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3.3.  Der allzu mühselige Weg zum Gleichgewicht      Gruhl-1975

Nur wer Pessimist genug ist, die ganze Größe der Gefahr zu erkennen, hat überhaupt die Möglichkeit, an ihrer Abwendung mitzuwirken.   Wilhelm Röpke

  Unsere heutige Grenzsituation  

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Die im vorigen Kapitel dargestellte Entwicklung in den Industrieländern ist den Staatsführungen völlig entglitten; richtiger, sie haben die moderne Welt­entwicklung nie in der Hand gehabt. Jetzt, da sie aus ihrem Trance­zustand unsanft erwachen, müssen sie erkennen, daß die Macht in die Hände ihrer Lieferanten überzugehen begann, während sie noch fröhlich in den Tag hinein lebten. Jeden Tag kann ihnen nun eine Preiserhöhung oder gar die Kündigung irgendwelcher Lieferungen ins Haus flattern.

Die alten Staaten Europas, ebenso Japan und um sie herum ein weltweiter Gürtel von Nachahmern leben selbstgefällig in einer Welt, die keine solide Grundlage hat. Die Ideologie des privaten Wohlstandes, in England entstanden und in Nordamerika zur Vollendung entwickelt, wo die natürlichen Reichtümer eines Kontinents dies ermöglicht hatten, war überall begeistert übernommen worden. Für die vielen Länder, denen von vornherein die ausreichende Rohstoffbasis fehlte, war die eingeführte Ideologie von Anfang an keine Medizin, sondern Gift.

Die Bundesrepublik Deutschland kann hier als Beispiel für eine Reihe anderer europäischer Industrieländer stehen, die inzwischen alle in einer Traumlandschaft leben. Die Regierungen verkünden Programme, die nur noch den Stempel des Lächerlichen tragen. Parteien arrangieren Aufführungen in den Parlamenten und auf Parteitagen, die schon einen karnevalistischen Anstrich haben. Gewerk­schaften fordern höhere Reallöhne und setzen sie durch, obwohl ihre Firmen nur noch für die Halde produzieren.

So entstehen Autohalden, Wohnungshalden, Tankerhalden — Kraftwerkshalden werden als nächste dazu­kommen; Schnellstraßen werden für ein Verkehrs­aufkommen gebaut, das nicht mehr eintreten wird. Dabei erhöhen sich die Preise ständig. Was das noch mit Markt­wirtschaft zu tun hat — in der ja Angebot und Nachfrage den Preis regeln müßten — niemand weiß es.1

Die westlichen Demokratien sind zwar seit Ende 1973 unsicher und ängstlich; doch in welcher Lebensgefahr sie sich befinden, haben sie bis heute nicht begriffen. Es gibt kaum jemanden unter denen, die Regierungs­verant­wortung tragen, der den Ernst der Lage erkennt. In Europa hat sich bisher nur Sicco Mansholt in seinem Buch <Die Krise> eindeutig geäußert:

»Ich sehe die vor uns liegenden Probleme von so tief einschneidender Art, daß ich beinahe nicht mehr wage, von <einlenken> zu reden. Es wird fundamentale Veränderungen in unserem Zusammenleben geben müssen. Allgemein werden die Schwierigkeiten noch als eine Art Krisen­erscheinung angesehen. Man ist nicht bereit, diese als fundamentale Strukturänderungen im Weltbild zu sehen. Daher wird Flickwerk geliefert, ist die Untersuchung noch nicht recht in Gang gekommen. Aber wir haben nicht viel Zeit zu verlieren. Wenn einmal die großen Unterschiede Anlaß zu Spannungen in der Welt geben wegen der Grundstoffe, dann sind vielleicht Kriege und Katastrophen unvermeidlich. Das könnte sogar zu einer zu großen Katastrophe führen: dem Ende der Menschheit. Im Augenblick versucht man, durch kleine Änderungen in der Führung die Schwierigkeiten zu überwinden oder zu verdecken.«(2)

Auf die Frage: »Welche Politiker sind sich dieser Gefahren bewußt?« antwortete Mansholt: »Es gibt kaum welche. Meiner Meinung nach sind die Leute, die die Klippen des Wachstums sehen — gleich, ob ich sie kenne oder nur ihre Schriften gelesen habe — sämtlich ohne Einfluß/3)

Und diejenigen, die die totale Wende ahnen, erkennen sie nicht im vollen Ausmaß. 

Sie unterliegen laufend der gleichen Täuschung, wie das bei der exponentiellen Steigerung der Fall war.4  Genauso wie wir in der Vergangenheit falsch nach oben extrapolierten (vgl. Seite 61), werden wir dies nun nach unten tun (s. nebenstehende Abbildung).

Die rapide Verminderung wird aber ganz andere Wirkungen auslösen als die rapide Steigerung. Damals war die Freude allgemein, daß es immer mehr wurde, und man neidete es nur denen, die noch mehr hatten. In Zukunft wird die Unzufriedenheit allgemein sein, weil jeder weniger bekommen wird, und die Mißgunst wird ungeahnte Ausmaße annehmen.  

Die Patentvorschläge und Ideen, um dem Dilemma zu begegnen, werden sich gegenseitig überbieten, aber durch immer neue Hiobsbotschaften überholt werden.  

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Alle »Fehler«, die bisher (angeblich oder wirklich) gemacht wurden, hatten lediglich eine langsamere Steigerung des Brutto­sozialprodukts zur Folge. Alle Fehler, die nach der eingetretenen Planetarischen Wende unterlaufen, werden einen noch schnelleren Verfall der Wirtschaft zur Folge haben.5

Klaus Müller hat zweifellos recht, wenn er sagt: »Forresters Voraussetzungen sind aller Wahrscheinlichkeit nach viel zu optimistisch, weil sie den Zusammenhang wechselseitiger Zuspitzung ganz verschiedener Katastrophen abblenden.«6)  Wenn es dann noch eine Vielzahl von Zielsetzungen gibt, die weder zeitlich noch regional aufeinander abgestimmt sind, dann entsteht ein Geflecht von Zusammenbrüchen.

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Die erste Voraussetzung des Wandels ist, daß der unerhörte Schwindel auffliegt, mittels dessen die Völker bis heute irregeleitet werden. Es ist der Schwindel, der sich aus den kläglichen Wirtschaftstheorien ergab, für dessen propagandistische Aufrechterhaltung heute Unsummen ausgegeben werden.

Die gesamte Werbeindustrie, die über einen reichen Erfahrungsschatz in der Vernebelung der Köpfe verfügt und die sich selbst von nichts anderem ernährt als durch ihren Schmarotzeranteil bei der Ausbeutung der Erde, wird einen (für sie auch wieder lukrativen) Werbefeldzug gegen die neuen Weltanalysen aufziehen.

Das Vorgehen gegen den Club of Rome und seine Studien bot einen Vorgeschmack darauf. 

Ausgerechnet die Kreise in der Welt, die Jahr für Jahr Milliarden­gewinne mit ihren Geschäften einstreichen, scheuten sich nicht, den Wissenschaftlern, von denen noch kein einziger damit reich geworden ist, vorzuwerfen, sie trieben Geschäfte, das »Geschäft mit der Angst«. Natürlich kann ihnen selbst nicht daran gelegen sein, daß irgend jemand den Menschen den Ernst der Lage schildert; sie möchten ihre auf den heutigen Tag bezogenen Geschäfte in aller Welt unbehelligt weiter betreiben.

Gegen solche geballten Interessen der Mächtigen in aller Welt hat nur eine mitreißende Idee eine Chance, die wenigstens so stark ist wie die humanistische in den letzten oder die christliche in den ersten Jahrhunderten unserer Zeitrechnung. Beide haben die Achtung vor dem menschlichen Leben auf ihr Banner geschrieben und in alle Welt getragen — jedoch nicht die Achtung vor dem Leben in all seinen Erscheinungsformen in der Natur. 

Dies war der welthistorische Irrtum der Menschheit, der zum heutigen Selbstmordprogramm geführt hat. Darum muß der Grundsatz der Gleichberechtigung menschlichen Lebens jetzt auf das Leben überhaupt erweitert werden — gleich in welcher Form es existiert (soweit es nicht menschliches Leben direkt bedroht). Der Mensch ist auf diesem Planeten nur zu retten, wenn er nicht nur sein Leben, sondern alles Lebendige zum Gegenstand höchster Ehrfurcht erhebt.

Gerhard Helmut Schwabe sagt dazu: »Nur wenn die Erde in der ganzen Fülle ihres Lebens als unersetzliche Heimat des Menschen geachtet wird, kann er überleben.«7 Die entscheidende Frage ist, ob diese Idee noch in die Köpfe der materialistisch irregeleiteten Menschen Eingang finden kann. Denn sie beherrschen heute die Welt in Ost und West, nicht die traurigen Reste jener Stämme, denen die Rechte der Natur von jeher selbstverständlich geblieben sind. Es ist ein Lernprozeß nötig, an dem alle Bildungseinrichtungen mitwirken müßten. Bis eine solche neue Haltung jedoch Allgemeingut geworden ist, werden Jahrzehnte vergehen, wenn nicht sogar Generationen.

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Die Frage, die jedoch sofort beantwortet werden muß, lautet: Wie müssen wir uns verhalten, damit die freie Entscheidung noch einige Jahre offengehalten werden kann? Wie können wir noch eine Atempause gewinnen, bevor der »Punkt ohne Rückkehr«, the point of no return, wie die Amerikaner sagen, überschritten ist? Der inzwischen verstorbene Generalsekretär der UNO, U Thant, hat 1969 erklärt, daß nach seinen Informationen noch ein Jahrzehnt zur Verfügung stehe, »den menschlichen Lebensraum zu verbessern, die Bevölkerungsexplosion niedrig zu halten und den notwendigen Impuls zur Entwicklung zu geben«; danach aber würden »die erwähnten Probleme derartige Ausmaße erreicht haben, daß ihre Bewältigung menschliche Fähigkeiten übersteigt«.8 Seitdem sind schon sechs Jahre des möglichen Handelns (nicht des Erkenntnisprozesses) nutzlos verstrichen.

Inzwischen greifen seit 1973 die Realitäten ein, und sie setzen einen ungeheuer wirksamen Nachhilfe­unterricht in Gang. Was der Vernunft unerreichbar gewesen wäre, auch wenn sie mit Engelszungen gepredigt hätte, ist nun eingetreten: die »Mehrproduktion« ist in fast allen Industrieländern zu einem Halt gekommen. Das furchtbarste Geschick, das uns Menschen bestimmt sein könnte, wäre nun, wenn der weitere Anstieg der Produktion wieder einsetzte, weil dann der anschließende Sturz in die Totalkatastrophe um so tiefer ausfallen müßte. Unser gnädigstes Geschick kann allein darin bestehen, die Katastrophen klein zu halten und regional zu begrenzen. Ganz zu vermeiden sind sie aufgrund der jahrzehntelangen Unvernunft nicht mehr.

Was tun aber die Regierungen der westlichen Industrieländer? 

Sie unternehmen ganz irre Versuche, die Mehrproduktion wieder in Gang zu setzen. Sie holen die bekannten Rezepte der wirtschaftspolitischen Scharlatane wieder hervor und hoffen inbrünstig, daß diese wenigstens noch einmal wirken werden — und sei es nur, um über die nächsten Wahlen zu kommen. Das ist in Amerika nicht anders als in Europa oder Japan.

