Start    Weiter 

  5  Der entfremdete Körper  

 

 

 

59-64

M. Feldenkrais (1949) hat die Verschiebung unseres Bewußtseins von einem erweiterten zu einem verengenden im Hinblick auf unsere Physis beschrieben. Der Mensch — schreibt er — habe sich in seiner Körperhaltung und seinen Bewegungsabläufen einem Vorbild angepaßt, das aber den tatsächlichen Bedürfnissen seines Körpers nicht entspreche.

Auch N. Tinbergen (1974) sprach in seiner Rede anläßlich der Verleihung des Nobelpreises 1973 davon, daß wir mit verkrampften Nackenmuskeln, hochgezogenen Schultern und angespannten Gesäßmuskeln umhergehen, weil wir feste Vorstellungen vom Sitzen, Stehen und Gehen haben und ihnen entsprechen wollen. Diese Vorstellungen haben jedoch wenig mit dem zu tun, was dem Körper wohl tut.

Diese Vorstellungen sind ein Teil des »Selbstverständlichen«, das jedoch nicht aus unserem Inneren kommt, sondern uns von außen auferlegt wird. Sie werden uns durch Vorbilder und Erziehung vermittelt, ohne daß uns dies jedoch bewußt ist. Und sie resultieren aus einem Gehorsam, den wir aber als solchen gar nicht erkennen, weil er uns so selbstverständlich geworden ist.

Unsere Vorstellungen werden uns vermittelt über Gefühle, die wir haben sollten. Diese Gefühlsrollen übernehmen wir und sehen sie als eigene Gefühle an. Wir glauben, wir selbst zu sein. In Wirklichkeit sind wir aber nur — wenn auch unbewußt — gehorsam. Der Zwang, sich unterzuordnen, wird schon beim Säugling von den Eltern gefördert, und das, obwohl sich das Kind entsprechend seinen Möglichkeiten (Domes 1993) dagegen wehrt. Aber es hat am Ende keine andere Wahl, als den Widerstand aufzugeben, weil es ohne elterliche Zuwendung nicht (über-)leben kann. Der Terror und die Angst vor dem Verlassenwerden erzeugen den Zwang zum Gehorsam. Da jedoch weder Gehorsam noch Angst und Terror zugelassen werden dürfen, sinken sie ins Unbewußte ab. Unbewußter Gehorsam und unbewußte Angst werden so zu Bestandteilen unseres Selbst.

Unser Körper gehört uns also gar nicht mehr — gleichwohl glauben wir, ihn im Griff zu haben. Es mag schon stimmen, daß wir ihn im Griff haben, aber nicht mittels des eigenen, sondern eines fremden Willens.

Unsere bewußten Vorstellungen von Körperhaltung und Bewegungsabläufen spiegeln einen Begriff, eine abstrakte Idee, nicht aber etwas Artgerechtes wider. Unsere Vorstellungen entsprechen der Idee von starker, beherrschender Männlichkeit. Sie sind eher auf Statik, Gleichgewicht ausgerichtet, was jedoch der dynamischen Eigenart unseres Körpers entgegensteht. Hat man ein harmonisches Körpergefühl, schreibt Tinbergen, dann ist der Übergang von einer Körperhaltung in die andere fließend, ob es nun Sitzen, Stehen oder Gehen ist. Sobald wir aber versuchen, unsere Bewegung bewußt zu machen, werden wir merken, daß wir uns zuerst innerlich darauf vorbereiten müssen, von einer Bewegung in die andere überzugehen. Wir müssen erst darüber nachdenken, was von uns erwartet wird, bevor wir uns weiterbewegen können. Auch in dem Verfügen über unseren Körper sind wir also nicht autonom, auch wenn wir uns das nicht eingestehen.

»Wer gut angepaßt ist«, schreibt Feldenkrais, »empfindet als richtig nur, wenn er <richtig> verfährt.« Doch in dem, was wir als richtig empfinden, folgen wir einem uns auferlegten Bewußtsein. Und wie auch immer wir uns bewegen, die einen mehr, die anderen weniger körpergerecht: Wir haben dabei stets das Gefühl, es richtig zu machen. Und so laufen wir mit verkrampften Nackenmuskeln, hochgezogenen Schultern und angespannten Gesäßmuskeln umher und fühlen uns wohl dabei.

