1 Der Fremde
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Wir leben in einer Welt, in der wir zunehmend voneinander abhängig werden und uns dennoch immer mehr gegeneinander wenden. Warum stellen sich Menschen gegen das, was sie miteinander verbindet, gegen das, was sie gemeinsam haben — ihr Menschsein?
Milovan Djilas, einst Titos Gefährte im Partisanenkrieg gegen die Nazis und später einer seiner schärfsten Kritiker, beschreibt in seinem autobiographischen Bericht <Land ohne Gerechtigkeit> (1958) die Grausamkeiten einer Männerwelt, in der Menschlichkeit als Schwäche verpönt ist:
«Einmal, nach dem Krieg, traf Sekula (ein Montenegriner und Jugoslawe) einen türkischen Moslem. Beide waren auf dem Weg von Bijelo Polje nach Mojkovac. Sie hatten sich zuvor noch nie gesehen. Die Landstraße führte durch dicht bewaldetes Gebiet und war berüchtigt für Überfälle aus dem Hinterhalt. Der Moslem war froh, in Begleitung eines Montenegriners zu sein. Auch Sekula fühlte sich sicherer mit einem Türken, da zu befürchten war, daß sich türkische Partisanen in der Nähe befanden. Die beiden unterhielten sich freundlich und boten einander Zigaretten an. Der Moslem erwies sich als friedliebender Familienvater. Unterwegs durch die Wildnis kamen sich die Männer näher.»
Djilas schreibt, daß Sekula später sagte, er habe keinerlei Ressentiments dem Moslem gegenüber empfunden. Er sei für ihn wie jeder andere gewesen, mit dem einzigen Unterschied, daß er Türke war. Doch gerade diese Unfähigkeit, eine Abneigung zu spüren, weckte in Sekula ein Gefühl von Schuld. Djilas berichtet weiter:
«Es war ein heißer Sommertag. Da der Weg durch einen Wald an einem kleinen Fluß entlang führte, hatten es die beiden Reisenden angenehm kühl. Als sie sich schließlich niedersetzten, um gemeinsam etwas zu essen und sich auszuruhen, nahm Sekula seine Pistole heraus. Es war eine schöne Waffe, und er wollte ein bißchen damit prahlen. Der Moslem betrachtete sie anerkennend und wollte wissen, ob sie geladen sei.
Sekula bejahte — und in diesem Moment kam ihm der Gedanke, daß er den Türken jetzt einfach töten könnte, er mußte nur seinen Finger bewegen. (Zu diesem Zeitpunkt hatte er jedoch noch nicht den Entschluß gefaßt, dies zu tun.) Er richtete die Pistole auf den Moslem und zielte genau zwischen dessen Augen. Dann sagte er: <Ja, sie ist geladen, und ich könnte dich jetzt töten.> Der Moslem lachte und bat Sekula, die Pistole wegzudrehen, da sich ein Schuß lösen könnte. In diesem Augenblick wurde Sekula bewußt, daß er seinen Reisekumpan töten mußte. Wenn er den Türken am Leben ließe, würde er die Scham und die Schuld nicht ertragen können. Und so feuerte er, wie zufällig, zwischen die lächelnden Augen des Mannes.»
Wenn Sekula später darüber sprach, behauptete er, daß er in dem Augenblick, als er die Pistole im Spaß auf die Stirn des Moslems richtete, keine Tötungsabsichten gehabt habe. «Aber dann war es, als ob sein Finger von sich aus abdrückte. Etwas in ihm brach aus, etwas, womit er geboren worden war und was er nicht zurückhalten konnte.» Es muß der Moment gewesen sein, in dem sich Sekula dem Türken so nahe fühlte, daß sich die Scham seiner bemächtigte. So absurd es auch klingen mag: Er tat, was er tat, nicht aus Haß, sondern im Gegenteil: Er tötete, weil er diesen «Fremden» nicht hassen konnte. Dafür schämte er sich, dafür fühlte er sich schuldig. Denn die Freundlichkeit und das Gute, das er in sich selbst spürte, verwandelten sich in ein Gefühl der Schwäche. Und dieses Gefühl mußte er abtöten. Als er den anderen tötete, tötete er die Menschlichkeit in sich selbst.
