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7.  Das Phänomen Gleichgültigkeit

 

 

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Nicht alle von uns haben dieselben Schwierigkeiten, Opfer und Täter auseinanderzuhalten. Aber wir alle haben Grausamkeiten erlebt, ohne daß wir diese erkennen durften. Uns ist das Erleben des Opferseins gemeinsam, dies ist aber ein Zustand, in dem wir nicht sein durften. Es ist diese grundsätzliche Verleugung, die unseren »zivilisierten Kulturen« gemeinsam ist. Erst diese Verleugnung macht unsere Entfremdung von unserem Menschsein überhaupt erst möglich.

Wie viele von uns erinnern sich noch an den Völkermord in Ruanda im Jahr 1994? Wie viele von uns nahmen dagegen Stellung oder taten etwas dagegen? Die Deutschen sagten nach Kriegsende, wenn sie nach Auschwitz gefragt wurden, sie hätten nichts gewußt und deswegen nichts getan. Und wir, die wir von Ruanda wußten, die Greuel dort täglich im Fernsehen sahen, worüber haben wir gesprochen, und was haben wir getan?

Rony Baumann, der frühere Präsident der <Ärzte ohne Grenzen>, schrieb in der <Woche> vom 27.1.1995: 

»Seit am Ende des Zweiten Weltkrieges die Vernichtungslager entdeckt wurden, hat sich in der westlichen Welt eine Überzeugung festgesetzt, die sich bislang durch keine noch so anders gestaltete Wirklichkeit erschüttern ließ. Die Überzeugung lautet: Nur Geheimhaltung und Schweigen ermöglichten die Organisation und Durchführung der Endlösung (...) Unwissenheit, nicht Gleichgültigkeit sei Grund der Tatenlosigkeit gewesen (...) Die Tragödie (von Ruanda) räumt endgültig mit den letzten Illusionen der Nachkriegszeit auf — tatsächlich hätte auch Auschwitz vom Fernsehen direkt übertragen werden können.«

Wir wissen heute, daß auch die westlichen Politiker von Hitlers Endlösung Kenntnis hatten (Wyman 1986), aber nichts taten. Und die Politiker heute — und wir — tun immer noch nichts. Was geht in uns vor, was sind wir für Menschen, wenn wir gegenüber den Ereignissen in Ruanda, Jugoslawien, Rußland, gegenüber den Todesschwadronen in Südamerika und den Völkermorden des indonesischen und des chinesischen Regimes kalt bleiben? Selbstverständlich werden sich viele von uns gegen eine solche Einschätzung wehren. Sie ruft in uns Schuldgefühle hervor, bringt uns dazu, uns zu schämen. 

So weisen wir darauf hin, daß wir doch mit den Opfern fühlten, uns mit ihrem Leid identifizierten, uns der Opfer der Cholera-Epidemie in Ruanda annahmen. Und in der Tat sprach der Weltsicherheitsrat von einer »humanitären Krise«, aber der Völkermord wurde nicht beim Namen genannt. Wir verwechseln Sentimentalität mit Mitgefühl. Rony Baumann hat schon recht: Selbst das Wissen von Morden rührt Menschen, die schon immer gleichgültig waren, nicht.

Im <Wahnsinn der Normalität> (1989) habe ich bereits darauf hingewiesen, daß die Lügen über angebliche Greueltaten der Deutschen im Ersten Weltkrieg geglaubt wurden, nicht aber die Existenz von Leichenfabriken wie Auschwitz. In der Tat läßt uns Gewalt nicht kalt, aber das, was sie in uns hervorruft, ist Selbsthaß, und dieser führt dazu, daß wir unserer eigenen Gewalttätigkeit unter dem Deckmantel gerechten Handelns freien Lauf geben. 

Mitgefühl für Opfer bringen wir dagegen nicht auf. Im Gegenteil: Opfer bereiten uns Unbehagen, wir hassen sie sogar, weil wir das Opfer in uns selbst hassen müssen. 

 

Fritz von Reck-Malleczewen,* Schriftsteller und bayerischer Monarchist, notierte am 1. Juni 1942 in sein erschütterndes Tagebuch (1971): 

»Heute mit H. über die menschliche Rohheit gesprochen. Er kommt eben von der Ostfront her und hat jenes Massaker erlebt, in dem man in K. 30.000 Juden abschlachtete. An einem einzigen Tage, in einer knappen Stunde, und da die Maschinengewehrmunition nicht ausreichte, nahm man Flammenwerfer zu Hilfe, und aus der ganzen Stadt, um dieses Spektakel anzusehen, drängten sich dienstfreie Mannschaften hinzu; junge Burschen von neunzehn, zwanzig, mit Milchgesichtern. O Schmach, o Leben ohne Ehre.«

