache auswirkt. Frühe Kindheitserinnerungen werden vergessen, nicht weil sie mit sexuellen Wünschen verbunden waren und deswegen unterdrückt werden mußten, sondern weil der Sozialisierungs­prozeß dem Kind eine Sprache gibt, die diese Erinnerungen nicht einbeziehen kann. Unsere Sprache hat keine Wörter für die Erlebnisse während unserer frühesten Kindheit. 

»Je mehr das Kind sozialisiert wird, desto weniger wird es ihm möglich, in jene umfassend gemachten Erlebnisse einzusteigen, die ihm früher offenstanden, da die herkömmlichen verbalen Kategorien nicht dafür geeignet sind.«

Man könnte deshalb konstatieren, daß während der Kindheitsamnesie jene Vorgänge aus unserem Blickfeld verschwinden, die eine Gesellschaft unterdrückt. Und dies sind nicht vermeintliche sexuelle Konflikte, sondern es ist etwas viel Grundsätzlicheres: Ein reduzierendes Bewußtsein versperrt uns die umfassende Wahrnehmung der Realität, und zugleich wird dieses Bewußtsein durch die Spaltung unserer Erlebnisse weitergegeben. Der Gestaltpsychologe Martin Scheerer (1959) hat dies experimentell belegt. Unter Hypnose konnten Kindheitserinnerungen erst dann zurückgebracht werden, als die erlebten körperlichen Wahrnehmungen hervorgerufen wurden. 

Albert Einstein (1971) kommentierte diesen Prozeß ebenfalls, aber aus einer anderen Blickrichtung, als er nämlich über seine Sprachschwierigkeiten als Kind befragt wurde. Er sagte, daß er, weil er nicht habe sprechen und deshalb auch nicht mit der erwachsenen Welt habe kommunizieren können, an seinen eigenen kindlichen Wahrnehmungen habe festhalten können. Die Welt unbeeinflußt von der Logik der Erwachsenensprache mit seinen eigenen Augen sehen zu können, führte zur Formulierung der Relativitätstheorie.

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Colin Wilson (1956) bestätigt in seiner Studie über den Outsider, den Künstler, was Schachtel und Einstein beschrieben haben. Indem der Künstler an seiner empathischen Wahrnehmung festhält, vermag er zu den verlorenen, ins Abseits geratenen, durch Abstraktionen verdrängten Erlebnissen und so zu sich selbst gefühlsmäßig vorzudringen. Da der Künstler aber zugleich unsere Sprache spricht, kann er uns auf sublime Weise zu dem zurückführen, was wir aus unserem Bewußtsein abgespalten haben, und uns so ein Gefühl von Ganzheit und Erfüllung geben, ohne dabei die negativen Gefühle zu berühren, welche die Spaltung begleitet haben. Man denke etwa nur daran, wie uns Hamlets »Sein oder Nichtsein« berührt.

Wir glauben im allgemeinen, daß Säuglinge die Bedeutung von Wörtern gar nicht erfassen können und daß es deshalb nicht möglich ist, die Wahrnehmungen während der frühesten Kindheit sprachlich auszudrücken. Tomatis hat demgegenüber herausgefunden, daß Sprache sich schon im Mutterleib formt. Kindertherapeuten wie Dolto (1988, 1989), Eliacheff (1994) und Stork (1994) stimmen darin überein, daß Kinder von Geburt an auf den Sinn der Worte von Erwachsenen reagieren können. Elisabeth Bates und ihre Mitarbeiter (zitiert bei Locke 1994) haben durch Experimente belegt, daß Säuglinge mit acht Monaten Wörter und Sätze verstehen, lange bevor sie selbst sprechen können und die Regeln und Abstraktionen der Sprache meistern.