Klaus Barbie, der Gestapo-Schlächter von Lyon, der den französischen Widerstandskämpfer Jean Moulin zu Tode gefoltert hat, sagte in einem Interview mit Neal Ascherson (1983): «Als ich Jean Moulin vernahm, hatte ich das Gefühl, daß er ich selber war.» Das heißt: Was der Schlächter seinem Opfer antat, tat er in gewisser Weise sich selbst an. Worauf ich hinauswill, ist dies: Fremdenhaß hat auch immer etwas mit Selbsthaß zu tun. Wenn wir verstehen wollen, warum Menschen andere Menschen quälen und demütigen, müssen wir uns zuerst mit dem beschäftigen, was wir in uns selbst verabscheuen. Denn der Feind, den wir in anderen zu sehen glauben, muß ursprünglich in unserem eigenen Innern zu finden sein. Diesen Teil von uns wollen wir zum Schweigen bringen, indem wir den Fremden, der uns daran erinnert, weil er uns ähnelt, vernichten. Nur so können wir fernhalten, was uns in uns selbst fremd geworden ist. Nur so können wir weiter aufrecht gehen.
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Dieser innere Prozeß, den ich zu beschreiben versuche, ist allgegenwärtig und betrifft in irgendeiner Weise jeden von uns. Ich möchte dazu ein paar Beispiele aus meiner Praxis berichten:
Ein Patient erzählt mir von einem Erlebnis in seiner Kindheit. Er war fünf Jahre alt, als sich sein Vater mit zwei Bekannten, die Brüder waren, einen Aprilscherz erlaubte. Der Vater rief die beiden Brüder an (sie lebten in verschiedenen Häusern), um ihnen mitzuteilen, daß der jeweils andere Bruder gerade bei einem Unfall verletzt worden sei. Er fand es offenbar komisch, sich vorzustellen, wie die beiden völlig verschreckt losrannten, um sich schließlich unterwegs in die Arme zu laufen. Das geschah dann auch.
Dieser Mann, der von allen als guter, fürsorglicher Vater eingeschätzt wurde, verleugnete seine sadistischen Motive. Seine Zugewandtheit und seine Besorgnis waren nur eine Pose, mit der er das überspielte, was die Beziehung auch zu seinem Sohn in Wahrheit charakterisierte — nämlich Insensitivität und ein Mangel an Mitgefühl. Obwohl der Patient als Kind solchen schmerzhaften und verletzenden Erfahrungen ausgesetzt war, verhielt er sich als Erwachsener oft genauso wie sein Vater. Einmal war er bei einem behinderten Mann zum Abendessen eingeladen. Dieser erzählte ihm von einer Begebenheit, in der ihn ein Taxifahrer wegen seiner Hilflosigkeit beleidigt hatte, und von den Gefühlen der Angst und des Ausgeliefertseins, die er dabei empfunden hatte (die Beine des Mannes waren völlig gelähmt). In der Therapiesitzung berichtete der Patient nun voller Stolz, wie er seinem Gastgeber demonstriert hatte, wie aggressiv er sich in dieser Situation durchgesetzt und behauptet hätte. Er hatte keinen Zugang mehr zu seiner eigenen Empfindsamkeit und seiner Angst; im Gegenteil, er wies sie, wie sein Vater, als schwach von sich.
Ein anderes Beispiel: Eine Patientin verbringt einen Abend mit zwei Bekannten, deren persönliche und professionelle Anerkennung ihr sehr am Herzen liegt. Sie tut alles, um sich deren Wünschen und Erwartungen in sozialer und persönlicher Hinsicht anzupassen. Nach einer Weile gesellt sich ihr Mann zu der Gruppe. Vom ersten Moment an empfindet sie ihn als widerwärtig, eklig, abstoßend. Diese Gefühle quälen sie. Sie kann sie aber nicht abschütteln, obwohl ihr bewußt ist, daß er ihr noch am Abend zuvor so lieb und einfühlsam vorgekommen war.
