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  6  Angst und Identitätsverlust   

 

 

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Wir haben unser Mitgefühl verloren, weil wir auch den Bezug zu unserem eigenen seelischen Schmerz verloren haben. Wir können mit Schmerz nicht mehr adäquat umgehen, und das ist wohl auch der Grund dafür, daß in medizinischen Praxen häufig über Schmerz­symptome geklagt wird, die jedoch keine nachweisbare organische Ursache haben. 

Dies ist vor allem bei Kindern der Fall. Vermutlich verwandelt sich der seelische Schmerz des Kindes in einen körperlichen, weil dies für die Eltern annehmbarer ist. Seelische Schmerzen als solche zu erkennen würde für die Eltern ja bedeuten, ihre Beziehung zu ihrem Kind in Frage stellen zu müssen, was einer Minderung ihres Selbstwerts gleichkäme.

Darüber hinaus erlaubt die Verlagerung des Schmerzes ins Körperliche den Eltern, ihr Kind zu bemitleiden. Das verschafft ihnen die Illusion, empathisch zu reagieren und auf das Kind einzugehen, ohne seinen wahren Seelenzustand wahrnehmen zu müssen.

Lyn S. Walker und ihre Mitarbeiter (1993) führten eine Studie mit 236 Familien durch, in denen Kinder mit Bauchschmerzen ohne organische Befunde lebten. Anlaß für diese Studie war, daß bis zu 30% aller Kinder und Jugendlichen in den USA an dieser Art Schmerzen leiden. Walker fand heraus, daß ihre Schmerz­patienten größere emotionale Probleme hatten als Kinder ohne solche Schmerzsymptome. Sie litten an größerer Angst als die Kinder und Jugendlichen der Kontrollgruppe, sie waren zudem gehemmt und in ihrem Sozialverhalten überangepaßt

In ihren Familien wurde ihnen allerdings Mitleid für ihre Schmerzen entgegengebracht. Doch dieses Mitleid führt, wie Osborne (1989) in einer anderen Studie zeigt, dazu, daß Kinder allmählich verlernen, etwas für sich selbst zu tun.

Was hier vor sich geht, verläuft zwar im Verborgenen, aber ganz im Sinne der gesellschaftlichen Zielsetzung: 

Indem das Kind seinen seelischen Schmerz nicht ausdrücken darf, das Ausdrücken des somatischen Schmerzes dagegen genehmigt ist, wird es in seinem selbständigen Handeln eingeschränkt. Das Mitleid der Eltern treibt das Kind in eine Abhängigkeit hinein, obwohl diese glauben, nur das Beste für die Gesundheit ihres Kindes zu tun. Mit dem »falschen« Mitleid (nicht das Mitleid selbst, sondern das Objekt des Mitleids ist falsch) wird jedoch die Wahrnehmung der tatsächlichen emotionalen Vorgänge unterdrückt und ins Unbewußte abgeschoben, während die kognitiven Formeln der Eltern ihren Platz einnehmen. 

Wieder ein Sieg für das reduzierte Bewußtsein.

Ein solches Mitleid ist nur verkleidete Arroganz: Der Bemitleidete wird klein und schwach gemacht, damit sich der Bemitleidende um so stärker, großzügiger und erhabener fühlen kann. Dieses Mitleid gibt uns das Gefühl, richtig zu handeln, so daß wir uns dafür lieben können. Daß dies auf Kosten der Herab­würdigung des anderen geht, wird sowohl von dem Bemitleidenden als auch von dem Bemitleideten verneint.

Ludwig Greve erzählt in seiner Autobiographie <Wo gehöre ich hin> (1994) eine Kindheitserinnerung, die diesen Vorgang sehr genau beschreibt. Es geht darin um den Gebrauch des mitleidigen Ausdrucks »der Arme«

»Der N., das war ein armer Schlucker, dem Mutter und Tante so lange Mitgefühl gewährten, bis er sich in sein Schluckerdasein fügte; trat er aber zu anspruchsvoll auf, und das hing an Kleinigkeiten, so zeigte das Mitgefühl sehr schnell, was es wirklich war, nämlich Herablassung. Allemal schien es sich um so verwickelte Zustände zu handeln, daß die normalen Wörter nicht griffen.«