Robert Neumann berichtet in <Ausflüchte unseres Gewissens> (1960) von einer Umfrage, die das Institut für Statistik und Demoskopie zu Adenauers Zeiten durchführte. Es ging um die Frage: Angenommen, eine neue nationalistische Partei versucht, an die Macht zu kommen — wie würden Sie sich verhalten? Das Ergebnis: Gut ein Viertel der Befragten würde alles tun, damit so etwas nicht mehr passiert; weitere sechsundzwanzig Prozent wären zwar dagegen, würden aber nichts tun; zwanzig Prozent wäre es egal; fünf Prozent sagten, sie würden es begrüßen, aber nichts dafür tun; drei Prozent würden eine neue Nazipartei aktiv unterstützen; die restlichen neunzehn Prozent waren unentschieden. »Wo ist unser Herz?« fragt Neumann. 

Die Trägheit des Gewissens, die Feigheit, die sich in dem Nicht-wissen-Wollen und in dem Es-ist-nicht-so-schlimm-gewesen offenbart, charakterisiert nach dieser Umfrage drei Viertel der Bevölkerung!  

Reck auf detopia 

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Und das in einer Zeit, in der die Schrecken der Naziherrschaft erst fünfzehn Jahre zurücklagen. Offenbar vermögen wir nicht aus unserer Geschichte zu lernen. Sehr viel mehr scheint unser verdrängtes Opfersein unser Denken und Handeln zu bestimmen. Und so betrügen wir uns weiterhin selbst, schützen Sentimentalität vor und werden wütend, wenn jemand uns enttarnt, wie es der amerikanische Politikwissenschaftler Goldhagen vor kurzem in seinem Buch »Hitlers willige Vollstrecker« (1996) getan hat.

Gleichgültigkeit ist jedoch kein Phänomen, das sich auf Nazi-Deutschland beschränkt. Im New Yorker Stadtteil Queens schauten in einer Märznacht im Jahr 1964 mindestens achtunddreißig Menschen zu, wie eine Frau ermordet wurde. Obwohl der Mörder eine halbe Stunde für seine Tat brauchte, griff niemand ein oder holte die Polizei. Dieser Fall bildete den Hintergrund für ein Forschungsprojekt über »Zuschauerapathie«, das Latane und Darley (1969) durchführten und das 1968 mit dem bedeutenden Sozialpsychologischen Preis der <Amerikanischen Gesellschaft für den Fortschritt der Wissenschaft> (AAAS) ausgezeichnet wurde. (Ich habe dies ausführlich in meinem Buch »Der Verrat am Selbst« beschrieben: Gruen 1986, S. 55ff.)

Das Forschungsteam verneinte und verharmloste dieses grauenhafte Ereignis und war nicht der Meinung, daß Apathie, Gleichgültigkeit, Gefühllosigkeit, Entmenschlichung oder der Verlust von Anteilnahme am Mitmenschen dahintersteckten. Es stufte die Verweigerung der Hilfeleistung als moralisch selbstverständlich ein: »(...) angesichts einer Situation, aus der (für die umstehenden Personen) selbst kein Vorteil zu holen ist (...), wäre es wahrscheinlich überraschend, wenn überhaupt jemand eingreifen sollte (...) Es gibt nämlich wenig positive Belohnung für erfolgreiches Eingreifen bei einem Notfall.« 

Mitgefühl mit dem Opfer als wesentliches Kennzeichen unsers Menschseins wird dabei überhaupt nicht in Betracht gezogen, im Gegenteil erhält die Entfremdung des Menschen von sich und der Gemeinschaft auch noch den wissenschaftlichen Segen. Eine solche Haltung ist noch grausamer und tödlicher als die eines Himmler, der in seiner Rede über die Endlösung wenigstens noch Gewissensbisse hatte, denn sie rechtfertigt das Böse, treibt unsere Bewußtseinsspaltung, Entfremdung und Entmenschlichung weiter voran.

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Gleichgültigkeit und Unmenschlichkeit herrschen überall auf der Welt und werden auch allenthalben gerechtfertigt. 

Am 9. Dezember 1981 wurde in El Salvador während einer Anti-Guerilla-Kampagne des Atlaca-Bataillons der Armee unter dem Kommando von Oberst­leutnant Domingo Monterossa das Dorf El Mozote samt seinen Einwohnern dem Erdboden gleichgemacht. Über 794 Menschen, darunter 131 Kinder unter zwölf Jahren, wurden vergewaltigt, auf Bajonette aufgespießt, zerstückelt und erschossen. Und dies alles unter dem ideologischen Deckmantel des Anti-Kommunismus. Einer der Überlebenden berichtet: »Ich war sieben Jahre alt und verstand gar nicht, was passierte, bis ich einen Soldaten sah, der ein — vielleicht dreijähriges — Kind, das er trug, in die Luft warf und dieses mit einem Bajonett durchstieß« (Danner 1993). »Wenn wir sie jetzt nicht töten, werden sie aufwachsen und Guerillas werden. Wir müssen den Job jetzt tun«, sagte der Hauptmann des Bataillons, Salaazar. 