In der entscheidenden Periode der Wahrnehmungsentwicklung organisiert sich das Gehirn entsprechend der Verteilung der Funktionen des abstrakten Denkens und der empathischen Wahrnehmung in eine linke und eine rechte Gehirnhemisphäre. Davidson und Fox (1989) haben nachgewiesen, daß schon im zehnten Lebensmonat das Gehirn sich so weit organisiert hat, daß Trauer und Freude verschieden verarbeitet werden. Zehn Monate alte Säuglinge zeigen deutlich unterschiedliche linke und rechte frontale Gehirnreaktionen, wenn sie mit einem traurigen beziehungsweise mit einem fröhlichen Gesichtsausdruck konfrontiert werden. Während sich die beiden Gehirnhälften bei der Stimulation von Trauer nicht in ihren Aktivitäten unterscheiden, ruft Freude eine größere linke Aktivität hervor. 

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Kinästhetisch drückt sich Freude in vermehrter Muskelaktivität aus (beim Lachen werden die Arme nach außen bewegt, auf das die Freude auslösende Objekt zu, auch die Atmung wird tiefer), und dies wirkt als stärkere Mobilisierung zurück auf die linke Gehirnhälfte, die für die Kontrolle der Muskeln verantwortlich ist. Bei Trauer hingegen nehmen die körperlichen Bewegungen ab. Denn Trauer ist eher ein innerer Vorgang. 

In diesem Zeitraum nun beginnt die Spaltung in unserem Bewußtsein — sie wird noch dadurch verstärkt, daß das männliche Bewußtsein sich in nach außen gerichteten Körperbewegungen (dominieren, erobern) ausdrückt. Zusätzlich verstärkt wird die Spaltung dadurch, daß das männliche Bewußtsein Leid und Schmerz negiert. Als Folge davon verlagern sich die Gehirnaktivitäten in die linke Hemisphäre, die dann auch unser Wahrnehmungsvermögen dominiert. Wir werden unsere gefühlsbetonten Wahrnehmungen ins Unterbewußte verdrängen, wenn sie als »weiblich« verunglimpft werden. Und mit der Zeit werden alle nach innen gerichteten Wahrnehmungen wie Mitgefühl und Trauer einen immer geringeren Stellenwert für uns haben. 

Wenn darüber hinaus das männliche Bewußtsein Angst, Terror, Verzweiflung und unerträgliche Hilflosigkeit im Kind erzeugt, dann verengt sich unter diesem Druck das Wahrnehmungs­potential noch zusätzlich. Dann wird unsere Wahrnehmung immer mehr auf die linke Gehirnhemisphäre beschränkt sein, auf jenen Ort also, wo das Emotionale nicht vermittelt wird. Unser ehemals umfassendes Bewußtsein existiert dann zwar weiter, aber »im Untergrund« des Unterbewußten. Je mehr Druck auf einem Kind lastet, Angst und Terror wegzusperren, desto höher ist der Grad der Unterbewußtheit und desto weniger wird die rechte Gehirnhemisphäre mit ihren Wahrnehmungsmöglichkeiten ein Teil des Bewußtseins dieses Kindes sein.

Die fortschreitende Spaltung des Bewußtseins bringt nicht nur Änderungen in der Wahrnehmung mit sich — wir nehmen nur die Dinge wahr, die wir vom Abstrakten, nicht aber vom Empathischen her erfassen können —, sondern auch veränderte funktionelle Vorgänge, die wiederum strukturelle Veränderungen zeitigen. Menschen, die einen Gehirnschlag erlitten haben, vermitteln meist den Eindruck, als könne bei ihnen die linke Gehirnhemisphäre nicht verstehen, was die rechte wahrnimmt. Der Neuropsychologe Martin Keller (1990) vermutet in diesem Zusammenhang, daß das spontane Emotionale der rechten Hemisphäre nicht in das logische, mechanische Denkschema der linken paßt. Menschen mit einem Gehirnschlag können also das Emotionale nur im Rahmen des reduzierten Bewußtseins erfassen.