Mitleid ist Teil eines Machtspiels, das seinen wahren Wesenskern, die Erniedrigung, verhüllt. Kinder lernen, sich sehr früh einzuordnen, wie Walkers und Osbornes Studien belegen. Sie haben keine Wahl. Wie schnell daraus eine psychosomatische Erkrankung entstehen kann, illustriert die folgende Episode aus dem Leben einer jungen Patientin: Im Alter von vier Jahren besuchte sie zusammen mit ihren Eltern ein Restaurant. Zu dieser Zeit hatte sie schon elterliche Ablehnung ihrer Gefühlswelt und Bestrafung erlebt, wenn sie traurig war und sich verletzt fühlte. Im Restaurant trafen sie Bekannte, denen der Vater noch eine ganze Weile Gesellschaft leistete. 

»Ich ging auf ihn zu«, erzählte sie, »woraufhin er mich schroff abwies. Es tat schrecklich weh. Ich lief zu meiner Mutter, fühlte mich aber auch ihr ausgeliefert, weil ich ihr mein Herz nicht ausschütten durfte. Ich erinnere mich, daß ich in jenem Moment wie ein verwundetes Tier gebrüllt habe. Bald darauf bekam ich eine schrecklich schmerzhafte Mittelohrentzündung. Vater hat mich so brutal abgewiesen. Es macht mir angst, wenn ich den Zusammen­hang jetzt erkenne.«

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Wie kommt es, daß Menschen nicht mitfühlend sind? 

Wir teilen mit unserer Mutter von Geburt an — und vielleicht schon früher — über kinästhetische Muskelnervenbahnen Leid und Freude. Wenn wir in ihren Armen liegen, nehmen wir diese Emotionen ganz direkt wahr. Verstärkt werden diese Wahrnehmungen durch die visuelle Perzeption ihrer Gesichtszüge und Augen. Bald müssen wir jedoch umlernen, und dann sehen wir unsere Mutter und unseren Vater so, wie sie wahrgenommen werden wollen.

Wir lernen, uns gegen unser Einfühlungsvermögen zu wehren. Der Psychologe Pennebaker schildert in der <New York Times> (1993) folgende »Verschwörung des Schweigens« gegen das Mitgefühl: Nach dem Erdbeben in San Francisco im Oktober 1993 trugen Bewohner eines Vororts der Stadt T-Shirts mit der Aufschrift: »Danke, daß du deine Erdbebenerlebnisse für dich behältst!«

Aus der Not unserer abhängigen Lage heraus versuchen wir als Kinder, den Erwartungen der Erwachsenen zu entsprechen. Das macht uns abhängig von ihnen, wir sind auf sie angewiesen und später in ähnlicher Weise auf Überlieferungen, Regeln und Vorschriften, um vermeintlich zwischen Feind und Freund differenzieren zu können. Wir haben Schwierigkeiten, zwischen gut und böse zu unterscheiden, wir halten ehrliche Menschen für unehrlich, zerstörerische für friedfertig. Unsere Wahrnehmung anderer Menschen verläuft auf vorprogrammierten Bahnen, wir sind nicht offen und sehen sie deshalb nicht so, wie sie sind.

Dazu ein Beispiel:  

Am 27. April 1993 explodierte in London eine Tonne schwerer Sprengstoff und legte die »City«, den Stadtteil, in dem vor allem die Börsen- und Finanzwelt untergebracht ist, völlig lahm. Obwohl am Abend davor die Sicherheitsorgane des ganzen Landes eine Warnung erhalten hatten, daß ein Terrorkommando der IRA unterwegs sei, schöpften die Beamten, die die Bildschirme überwachten, keinen Verdacht, als ein Lieferwagen mit eingeschalteter Warnblinkanlage verbotenerweise im Parkgelände anhielt und zwei vermummte Gestalten — auf dem Videofilm aufgezeichnet — ausstiegen. Offiziell wurde dieses Debakel als Panne deklariert, und für die Zukunft wurde eine Verstärkung der bewaffneten Straßensperren vorgeschlagen. 