Unabdingbare Voraussetzung aller möglichen Lösungen, und sei es nur solcher, die das Schlimmste verhüten, ist und bleibt aber zunächst der Stopp des bisherigen Wahnsinns — insbesondere der weltweiten gegen die Natur verübten Schandtaten der letzten dreißig Jahre. Die Folgen treten heute ein: in den Entwicklungsländern in Form von immer größeren Hungersnöten, in den Industrieländern zunächst in Form von Arbeitslosigkeit.

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   Die Arbeitslosigkeit    

 

Nur infolge der rücksichtslosen Ausbeutung der Erde war es möglich, immer neue Arbeitsplätze zu schaffen. Dennoch konnten längst nicht alle Menschen in Arbeit gebracht werden. Das Problem ist technisch unlösbar, zumal es bis heute das höchste Idol des Fortschritts geblieben ist, Arbeitsplätze einzusparen.

Die Arbeitslosigkeit konnte nur in den Spitzenländern der wirtschaftlichen Expansion fast beseitigt werden; aber auch dort keineswegs zu jeder Zeit. Nur zu Zeiten hoher Produktionssteigerungen wurde die Vollbeschäftigung erreicht. In der Dritten Welt war das Problem schon jetzt nicht zu bewältigen. In Lateinamerika ist die Zahl der Arbeitslosen von 2,9 Mill. 1950 auf 8,8 Mill. 1965 gestiegen. In Indien kommen jährlich rund 7 Mill. neue Arbeitslose hinzu. Theo Löbsack berichtet, daß der indische Wirtschafts­wissenschaftler Amartya Sen davon ausgeht, daß es allein in der indischen Landwirtschaft 42,4 Mill. Arbeitslose gibt.9

Im übrigen Süd-Ost-Asien schätzt Bruno Fritsch die Zahl der Arbeitslosen auf 15% der Arbeitsfähigen.10) Der bisherige Beschäftigungsgrad, der besonders in den Industrieländern sehr hoch ist, konnte nur durch ständige Produktionssteigerungen aufrechterhalten werden. Das hieß insbesondere, daß die Investitionsgüterindustrie einen großen Umfang hatte. Sobald das fälschlich so genannte »wirtschaftliche Wachstum« eingestellt wird, fällt der Teil der Investitionsgüterindustrie weg, der sich auf Neu-Investitionen für Anlagen bezieht, die nicht dem Ersatz alter Anlagen dienen. In der Bundesrepublik Deutschland waren das 1973 11 % des Bruttosozialprodukts. Wenn in diesem Bereich der Wirtschaft auch 11 % der Arbeitskräfte tätig sein sollten (genaue Zahlen darüber sind nicht zu bekommen), dann heißt das, daß bei einem Stopp der Mehrproduktion ca. 3 Mill. Arbeitskräfte arbeitslos werden.

Insofern ist die ständige Produktionssteigerung systembedingt. Sobald sie nicht mehr möglich ist, gibt es eine Wirtschaftskrise. Die Sackgasse wird dann offenkundig. Das erste Ereignis dieser Art trat in Deutschland 1967 ein. Die Investitionen gerieten ins Stocken. Man hatte in kurzer Frist 672.000 Arbeitslose. Die Ursache war ganz natürlich; denn der Nachholbedarf an Wohnungen war nahezu gesättigt, der an Autos und vielen anderen Dingen auch. Die Landwirtschaft war bereits so mechanisiert, daß sie schon bis 1967 2,7 Mill. Arbeitskräfte abgegeben hatte. 

*(d-2015:) T.Löbsack bei detopia 

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Die Beschäftigungslage der Bundesrepublik Deutschland hatte seit dem II. Weltkrieg gegenüber anderen Ländern den ganz besonderen Vorteil aufzuweisen, daß nämlich durch die Kriegszerstörungen ein großer Nachholbedarf vorhanden war. Die Vollbeschäftigung der Nachkriegsjahre war zum großen Teil eine Folge der alliierten Bombardements des II. Weltkriegs.

Jedem Politiker und insbesondere Wirtschaftspolitiker hätte bei einigem Nachdenken klarwerden können, daß der Wiederaufbau schließlich auslaufen würde — aber nichts dergleichen. In Deutschland stürzte darüber erstmalig nach dem Krieg eine Regierung, und es gab wegen der »lange schwelenden Krise« eine große Koalition. Diese sah ihre Hauptaufgabe darin, die Wirtschaft mit Gewalt anzuheizen, und hat das auch mit großem Erfolg getan, und die neue Koalition hat nach 1969 diese Politik fortgeführt. Die Ergebnisse waren so phantastisch, daß man nicht nur die Deutschen alle in Arbeit brachte, sondern noch 2,6 Mill. Ausländer dazu. (1,6 Mill. zusätzlich, da auch 1967 bereits 1 Mill. Gastarbeiter beschäftigt waren.)

Die Folge: Nach sieben Jahren hatte man gegen 300.000 leerstehende Wohnungen, 6.680.000 Kraftfahr­zeuge mehr auf den Straßen, so daß auch hier keine große Nachfrage mehr zu erwarten war und bei vielen anderen Gütern ebensowenig. Das ganz natürliche Ergebnis war ein Rückgang der Aufträge und damit Arbeitslosigkeit. Diesmal nicht mehr 672.000, sondern weit über 1 Million. Glücklicherweise hatte man aber diesmal einen Sündenbock für alle Schwierigkeiten: die Erdölländer.

Was tut man nun, während diese Zeilen geschrieben werden? 

Man startet ein neues Programm zum Anheizen der Konjunktur und der Beschäftigung, obwohl noch über 2 Mill. Gastarbeiter in Deutschland arbeiten. Wenn dieses Programm seine Ziele nochmals erreichen sollte (was sehr zu bezweifeln ist), dann würde um 1980 die nächste Krise kommen. Und die sähe etwa so aus: über 1 Mill. leerstehende Wohnungen (einschl. der Zweitwohnungen); Kraftfahrzeuge, die nicht gefahren werden, weil ihr Betrieb zu teuer ist; Kraftwerke, die nicht erst in Betrieb genommen werden, weil der Strom nicht benötigt wird.

Alles in allem führt das dann zu einer Arbeitslosenziffer zwischen 3 und 5 Millionen. Dabei sind die Unwägbarkeiten der deutschen Exporte noch nicht berücksichtigt. Man muß nämlich bedenken, daß im Jahre 1974 der Export der Bundesrepublik Deutschland einen ganz außergewöhnlichen Höchststand erreicht hatte. Dieser wird sich kaum auf die Dauer halten lassen; er muß vielmehr zurückgehen — was inzwischen im ersten Halbjahr 1975 drastisch eingetreten ist. Denn der Export geht zu dreiviertel in die Industrieländer, die sich ebenfalls schon in einer Wirtschaftskrise befinden.

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Daß in den Industrieländern eine riesige Anzahl von Arbeitskräften freigesetzt werden wird — gleichgültig, welche Wirtschafts­politik betrieben werden sollte — ist eine der sichersten Voraussagen, die für die nächsten Jahrzehnte gemacht werden kann. Die jetzigen künstlichen Konjunkturspritzen sind Dopingbehandlungen vergleichbar, die nach kurzem Rausch die Lebensfähigkeit der Volkswirtschaften um so gründlicher zerstören werden. Dazu kommt der weitere Fehler, daß alle heutige Wirtschaftsförderung noch in die alte Richtung läuft: Es werden energie- und rohstoffintensive, aber arbeitsarme Produktionen errichtet, während längst arbeitsintensive, aber energie- und rohstoffsparende Produktionen das einzig Vernünftige wären. Viele Industrieländer arbeiten jedoch an einer phantastischen Ausweitung ihrer Energiekapazitäten, ohne überhaupt zu wissen, wofür diese Energie eingesetzt werden soll. Da die Grundstoffe in Zukunft immer teurer bezahlt werden müssen, soweit sie überhaupt noch zu bekommen sein werden, wird der verteuerte Konsum Verzichte gravierenden Ausmaßes erzwingen.11

Eine bewußte Verminderung des Konsums und der Ausbeutung der Erde wird zwar auch Arbeitskräfte freisetzen. Doch könnte diese Freisetzung jetzt noch als geordnete Umsetzung im Zuge einer langfristigen Planung erfolgen; später wird sie dagegen auf katastrophale Weise erzwungen werden.

Die Entscheidung, die wir heute zu treffen haben, ist also die, ob wir die unabwendbaren Ereignisse passiv über uns hereinbrechen lassen, oder uns darauf vorbereiten, so gut das geht. »Noch hätten wir einen Bremsweg und eine Umlenkungsstrecke von zwei bis drei Jahrzehnten zur Verfügung.«12

Die »Neu-Definition der menschlichen Arbeit«13 ist nach der Lösung der Überbevölkerung die zweitwichtigste Aufgabe der heutigen Welt. Solange das nicht erkannt ist, werden die anderen Probleme (Grundstofferschöpfung, Umweltverderbnis, Natur­zerstörung) ungelöst bleiben und den Planeten in die Katastrophen führen. Solange die Menschheit noch an den Fetisch »Arbeitsplatz« und daran glaubt, daß man ihn nur »zu schaffen« brauche, ist ihre Lage aussichtslos; denn das ist ein Aberglaube. Die Wirtschaftswissenschaft hat ihn erzeugt, weil sie vergaß, daß zum Produzieren auch Grundstoffe vorhanden sein müssen. Der Glaube an diesen Fetisch ist ein tödlicher Glaube; erst recht, wenn die Zahl der Menschen, die Arbeitsplätze suchen, immer größer wird.

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 Auf dem Raum der Bundesrepublik Deutschland leben heute14 58 Millionen deutsche Einwohner, in Japan sind es 110 Mill. Menschen. In der Weltwirtschaftskrise der 30er Jahre lebten auf dem Gebiet der heutigen Bundesrepublik Deutschland 41 Mill. Menschen, in Japan 65 Millionen.