Die Vereinigten Staaten griffen El Salvador bei der Ausrottung der einheimischen Indianer mit Millionen von Dollar unter die Arme. Der damalige Präsident Ronald Reagan betrachtete dies als Unterstützung eines befreundeten Regimes in seinem Kampf gegen den Kommunismus. Um den Kongreß dazu zu bewegen, die Gelder zu bewilligen, mußte seine Administration bestätigen, daß El Salvador »eine wesentliche Anstrengung machte, international anerkannten Menschenrechten Folge zu leisten«. Insofern wurden die Reportagen über El Mozote als Lügen abgetan, und das von Regierungsbeamten, die zwar ihre Hände nicht selbst mit Blut befleckten, aber die Ausführung von Bluttaten möglich machten. 

Einer, der unmittelbar dazu beitrug, war Elliott Abrahams, Sekretär im State Department für Menschenrechte und zuständig für humanitäre Angelegenheiten. In einem Interview sagte er: »Ich habe Leuten gesagt, daß ich es verstehen würde, daß man aus politischen oder wirtschaftlichen Gründen für einen Sieg der FMLN (die Guerillabewegung in El Salvador) sein kann — aber aufgrund von Menschenrechten? Das ist verrückt!« 

Was aber war mit den Menschenrechten der Einwohner von El Mozote, die weder selbst Guerillas waren noch die Guerillas unterstützten noch Regimegegner waren? Für die »Realpolitiker« in der Reagan-Administration, zuständig für humanitäre Angelegenheiten, war das humanitäre Anliegen — das, was mit den Menschen von El Mozote geschah — ohne wirkliche Bedeutung.

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Vielmehr war die Frage entscheidend, ob die salvadorianische Regierung sich »anstrenge«, international anerkannten Menschenrechten nachzukommen oder nicht. So drehte sich auch die Diskussion im Kongreß nicht um das sinnlose Morden der Armee, sondern um die Beurteilung der »Anstrengung«. Die Problematik wurde auf eine abstrakte Ebene verlagert, abgehoben von der Realität menschlichen Leidens, und das Morden konnte weitergehen.

Statt der Realität menschlichen Leidens gegenüberzutreten, wird Imagepflege betrieben, wobei nach außen hin scheinbare Gefühle demonstriert werden, die aber die tatsächlichen Gefühle verdrängt haben und verdrängen. Bei den scheinbaren Gefühlen dreht es sich allein um die Aufrechterhaltung eines Image. Die wahren Gefühle werden aber weder von den Beteiligten noch von den Zuschauern als solche wahrgenommen. 

Das Simulieren von Gefühlen verwirrt uns: Wenn uns Gefühle, die keine sind, als solche zur Schau gestellt werden, haben wir Schwierigkeiten, sie als Ausdruck von zuvor abgelaufenen abstrakten Denkprozessen zu identifizieren. Weil aber die, die das Denken in Gefühle uminterpretieren, selbst glauben, sie fühlten, tendieren auch wir dazu, ihnen das zu glauben — obwohl wir gewisse Vorbehalte und Zweifel haben.

Hier als weiteres Beispiel Briefe, die aus der Zeit der deutschen Besetzung Polens stammen. Geschrieben hat sie einer der Armeebürokraten, die die Krematorien füllten (Goettle 1992). Er war Mitglied der Organisation, die beim Leeren eines Gettos mit der »Materialerfassung und Buchführung« befaßt war. In einem Brief an seine Frau schreibt er:

»29.11.1942. Liebste Mutti! Hat mir mein Dorle wieder Kuchen geschickt. Er (...) hat nach Heimat geschmeckt (...) Demnächst gibt es wieder eine größere Aktion (Getto-Abtransport), und danach will ich gleich die versprochenen Ölsardinen, Butter, Schokolade und, wenn möglich, Wolle schicken. Wenn nicht, bekommst Du gut erhaltene Sachen (die von den Juden konfiszierten Sachen) zum Aufribbeln (...) Welch Reichtümer des >auserwählten Volkes< sich hier angehäuft haben (...) Ich habe schon so zugenommen, daß ich beim Sitzen die Gürtelschnalle öffnen muß. Du siehst also, mein geliebtes Muttilein, ich bin gesund und munter. Küsse für mich meine beiden Kleinen, grüß die Omama, und für Dich soll's ein langer Kuß sein. Dein Dich liebender Vati.«