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Deswegen ist auch Kellers Vermutung nachvollziehbar, daß umgekehrt ein Konflikt zwischen dem linken, verengenden und dem rechten, zur Erweiterung drängenden hemisphärischen Bewußtsein zu einem Gehirnschlag führen kann. Aus meinen eigenen Arbeiten über Schlaganfallpatienten (Gruen 1962, Ullman und Gruen 1961, Ullman et al. 1960) geht statistisch hervor, daß Menschen mit einer rigiden Einstellung zum Leben und Denken anfälliger sind für eine solche Funktionsstörung des Gehirns. 

Man könnte sagen, daß sich diese Menschen gegen das Integrierende der rechten Hemisphäre wehren. Sie verdrängen mit großem Aufwand das Empathische, also das Weibliche. Daß bei diesen Schlaganfallpatienten die rechte Gehirnhälfte betroffen ist, weil die hier angesiedelten emotionalen Wahrnehmungen sie am meisten quälen, mag deshalb nicht verwundern.

Um es nochmals hervorzuheben: Experimentelle Beobachtungen (Hecaen 1962, Keller 1995) belegen, daß die Wahrnehmungen der rechten Gehirnhälfte in Gesamtprozessen verlaufen; Details und einzelne Teile haben nur Bedeutung innerhalb eines sie umfassenden Kontexts. Die Wahrnehmungen der linken Gehirnhälfte dagegen beziehen sich auf einzelne Teile; deshalb sind sie eher analytisch in einem segmentierenden und schubladisierenden Sinn. Hier ist auch das gesellschaftlich genormte Verbale angesiedelt.

Sprache ist also nicht nur ein Mittel der Kommunikation, sondern auch ein Organ der Wahrnehmung. Als Wahrnehmungssystem kann Sprache entweder einengend oder erweiternd fungieren.  

Julian Jaynes (1976) macht uns in seinem höchst originellen Beitrag zum Thema Gehirnspaltung darauf aufmerksam, daß Metaphern, dichterische Sprachfiguren, eine Bewußtseinserweiterung bewirken. Wörter dagegen, die in unserem abstrakten männlichen Bewußtsein vorherrschen (zum Beispiel nationale Ehre, Reinheit des Bekenntnisses zu einer Ideologie), reduzieren unser Wahrnehmungspotential.

George Trows Analyse des Hamlet-Monologs (vgl. S. 44 ff.) verdeutlicht, wie eine Metapher — das Wort »Sein« — in eine negierende Instanz verwandelt werden kann. »Sein« im Sinne der linken Gehirnhemisphäre hat eine ganz konkrete Bedeutung, nämlich ein Sein gemäß dem männlichen Ehrenkodex. »Sein« bedeutet in diesem Zusammenhang, dem Heldentum und seinen Toten verpflichtet zu sein; das beinhaltet auch das Töten eines anderen Menschen. 

* Julian Jaynes bei Detopia 

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Indem das männliche Bewußtsein die Bedeutung des Wortes »Sein« für sich vereinnahmt hat — »sein« kommt ursprünglich aus dem Sanskrit und bedeutet »wachsen« —, wurde »Nicht-Sein« zur Metapher für das erweiterte Bewußtsein. So konnte der Dichter Shakespeare »Sein« und »Nicht-Sein« einander gegenüberstellen und die Bewußtseinsspaltung — die er intuitiv erfaßt hatte — beschreiben. Dadurch gelingt ihm, die Zuschauer mit ihrem eingeschränkten Bewußtsein zu konfrontieren und sie so zu einer Bewußtseinserweiterung hinzuführen. Das ist, was große Kunst vermag.

In den Anfängen der sogenannten Hochkulturen in Nordafrika, Asien und Europa vor etwa sechs- bis siebentausend Jahren hat wohl auch das reduzierende und reduzierte Bewußtsein seinen Ausgangsbereich. Es mag deshalb auch nicht erstaunen, daß es in dem vor mehr als zweitausend Jahren von Homer gestalteten Heldenepos »Ilias«, das als dichterisches Prunkstück unserer Zivilisation gilt, weder inneres Leben der Helden noch Innenschau dargestellt wird. Jaynes weist in seiner bereits erwähnten Studie darauf hin, daß die »Ilias«-Helden nicht aus innerer Verantwortung, sondern aus Gehorsam gegenüber den Göttern heraus handeln. Alles Empathische, alles nach innen Wirkende, also alle von der rechten Gehirnhemisphäre verarbeiteten Wahrnehmungen bleiben ausgeschaltet. 