Darum wird das Ausmaß der kommenden Arbeitslosigkeit das der Weltwirtschaftskrise von 1930 bis 1932 eher übertreffen als kleiner sein. Max Himmelheber schreibt dazu:

»Die Forderung, möglichst viele Menschen produktiv wertschaffend, d.h. bedarfsdeckend, einzusetzen, bestand auch 1932, doch wurde damals zunächst kein Weg gefunden, den Millionen von Arbeitslosen eine bezahlte Tätigkeit zu verschaffen. In die gleiche Situation wird die Welt ... wieder kommen. Es wird an Geld fehlen, die Arbeitslosen einer wertschaffenden Tätigkeit zuzuführen, da sie ja innerhalb der geschrumpften Wirtschaft nicht mehr gebraucht werden.«15

Das viel Schlimmere wird aber in Zukunft sein, daß es nicht nur an Geld fehlen wird, sondern an den Grundstoffen, die für jede Produktion nötig sind. Die Lage wird daher von Grund auf anders sein. Damals war es eine wirtschaftsinterne Krise, morgen ist es die unabwendbare Krise der planetarischen Vorräte.16

 

Die Älteren unter uns erinnern sich noch, wie damals das Arbeitslosenproblem in Deutschland gelöst wurde. Durch einen Arbeitsdienst, dessen Mitglieder in Massenunterkünften bei Bereitstellung von höchst einfacher Nahrung und Kleidung für 25 Pfennig pro Tag (!) Straßenbauten, Entwässerungsprojekte und Forstarbeiten durchführten. Mit äußerst geringem Aufwand konnte man bei einem Projekt 100 oder 200 Männer »in Arbeit und Brot bringen«, wie es damals hieß; heute würde die gleiche Arbeit in der gleichen Zeit von fünf Männern mit Maschinen ausgeführt werden können. An diesem Vergleich wird die ganze Größe des Dilemmas sichtbar. Mit einem derart geringen finanziellen Aufwand wie damals erscheint gegenwärtig in Mitteleuropa die Beschäftigung von Menschen undenkbar. Und überdies wird die Zahl derer, die untergebracht werden müssen, viel größer sein als vor 45 Jahren.17 Nicht nur wegen der gestiegenen Einwohnerzahl, sondern noch aus einem anderen Grund. In Deutschland lebten damals 14,4% der Menschen von der Landwirtschaft, heute aber nur noch 7,6 %. Das heißt, daß der Anteil derjenigen, die eine eigene Lebensgrundlage haben, sich inzwischen noch einmal halbiert hat.

Somit wird das Problem der Arbeitslosigkeit gerade für die Industrievölker schier unlösbar werden, sobald das vorhandene Menschenpotential — vom Zuwachs gar nicht zu reden — nicht mehr über die gewohnten Mengen von Rohstoffen zur Verarbeitung verfügt.

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Die obersten Grundsätze der Wirtschaft müssen in Zukunft sein: Herstellung und Pflege langlebiger Güter, vollständige Wieder­verwendung, Energieeinsparung, geringste Umweltbelastung. Entsprechende Vorschläge sind detailliert erarbeitet worden, so in Deutschland von Frederic Vester und seiner Studiengruppe für Biologie und Umwelt. Bei entschlossener Einhaltung dieser Grundsätze wird wenigstens eine gewisse Entlastung der Arbeitslosigkeit infolge neuer arbeitsintensiver Aufgaben auf folgenden Sektoren eintreten:

  1. Wiederverwendung (Einsammeln, Sortieren, Aufbereiten).

  2. Reparatur und Wiederinstandsetzung von Gebrauchsgütern.

  3. Umweltschutz und Landschaftspflege.

Heute ist man noch der irrigen Ansicht, daß der Umweltschutz die Arbeitsplätze gefährde. In wenigen Jahren wird man froh sein, daß sich innerhalb des Umweltschutzes sinnvolle Tätigkeiten anbieten, in denen Arbeitslose untergebracht werden können. Aber alle diese Bereiche werden nur einen Teil der freigewordenen Kräfte aufnehmen. Man wird nicht verhindern können, daß noch ein Heer von Menschen übrig sein wird, die Arbeit suchen. Die Nichtarbeit müßte darum so attraktiv gemacht werden, daß viele sich für das Nichtarbeiten entschieden. Aber das alles könnte nur auf einem niedrigen Einkommensniveau der Beschäftigten wie der Nichtbeschäftigten geschehen. Denn, wenn vier arbeitende Familienväter sich mit einem arbeitslosen den Verdienst zu teilen genötigt sehen, dann werden sie alle mit weniger zurechtkommen müssen, ganz gleich, wie sie sich das Ergebnis teilen.

Die Arbeitslosigkeit kann nur dann entscheidend verringert werden, wenn die Zahl der Menschen abnimmt oder wenn die Arbeitsproduktivität des einzelnen abnimmt. Soweit das erste nicht ausreicht, muß auch das zweite Verfahren angewandt werden; denn auf die Dauer kann kein Volk mit einem hohen Prozentsatz von Arbeitslosen leben.

Die erste Möglichkeit der Lösung besteht also in einem Verzicht auf Geburten. Um die Zahl der Arbeit­suchenden zu vermindern, müssen die Geburtenjahrgänge kontinuierlich schwächer werden. Dies geht nur dann auf Kosten der Rentenbezieher, solange diese von der (ohnehin unhaltbaren) Annahme ausgingen, daß die arbeitenden Jahrgänge zahlenmäßig immer größer sein würden als ihre eigenen.

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Dies ist in den meisten Industrieländern ohnehin schon nicht mehr der Fall. Eine weitere Verminderung der Kinderzahl je Jahrgang wird darum nicht auf Kosten der Renten zu gehen brauchen; denn der Aufwand für das Aufziehen eines Kindes ist höher als für einen Rentner, da dieses mindestens 16 Jahre nur Verbraucher ist, der Rentner dagegen im Durchschnitt nur die Hälfte dieser Zeit.

In den Industrieländern bringen also schwache Geburten Jahrgänge zunächst eine finanzielle Entlastung der Wirtschaft, allerdings auch eine Erhöhung der Arbeitslosigkeit in der Übergangszeit; denn je weniger Kinder vorhanden sind, um so geringer ist ihr Konsumanteil und ihr Bedarf an Lehrern, Kindergärtnerinnen usw. Darum ist auch hier die kontinuierliche Umsteuerung von so großer Bedeutung, weil sonst das wirtschaftliche Gleichgewicht zu plötzlich belastet wird.

Auf dem Gebiet der Bevölkerungspolitik sind in den Industrieländern am ehesten Erfolge zu erwarten, weil die privaten Entscheidungen ohnehin schon in diese Richtung laufen. Darum erscheint hier der Abbau des Leistungsvolumens durch Bevölkerungsschwund leichter erreichbar als der durch persönlichen Verzicht auf Verbrauch. Bei der Lösung der Bevölkerungs­probleme auf nationaler Basis wird sich jedoch das weltweite Ungleichgewicht der Bevölkerungsmassen noch viel weiter verschieben; denn die weniger entwickelten Völker wachsen gewaltig. Eine weltweite Einsicht bei allen Völkern bis herunter in die einzelne Familie erscheint noch ganz ausgeschlossen.

 

   Verzicht statt Leistung?   

 

Ganz unvereinbar mit den künftigen Wirtschaftsprinzipien ist die heutige Bewertung der Arbeitsleistung. Unsere gesamte Gesellschaft ist auf die Art von Leistung aufgebaut, die als Ware verkäuflich ist. Wer dabei mehr leistet, verdient mehr. Das hat andererseits zur Folge, daß derjenige, der viel leistet, auch viel verbraucht. Er verbraucht Natur, Rohstoffe und Energien, indem er seine Leistung vollbringt — und für seine Entlohnung »kann er sich viel leisten«, wobei er wiederum Natur, Rohstoffe und Energie verbraucht. Das soll jetzt zum großen Teil unerwünscht sein!

Wenn die Menschen nun weniger leisten und sich auch weniger leisten können, womit sollen sie dann ihre Zeit ausfüllen? Karl Steinbuch meint, daß menschliches Leben ohne kreative Produktion unerträglich sei, wenngleich er schon in Sorge ist, daß »die gegenwärtige kreative Explosion durch keine Organisation menschlichen Zusammenlebens mehr kontrolliert werden kann«.18

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Diese Schwierigkeit ließe sich noch am leichtesten überwinden, wenn man geistige, künstlerische, sportliche Leistungen förderte. Aber womit? Durch gesellschaftliche Anerkennung, Achtung, Ruhm und Ehre, also gerade die Werte, die in Verruf gekommen sind, weil der nackte Materialismus die Herrschaft angetreten hat. Frühere Gesellschaften zeichneten ihre verdienten Mitbürger mit immateriellen Werten und mit dem Privileg aus, nicht mit der Hand arbeiten zu brauchen. Doch damals war das Anspruchsniveau selbst dieser privilegierten Glieder der Gesellschaft gering. Heute ist das Anspruchsniveau aller Glieder hoch. Weniger zu arbeiten ist sicher attraktiv, bescheidener zu leben aber ganz und gar nicht.

Ob es hier wieder zu einer Wende kommen kann? Emil Küng führte 1972 in seinem Vortrag »Probleme des Übergangs von der Wachstumswirtschaft zur Gleichgewichtswirtschaft« aus: 

»Die Wendung von der Konsumgesellschaft zur Kulturgesellschaft und Dienstleistungsgesellschaft, die sich aufdrängt, macht es notwendig, daß die Aufwandskonkurrenz mit Hilfe materieller Reichtumskennzeichen allmählich der Vergangenheit angehört. Der <Konsumprotz> sollte sich mit seinem aufwendigen Verhalten nicht mehr Fremdachtung verschaffen können, sondern im Gegenteil der Verachtung anheimfallen. Für die Gewinnung von Sozialprestige müßten immaterielle Güter von der genannten Art besser geeignet sein als materielle. Die Nachfrage hätte sich vermehrt den wenig <rohstoffintensiven> Dingen und den außerökonomischen Werten zuzuwenden, handle es sich nun um Naturgenuß oder Familienleben, um Meditation oder Kontemplation, um Spiel oder Sport, um Musik oder Literatur.«19  

Die herrschenden Gesellschaftssysteme sind heute auf (materieller) Leistung und Belohnung aufgebaut. Im neuen Gesellschaftssystem müßte das Gegenteil, der materielle Verzicht, an der Spitze der Werte stehen. Dies ist ein Wert, der wahrscheinlich nur auf religiösem Fundament mächtig werden kann.

Unter den bedeutenden Religionen gibt es nur eine, die den Verzicht unter die höchsten Werte reiht, und das ist der Buddhismus. Der Buddhismus ist aber westlicher Lebensweise sehr fremd.

»Während der Materialist hauptsächlich an Gütern interessiert ist, geht das Streben des Buddhisten hauptsächlich auf Befreiung. Aber der Buddhismus ist«, wie Schumacher darstellt, 

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»<der Weg der Mitte> und deshalb keineswegs dem körperlichen Wohl feindlich gesinnt. Nicht Wohlstand steht der Befreiung im Wege, sondern Verhaftung an den Wohlstand; nicht die Freude an erfreulichen Dingen ist auszumerzen, sondern die Begierde danach. Das Grundmotiv der buddhistischen Wirtschaftslehre ist demgemäß Einfachheit und Gewaltlosigkeit. Vom Standpunkt eines jeden Wirtschaftlers muß der buddhistische Lebensstil Staunen erregen: seine Vernünftigkeit ist derart, daß erstaunlich geringe Mittel zu außerordentlich befriedigenden Ergebnissen führen. — Für den modernen Wirtschaftsmann ist das natürlich sehr schwer zu verstehen, ist er doch gewohnt, den Lebensstandard an der Höhe des Jahresverbrauchs zu messen, in der festen Annahme, daß ein Mensch, der mehr verbraucht, besser dran sei als einer, der weniger verbraucht.«20

 

Diese Haltung hätte auch bedeutende Folgen für die Weltwirtschaft: »Vom buddhistischen Standpunkt aus ist demnach die rationellste Wirtschaftsweise diejenige, die einheimische Rohstoffe für den eigenen Verbrauch verarbeitet; wohingegen Abhängigkeit von Importen aus fernen Ländern und die daraus folgende Notwendigkeit, für ferne unbekannte Völker zu produzieren, als höchst unökonomisch zu gelten hat und nur in Ausnahmefällen und in kleinem Umfang gerechtfertigt werden kann.«21