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»Weihnachtsabend 1942. Meine innig geliebte Mutti! Hier habe ich Deine wunderbare Bescherung (...), die Du mir, mein liebstes Dorle, mit soviel Liebe zurechtgemacht und mir geschickt hast. Als ich die Päckchen öffnete und sah, mit welcher Sorgfalt und Liebe jedes einzelne Geschenk verpackt war, da wurde mir ganz weh ums Herz.«

In einem Brief vier Tage später: 

»Die Kinder hier haben so gar nichts von unseren deutschen Kindern. Sie sind schmutzig, betteln unentwegt, und das mit einem Gesichtsausdruck, der Mitleid erregen soll. >Bitte Brot?< sagen sie (...) Daß die Kinderschuhe wahrscheinlich ein bißchen zu groß sein würden, das habe ich mir gleich gedacht. Aber sie können ja allmählich reinwachsen. Die für Hans sind ja noch vollkommen neu, und die für Gerlinde wurden auch kaum getragen (...) Küsse mir meine beiden Rangen.«

In einem Brief vom 19.1.1943: 

»Die Juden bestatten ihre Toten nicht, sondern werfen sie einfach auf die Straße. Kein Wunder, wenn Typhus und Ruhr grassieren werden! Wahrscheinlich ist das in Wahrheit ein ganz besonderer heimtückischer Anschlag auf uns Deutsche, denn jedes auch nur halbwegs zivilisierte Volk kümmert sich um seine Verstorbenen. Das ganze Brauchtum dieser Untermenschen ist nicht nur fremd, sondern auch Abscheu und Ekel erregend. Sobald sich mein Allgemeinbefinden wieder gebessert hat, werde ich mit größerer Härte bei der Sache sein. Es hat ja gar keinen Sinn, schonend vorzugehen (...), wozu macht man das schließlich hier alles, wenn nicht für das Wohl des Deutschen Volkes und die Zukunft unserer Kinder und Kindeskinder. Hänschen und Gerlinde sollen einmal genauso in der Welt herumkommen wie heute Vati. Nur daß dann Frieden sein wird und überall Ordnung und Sauberkeit herrschen. Deshalb, mein herzallerliebstes Muttilein, sei ruhig ein bißchen streng, damit sie einmal tüchtig und brauchbare Menschenkinder werden (...) Es umarmt und küßt euch Vati.«

 

Die Gefühle, die dieser Mann ausdrückt, scheinen von großer Innigkeit bestimmt zu sein. Und dennoch können es nicht Gefühle sein, die von Liebe oder Empathie herrühren. Der Leser ist, um den Titel des Buches von H. Cleckley (1964) zu paraphrasieren, mit einer überzeugenden Maske gefühlsmäßiger Normalität konfrontiert. Auch das Denken des Mannes scheint in ganz normalen Bahnen zu verlaufen. Und doch: Wenn wir lesen, mit welcher Selbstverständlichkeit er die Lebensmittel und Kleidung der todgeweihten Juden an seine Frau und seine Kinder weitergibt und mit welcher Verachtung er von den verhungernden Kindern und den bereits Verhungerten spricht, die er zudem als »Untermenschen« bezeichnet, dann ist offensichtlich, daß das Denken dieses Menschen zwar intakt sein mag, sein Fühlen dagegen keineswegs. Vielmehr ist das ein Automat, der eine menschliche Persönlichkeit nachahmt. Die Kopie eines vollkommen normal fühlenden Menschen ist so perfekt, daß wir die Widersprüche einfach übersehen, um nicht das Unmenschliche und Roboterhafte erkennen zu müssen.

Auch hier geht es um Imagepflege, um die Zurschaustellung von Gefühlen, um das Posieren. Menschen wie der Autor dieser Briefe ergeben sich der Pose des Normalen, um normal zu wirken. Auch er selbst glaubt zu fühlen. Doch mit wahrhaften Gefühlen, mit Gefühlen, die aus einem in seiner Fülle erlebten Leben herrühren, hat das nicht zu tun. Für Menschen wie ihn ist typisch, daß sie ständig nach Bestätigung verlangen, daß sie ihre Rolle auch richtig spielen. Der Autor der Briefe braucht die Bestätigung von »Mutti« wie auch von seinen Kollegen, und zwar dauernd. Er gehört zu all den »guten« Menschen, die das Böse erlauben und es perpetuieren. Als sie Menschen dem Tod auslieferten, waren sie »ganz normal« dabei. 

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