»Der Ursprung der Taten (in der Ilias) liegt nicht in bewußten Plänen, Gründen oder Motiven, er liegt in den Taten und Reden der Götter. Als gegen Ende des Krieges Achilles Agamemnon daran erinnert, daß dieser ihn seiner Mätresse beraubt hat, erklärt der König aller Menschen: <Das geschah nicht wegen mir, der Grund dafür war Zeus (...) Was konnte ich tun? Die Götter sind über uns erhaben.>«

Diese Überlegungen sollen besagen, daß wirklich verantwortliches Handeln nur dann möglich ist, wenn Verstand und Gefühl — um es auf diesen einfachen Nenner zu bringen — zusammenwirken. Paul D. MacLean (1967), Neurologe an der amerikanischen Rockefeller University, hat in den vergangenen dreißig Jahren die Zusammenarbeit der verschiedenen Teile unseres Gehirns erforscht. Er betont, daß die empathischen Verdrahtungen während unserer Kindheit stimuliert werden müssen, weil sie sonst nie funktionieren. In einer späteren Veröffentlichung (1987) sagt er, daß diese empathischen Empfindungen eine Vorbedingung seien für ein Gefühl von persönlicher Identität. Eine solche Identität unterscheidet sich selbstverständlich grundlegend von einer Identität, die nur auf den Wahrnehmungen und Reaktionsmöglichkeiten der linken Gehirnhemisphäre basiert.

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Auch Jaynes schreibt, daß Geisteswissenschaftler wie Martin Nilsson (1964) die zitierte <Ilias>-Passage dahingehend kommentieren, daß sie Agamemnons Verhalten als »entfremdet von seinem Ego« bezeichnen, daß die Helden der <Ilias> im Grunde »überhaupt kein Ego«, also keine eigentliche Identität hatten.

Es ist wohl in der Tat so — und alles Vorstehende bestärkt dies —, daß die Bevorzugung der linken Gehirnhemisphäre mit ihrem reduzierten und angepaßten Bewußtsein die Ausbildung einer umfassenden Identität verhindert; die Aktivitäten der rechten Gehirnhemisphäre jedoch vermögen unser Bewußtsein zu erweitern und unsere nur eingeschränkt ausgebildete Identität zu vervollständigen. Entsprechend tobt seit den Anfängen unserer Zivilisation der Streit zwischen jenen, die von einem reduzierten Bewußtsein geprägt sind, und jenen, die, von einem erweiterten Bewußtsein geprägt, versuchen, volle Mensch­lichkeit wiederherzustellen. Es ist ein immer wieder aufflackernder Kampf, nie völlig erstickt, aber auch nie völlig erfolgreich, da jedem von uns das Beengende innewohnt und dauernd zum Selbstverrat zwingt, weil wir uns mit den Tätern identifizieren und das Opfer in uns selbst zurückweisen.

 

Wie steuert nun der gesellschaftliche Kontext die Tätigkeiten beider Gehirnhälften und damit die Entwicklung unseres Selbst? 
Was passiert während unseres Sozialisationsprozesses mit unserem Bewußten und unserem Unbewußten?

In der linken Gehirnhemisphäre sind jene kognitiven Fähigkeiten lokalisiert, die in unserer Gesellschaft so sehr geschätzt werden. Dadurch werden wir immer stärker von unseren empathisch-kinästhetischen Wahrnehmungsfähigkeiten abgeschnitten; sie werden unserem Bewußtsein allmählich entzogen. Die Hauptarbeit übernimmt die linke Hemisphäre mit ihren analytischen und verbalen Tätigkeiten. Sie filtert unsere Wahrnehmungen entsprechend dem, was »offiziell« — gesellschaftlich — gebilligt ist. Wir sind also der Vorherrschaft des isolierenden statt des ganzheitlichen Denkens ausgeliefert. Denn es ist ja so, daß die rechte Hemisphäre die Bedeutung von Teilen nur innerhalb eines Kontextes sieht und verarbeitet, die linke oder dominante Hemisphäre dagegen sieht die Teile als losgelöst vom Kontext. Die Konzentration auf das abstrakte Denken in der linken Gehirnhemisphäre führt zu Verhaltensformen, die keinen Bezug auf den Lebenskontext nehmen.