Um es nochmals hervorzuheben: Dem männlichen Verhaltenskodex entspricht eine Körperhaltung, die Kontrolle, Ehre und Herrschaft ausdrückt: Strammstehen, hochgezogene Schultern, angespannte Gesäßmuskeln — eine äußerst soldatische Haltung. »In unserer Erziehung wird das Gewicht auf Ergebnisse gelegt und nicht auf die Art, wie wir sie erreichen. Und dies sogar auf Kosten eines Kraftaufwands, der völlig unnötig ist«, schreibt Feldenkrais (1978).

Im letzten Jahrhundert formulierte Fechner ein Gesetz zur allgemeinen Wahrnehmung von Licht, Ton, Hitze, Schmerz, Geruch und Muskelarbeit (Boring 1969). Dieses Gesetz besagt, daß der kleinste Reizzuwachs, der einen wahrzunehmenden Empfindungszuwachs hervorruft, in einem gleichbleibenden Verhältnis zum Ausgangsreiz steht. Für den Muskelsinn bedeutet das — es handelt sich hierbei um das Weber-Fechner-Gesetz — : 

60


Je kleiner das Gewicht ist, das man in der Hand hält, desto kleiner muß der hinzu- oder weggenommene Teil sein, den man noch als Zuwachs oder Verminderung wahrnehmen kann. Damit wird der Mechanismus im propriozeptiven Wahrnehmungssystem beschrieben, der unsere Muskulatur bedient. Das bedeutet, daß Menschen mit »einem empfindlichen kinästhetischen Sinn (...) eine niedrige tonische Kontraktion aufweisen (und erst zufrieden sein werden), wenn sie die Handlungsweise finden, welche den kleinsten Kraftaufwand verlangt (...) Bei größerem Kraftaufwand kann man aber kleinere, feinere Unterschiede nicht erkennen, und es ist daher unmöglich, sich über einen bestimmten Grad hinaus zu verbessern« (Feldenkrais 1978). 

So (zum Beispiel bei starker körperlicher Anspannung) hört das Weber-Fechner-Gesetz auf zu wirken. Lob, Anerkennung und Bestätigung durch eine Autorität nehmen den Platz unserer eigenen Wahrnehmungen ein, und das hat Konsequenzen für die Entwicklung unserer Persönlichkeit. »Der gewohnheitsmäßige Verhaltensmodus wird als richtig empfunden, weil er wiederholt gutgeheißen wurde« (Feldenkrais 1978).

Feldenkrais legt den Finger darauf, daß unsere Körperhaltung eine Vernachlässigung unserer inneren Wahrnehmungen widerspiegelt. Zwar ist der Grad der Vernachlässigung individuell verschieden, aber der Tatsache selbst ist sich niemand bewußt. Das Antrainieren einer gängigen und gesellschaftlich gutgeheißenen Körperhaltung — die aus einer verengten Gefühlswelt entstanden ist und die eine verengte Gefühlswelt bedingt — verläuft unbewußt. 

Und das ist kennzeichnend für unsere Kultur.

Daß die Verarbeitung von propriozeptiven und kinästhetischen Wahrnehmungen kulturell bedingt ist, wird durch eine lange Reihe von Forschungen belegt. Amerikanische Gestaltpsychologen fanden in den vierziger Jahren heraus, daß kinästhetische Wahrnehmungen reduziert oder sogar ausgeschaltet werden können, ohne daß dies bewußt wird. Anlaß für ihre Untersuchung war die Frage, wie Kampfflugzeugpiloten visuelle und kinästhetische Wahrnehmungen verarbeiteten. Viele von ihnen waren mit ihren Maschinen auf der Erde zerschellt, weil sie glaubten, an Höhe zu gewinnen, obwohl ihre Höhenmesser einen Verlust an Höhe anzeigten.

1948 veröffentlichten Ash und Witkin eine Reihe von Experimenten, in denen visuelle und propriozeptive Wahrnehmungen gegeneinander ausgespielt wurden. Die visuell wahrgenommene Welt wurde der aus dem Körpergefühl gewonnenen Wahrnehmung der Welt gegenübergestellt. 