Auch Arnold Toynbee erwartet die Herrschaft der Buddhisten, schon weil kein Raum mehr übrig sein wird als »unstofflicher«, »geistiger Raum«: »Als einzig mögliche Art, seine Muße zu nutzen, bleibt übrig, sich nach innen zu wenden — und dann wird der Mensch sich selbst gegenüberstehen und der höchsten geistigen Wirklichkeit dieses geheimnisvollen Universums, in das jeder von uns hineingeboren ist. Ich benutze den Ausdruck >höchste geistige Wirklichkeit< nicht >Gott<, weil der Begriff >Gott< dem Buddhismus nicht entspricht. Und die Buddhisten werden die immer weiter wachsende Mehrzahl der Menschen ausmachen.«22

Toynbee irrt allerdings darin, daß kein Raum mehr da sein wird; denn es werden immer nur soviel Menschen leben, wie die Erde zu ernähren vermag. Darum ist es auch unvorstellbar, daß die Buddhisten durch ihre wachsende Zahl die Erde erobern werden. Wenn der Buddhismus gegen alle Wahrscheinlichkeit die Erde erobern sollte, dann durch seine Idee. So sieht es auch Reinhard Demoll, ohne den Buddhismus zu nennen:

»Ausschlaggebend ist, daß er (der Mensch) einsieht, daß seine Gesinnung sich ändern muß, so daß nicht mehr Herrscher- und Besitzwille bei den Planungen führend sein dürfen, sondern ein Respektieren der Eigengesetzlichkeit der Natur, ein Hinhorchen, um zu erkennen, wie man ihre Harmonie fördert statt zerstört; mit einem Wort: Retten kann uns nur die Erfüllung der Menschen mit Ehrfurcht vor der göttlichen Natur23

* (d-2015:) R.Demoll bei detopia 

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Der Buddhismus liefert den Beweis, daß eine Ethik des Verzichts wahrscheinlich nur auf dem Fundament der Religion möglich ist. Aber sind nicht gerade Kulturen mit einer solchen Haltung zerstört worden, zerstört durch die Gewalttätigkeit der Abendländer? Der heutige Mensch der Weltzivilisation wird freiwillig kaum bereit sein, Opfer und Verzichte auf sich zu nehmen. Ein möglicher Wandel seiner Gesinnung würde auch mehrere Generationen beanspruchen, eine Zeit, die nicht mehr zur Verfügung steht.

Es gibt in der heutigen Weltzivilisation keine Tendenzen, den eigenen Wirkungsbereich einzuschränken, sondern nur die, ihn zu erweitern. Die europäische Einstellung zur Welt ist eine erobernde, unterwerfende, um nicht zu sagen gewalttätige. In einer gewalttätigen Welt können die Gewaltlosen nicht siegen. Im Kampf zwischen geistig gelenkter Materie (bis hin zu Atombomben) und bloßem Geist muß der Geist verlieren.

Die besonders aktiven Bevölkerungsteile Europas sind ausgewandert und haben Kolonien gegründet. Vorzugsweise in Nordamerika haben sie — abseits der Weltgeschichte — einen gigantischen Ausbeutungs¬krieg gegen die Erde und ihre Urbewohner geführt, die ihnen das Land nicht streitig zu machen vermochten; wohingegen sich die Europäer noch gegenseitig um Ländereien und Ressourcen bekriegten. Viele Völker hatten immer schon überschüssige Kräfte, die sich in kriegerischen Unternehmungen entluden. Besonders die europäische Geschichte ist voll davon. Erst in den letzten beiden Jahrhunderten nahm die Zahl der Kriege ab. 

Allerdings gab es in einer schon ziemlich dicht besiedelten Welt zwei gigantische Weltkriege mit vielen Millionen von Toten. Aber selbst während dieser Kriegsjahre nahm die Weltbevölkerung nicht ab, sondern beträchtlich zu. Am Ende des II. Weltkrieges mit seinen 55 Mill. Toten lebten 200 Mill. Menschen mehr auf der Erde als zu seinem Beginn! Wir müssen feststellen, daß es zwischen 1813 und 1870, zwei Generationen lang, keinen großen Krieg gab. Dann gab es einen 43jährigen Frieden bis 1914, und seit 1945 haben wir bereits einen 30jährigen »Frieden«. In der Welt hat es zwar fast ständig Kriege gegeben, aber gerade für die Industrieländer trifft die Feststellung von den langen Friedenszeiten zu.

Wie kam es dazu?  

Weil sich der aktive Teil ihrer Bürger — und auf den kommt es an — mit dem Aufbau der Industrie beschäftigte. Hier waren für Führungskräfte gleich große Aufgaben vorhanden, wie sie bei der Kommandierung ganzer Armeen gegeben sind. Das Management großer Konzerne bot Einsatzmöglichkeiten jeder Art.

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Die aktiven Kräfte der Industrievölker brauchten ihre überschüssigen Potenzen nicht mehr gegen andere Völker abzuleiten, sie hatten im Krieg gegen die Erde eine Fülle von Möglichkeiten, um sich auszutoben. Und gerade nach dem II. Weltkrieg fanden sie unaufhörlich neue Kriegsziele. Wo früher die Fähnchen der Truppenteile auf der Landkarte gesetzt wurden, da werden jetzt die Produktionskurven abgesteckt.

Eine solche Entwicklung hat der französische Philosoph Auguste Comte schon 1820 gesehen: 

»Diese Lust am Herrschen, die sicherlich unzerstörbar im Menschen ist, wurde inzwischen zu einem großen Teil durch den Fortschritt der Kultur beseitigt; wenigstens sind ihre Nachteile allmählich verschwunden. In der Tat hat die Einwirkung des Menschen auf die Natur die Richtung dieses Gefühls verändert, indem sie es auf Sachen lenkt; der Wunsch, Menschen zu befehligen, hat sich nach und nach in den Wunsch verwandelt, die Natur nach unserem Belieben zu gestalten. Seit dieser Wandlung hat das Bedürfnis nach Herrschaft, das allen Menschen angeboren ist, aufgehört, schädlich zu sein; zumindest kann man die Zeit vorhersehen, in der es nicht mehr schädlich, sondern nützlich wirkt.«24  

Das ist die gleiche Wendung, die Goethe im II. Teil seines »Faust« antizipiert.

Was Comte nicht voraussehen konnte, war die Tatsache, daß es eines Tages auch in der Natur nichts mehr zu erobern geben würde. Was dann? Riesige Arbeitsarmeen sind heute mit den modernsten Waffen gegen die Natur ausgerüstet, und ihre Generäle wollen sie dirigieren. Von diesen höchst militanten Kadern der Aktivisten in Ost und West wird grimmiger Widerstand geleistet werden, wenn man ihnen rechtzeitig einen Teil der Waffen nehmen und ihr Operationsfeld beschränken will. Denn auf diesem Kriegsschauplatz glauben sie immer noch, Siege erringen zu können.

Auch Adolf Jöhr ist der Ansicht, daß das »Wirtschaftswachstum« nicht die Folge eines Regierungs­beschlusses darstellt (im Osten auch das) und auch nicht die Folge einer »Wachstums­philosophie« ist, »sondern zur Hauptsache das Ergebnis der Anstrengungen der Unternehmungen, ihre Ertragskraft durch Erweiterung der Produktion und durch Verbesserung der Produktions­methoden und Produkte zu erhöhen. ... Selbst wenn es aber möglich wäre, das Wachstum zu stoppen, hätte dies schwere Konsequenzen. Auf kürzere Frist wäre eine größere Arbeitslosigkeit vor allem in den Zweigen der Investitions­güterindustrie zu erwarten. ... Und schließlich würde durch die Sistierung aller Anstrengungen, welche auf das Wachstum gerichtet sind, den Menschen, und zwar gerade den begabteren und aktiveren Menschen, eine wichtige Aufgabe weggenommen, was besondere Gefahren erzeugt, solange nicht eine andere ebenso wichtige und faszinierende Aufgabe, z.B. im Bereich der Freizeitbeschäftigung, an ihre Stelle tritt.«25 

* (d-2015:)   wikipedia  Auguste_Comte  1798-1857

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Eine Verzichthaltung des Menschen ist wahrscheinlich schon mit den Naturgesetzen nicht in Überein­stimmung zu bringen. Andere Lebewesen gehen auch an die Grenze ihrer Leistungsfähigkeit, sie sind aber nicht im Stande, diese zu überschreiten. Der Mensch vermochte seine natürliche Grenze soweit zu durchbrechen, daß er nun an die Außengrenze des Planeten Erde stößt. Außer den Buddhisten haben sich nur Splittergruppen der menschlichen Gattung die Fähigkeit zur Askese erworben. Diese mag ein möglicher Weg und eine Hoffnung sein. Die allgemeine Umkehr der Menschen erscheint zur Zeit undenkbar. Doch wissen wir heute nicht, welche Tendenzen die Not noch gebiert.

Die Voraussetzung, sowohl für den Bevölkerungsrückgang wie für den Leistungsrückgang, wäre eine vollständige Änderung der »Einstellung zur Umwelt - ja zum Leben selbst: Eine Einstellung, die sich stützt auf ein ganz neues Bewußtsein der Zerbrechlichkeit unseres Planeten in seiner lebenserhaltenden Funktion.«26 Dazu kann es rund um den Planeten niemals kommen.

Der amerikanische Sozialwissenschaftler Robert Heilbroner, der diese Feststellung trifft, glaubt nicht daran, »daß unsere Generation die technischen Schwierigkeiten überwinden wird, wodurch die unbeschränkte Lebensfähigkeit unseres Planeten garantiert würde, und sie wird sicher nicht die sozialen Probleme bewältigen, die unlösbar mit dem Überleben der Menschheit verknüpft sind. Aber indem wir erstaunt erkennen, daß ein drängendes Umweltproblem existiert, können wir den Boden bereiten für entscheidendere Aktionen kommender Generationen.«27

In einigen Generationen — nein! schon in einer Generation — wird die Weltbevölkerung so angewachsen und die Erschöpfung der Rohstoffe so weit fortgeschritten sein, daß es gar keinen Steuerungsspielraum mehr gibt. Dann werden längst die Natur­gesetze in ihrer Automatik den Gang der Ereignisse bestimmen. Thesen, wie sie Heilbroner vertritt, hätten nur dann eine Chance, wenn ein kurzfristiger Stopp der Zunahmeraten erzielt werden könnte. Die Frage aber, wie dieser Stopp zu erreichen wäre, enthält nicht weniger Schwierigkeiten wie jede langfristige Lösung auch. Gerade darum bietet die gegenwärtige Konjunktur­pause eine einmalige Chance für eine neue Politik.

Schumacher appelliert an den einzelnen und stellt fest,

»daß es die erste und wichtigste Aufgabe jedes einzelnen ist, sich selbst auszusortieren, das >EINS aber ist not< innerlichst zu begreifen und zu akzeptieren. ... Im persönlichen Bereich steht es einem jeden frei, auf bescheidene und stille Weise sich einen neuen Lebensstil zu erarbeiten, der die Absurditäten des modernen >Rat race< vermeidet und den erkannten biologischen und metaphysischen Wahrheiten die Treue hält.«28

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Zweifellos kann sich der einzelne in dieser Weise »abhängen«, er kann darin auch das wahre Glück finden — nur sind die Probleme seines Landes und erst recht die globalen Probleme damit nicht gelöst. Somit ist auch das private Glück dieses einzelnen nicht gesichert. Seine freie Entscheidung allein ändert den Lauf der Geschichte nicht.