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Galin und Ornstein (1972) fanden experimentell heraus, daß bei Versuchspersonen, die verbale und analytische Aufgaben lösen mußten, in der linken Gehirn­hemisphäre eine starke Aktivität nachweisbar war (low voltage fast waves in den linken temporalen und Parietal-Lappen). Bei diesen Aufgaben mußten vorgegebene Formen in ihre Teile zerlegt und kategorisiert werden, es ging also um das Aufbrechen von Ganzheit. Die rechte Gehirnhemisphäre war während dieser Zeit nicht involviert, was anhand der langsamen Alpha-Wellen, die dort auftraten, nachgewiesen werden konnte. Als die Versuchspersonen daraufhin räumliche Tests vorgelegt bekamen, deren Lösung die Einordnung der Einzelteile in ihren Gesamtzusammenhang, also eine ganzheitliche, integrierende Betrachtungsweise voraussetzte, wechselte die starke Aktivität in die rechte Gehirnhemisphäre hinüber.

Wenn eine Gesellschaft die Funktionen der linken Gehirnhemisphäre belohnt, die der rechten aber abwertet, dann ist es die Gesellschaft, die das Unbewußte produziert. Dies steht in Widerspruch zu Freuds Annahme, daß die Verdrängung von Sexualität ausschlaggebend für die Bildung des Unbewußten sei. Dies mag ein Aspekt sein, aber es ist nicht der wesentliche. Das Unbewußte formt sich vielmehr dadurch, daß der Mensch die Erfahrungen, die ihm die rechte Gehirnhälfte vermittelt, verdrängt, weil sie seinen Selbstwert herabsetzen. Sie werden nicht belohnt, sondern abgewertet und bestraft.

Es sind fundamentale Erfahrungen, die verdrängt werden. Nämlich Terror und Angst, die in einem Kind emporsteigen, wenn es mit seiner Hilflosigkeit alleingelassen wird, wenn seine Gefühle nicht anerkannt werden, wenn es von einem »Nicht-Sein« bedroht ist. 

Wird dagegen ein Kind bei seinen Erfahrungen von seiner Mutter begleitet, und wird es in seinem Sein akzeptiert, dann wächst sich seine Hilflosigkeit nicht zu einer Bedrohung aus. In solch einer Mutter-Kind-Beziehung erfährt ein Kind, daß Hilflosigkeit überwunden werden kann, daß die Angst nur ein Vorstadium ist, das den Konflikt meistern hilft. Dies erzeugt ein Gefühl wahren Selbstwerts. Wenn aber der Erwachsene nicht auf sein Kind eingehen kann, weil er selbst das Empathische verdrängen mußte, dann wird die selbst erlebte Angst, die zu der Verdrängung führte, weitergegeben.

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Unsere Aufwertung des analytischen, abstrakten, segmentierenden Denkens, die zu einer Dominanz der linken Gehirnhemisphäre führt und die mit einer Abwertung der empathischen Fähigkeiten der rechten Gehirnhemisphäre verbunden ist, zeigt sich auch, wenn wir unser räumliches Denken mit dem anderer Kulturen vergleichen. Wir orientieren uns egozentrisch, beurteilen rechts und links von der eigenen Position aus. Die Guugu-Yimithirr, ein Stamm der Ureinwohner Australiens, orientieren sich zwar auch nach Richtungsquadranten, die unserem Norden, Süden, Westen und Osten entsprechen, aber sie gehen immer von der Position des anderen aus. Diese Wahrnehmung beruht nicht auf kognitiven, abstrakten Vorgängen, sondern auf kinästhetischen, die die Position des anderen mittels Einfühlung, Empathie, beurteilen (Max-Planck-KG-Spiegel 1994).