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In der darauffolgenden Therapiesitzung steigt ein Bild von ihrer Mutter in ihr auf. Deren Beziehungen, ob zu Kindern, Ehemann oder Liebhaber, waren ausschließlich von Pflichtgefühlen geprägt. Alles drehte sich um korrektes Auftreten. Die Patientin hatte sich immer zutiefst nach einer liebenden und zärtlichen Verbindung gesehnt. Die Mutter jedoch war voller Verachtung für solche Bedürfnisse. Sie tat nicht nur alles Liebevolle als Schwäche ab, sie war für die Tochter auch eine ständige Quelle von Todesgefahr gewesen. Die Kindheit der Patientin war durchzogen von Ereignissen, in denen ihr Leben bedroht war. Mal wurde sie als Säugling fallengelassen, mal raste der Kinderwagen einen Abhang hinunter und kippte um, weil die Mutter ihn ohne Bremse an einem Hügel abgestellt hatte. Dennoch hielt jeder die Mutter für überaus liebevoll und fürsorglich.
In der Therapiesitzung wurde der Patientin langsam klar, daß ihre Reaktion auf ihren Mann etwas mit ihrem Verhältnis zur Mutter zu tun hatte. Sie hatte die beiden Bekannten, die Wohlverhalten erwarteten und denen sie es recht machen wollte, wie ihre Mutter erlebt. Das hatte in ihr das alte Entsetzen ausgelöst. Es überkam sie die unbewußte Angst, etwas getan zu haben, das den Anordnungen der Mutter zuwiderlief. Deshalb empfand sie ihren Mann plötzlich als eine Bedrohung. Dem Diktat der Mutter, daß auch die Tochter keine liebevolle Beziehung haben sollte, durfte nicht widersprochen werden. Deshalb mußte sie ihren Mann und ihre Liebe abtun.
Ein anderer Patient, ein fünfzigjähriger Geologe, berichtete von seinem Vater, der freiwillig in Hitlers Wehrmacht gekämpft hatte. Der Vater zeigte nicht nur eine extrem autoritäre Haltung seinem kleinen Sohn gegenüber, er züchtigte ihn auch körperlich wegen der kleinsten Abweichungen vom vorgeschriebenen Verhalten. Seine Frau behandelte er ebenfalls herabsetzend und gewalttätig. Die Mutter nahm den Sohn allerdings nie in Schutz. Nur einmal, als das Kind sieben Jahre alt war, griff sie ein, da sie glaubte, der Vater würde ihn in seiner Wut erschlagen. Der Sohn, gehorsam und stets bereit, sich zu fügen, wurde auch als Erwachsener noch von großen Schuldgefühlen geplagt, wenn er an seinem Vater zweifelte.
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Er kam in die Therapie, weil er sich trotz allem das Gefühl bewahrt hatte, daß mit der Welt, in der er lebte, etwas nicht in Ordnung war. Der Patient hatte schon früh den Entschluß gefaßt, niemals Kinder zu haben. Er wurde jedesmal sehr wütend, wenn er Kinder schreien hörte. Er erlebte dieses Weinen als einen Versuch, ihm etwas aufzunötigen. Das machte ihn so rasend, daß er Angst hatte, ein Kind in einer solchen Situation gegen die Wand zu schmettern. So weit wollte er es nicht kommen lassen.
Hier haben wir es mit einem Menschen zu tun, der nicht weitergeben wollte, was ihm angetan worden war. Trotzdem wirkte die Identifikation unbewußt in ihm weiter. Seine Reaktion auf das Schreien von Kindern war ja die Reaktion des Vaters auf ihn als Säugling. Seine Wut war die Wut seines Vaters. Dessen Haß hatte er völlig als seinen eigenen verinnerlicht. So wird das Eigene wie auch die vom Vater übernommene Verurteilung seines Schmerzes zum Fremden, um es dann außerhalb der Grenzen des eigenen Selbst zu bestrafen.