Carl Amery spricht von einer »neuen Askese«:

»Sie wird Existenzformen einzuüben haben, die dem gemeinsamen Überleben von Menschheit und Biosphäre nicht widersprechen. Wie schwierig und gleichzeitig realistisch solche Einübung sein muß, ist ebenfalls klar. Sie betrifft keineswegs nur den einzelnen, sondern fordert von allen, die sich der Dringlichkeit unserer Lage nicht verschließen, eine Solidarität der Haltung und der Aktion. Sie wird in allen (vor allem den sogenannten >zivilisierten<) Kulturkreisen auf äußerste Ablehnung stoßen. Sie wird den machtvollen Interessen fast aller Maßgebenden auf der ganzen Welt einen neuen way of life entgegenzusetzen haben; eine Kultverweigerung, die um nichts ungefährlicher ist als die Kultverweigerung der Juden und der Urchristen im spätrömischen Imperium. - Damit sollte die politische Relevanz unserer gemeinsamen Anstrengung hinlänglich klar sein.«29

Der Gegensatz zwischen den genannten religiösen Bewegungen und der heutigen Weltlage liegt auf der Hand: Zu einer gemeinsamen Aktion kann es heute nicht kommen, weil es keinen gemeinsamen Glauben gibt.30 Aber selbst ein gemeinsamer Glaube würde noch nicht genügen — wir brauchten eine Instanz zur Reglementierung. Werden sich die Menschen einer solchen Instanz freiwillig unterwerfen, ohne selbst schon in die Notlage gekommen zu sein? Damit ist das Problem der Freiheit aufgeworfen.

 

   Die Freiheit, die noch bleibt   

 

Natürlich stellt sich schon jetzt ständig die Frage: Welches Maß an Freiheit haben wir überhaupt noch? Die Freiheit zum Untergang allemal. Wenn wir aber dieser Zwangsläufigkeit entgehen wollen, bleiben nur die wenigen Wege innerhalb der Grenzen dieses Planeten. Vor allem die maß- und verantwortungslos genützte wirtschaftliche Freiheit stößt auf diese Grenzen.

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Der sowjetische Kommunismus hat ebenfalls ein viel zu hohes Zerstörungspotential, als daß er — ohne weiteres »Wachstum«, wie das Wolfgang Harich in seinem Buch <Kommunismus ohne Wachstum?> (1975) empfiehlt — die Lösung bringen könnte.

 

Volle wirtschaftliche Freiheit wäre nur unter der Grundvoraussetzung denkbar, daß das Weltall eine endlose Fläche wäre. Aber wir bewohnen nur eine kleine Kugel unter den unendlich vielen, und von dieser steht uns nur die dünne Oberfläche zur Verfügung. Diese ist heute vom massenhaft auftretenden Menschen total in Besitz genommen. Und diese Menschenmassen bewegen und vernichten riesige Materialmassen von der nur begrenzt nutzbaren Materie. Alle Massen, die ins Riesenhafte anwachsen, vermindern die Freiheit — ganz gleich, ob es sich um Massen von Menschen oder um Massen von Gütern handelt. In letzter Zeit nahmen beide exponentiell zu.

Nicht der Staat ist es gewesen, der den Menschen eine Freiheit nach der anderen genommen hat, sondern unsere technische Welt. Der Zwang ist im letzten Jahrhundert auf dem Wege des Fortschritts immer durchgreifender und vielgestaltiger geworden. Ernst Forsthoff sprach von der »Negation der individuellen Freiheit, soweit es die technischen Belange erfordern«, selbst in den USA.31

Der amerikanische Philosoph George Santayana sagte: »Obgleich Amerika immer überzeugt gewesen ist, das Land der Freiheit par excellence zu sein ... so gibt es doch kein zweites, in dem Menschen unter einem mehr überwältigenden Zwang leben.«32

Der Staat mußte diesen technischwirtschaftlichen Entwicklungen — oft widerwillig — Rechnung tragen. (Darum ist es tragikomisch, wenn die heutigen »Freiheitskämpfer« meist die Staatsform ändern wollen.)

Dafür, daß er nicht mehr Not und Mangel leidet, mußte jeder einzelne immer mehr von seiner Freiheit hingeben. Viele halten das für einen durchaus angemessenen Preis. Denn dafür leben sie gegen des Lebens Wechselfälle ziemlich gesichert — so glauben sie wenigstens. Dafür haben sie sich aber einem eisernen Reglement zu beugen. Der Tagesablauf wird von der Uhr diktiert und in Verkehrsregeln eingezwängt, die jeden viel intensiver lenken als die früheren strengen Konventionen der Gesellschaft. Dies muß ein jeder durchhalten, bis er 65 ist — und dann stirbt er normalerweise, weil er gar nicht weiß, was er mit seiner Zeit anfangen soll; denn sein Leben lang wurde ihm gesagt, was er zu tun habe, er wurde nie gefragt, was er tun wollte. Inzwischen hat er das Wollen verlernt und auch nicht mehr die physische Kraft dazu. Da man nun nichts mehr von ihm will, spürt er, daß er überzählig ist. 

* (d-2015:) W.Harich bei detopia 

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Die Freiheiten mußten auf dem Wege zum materiellen Wohlstand und zur sozialen Sicherheit aufgegeben werden! Keine Zeit aber sprach soviel von Freiheit und von Befreiung wie die heutige, während das Maß an Freiheit für jeden einzelnen ständig abnimmt. Das weltweite Getöse, das seit Jahrzehnten um das Wort »Freiheit« veranstaltet wird, ist der beste Beweis dafür, daß die Entwicklung längst in die andere Richtung läuft. (Die Menschen reden immer vorzugsweise von dem, was sie nicht haben.) »Vielleicht ist der Grund, warum wir heute so viel über die Wichtigkeit der menschlichen Person, über die Würde und die Potentiale des Menschen sprechen, eben der, daß sie unaufhörlich verringert werden.«33

Und jetzt geht auch diese angeblich segensreichste Freiheit, die wirtschaftliche, dem Menschen verloren. Nach Francois de Closets gehört dies zur Gesetzmäßigkeit des Fortschritts: »die Technik vergrößert die Möglichkeiten des Menschen, seine Umwelt zu verseuchen, also zwingt die Technik zu weiterer Reglementierung. Das alte liberale Ideal wird sich mit dieser Tatsache abzufinden haben. Die Gemeinschaft wird nach und nach Boden, Luft, Wasser, Fauna und Flora in ihre Obhut nehmen müssen.«34 Er fährt dann fort: »Eine immer größere Zahl von Tätigkeiten wird schlicht und einfach verboten werden. Gewisse landwirtschaftliche Anbaumethoden, gewisse nicht klärfähige Erzeugnisse werden scharf überwacht werden. Das Wasser wird nicht mehr umsonst benutzt werden dürfen, weil jedermann weiß, daß die zur Verfügung stehende Menge in den kommenden Jahren nicht für jeden beliebigen zusätzlichen Bedarf ausreichen wird, zumal dann, wenn man es weiterhin so vergeudet wie jetzt. Über das Wasser wird also >abgerechnet< werden, auch über das Wasser der Flüsse und Seen, nicht nur über das Trinkwasser. Nicht zuletzt aber wird jede Verunreinigung bezahlt werden müssen.«35

Ungeachtet dessen sieht sich die zivilisierte Menschheit von zwei materialistischen Theorien umworben, die beide gleich unhaltbar sind. Beide verkünden die Freiheit des Menschen und beide schmeicheln damit seiner Eigenliebe, da der Mensch nichts so gern hört, als daß er frei sei und noch freier sein werde. Um diese Freiheit zu erreichen, wollten beide dem Menschen einen immer größeren Anteil von Materie zur Verfügung stellen. Und gerade das erweist sich jetzt als eine unheimliche Absurdität.

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Wollen wir die Lebensbedingungen auch nur der nächsten Generation auf dem Erdball erhalten, dann sind wir heute weniger frei denn jemals. Dann ist heute eine freie Wirtschaft, die alle Entscheidungen ins Belieben einzelner Menschen oder Gruppen stellt, nicht mehr möglich. Denn diese einzelnen denken ja mit Recht nur an ihre gegenwärtigen Interessen, nicht an die künftigen. Die Staaten dachten bisher auch nicht an die künftigen Interessen. Aber ihnen wird diese Aufgabe nun zu Recht auferlegt.

Jetzt muß die Zukunft geplant werden. Und es ist weit und breit niemand sichtbar, der das tun könnte, außer dem Staat. Wenn er es aber tut, dann muß er jetzt tatsächlich viele Freiheiten entschlossen aufheben, um das Chaos zu verhüten. Infolgedessen werden weitere Freiheiten nicht deshalb verlorengehen, weil alle immer besser leben wollen, sondern weil sie überleben wollen. Selbst Marxisten müssen, wenn sie das Denken noch nicht verlernt haben, zugeben: »Das Reich der Freiheit aber ist, wenn die Gleichungen der Ökologie aufgehen, ferner gerückt denn je.«36

Im Kampf ums Überleben werden die Menschen auch zu allem bereit sein. Wenn erst in der Nachbarschaft die Zusammenbrüche einander überstürzen, dann wird tatsächlich die Vision Dostojewskis zur Tatsache werden, die er im fünften Buch der »Brüder Karamasoff« beschreibt. Der Großinquisitor erklärt in seiner großen Rede an den wieder erschienenen Christus das Verhalten der Menschen:

»Und sie werden uns finden und werden aufschreien zu uns: >Sättiget ihr uns! die uns das Feuer vom Himmel versprachen, die haben es uns nicht gebracht!< und dann werden schon wir ihren Turm zu Ende bauen. Denn der wird für sie bauen, der ihren Hunger stillt. Und nur wir werden ihren Hunger stillen in deinem Namen, und wir werden lügen, daß es in deinem Namen geschieht. Und niemals, niemals werden sie satt sein ohne uns! Keine Wissenschaft wird ihnen jemals Brot geben, solange sie Freiheit genießen. Sie werden aber schließlich selber ihre Freiheit uns zu Füßen legen und zu uns sprechen: >Knechtet uns nur, aber gebt uns zu essen!< Und dann haben sie endlich begriffen, daß Freiheit für alle und reichliches Brot für jeden einzelnen unvereinbare Dinge sind. Denn niemals, niemals werden sie verstehen, untereinander zu teilen.«37

 

   Die Raumschiff-Wirtschaft    

 

Die Vorbereitung auf eine stabile Raumschiff-Wirtschaft erfordert die gleiche Intensität wie die Vorbereitung auf einen großen Krieg. Dies ergibt sich schon daraus, daß es in diesem Krieg nicht nur um begrenzte Kriegsziele geht, sondern um das Überleben ganzer Völker.