Daß die Sicherheitsbeamten aber nicht wahrnehmen konnten, was tatsächlich passierte, hat mit unserer Haltung gegenüber dem zu tun, was wir wahrnehmen. Wir erkennen weder Täter noch Opfer, wenn sie nicht vorprogrammierten Mustern entsprechen. Eine eingeschaltete Warnblinkanlage ist kein Bestandteil des vorprogrammierten Bildes eines Täters.

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Aber warum muß etwas vorprogrammiert sein, damit wir es erkennen? Der geschilderte Vorfall ist bezeichnend dafür, daß wir keinen Zugang mehr zu unserer spontanen Wahrnehmung haben, sondern daß unsere Wahrnehmung gefiltert ist entsprechend den Erwartungen, die Autoritäten an uns richten.

Dieses Beispiel illustriert die grundsätzliche Unfreiheit unseres Seins. Freilich sind wir nicht alle gleichermaßen unfrei. Aber in demselben Maß, in dem wir uns einst dem Willen und den Wünschen unserer Eltern unterordnen mußten, sehen wir nicht mehr mit unseren eigenen Augen. Insofern vermögen wir häufig geheuchelte Freundlichkeit nicht zu durchschauen. Ebensooft verdächtigen wir Menschen, die uns freundlich gesinnt sind, daß sie uns übers Ohr hauen wollen. Wenn wir ein echtes Lächeln von einem falschen unterscheiden könnten, würde uns das falsche nicht zum Verhängnis werden.

1862 fand der französische Neuroanatom Duchenne de Bologne (1990) heraus, daß sich bei der Empfindung von wahrer Freude unser zentraler Augenmuskel, orbicularis oculi lateralis, zusammenzieht. Wenn Freude dagegen nur geheuchelt oder simuliert wird, bleibt dieser Muskel unerregt. Unsere Unfähigkeit, das geheuchelte vom wahren Lächeln zu unterscheiden, muß mit unserer Unfähigkeit zur Wahrnehmung dieser Muskelkontraktion zu tun haben.

 

Um das, was dabei passiert, richtig einschätzen zu können, müssen wir den Blickkontakt zwischen Mutter und Kind, so wie er sich von der Geburt an allmählich entwickelt, genauer unter die Lupe nehmen. 

 

Klaus und Kennell (1970) beobachteten unmittelbar nach der Geburt des Kindes den, wie sie es nennen, »Tanz der Augen« zwischen Mutter und Kind, und zwar als einen Prozeß, der beide belebt. Kinder sehen und erleben sich von Anfang an in den Augen ihrer Mutter, diese sind wie »Tragflächen« für die sich anbahnende Mutter-Kind-Beziehung und für die Sicht des Kindes seiner selbst. Die Reaktionen der Mutter, etwa ihre Freude, sind Teil des ganzheitlichen Erlebens des Neugeborenen. 

Aronson und Rosenbloom (1971), Cramer (1989), Domes (1993), Gruen (1986,1993), Schneirla (1959) und Stern (1992) weisen in ihren Arbeiten ausführlich daraufhin. Aronsons und Rosenblooms Studie zeigt sehr eindrucksvoll, wie 30 Tage alte Säuglinge mit Schmerz und Leid reagieren, wenn ihre einheitliche Perzeption der Mutter zerstört wird. 

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Und zwölf Tage alte Säuglinge können auf den emotionalen Gesichtsausdruck Erwachsener bereits differenziert reagieren (Meltzoff 1977). Field, Woodson, Greenberg und Cohen (1982) fanden sogar heraus, daß die Fähigkeit, zwischen Freude, Trauer und Überraschung zu unterscheiden, schon innerhalb der ersten 36 Stunden nach der Geburt vorhanden ist. Sie erläutern auch, wie dies über das propriozeptiv-kinästhetische Wahrnehmungssystem verläuft.

Wenn wir nun herausfinden wollen, warum wir ein falsches Lächeln nicht von einem echten unterscheiden können, dann müssen wir die Erwartungen, die ein Säugling an Mutter und Vater richtet, dazu in Betracht ziehen. Der Säugling muß sich die Reize und Reaktionen von seinen Eltern holen, die er für die Aufrechterhaltung seines Seins benötigt. Wenn seine Erwartung und sein Bedürfnis nach einer Reaktion der Eltern nicht erfüllt wird, reagiert er verzweifelt und kann sogar in Apathie versinken. (Ribble beschrieb schon 1943, daß Kinder ohne Wärme und Zärtlichkeit dahinsiechen.