61


Hierbei mußte sich zum Beispiel eine Versuchsperson aus einer Sitzhaltung auf einem Stuhl in eine aufrechte Position bringen, wobei der sie umgebende Raum durch Schrägstellung nach links beziehungsweise nach rechts von der tatsächlichen Vertikalen abwich. Der Raum war also so manipuliert worden, daß die vertikale Achse nicht mehr erkennbar war. Manche Versuchspersonen lösten die Aufgabe, indem sie sich mit dem visuell dargebotenen Raum arrangierten. Mit ihrem Arrangement mußten sie jedoch ihr Körpergefühl negieren. Viele Versuchspersonen empfanden ihre Position sogar als objektiv vertikal.

Anhand der Reaktionen der Probanden war am Ende eine eindeutige Einteilung in visuell oder von ihrem Körpergefühl bestimmte Personen möglich. In einer Folgeuntersuchung betrachteten Witkin und seine Mitarbeiter (1954) Persönlichkeitsstrukturen und Lebensgeschichte ihrer Versuchspersonen, um nach den Gründen für diese so stark divergierenden Sinnesempfindungen zu fahnden. Auch diese Ergebnisse waren eindeutig: Die visuell Orientierten unterdrückten ihre eigenen Impulse, fühlten sich häufig minderwertig, verhielten sich passiv, hatten geringere introspektive Fähigkeiten und nahmen ihre eigenen Gefühle und Bedürfnisse weniger wahr. Generell hatten sie Schwierigkeiten, sich selbst zu akzeptieren. Max Hertzman, der diese Persönlichkeitsstudie entwickelt hatte, beschrieb diese Gruppe zusammenfassend so: »Wir können schlußfolgern, daß das vorgegebene visuelle Feld die Reaktion dieser Personen maßgeblich bestimmte (...) In Abwesenheit eines vom Selbst gesteuerten Aktivitätsmodus hatten sie keinen anderen Maßstab als das Visuelle, an dem sie sich orientieren konnten.«

 

Ich habe diese Experimente wiederholt, und zwar mit Ballettänzern, die in ihrem Beruf tätig waren und eine Ausbildung dafür absolviert hatten (Gruen 1955). Obwohl diese Versuchspersonen alle über langjährige Körpererfahrung und -beherrschung verfügten, reagierten auch sie im Versuch klar unterschiedlich. Maßgebend für die Lösung der Aufgabe waren nicht ihre Körpererfahrung oder ihre geschulte Kontrolle über den Körper, sondern die Art ihrer unbewußten Orientierung an der visuellen beziehungsweise körperbestimmten Wahrnehmung. Ihre Lösungen korrelierten mit den Befunden über ihre Persönlichkeits­struktur und ihre lebensgeschichtliche Entwicklung und nicht mit ihren körperlichen Fähigkeiten und Fertigkeiten. Die bei allen ähnliche Körpererfahrung und -beherrschung hatte nichts mit der inneren Haltung zu tun, die sich auf die Art ihrer Wahrnehmung auswirkte.

62/63


Der Zusammenhang zwischen der Abhängigkeit vom Visuellen und der Persönlichkeitsentwicklung in unserer Kultur ist äußerst aufschlußreich für das Verständnis jenes Prozesses, der unsere empathische Fähigkeit verkümmern läßt. So waren die Personen, die im zwischenmenschlichen Bereich unabhängiger waren, sich auch ihrer körperlichen Wahrnehmungen bewußter. Sie waren mehr in Einklang mit sich selbst und standen deshalb in einem Konflikt zwischen ihren kinästhetisch, von ihrem Körpergefühl her, bedingten Wahrnehmungen und dem Druck des visuellen Feldes. 

Bei den vom Visuellen Abhängigen war dieser Konflikt nicht erkennbar. Sie fügten sich dem Druck zur Konformität. Daraus läßt sich ableiten, daß das Kinästhetische von großer Bedeutung ist für die Formung eines eigenen Selbst. Wenn dieses fehlt oder nur schwach ausgebildet ist, dann fehlt die Kraft zum Kampf gegen das Konformistische, und dann wird das Innere zugunsten des Äußeren vernachlässigt oder völlig ausgeschaltet.