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Absolute Priorität bei dieser Vorbereitung hat:

  1. Die Versorgung mit Nahrung

  2. Die Versorgung mit Kleidung

  3. Die Versorgung mit Heizung (in klimatisch ungünstigen Regionen)

  4. Die Aufrechterhaltung des notwendigen Verkehrs

Diese Ziele werden nur durch Verzichte erreichbar sein: Verzicht auf Kinder, Verzicht auf Rohstoffe, Verzicht auf Energie­verbrauch. Theo Löbsack kommt zu dem Schluß:

»Nur dann hätten wir noch eine Chance, wenn wir geradezu asketische Einschränkungen in fast allen Bereichen des Lebens auf uns zu nehmen bereit und fähig wären. Dazu gehörte massiver Konsumverzicht, Beschränkung der Kinder­zahl, der Industrialisierung, der Umweltver­schmutzung, der Kapitalinvestitionen, sogar der Nahrungs­mittel­erzeugung mit dem Ziel, weltweit den Übergang vom gefährlichen Wachstum in einen Gleich­gewichtszustand zu erzwingen.«38

Dies ist ein so radikaler Wandel, daß er den meisten Menschen heute noch als völlig unzumutbar erscheinen wird. Denn sie sollen ja nicht auf kommende unbekannte Dinge verzichten, sondern auf solche, die sie bereits haben oder zumindest kennen. Die Unkenntnis über all das Machbare, den Stand der natürlichen Unschuld, hat der Mensch in den letzten 200 Jahren verloren, als er in Europa den zweiten Sündenfall beging und sich die Umwelt technisch unterwarf. Viele Menschen rund um die Erde haben inzwischen einen Blick in das »gelobte Land« getan und werden es dennoch nie betreten. Die Lehre, daß dort seine Bestimmung, ja seine Erlösung liege, hat der abendländische Mensch inzwischen über die ganze Welt verbreitet.

Und »diese Welt, die niemals zuvor bereit gewesen war, auch nur ein einziges der universalen Glaubensbekenntnisse, die ihr zu ihrer Erlösung angeboten wurden, allgemein zu akzeptieren, findet offenbar nichts dabei, die Religion der Wissenschaft und der Technologie ohne Vorbehalte anzunehmen. ... Die Ursache dieses Optimismus ist die Annahme, daß die menschliche Wissens- und Handlungs­fähigkeit unbegrenzt sei. Wir haben es hier mit der uralten Ketzerei und Selbstvergötzung des Menschen zu tun. ... Es ist die Hybris, die in der westlichen Gedankenwelt und Mythologie ein immer wiederkehrendes Motiv darstellt und bis zum Sündenfall im Paradies und den griechischen Sagen von Prometheus und Dädalus zurückreicht.«39)  Mit diesen Sätzen schließt David Landes sein umfangreiches Werk <Das Projekt Prometheus>.  

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Damit ist die heutige Welt nicht mehr die alte. Jeder einzelne glaubt, daß alle Errungenschaften zu einem selbstverständlichen Besitzstand gehören — und ihm ist gerade in den letzten Jahren noch viel, viel mehr versprochen worden. Ihm wird es nicht in den Kopf gehen, »weshalb eine Verbesserung des materiellen Lebensstandards, die vor 10 Jahren möglich war, heute nicht mehr möglich sein soll.«40

Carl Amery meint dazu: 

»Die Suche nach dem Millennium in dieser Welt war nur allzu erfolgreich: der Kleine Mann (wo immer er zu finden ist) hat sich voller Unschuld den aktiven Kräften der Weltzerstörung angeschlossen. Er fährt Auto und legt Wert auf klopffreies Benzin; er profitiert von der Ausbeutung der Dritten Welt; er verwendet ökologisch katastrophale Insektizide auf seinen Äckern; er mißt sein eigenes wirtschaftliches Schicksal am Tempo der Expansion, an der er teilnimmt. Mit anderen Worten: die Ursachen der Katastrophe gehören — wenigstens in unseren Breiten — schon zu seinem Besitzstand, und er wird, genau wie der Bauer des 16. und der Wilderer des 18. Jahrhunderts, mit Leidenschaft ... auf alle obrigkeitlichen Versuche reagieren, diesen seinen Besitzstand zu schmälern.«41

Und die »zurückgebliebenen« Völker wittern einen ganz bösen Trick, der in der Absicht ersonnen sein könnte, ihnen das vorzuenthalten, was andere schon haben, damit diese es allein behalten. Dennoch wird den einzelnen Armen in einem Entwicklungsland die Botschaft des Verzichts, falls sie ihn überhaupt erreicht, längst nicht so hart treffen wie den »Armen« in unserem Land, vom Reichen ganz zu schweigen.

»Aber noch macht sich niemand klar, von welchem Ausmaß Eingriffe in die Außen- und Innenpolitik, die Wirtschaft und das Privatleben erforderlich sind, falls ein Versuch zur Abwehr oder wenigstens steuernden Beherrschung der bereits im Gang befindlichen Katastrophe noch Aussicht auf Erfolg haben soll. ... Selbst wenn es gelänge, durch Umweltschutzmaßnahmen und Verhinderung eines dritten Weltkrieges alle in Gang gesetzten krisenhaften Exponential­vorgänge über Nacht zu stoppen, das heißt nicht weiter ansteigen zu lassen, so würde dies die Katastrophe lediglich verzögern, aber nicht verhindern.«42

Die industrialisierten Länder sind es gerade, die zuerst in eine ausweglose Lage geraten werden. Der künstliche Produktionskreis bildet heute die Lebensgrundlage für fast 2 Milliarden Menschen. Hat er damit nicht bereits eine Dimension erreicht, die sich jeder Steuerung entzieht? Höchstwahrscheinlich. Aber wenn er zusammenbricht, treten Katastrophen ein, gegen die Dantes Inferno ein harmloses Theaterstück wäre. Darum lohnt sich jede noch so hoffnungslose Überlegung, wie der Zusammenbruch, wenn schon nicht vermieden, so doch wenigstens gemildert werden könnte.

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Welche Mindestanforderungen müßten erfüllt werden, damit die Chance einer Lösung von einiger Dauer eröffnet werden könnte? Wie könnte die schwierige Phase der Umstellung durchgestanden werden? Je früher und entschlossener sie eingeleitet wird, um so größer wird der Teil der zivilisatorischen Errungenschaften sein, der in einen Gleichgewichtszustand hinübergerettet werden kann.

Zunächst muß man sich völlig frei machen von dem, was heute ist. Unsere einmalige und bisher lächerlich kurze Periode der Menschheitsgeschichte hat keinerlei Beweiskraft. Wer sich darauf berufen will — mit der Redensart, die Menschen hätten ja noch immer Auswege gefunden —, beweist nur seinen Mangel an Urteilsvermögen. Ganz ausgepichte Dummköpfe schleudern dann die Redensart in die irritierte Menge: »Zurück auf die Bäume!« Ihnen kann man nur entgegenschleudern, was ihr Tun bedeutet: »Vorwärts in die Massengräber!« Sie haben so geringe Geschichtskenntnisse, daß sie nicht wissen, daß über Jahrtausende der Menschheitsgeschichte völlig stabile Kulturen bestanden haben.43 In einigen Landstrichen existieren sie heute noch. In sehr vielen würden sie noch existieren, wenn sie nicht durch die industriellen Eroberer vernichtet worden wären.

Diese stabilen menschlichen Lebensformen sind nicht nur bekannt, sondern auch historisch erprobt. Unerprobt ist nur die heutige Zivilisation, denn sie besteht noch nicht einmal 100 Jahre, in ihren extremen Wucherungen noch keine 30 Jahre. Aber der arrogante Mensch unserer Tage weiß nichts von den Jahrtausenden vor ihm — er sieht nur sich und macht dann gleich einen Sprung — bis zu den Affen.

Was kann aber bewahrt werden? Das, was wenig kostet - wenig nicht im bisherigen, finanz-ökonomischen, sondern im ökologischen Sinne. Die Maxime der größtmöglichen Produktion zu den geringsten finanziellen Kosten ist nicht mehr gültig. An ihre Stelle tritt der Grundsatz: Nur lebensnotwendige Produktion zu geringsten ökologischen Kosten. Oberste Leitlinien sind dabei:

  1. Vollständige Wiederverwendung (Recycling) ohne Rücksicht auf die Kosten

  2. Weitestgehende Energieeinsparung

  3. Weitestgehende Rohstoffschonung

  4. Ökologie geht vor Ökonomie

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Ein entsprechender Vorschlag wurde vom Verfasser am 16. Dezember 1970 im Deutschen Bundestag vorgetragen. »Die ökologische Kalkulation vor Beginn jeder Produktion muß in Zukunft so aussehen:

  1. Sind die Bodenschätze so reichlich, daß ihre Verwendung für diesen Zweck zu verantworten ist?

  2. Welche umweltschädigenden Wirkungen entstehen
    a) bei Ausbeutung der Bodenschätze,
    b) im Laufe der Verarbeitung,
    c) bei den Transporten auf Straßen, Luft- und Wasserwegen,
    d) bei Anwendung und Verbrauch?

  3. Wie läßt sich das Produkt, sobald es unbrauchbar geworden ist, ökologisch schadlos beseitigen und zu welchem Preis, oder läßt es sich wieder verarbeiten?« 44)

Der Schweizer Ingenieur und Betriebswissenschaftler Müller-Wenk trug 1973 das Konzept einer »ökologischen Buchhaltung« vor.45 Zu dieser sollen alle Unternehmen verpflichtet werden, die schon zur Führung kaufmännischer Bücher verpflichtet sind.

Diese Buchhaltung würde folgende Kontenklassen auf weisen:

Belastungen

Materialverbrauch
feste Abfälle
gas- und staubförmige Abfälle
Abwasser
Energieverbrauch

im eigenen Unternehmen

feste Abfälle
gas- und staubförmige Abfälle
Abwasser
Energieverbrauch

bei durchschnittlicher Verwendung und Beseitigung der durch das Unternehmen erzeugten und für Haushalte bestimmten Fertigprodukte

Entlastungen

Kontingent (das ist die zugeteilte Materialmenge)
Material-Weiterlieferungen

Müller-Wenk hat den Energieverbrauch hinzugenommen; dennoch sind auch in seiner Aufstellung noch nicht alle Arten von Umweltbelastungen enthalten. Er läßt den Lärm, die Bodennutzung, die Störung biologischer Systeme und die Wirkungen von Strahlen mit Absicht aus. Dagegen hat er die Wärmebelastung später hinzugenommen.46 Sein Vorschlag beinhaltet demnach die Kontingentierung des Umweltverbrauchs (N + E + R), die Produktionssteigerungen nur dann erlaubt, wenn der zusätzliche Verbrauch durch Verringerung der Gesamtbelastung ausgeglichen wird.

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Noch weiter geht Max Himmelheber in seinem bedeutenden Aufsatz »Rückschritt zum Überleben« in der Zeitschrift »Scheidewege«. Sein erster »Leitsatz für den Überlebensplan« lautet: »Alle Industrieerzeugnisse sind so zu entwerfen, daß die bei ihrer Herstellung entstehenden Abfälle und die Erzeugnisse selbst, nach Verbrauch, in natürliche oder wirtschaftliche Kreisläufe zurückgeführt oder als umweltneutrale Inertmaterialien abgelagert werden können. Auf Stoffe und Verfahren, die diesen Forderungen nicht genügen, muß verzichtet werden. Die Entnahme nicht nachwachsender Rohstoffe aus der Natur ist auf das äußerst mögliche Mindestmaß zu beschränken.«47

Der erfolgreiche Ingenieur ist der Meinung, daß der Untergang nicht aufzuhalten sein wird, wenn wir den Überlebensplan nicht in den achtziger Jahren haben, zu dessen Aufstellung allein mindestens ein Jahrzehnt erforderlich ist.