Erwartungen sind von großer Bedeutung für unser emotionales Leben. 

Wenn Eltern jedoch auf die Erwartungen ihres Kindes nur mit geheuchelten Gefühlen reagieren, wenn das, was sie ihrem Kind zeigen und geben, nur einem selbstwertsteigernden Rollenverständnis als Eltern entspricht, dann muß ein Kind, um seinen lebensnotwendigen Kontakt zu Mutter und Vater aufrecht­zuerhalten, auf das geheuchelte Gefühl so reagieren, als ob es ein echtes wäre.

Was passiert in der Entwicklung eines Säuglings, wenn seine Mutter nur mit geheuchelten Gefühlen auf ihn eingeht? 

Dies bei seiner Mutter wahrnehmen zu müssen, würde ihn doch nur in tiefstes Leid und unerträgliche Verzweiflung stürzen. Wie soll er mit seiner Angst fertigwerden, die aus einer inadäquaten Reaktion seiner Eltern entsteht? Um zu überleben, muß das Kind zu einer Perzeption kommen, die das Ausbleiben der Kontraktion des orbicularis oculi lateralis überbrückt. 

Wie anders kann das geschehen als durch die »Idealisierung« des Peinigers (á la Proust oder Ferenczi), durch die Verneinung des fehlenden Reizes oder, wie Silverberg (1947) es formulierte, durch die Umkehrung des Erlebten. Nur so können wir verstehen, warum so viele die Wahrheit in den Gesichtszügen anderer nicht sehen können. Wir lernen früh, mit Heuchelei zu leben, um zu überleben. Wir lernen, nicht zu sehen, um unsäglichen Schmerz überleben zu können.

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Wenn wir aber aufgrund solcher prägender Erfahrungen wahre Gefühle nicht mehr erkennen können, können wir einen Täter, der seine eigentlichen Absichten hinter einem freundlichen Lächeln verbirgt, ebenfalls nicht erkennen. Mit der Zeit bekommen wir es angesichts der Wahrheit, mit der Angst zu tun. Denn die Wahrheit über andere Menschen zu erkennen versetzt uns in die Gefühle von Verzweiflung und Schuldbewußtsein zurück, die wir als Kinder erlebten.

Schuldbewußtsein deshalb, weil wir uns die Schuld an der ungenügenden Liebe der Eltern gaben, um eine Erklärung für ihre Lieblosigkeit zu haben.

Wenn Kinder sich ihre Schuldgefühle nicht eingestehen und sich ihnen nicht aussetzen dürfen, werden sie gleichgültig. Sie fangen dann an, ihr Opfersein und damit ihre Vergangenheit zu leugnen. Ebenso leugnen wir die Gewalt, die uns angetan wurde, um die Welt — scheinbar — intakt zu halten. Auf diese Weise kommt die Trägheit des Herzens zustande, die Jakob Wassermann in seinem Roman »Kaspar Hauser« so zu Herzen gehend beschreibt. Statt Mitleid mit dem Opfer zu haben, fühlen wir uns von ihm geprellt. Eigenartigerweise aber stimmt dieses Gefühl, denn die uneingeschränkte Wahrnehmung des Opfers beraubt uns unserer halluzinierten Sicherheit.

Den Täter aber bewundern wir, lassen uns von seinem vermeintlichen Leid ergreifen. So bewegte Himmler die Herzen vieler, als er die Deutschen um Mitleid dafür bat, daß er und seine Schergen jüdische Frauen und Kinder ermordeten (Gruen 1989). Am Ende spüren wir dann weder Scham noch Schuld.

Was aber spüren die Täter?  

»Ich würde verrecken, wenn ich nicht zuschlagen könnte«, gesteht ein Skinhead (Tophinke 1989). »Ich habe getötet, weil ich ein Leben gebraucht habe«, sagt ein Mörder (Cox 1989). Da dieser Mann seinen eigenen Schmerz nicht wahrnehmen konnte, fühlte er sich sein Leben lang gelangweilt, leer, tot. Ähnlich erging es einem anderen Mörder (Cox und Gruen 1989): Weil er sich der tödlichen Absichten seiner eigenen Mutter nicht bewußt sein durfte, schob er seinen eigenen Schmerz vollkommen von sich weg. Dieser Mann erinnert sich, daß seine Mutter ihn als Dreijährigen mit kochendem Wasser übergoß. Den Schmerz, der ihm dabei zugefügt wurde, spürte er jedoch gar nicht mehr. Durch sein gefühlloses Ermorden anderer holte er ihn jedoch zurück — und er verneinte ihn jedesmal wieder.