Ein Hochschuldozent der Mathematik spricht in der Therapie von einem Problem, das er immer wieder bei seinen Einführungskursen hat. Er neigt dazu, zu tief in die Materie einzudringen und sich an Details aufzuhalten. Das führt dazu, daß er den für die Vorlesung vorgeschriebenen Stoff nicht schafft. Die Studenten können so auch nicht die Prüfungen bestehen, in denen nicht Einzelheiten, sondern ein breites Spektrum oberflächlichen Wissens abgefragt wird. Dem Patienten wird bewußt, daß ihn ein Zwang, gründlich zu sein, antreibt. Als ich wissen will, warum er so gründlich sein muß, obwohl es in dem beschriebenen Fall eher kontraproduktiv ist, antwortet er: «Meine Mutter war ziemlich perfekt, und mein Vater hat jeden belehrt. Er ging über alle hinweg und wußte alles besser. Noch als ich achtzehn Jahre alt war, sagte er mir bei der Gartenarbeit, wie ich die Harke halten soll. Später wollte ich ihm zeigen, daß ich es noch besser kann. So wurde ich Mathematiker. Damit übertrumpfte ich ihn, der nur Maschinenbauer war. Ich war noch grundsätzlicher, noch gründlicher.»
Ich erklärte ihm, daß sich hinter der Besserwisserei seines Vaters eigentlich ein Bestreben verbarg, alles zu kontrollieren. Er ließ andere, den Sohn insbesondere, nicht ihr Leben leben. Der Patient stimmte mir zu. «Ja», sagte er, «er ließ niemanden neben sich aufkommen. Er hatte die Macht. Wenn Mutter mich als Kleinkind auf den Topf setzte und ich nicht tat, was sie wollte, schimpfte sie. Dann kam mein Vater und verprügelte mich.»
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Ich sagte: «Es muß für Sie der reine Terror gewesen sein. In einer solchen Situation bleibt einem Kind nichts anderes übrig, als zu kapitulieren und sich den Eltern zu unterwerfen.» Er: «Ja, die Opfer schließen sich ihren Entführern an.» Ich: «Vielleicht ist Ihre Gründlichkeit ein Sich-dem-Vater-Anschließen. Sein Terror veranlaßte Sie, sich mit ihm zu identifizieren.»
Der Patient war sehr betroffen. «Ich bin erwachsen und komme mir trotzdem wie fremdbestimmt vor», sagte er. Sein Verhalten erschien ihm wie aus einer Kinderperspektive. Er fragte sich, warum er nie Kinder haben wollte: «Ich kann mich nicht als Vater sehen. Ich wollte diese Rolle nie übernehmen.» Hier zeigte sich sein Widerstand gegen den grausamen und unberechenbaren Vater. Er wollte nicht sein wie er. Doch diese Rebellion machte es ihm fast unmöglich zu erkennen, wie sehr er sich die Verhaltensmuster des Vaters einverleibt hatte. Die unbewußte Identifizierung äußerte sich dann zum Beispiel bei Problemen, die mit seinem Zwang zur Gründlichkeit zusammenhingen.
Menschen übernehmen die Werte ihrer Peiniger aus Angst vor dem Terror, den ein Erleben eigener Impulse nach sich ziehen würde. Bedürftigkeit und Hilflosigkeit machen uns als Säuglinge abhängig von unseren Eltern. Um seelisch zu überleben, brauchen wir ein gewisses Vertrauen darauf, daß die Eltern uns Liebe, Geborgenheit und Schutz geben werden. Kein hilfloses Wesen kann in dem Bewußtsein existieren, daß die Menschen, , auf die es physisch und psychisch angewiesen ist, seinen Bedürfnissen kalt und gleichgültig gegenüberstehen. Diese Angst wäre unerträglich, ja tödlich. Unser Überleben als Kind hängt also davon ab, daß wir uns mit unseren Eltern arrangieren — und zwar auch und vor allem dann, wenn die Eltern tatsächlich kalt und gleichgültig oder grausam und unterdrückend sind.
In diesem Fall vollzieht sich das, was ich in diesem Buch beschreiben möchte: Das Eigene wird als etwas Fremdes abgespalten. Denn das Kind kann die Eltern nur unter der Voraussetzung als liebevoll erleben, daß es ihre Grausamkeit als Reaktion auf sein eigenes Wesen interpretiert — die Eltern sind grundsätzlich gut; wenn sie einmal schlecht sind, dann ist es unsere eigene Schuld. So wächst in uns die Scham, daß wir so sind, wie wir sind.