Alvin Toffler fordert bei allem Fortschrittsoptimismus seines Werkes die genaue Prüfung aller technischen Neuerungen, »bevor wie sie auf die Gesellschaft loslassen«. Das heißt für ihn: »Ob es um eine neue Art der Energie, einen neuen Werkstoff oder eine neue Industriechemikalie geht, in jedem Fall müssen wir herausfinden, ob und wie das empfindliche ökologische Gleichgewicht, von dem unser Überleben abhängt, dadurch verändert wird. Außerdem müssen wir die räumlichen und zeitlichen Auswirkungen vorausberechnen. ... Wenn sich ergibt, daß eine neue Technologie voraussichtlich ernsten Schaden verursachen wird, müssen wir auch bereit sein, sie zu stoppen. Die Sache ist letztlich ganz einfach: Wir können nicht zulassen, daß die Technologie in der Gesellschaft Amok läuft.«48 Die entscheidende Frage lautet: »Erleichtert eine vorgeschlagene Neuerung es uns, Tempo und Richtung des weiteren Fortschritts zu kontrollieren? Oder hat sie die Tendenz, eine Vielzahl von Prozessen zu beschleunigen, über die wir keine Kontrolle haben?«49)

Auch Tofflers Vorschlag läuft auf die Schaffung eines »Umweltfilters« hinaus und zugleich auf ein System gefahrloser und gesellschaftlich wünschenswerter staatlicher Förderungsmaßnahmen.50 Toffler begründet seine Vorschläge noch nicht einmal mit der Rohstoff- und Energieerschöpfung, sondern mit der Umweltverderbnis und mit dem »Zukunftsschock«. Um diesen zu verhindern, muß die Technologie gebändigt werden; aber auch Toffler erkennt: »Die politischen Richtlinien für die Überwachung der Technologie werden in der Zukunft erbitterte Konflikte auslösen.«51

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Da die Rohstoffe und die Umweltfaktoren mit einem außerordentlich hohen Wert zu bemessen sind, kann man es nicht mehr der freien Entscheidung des einzelnen überlassen, ob oder in welchem Umfang er sie in Anspruch nimmt und oft vergeudet. Denn er wird mit Hilfe der Werbung durchaus Käufer finden, die in der Regel von den Nachteilen einer solchen Produktion fast nichts erfahren.

Wenn heute eine Produktion aufgenommen wird, dann geschieht das immer noch unter dem Gesichtspunkt, ob man damit an anderer Leute Geld kommen kann. Da die Leute noch genügend Geld haben, sind sie bereit, es auch für unwichtige Dinge auszugeben, zumal das Geld immer wertloser wird.

Es muß eine Gewichtung und Zuteilung der Grundstoffe versucht werden. Genau dies ist in den Planwirtschaften seit jeher der Fall, die darum nicht zu Unrecht als Mangelwirtschaften bezeichnet worden sind. Bei ihnen braucht daher nur die ferne Utopie der Fülle aufgegeben zu werden, um auf den Boden der Realität zurückzukehren. Die massenhaften Menschenzusammenballungen, die sich eng im Räume stoßen, können nicht mehr nach den Grundsätzen des individuellen Beliebens beim Einsatz des Kapitals und damit des Verbrauchs von Rohstoffen, Energien und der Natur verfahren.

 

Wir versuchen eine Zusammenstellung der Dinge und Einrichtungen, deren dauernde Erhaltung vordringlich angestrebt werden sollte. Daß sie alle erhalten werden können, ist damit nicht behauptet; das hängt unter anderem davon ab, wie schnell die Wende erfolgt.

 

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Dieses sicher noch sehr unvollständige Szenarium läuft auf einen Lebensstandard hinaus, wie er etwa zwischen den beiden Weltkriegen in Mitteleuropa herrschte. Der Verzicht gegenüber dem heutigen Standard liegt in der Rückkehr von einem hohen zu einem entsprechend niedrigeren Einkommens­niveau bei allen Tätigkeiten. Dies wird sich schon zwangsläufig ergeben; denn das Angebot an menschlicher Arbeitskraft wird groß, die Nachfrage gering sein. Darum hängt der Erfolg auch ganz entscheidend von der Bevölkerungsentwicklung ab. Je geringer die Besiedelungsdichte ist, um so besser sind die Chancen, einen etwas höheren Lebensstandard aufrechtzuerhalten. Je schneller der Übergang gelingt, um so besser wird das Niveau sein, das gehalten werden kann.

Doch der Übergang in dieses — für den Menschen existenziell keineswegs unzumutbare — Szenarium wird niemals von selbst erfolgen. Die sich selbst überlassene Entwicklung wird in die Katastrophen münden. Wo ist jedoch die Instanz, die genügend Einsicht, ausreichende Macht und den Auftrag hat, eine auf die Dauer stabile Gleichgewichtswirtschaft zu errichten?

 

   Weltregierung?   

 

Um die weltweite Umkehr zu gewährleisten, müßte eine Weltregierung geschaffen werden. Adolf Jöhr begründet die Notwendigkeit einer Weltregierung:

»Andere Probleme dagegen können nur durch gemeinsame Aktionen auf Weltebene gelöst werden, so etwa das Problem der Verschmutzung der Weltmeere und der höheren Luftschichten, des gefährlichen Einflusses von Schädlings­bekämpfungsmitteln, vor allem aber die Aufgabe einer progressiv zunehmenden Begrenzung des Rohstoffabbaues. Auch die Eindämmung des Bevölkerungs­wachstums fiele den nach Expansion strebenden Staaten leichter, wenn sie nicht befürchten müßten, von der rascher wachsenden Bevölkerung des Nachbarlandes überflügelt zu werden. Es würde nun aber nicht genügen, wenn sich alle Staaten auf entsprechende Maßnahmen des Umweltschutzes einigen würden. Die vereinbarten Maßnahmen wären nur dann wirksam, wenn sie von einer internationalen Behörde, welche bei Zuwiderhandlungen Sanktionen verhängen könnte, laufend kontrolliert würden.«55

Die Weltregierung wäre in der Tat nur dann wirksam, wenn sie mit allen Machtmitteln ausgestattet wäre, die den Vereinten Nationen fehlen.

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Die UNO hatte bei ihrer Gründung nur ein erklärtes Ziel: Kriege zu verhindern. Und nicht einmal das gelang ihr. Geschafft hat sie nur: die Ergebnisse lautstark verurteilter Unrechtshandlungen schließlich so zu überwachen, daß der geschaffene Unrechts­zustand erhalten blieb, damit wenigstens weitere Scherereien für einige Zeit vermieden wurden. Das wertvollste Ergebnis, was die UNO bisher erbracht hat, sind die Sammlungen von statistischen Daten aus aller Welt.

Nicht einmal der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft ist es bisher gelungen, eine gemeinsame Politik zu betreiben. Alle übernationalen Gemeinschafts­instanzen stellen nur die Summe der Unzulänglichkeiten aller ihrer Mitglieder dar.

Wenn eine Weltregierung die Probleme dieser Erde lösen wollte, dann müßte das in der Tat zu der »verwalteten Welt« führen, von der Max Horkheimer spricht. Klaus Müller drückt das so aus: »Wir werden um des Überlebens willen in der nahen Zukunft dieser Weltzeit in einen Engpaß technisch-wissenschaftlicher Lebensorganisation auf allen Sektoren unserer Wirklichkeit eintreten, wie ihn die Geschichte der Menschheit bisher nicht gekannt hat.«56

 

Eine globale Instanz müßte tatsächlich, um Erfolg zu haben, die gesamte Verteilung von Rohstoff- und Energiequellen und besonders von Nahrungs­mitteln auch gegen den Willen der einzelnen Länder regeln können. Ja, sie müßte auch die erlaubte Kinderzahl für jedes Volk festsetzen und Verstöße ahnden. Doch wie könnte sie das bewerkstelligen, und woher sollte sie die Maßstäbe nehmen?

Von einer Weltregierung würde jedes Volk zu Recht Gerechtigkeit erwarten. Woher sollten aber die Kriterien bezogen werden, was gerecht sein soll? Es ist auch höchst verdächtig, wenn gerade diejenigen für eine Weltregierung eintreten, die für ihr eigenes Land weiteres »Wachstum« für unverzichtbar halten. Wenn ihre »Stabilität« darin besteht, daß sie Jahr für Jahr mehr Rohstoffe verbrauchen wollen, dann können die Länder, die solche liefern, auch behaupten, ihre Art von »Stabilität« sei es eben, daß ihre Bevölkerung Jahr für Jahr um Hunderttausende oder Millionen wachse.

Nicht nur Bruno Fritsch hat Zweifel, ob es zu einer Solidarisierung kommen wird; wenn »eine weltweite Umverteilung nicht nur der bereits bestehenden materiellen Ressourcen, sondern auch eine Angleichung des technisch-industriellen Aktivitätsniveaus zwischen den Nationen (also z.B. Wachstumsverzichte der reichen Industriestaaten) erfordert, dann wird man die Hoffnung auf diesen Solidarisierungseffekt nicht allzu hoch ansetzen dürfen, denn jeder Staat und jede Gruppe wird die unvermeidlichen Kosten dieser Anpassung von sich auf andere abwälzen wollen. Viel wahrscheinlicher erscheint deshalb eine Verschärfung des ohnehin schon bestehenden Konkurrenzzwanges und eine Verstärkung der Herrschafts­strukturen im internationalen System.«57

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Die reichen Völker werden es mit einem gewissen Recht als ihr Verdienst ansehen, daß sie es so weit gebracht haben. Ihre Regierungen werden niemals im Stande sein, ihren Bürgern etwas wegzunehmen, um es anderen Völkern zu geben. Die armen Völker werden aber stets dafür plädieren, daß jeder Mensch gleichviel haben solle (eine Lösung, die noch kein einziges Mal innerhalb auch nur eines Staates verwirklicht werden konnte und nie werden wird). 

Damit ist die Diskussion schon zu Ende! Bis zu den übrigen unlösbaren Problemen, wie der unterschiedlichen Vermehrung und den daraus entstehenden Verteilungsproblemen, die sich auf Dauer und immer wieder neu stellen, wäre man noch gar nicht vorgedrungen.

 

Bis zur letzten Konsequenz hat Garett Hardin das Problem durchdacht: 

»Von Tag zu Tag werden wir (das heißt die Amerikaner) zu einer kleineren Minderheit. Wir vermehren uns nur zu einem Prozent jährlich; die übrige Welt vermehrt sich doppelt so schnell. Um das Jahr 2000 wird jeder 24. Mensch ein Amerikaner sein; in hundert Jahren nur noch jeder 46.  ..... Wenn die Erde ein einziges großes Gemeindeland ist, auf dem alle Nahrung gleichmäßig aufgeteilt wird, dann sind wir verloren. — Diejenigen, die sich schneller vermehren, werden allmählich den Platz der übrigen einnehmen.  ..... Ohne Geburtenkontrolle läßt eine Politik, die nach dem Prinzip <pro Mund eine Mahlzeit> verfährt, schließlich eine ganz und gar erbärmliche Welt entstehen.«58

Es gibt in der Tat nur zwei Möglichkeiten: Entweder, es wird immer wieder geteilt, dann handeln alle die folgerichtig, die sich rücksichtslos vermehren; denn ihr Anteil wird immer größer und damit ihre Macht, oder jedes Volk wird auf seinen Raum beschränkt und muß sehen, wie es zurechtkommt. Im ersten Fall führt das zur weltweiten Hungerkatastrophe, im zweiten zu nationalen Katastrophen. Wenn das betreffende Volk die Macht hat, dann wird es natürlich seine Lebensbasis mit Gewalt erweitern.