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Wenn das eigene Leiden völlig aus dem Leben eines Menschen verschwinden muß, weil es unmöglich war, damit fertigzuwerden, dann wird das Gefühl, das Leben anderer in Händen zu halten, zum Ersatz für die innere Leere. So wird Gewalttätigkeit zum Zweck des Lebens, wird zu etwas, das ein Gefühl des Lebendigseins erzeugt. Menschen, die jegliches Gefühl für sich selbst verloren haben, spüren sich nur, wenn sie etwas Lebendiges packen und zerschmettern können. Sie glauben, dem Leben Herr zu werden, indem sie anderes Leben in die Knie zwingen und auslöschen.

Wenn wir Hitlers Reden unter diesem Blickwinkel hören, werden wir die Beweggründe für sein grausames Handeln durchschauen. Und wir werden ebenfalls erkennen, warum sieh so viele Menschen von ihm haben begeistern lassen: Von ihm erhielten sie die Erlaubnis, sich durch Gewalttätigkeit lebendig zu fühlen. Das erschreckend hohe Ausmaß der Menschen, die — von Hitler oder seinesgleichen angeheizt — andere Menschen quälen oder töten, spiegelt das Ausmaß an Gefühlsvernichtung wider, die Kinder in unserer Zivilisation in ihrer frühesten Beziehung zu ihren Eltern erfahren. Und zugleich ist es ein Spiegel für das erschreckend hohe Ausmaß an Verlust von Identität.

Dieser Identitätsverlust geht Hand in Hand mit unserer Verwechslung von Opfer und Täter einerseits und unserem Bestehen auf Bestrafung andererseits. Wenn wir in unseren Möglichkeiten, die eigene Identität zur Entfaltung zu bringen, beschnitten wurden, dann ist auch der Haß auf uns selbst groß, und er äußert sich etwa in unserer Neigung, andere unser eigenes Bestraftsein spüren zu lassen. So kommt es, daß wir, um Gewalt einzudämmen, Gegengewalt für eine geeignete Maßnahme halten.

Überall wird diese Ansicht vertreten, obwohl Gewalt noch nie durch Strafe und Gegengewalt eingeschränkt werden konnte. Wir rationalisieren unsere Bereitschaft zu Gegengewalt, indem wir uns die Frage nach dem Menschsein so stellen, daß wir sie nur im Sinne der Rechtfertigung von Gewalt beantworten können. Aus diesem Grund belaufen sich etwa in den USA die jährlichen Kosten, die aus Kriminalität entstehen — einschließlich der Kosten für Gegenwehr und Bestrafung —, auf vierhundert Milliarden Dollar. Das ist mehr als der gesamte Verteidigungsetat der USA (T.A., 3. Januar 1994).

Ohne ein authentisches Gefühl für Identität sind wir auch nicht in der Lage, die Frage nach unserem Menschsein wahrhaft zu beantworten. Doch wie wir diese Frage beantworten, hat weitreichende Konsequenzen für uns. Die Spaltung unseres Bewußtseins in eine dominante linke Gehirnhemisphäre mit ihrem abstrakten, analytischen, isolierenden Denken und eine vernachlässigte rechte mit ihrem ganzheitlichen Denken und ihren emotionalen Wahrnehmungen hat unsere Beantwortung der Frage nach dem Menschsein schon vorgeformt. 

Wir sind nur sehr begrenzt in der Lage, zwischen Freund und Feind, zwischen Opfer und Täter zu unterscheiden. Aber ohne eine eigentliche Definition unseres Menschseins können wir nicht realistisch gegen Gewalttätigkeit und Kriminalität vorgehen. Indem wir darauf bestehen, uns als zivilisiert zu betrachten, bleibt unser Blickwinkel und bleiben wir in unserem Urteilsvermögen äußerst eingeschränkt. 

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