Hertzman wies auf eine weitere Reaktionsweise hin, die die Experimente ergeben hatten. Es gab nämlich noch eine dritte Gruppe von Versuchspersonen, und die negierten das Visuelle völlig. Sie waren extrem auf ihren Körper bezogen und ließen das visuelle Feld vollkommen außer acht. Hertzman folgerte daraus, daß sie sich an ihr Körpergefühl klammerten, um einem Minderwertigkeitsgefühl, das sich in Persönlichkeitstests widerspiegelte, zu entkommen.

Diese Personen lebten eine Form von Autonomie, die nicht auf der Integration von innerer und äußerer Welt basiert, sondern auf einer totalen Ausschaltung der äußeren Welt, weil diese in ihnen eine Minderung ihres Selbstwerts hervorruft. Sie versuchen, sich vom erwarteten gesellschaftlichen Verhaltenskodex abzugrenzen, weil dieser sie dazu bringt, sich zu schämen und als wertlos einzustufen. Das starke Festhalten am eigenen Körpergefühl führt bei diesen Menschen nicht zu einer mitfühlenden Öffnung anderen Menschen gegenüber, sondern zu einem Verschließen vor der äußeren Welt, die als eine stete Quelle der Gefahr betrachtet wird. Sie haben in der frühen Kindheit offenbar eine Form der Autonomie entwickelt, die nicht die Folge einer liebevollen Eltern-Kind-Beziehung ist, sondern die Folge einer Abgrenzung zu einem Muttererlebnis, das das Kind als schmachvoll und erniedrigend erlebte (Gruen 1993b).

Witkins Forschungen belegen ebenfalls die Hinwendung zur Konformität als Reaktion auf den gesellschaftlichen Druck. Das visuelle Feld übt seine größte Wirkung auf Kinder zwischen acht und zehn Jahren aus; sie sind in diesem Zeitraum am wenigsten auf ihren Körper bezogen. Mit Beginn der Pubertät wird das Kinästhetische wieder dominant, was sich dann erst mit dem siebzehnten Lebensjahr allmählich wieder ändert. Die hormonellen und persönlichkeits­strukturellen Änderungen, die das sexuelle Reifen begleiten, führen zu einer verstärkten Wahrnehmung von Körperreizen, betonen also eher das Körperliche. Diese Zeit ist auch gekennzeichnet durch Rebellion gegen das Konformistische. Gegen Ende der Pubertät kommt es zu einer Wiederanpassung, und dann wird auch das Visuelle wieder dominant.

Ein weiteres Resultat dieser Experimente ist, daß es einen Unterschied zwischen den Geschlechtern gibt in der Verarbeitung von Gefühlen. Generell erwiesen sich die Frauen als abhängiger vom visuellen Feld als die Männer. Dieser Unterschied scheint jedoch eher das Resultat eines Tarnmanövers der Frauen zu sein und nicht auf ihrer grundsätzlichen Negierung innerer Wahrnehmungen zu fußen. Hertzman weist in seiner brillanten Analyse der Ergebnisse von Rorschachtests darauf hin, daß viele der Frauen von ihrer Persönlichkeitsstruktur her jenen Männern näher waren, die aus ihrem Körpergefühl heraus reagierten. Trotz ihrer scheinbaren Abhängigkeit vom Visuellen waren diese Frauen sehr wohl in der Lage, ihr eigenes Leben zu meistern.

Meine eigene Forschung (1957) bestätigte diese Resultate. Obwohl sich viele Frauen scheinbar stark den äußeren Eindrücken verschrieben hatten, ließen sie sich dennoch von ihren inneren Wahrnehmungen leiten (etwa drei Viertel der Frauen). Männer reagierten dagegen einförmiger und »konsistenter«. Dies läßt den Schluß zu, daß in unserer Gesellschaft gerade die Frauen auf zwei Ebenen leben müssen, da ihre tiefinnersten Erfahrungen dem widersprechen, was die äußere, »offizielle« gesellschaftliche Wirklichkeit von ihnen fordert. Um sich einen Freiraum zu verschaffen, müssen sie ihr wahres Selbst außer Reichweite halten und sich häufig als unlogisch, inkonsequent oder hysterisch abstempeln lassen. Auf diese Weise aber halten sie ihre Beziehung zu ihrer Gefühlswelt — überhaupt dem Mitgefühl — aufrecht und leisten somit nur eine Art Lippenbekenntnis zum gesellschaftlich sanktionierten, aber reduzierten männlichen Bewußtsein.

63-64

#

 

www.detopia.de     ^^^^