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Damit übernimmt das Kind die lieblose Haltung der Eltern sich selbst gegenüber. Alles, was ihm eigen ist, wird abgelehnt und entwickelt sich zur potentiellen Quelle eines inneren Terrors. Seine Gefühle, seine Bedürftigkeit, seine Art der Wahrnehmung werden zu einer existentiellen Bedrohung, weil sie die Eltern dazu veranlassen könnten, ihm die lebensnotwendige Fürsorge zu entziehen. Die Folge ist eine Identifikation mit den Eltern. Das Eigene wird als etwas Fremdes verworfen, statt dessen übernehmen wir die kinderfeindliche Haltung der Eltern. «Eigentlich weiß ich, daß ich mit den Studenten alles richtig mache», sagte mein Patient, «aber ich habe dauernd den Gedanken im Hinterkopf: Du mußt es noch besser machen! Damit verderbe ich mir alles.»
Ein älterer Patient, plastischer Chirurg von Beruf, hatte große Schwierigkeiten, seine Rechnungen zu begleichen, die Therapierechnungen insbesondere. «Ich hatte als Kind nie Geld», erzählt er. «Während meiner Gymnasialzeit verdiente ich etwas nebenbei in einer Schreinerei. Ich mußte es dem Vater abgeben. Nie durfte ich über mich selbst bestimmen.» Er ist ein Mann, der auf vielen Ebenen ein verantwortungsbewußtes, erwachsenes Leben führt, doch in dieser Hinsicht scheint er noch in den Kinderschuhen zu stecken. «Ich bewundere Sie, daß Sie Geld verlangen können, ohne ein schlechtes Gewissen zu haben. Ich habe immer ein schlechtes Gewissen, wenn ich von Patienten ein Honorar fordere», sagt er. Er fürchtet auch, geizig zu sein. «Meine Frau wirft mir vor, daß ich ihr nie Geschenke mache. Sie glaubt, ich gönne ihr nichts. Und hier bei Ihnen höre ich Vaters Stimme. Sie sagt, ich sei ein Idiot, wenn ich Ihnen so viel bezahle.»
Als ich ihn frage, wie er sich denn gerade fühle, antwortet er: «Wie ein Idiot.» Ich: «Sind Sie der Meinung, daß das, was hier vorgeht, für Sie wertlos ist?» — «Nein», antwortet er, und ohne Hohn: «Was hier passiert, ist hervorragend. Aber da ist etwas in mir, was mich unfähig macht zu bezahlen.» Ich weise ihn darauf hin, daß Bezahlung eine Gegenleistung ist, also etwas mit Ebenbürtigkeit zu tun hat. Er: «Nein, es ist nicht ebenbürtig.» Ich: «Sie meinen die Gegenleistung?» Er: «Mutter ist heilig. Ich habe Mühe, den Operationsschwestern, die mir assistieren, Geschenke zu geben. Geschenke sind nur äußerlich. Sie sagen nichts aus über meine Wertschätzung für andere. Die Schwestern sollten auch ohne Geschenke wissen, daß ich viel von ihnen halte. Ich erwarte, daß der andere meine Gefühle errät.»
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Ich: «Sie wollen den Schwestern etwas geben, können aber nicht. Es scheint mir, Sie verneinen das Geben-Können. Ihr Vater hat aus dem Nichtgeben eine Tugend gemacht. Sie haben mir doch erzählt, wie knauserig er war und wie er diesen Geiz als höheren Wert stilisierte. Sie litten darunter, geben es aber weiter!»
«Ja», sagt er, «letzte Woche wollte ich mich mit meinem Vater in Zürich treffen. Er ist gebrechlich und kann nicht mehr richtig sehen. Trotzdem wollte er am Abend mit dem Auto nach Zürich kommen. Er war zu geizig für die Bahn. Ich fürchtete, er könnte einen Unfall haben. Also schlug ich vor, daß ich ihm das Geld für das Bahnbillett zurückerstatte. Als ich ihn nach unserem Treffen zur Bahn brachte, überkam mich der Gedanke, ihm das Geld für die Karte einfach nicht zu geben.» Ich: «Sie sind gespalten. Ein Teil in Ihnen denkt großzügig und kann auch so handeln. Der andere ist Ihr Vater, der Ihnen so etwas nicht erlaubt.» Der Patient seufzte erleichtert. Er war sichtlich froh, sich endlich von diesem verinnerlichten Vater, der nichts mit seinem eigenen Sein zu tun hatte, distanzieren zu können.