Wir beurteilen von unserem isolierenden, vereinzelnden Denken aus, und nicht nach einer ganzheitlichen, totalen Betrachtungsweise, die den einzelnen immer auch in seinem Kontext wahrnimmt. Daß diese Diagnose nicht auf alle Menschen in gleicher Weise zutrifft und daß es bei manchen auch eine Öffnung hin zum Empathischen gibt, beweist etwa das Beispiel Einstein. Der Gestaltpsychologe Wertheimer (1945) wies darauf hin, daß das kreative Denken eines Albert Einstein nicht auf isolierenden Prozessen beruhte. Und die Nobelpreisträgerin Barbara McClintock, die das »Springen« genetischer Strukturen entdeckt hatte, beschrieb ihr Denken als ein »Einfühlen« (Keller 1983).

Da das Werden unseres Seins aber in erster Linie von unserem Erfolgreich-Sein bestimmt wird, bleiben wir weitgehend in den Denkmöglichkeiten der linken Gehirnhemisphäre gefangen. Das erweiternde Bewußtsein der rechten bleibt vorwiegend ausgegrenzt. Wir stehen in Abhängigkeit zur Dominanz der linken Gehirnhälfte, und selbst wenn wir uns dagegen auflehnen, weil wir ein Gefühl von Defizit haben, wird unser Tun dennoch davon regiert. Wir sind in unserem reduzierten Bewußtsein gefangen, wir sind gefangen, weil wir uns an einem Selbstwertgefühl festklammern, das unsere empathischen Fähigkeiten nicht zulassen kann. Auch die Rebellen sind darin gefangen, so daß sich unsere Gesellschaft trotz Aufruhr und Rebellion perpetuiert (Leonhard 1955).

Das Kennzeichen dieser Gesellschaft ist die Verneinung beziehungsweise das Ausschalten unseres Schmerzes. Die in unserer Kindheit erlebten Gefühle von Terror und Angst vor dem Schmerz werden über das gesellschaftliche System von Belohnung und Bestrafung verdrängt. Sie werden nicht nur verdrängt, sondern sie leiten eine Umkehr ein, die unser ganzes Leben verändert, ja verstümmelt: Die, die Angst und Terror auslösen, werden idealisiert! 

Mit dieser Identifikation mit dem Aggressor kommt ein Prozeß in Gang, der unser gesamtes Menschsein verzerrt (Ausführlicheres dazu in dem Kapitel »Die Identifikation mit dem Aggressor«, S. 85-103). Angst und Terror existieren zudem weiter, jedoch ohne ein Bewußtsein für ihre Ursprünge. Diese verzerrende Unsicherheit wird ihrerseits zu einer potentiellen Quelle von blinder Gewalt, von der unsere Gesellschaft immer wieder heimgesucht wird.

Die Spaltung unseres Bewußtseins durch die Dominanz der linken Gehirnhemisphäre spiegelt den einengenden männlichen Mythos von Stärke wider. Viele Menschen leisten diesem Druck Widerstand, mit unterschiedlichen Ergebnissen. Dementsprechend wird auch das Empathische, das in unserer Gesellschaft weitgehend »Frauensache« ist, unterschiedlich weitergegeben. In diesem Zusammenhang ist bezeichnend, daß bei Jungen die Fähigkeit, mittels des Tastsinns ihrer Finger zwischen verschiedenen Formen zu differenzieren, in der rechten Hand geringer ausgeprägt ist als in der linken. Bei Mädchen existiert dieser Unterschied nicht. Jungen sind früh dem Druck des Männlichseins ausgesetzt, was sich offenbar auf ihre kinästhetischen Wahrnehmungen auswirkt. Sie sind reduzierte Wahrnehmungen entsprechend der Dominanz der linken Gehirnhemisphäre (Witelson 1976).

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