In all diesen Beispielen unterdrücken Menschen das Eigene. Sie verwerfen ihre eigene Sicht, ihre Empathie, ihre Empfindungen, weil man ihnen beigebracht hat, daß diese verachtenswert, idiotisch, minderwertig sind. Man hat ihr Eigenes zum Fremden gemacht, für das sie sich schämen und das sie deshalb abspalten und bestrafen müssen. So wird unsere Menschlichkeit zum Feind, der unsere Existenz bedroht und der überall — in uns selbst wie auch in anderen — bekämpft und vernichtet werden muß.
Eine Studentin in einem Therapiekurs fragt mich während einer Vorlesung: «Wie kommt es, daß ich selbst in meiner Arbeit mit Asylanten plötzlich rassistische Gedanken hege? Vorgestern sprach ich mit einer Gruppe jugendlicher Albaner. Einige sagten: <Ich will eine Lehrlingsstelle.> Daraufhin hatte ich das Gefühl, daß sie überhebliche Ausländer sind. Jetzt, durch Ihren Vortrag, erkannte ich plötzlich etwas Altes, Vergessenes: Ich durfte nie ich will sagen, sondern nur ich möchte. So haßte ich diese jungen Albaner für das, was ich an mir selbst hassen gelernt hatte.»
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«Der Krieger», schreibt Barbara Ehrenreich in «Blood Rites» (1997), «sucht nach dem Feind und findet Menschen, die in entscheidender Hinsicht erkennbar wie er selber sind.» In seinem Buch «The Warrior's Honor» (1998) gibt Michael Ignatieff ein Gespräch wieder, das er mit einem serbischen Freischärler in einem Bauernhaus in Ost-Kroatien führte:
«Ich wage den Gedanken auszudrücken, daß ich Serben und Kroaten nicht von einander unterscheiden kann, und frage ihn: <Warum denkst du, daß du so anders bist?> Er schaut sich voller Verachtung um und nimmt eine Zigarette aus seinem khakifarbenen Jackett: <Siehst du das? Dies sind serbische Zigaretten. Da drüben ... rauchen sie kroatische Zigaretten.> — <Aber es sind doch beides Zigaretten?> — <Ihr Ausländer versteht nichts!> Er zuckt mit den Schultern und fängt wieder an, seine Zavosto-Maschinenpistole zu reinigen. Doch die Frage hat ihn offenbar irritiert. Ein paar Minuten später wirft er seine Waffe auf das Bett zwischen uns und sagt: <Ich will dir sagen, wie ich es sehe. Die da drüben wollen Gentlemen sein. Halten sich für fancy Europäer. Ich sage dir etwas: Wir sind einfach alle balkanische Scheiße.>»
Ignatieff schreibt weiter: «Also erst gibt er mir zu verstehen, daß Kroaten und Serben nichts gemeinsam haben. Alles ist anders, bis hin zu den Zigaretten. Eine Minute später meint er, das wirkliche Problem der Kroaten sei, daß sie glauben, <besser zu sein als wir>. Am Ende kommt er zu dem Schluß: Wir sind in der Tat alle dieselben.»
In seinem Essay «Das Tabu der Virginität» schrieb Freud 1918: « ... daß gerade die kleinen Unterschiede (zwischen Menschen) bei sonstiger Ähnlichkeit die Gefühle von Fremdheit und Feindseligkeit zwischen ihnen begründen.»1)
Warum, so fragt sich Ignatieff, können sich Brüder mit größerer Leidenschaft hassen als Fremde? Wieso stellen Männer und Frauen immer ihre Verschiedenheit heraus, obwohl sie bis auf ein, zwei Chromosomen ein identisches Erbgut haben? Ihr Bedürfnis nach Abgrenzung scheint so groß zu sein, daß sie selbst nicht zu leugnende Übereinstimmungen wie intellektuelle Fähigkeiten negieren und als andersartig darstellen, obwohl das Gegenteil längst bewiesen ist. Die Frage, die hinter all dem steht, lautet: Warum empfinden wir gerade den kleinen Unterschied als bedrohlich? Wie kommt es zu dem Paradoxon, daß wir einen anderen vor allem dann als fremd erleben, wenn er uns ähnlich ist? Je näher die Beziehungen zwischen menschlichen Gruppierungen sind, desto feindseliger werden sie voraussichtlich gegeneinander sein. Es sind die Gemeinsamkeiten, die Menschen dazu bringen, einander zu bekämpfen, nicht die Unterschiede.
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Das ist wohl auch der Grund, warum man, in Anlehnung an Freud, sagen kann, daß die Quelle unserer Gewalttätigkeit eine Angst ist, deren eigentliche Angststätte das Ich selber ist.2) Aber anders als bei Freud meint das für mich, daß das eigene Ich, weil es (oder Teile davon) zum Fremden gemacht wurde, eine dauernde Quelle unserer Angst ist. In seinem Aufsatz «Das Unheimliche» gibt Freud ein Beispiel, worin er sein eigenes Erscheinungsbild als fremd und deswegen als abzulehnen erlebt:
«(Es) wird ... interessant, die Wirkung zu erfahren, wenn uns einmal das Bild der eigentlichen Persönlichkeit ungerufen und unvermutet entgegentritt. E. Mach berichtet zwei solche Beobachtungen in der <Analyse der Empfindungen>, 1900, Seite 3. Er erschrak das eine Mal nicht wenig, als er erkannte, daß das gesehene Gesicht das eigene sei, das andere Mal fällte er ein sehr ungünstiges Urteil über den anscheinend Fremden, der in seinen Omnibus einstieg: <Was steigt doch da für ein herabgekommener Schulmeister ein.> — Ich kann ein ähnliches Abenteuer erzählen: Ich saß allein im Abteil des Schlafwagens, als bei einem heftigen Ruck der Fahrtbewegung die zur anstoßenden Toilette führende Tür aufging und ein älterer Herr im Schlafrock, die Reisemütze auf dem Kopfe, bei mir eintrat. Ich nahm an, daß er sich beim Verlassen des zwischen zwei Abteilen befindlichen Kabinetts in der Richtung geirrt hatte und fälschlich in mein Abteil gekommen war, sprang auf, um ihn aufzuklären, erkannte aber bald verdutzt, daß der Eindringling mein eigenes, vom Spiegel in die Verbindungstür entworfenes Bild war. Ich weiß noch, daß mir die Erscheinung gründlich mißfallen hatte. Anstatt also über den Doppelgänger zu erschrecken, hatten beide — Mach wie ich — ihn einfach nicht agnostiziert. Ob aber das Mißfallen dabei nicht doch ein Rest jener archaischen Reaktion war, die den Doppelgänger als unheimlich empfindet?»3)
Es ist, als ob das Ich, das ja die Entwicklung des Fremden in sich enthält, losgelöst vom Umfeld, worin man sich bestätigt fühlt, plötzlich als fremd und deswegen verwerflich erlebt wird. So wird das Ich nicht nur der Sitz der Angst, sondern zu seiner Quelle. Die Allgegenwärtigkeit solcher Erfahrungen deutet nicht nur auf die universelle Verbreitung des Fremden als bestimmender Faktor in unseren Beziehungen zu unseren Mitmenschen und zu uns selbst hin, sondern auch auf die Quelle unserer gegenseitigen Feindlichkeiten und des allgemeinen Bedürfnisses, andere, oder auch sich selber zu bestrafen.
Der Dramatiker Eugene O'Neill läßt in seinem Stück «Trauer muß Elektra tragen» Orin, einen Soldaten im amerikanischen Bürgerkrieg, von seinem Töten auf dem Schlachtfeld erzählen: «Es war so, als würde man denselben Mann zweimal umbringen. Mich beschleicht das komische Gefühl, Krieg bedeutet, denselben Mann immer wieder zu töten, um am Ende festzustellen, daß ich selbst dieser Mann war.»4)
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