Hier kann zu Recht der Einwand erhoben werden: Früher hat sich das doch auch geregelt, wieso ist das heute ein Problem? Die Antwort ist einfach: Weil heute der Planet voll ist! Früher gab es immer noch Möglichkeiten, in leere Räume vorzustoßen oder irgendwohin auszuwandern. Aber noch schwerwiegender ist die Tatsache, daß gerade zu der Zeit, als der Planet sich überall zu füllen begann, die Korrektur des Todes ausgeschaltet wurde.

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Wenn heute die entwickelten Völker mit den Entwicklungsländern entsprechend ihrer wachsenden Bevölkerung immer teilen würden, dann bliebe zuletzt für sie selbst nichts mehr übrig. Damit können die Entwicklungs­länder nicht rechnen. Denn das wäre der Weg zur Eroberung der Welt durch Menschen­produktion, wie umgekehrt die Industrieländer die Welt durch Güterproduktion erobert hatten.59) 

Wo Leben ist, erfolgen auch Veränderungen. Wenn ein Volk sich verdoppelt, während das andere konstant bleibt, kann, wenn keine freien Lebensräume mehr vorhanden sind, keine Weltregierung und kein Weltgericht eine gerechte Lösung dieses Problems finden. Verschiebungen können zwar einige Zeit mit Gewalt unterdrückt werden; damit wird aber ein Stau erzeugt, der dann eines Tages mit um so größerer Gewalt die Dämme durchbricht. Darum konnten Kriege eben nie verhindert werden; weil es nie gelang, unter Lebewesen eine konstant bleibende Zahl mit konstant bleibenden Bedürfnissen auf die Dauer aufrechtzuerhalten. Kriege sind die äußere Folge einer bereits eingetretenen Verschiebung der wirklichen Machtverhältnisse. Letztere beruhen aber keineswegs nur auf der Einwohnerzahl. Die Machtbasis an Nahrung und Rohstoffen war immer wichtig und bekam in den letzten Jahrhunderten eine überragende Bedeutung. Wer gibt solche lebenswichtigen Trümpfe ohne Not aus der Hand?

Wenn es einer Weltregierung gelänge, die Güter unter alle Menschen gleichmäßig zu verteilen und ihre Anweisungen überall durchzusetzen, dann wäre damit automatisch auch der Weltfriede erreicht. Um diesen haben sich Menschen in der gesamten Geschichte immer wieder bemüht, aber sie haben ihn doch nie für lange erreicht. Nicht etwa, daß sie an der Böswilligkeit gescheitert wären, sie konnten die Grundlagen für diesen Frieden einfach nicht schaffen, eben weil es nicht um tote Sachen, sondern um stets in Fluß befindliche Größen, um Lebewesen, geht. Wo Leben ist, kann es nie zu Stillstand kommen. Und da nicht einmal die Maßstäbe zu finden sind, nach denen eine Weltregierung regieren soll, wird es auch zu dieser Regierung nicht kommen. Um sie zu schaffen, müßten zunächst einmal alle Staaten freiwillig ihrer Errichtung zustimmen. Dies wird ihnen um so schwerer fallen, als eine wirksame Weltregierung mit diktatorischen Vollmachten ausgestattet sein müßte.60

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Wenn eine Weltregierung Erfolg haben soll, dann muß sie alle Materialien ausnahmslos zuteilen. Protest dagegen kann sie nicht dulden, sonst scheitert sie sofort. Wenn sich die Erde immer dichter füllt, dann müssen die Menschen zwangsläufig organisiert werden wie ein Ameisenhaufen oder ein Bienenstock. Dies führt zu weniger Freiheit, und das ist ganz natürlich. Wer heute die Freiheit der Vermehrung will, wird morgen die Freiheit des Raumes nicht mehr haben. Wer heute die Freiheit des Verzehrs will, dessen Kinder werden morgen nichts mehr zu verzehren haben.

Der frühere Bundesminister Siegfried Balke sieht es so: 

»Vor allem sollte aber bei dieser Veranstaltung eine internationale Übereinkunft über die notwendige Neuordnung der Lebens­bedingungen, soweit sie von wissenschaftlichen, wirtschaftlichen und technischen Faktoren abhängen, gefunden werden. Hierzu hätte eine vorläufige noch utopische Übereinkunft der Zivilisation über eine rationale Bevölkerungspolitik gehört, die derzeit als Cauchemar [Alpdruck] auf alle Zukunftsüberlegungen drückt. — Die praktische Durchführung einer solchen Übereinkunft müßte mit dem Grundproblem fertig werden, die Rechte des Individuums auf Entscheidungsfreiheit — auch in seinem privaten Bereich — noch weitgehender einzuschränken, als es durch schon bestehende ethische oder materielle Sachzwänge geschieht.«61

 

Die Erde ist ein inzwischen vollbesetztes Raumschiff. In einem Raumschiff gibt es so gut wie keine Freiheit; jede Ration, jeder Griff, jede Handlung ist genau vorgeschrieben. Jeder muß sich anpassen. Eine Freiheit hat er allerdings immer: die der Selbstvernichtung.

Chorafas sagt dazu: 

»Ein Stopp, ja schon eine wesentliche Verlangsamung des Wachstums setzen eine Weltdiktatur voraus, die ganzen Industriezweigen jede Expansion verbietet und neue Kapitalinvestitionen nur noch in dem Maß zuläßt, in dem Fabrikationsanlagen veralten und stillgelegt werden müssen. Man müßte den Menschen sagen, daß sie die Dinge, die sie begehren — oder die ihnen die Massenmedien einreden —, nicht bekommen können, weil Mathematik und Computer bestimmt haben, es dürften künftig keine Rohstoffe mehr in ihre Herstellung investiert werden.«62

Diese Diktatur müßte unter Umständen härter sein als die stalinistische es war, da ihr jeder Ausweg auf Kosten der Erde verwehrt ist. Dies wäre das Ende jeder nationalen Freiheit, die gerade die mächtigsten Länder nie aufgeben werden. Die »eifersüchtig gehüteten Grenzen nationaler Interessen« werden sich nicht brechen lassen. Im Gegenteil: es ist höchst wahrscheinlich, daß die begünstigten Nationen darin bestärkt werden, ihren eigenen Wohlstand auf Kosten der übrigen Länder zu erhalten.

302


Die bisherigen Weltreiche der Geschichte, die allerdings bestenfalls Teile von Kontinenten umfaßten, entstanden aufgrund der Hegemonie einer Macht — niemals durch freiwilligen Zusammenschluß. Darum wird es auch keine freiwillige Unterwerfung unter eine Weltregierung geben, die über ein allgewaltiges Machtfundament verfügen müßte, um gegenüber allen anderen Mächten »allmächtig« auftreten zu können; denn anders sind die planetarischen Aufgaben kurz vor der Katastrophe nicht zu bewältigen.

Selbst ein gewisses bescheidenes Maß an freiwilliger Kooperation gab es nur in den Schönwetter-Perioden der Geschichte. Uns steht jedoch keine Schönwetter-Periode bevor, wir stoßen vielmehr (mit wachsender Geschwindigkeit) auf die letzten Grenzen, wo es um die nackte Existenz, das bloße Überleben geht. In einer solchen Situation ist jedes Volk auf sein Staatswesen zurückgeworfen.

In einem höheren Sinne kann es auch gar nicht erwünscht sein, daß es zu dieser »Einen Welt« kommt; gelänge ein solches Experiment, dann hinge von seinem Verlauf das Schicksal der ganzen Menschheit ab. Gelänge die perfekte Planung und Verteilung, dann wäre ein knapp gewordener Rohstoff plötzlich überall zugleich aufgebraucht; käme die große Hungersnot, dann wäre sie weltweit. Denn sicher würde man die Welt bis an den Rand der Ernährungs­kapazität bevölkern, so daß in einem Jahr schlechter Ernten eine globale Katastrophe unvermeidbar würde. Diese Erfahrung müßte erst recht dazu führen, daß Überschuß­länder ihre Überschüsse horten.63

Es lag ein guter Sinn in der Aufteilung der Welt in viele Regionen. Jede mußte sehen, wie sie selbst zurecht­kam und war für sich selber verantwortlich. Man konnte sich nicht leichtfertig auf eine »Welthilfe« verlassen. Es hat immer Gebiete gegeben, in denen Menschen verhungerten, während in anderen Teilen der Erde Völker im Überfluß lebten. Nie ist es gelungen, den Überfluß gleichmäßig über die ganze Welt zu verteilen, nicht einmal innerhalb eines Landes! Glaubt jemand im Ernst, daß es gelingen wird, den Hunger gleichmäßig über den Erdball zu verteilen? Erst in den letzten Jahrzehnten begann man mit den Bemühungen, die schlimmsten Katastrophen allüberall zu lindern, was erst seit der Existenz moderner Flugmaschinen möglich wurde. Als Ergebnis nimmt in den Ländern, wo wegen chronischer Nahrungs­mittel­knappheit die Einwohnerzahl reduziert werden müßte, die Bevölkerung stark zu. Je mehr Menschen dort geboren werden, um so mehr werden des Hungers sterben, wenn erst die Zeit kommt, in der die Nahrungsmittel weltweit nicht mehr reichen.

303


Die reichen Völker wollen trotz ihres materiellen Überflusses nicht einmal auf einen Teil der Dinge verzichten, die keineswegs notwendig sind. Sie denken vielmehr an ihre eigene Wohlstandssteigerung, obwohl sie sehen, daß der Abstand zu den armen Ländern sich ständig vergrößert. Noch viel weniger werden sie etwas abzugeben bereit sein, wenn sie selbst an den Rand des Hungers geraten. Und wenn sie etwas übrig haben, dann werden sie dafür Ding eintauschen, die sie selbst nicht haben, zum Beispiel Rohstoffe.

Die »Eine Welt« ist ein typisch menschliches Hirngespinst, einer rein mathematischen und technischen Betrachtung der Welt entsprungen, die mit den Gesetzen der Natur nichts zu tun hat. Wenn sie je gelingen sollte, dann müßte es zum »Terror der absoluten Lösungen« kommen.64

Die Natur ist stets auf Teilung, Differenzierung und Vielfalt aus. Dieses Prinzip gestattet ihr immer wieder das Überleben. Es kommt zwar zu Teilkatastrophen, aber selten zu Totalkatastrophen. Die Teilung ist eine der höheren Weisheiten der Natur. Nur der närrische Mensch glaubt, alles besser ordnen und so an Gottes Stelle treten zu können. Dabei fehlt es ihm nicht nur an Allmacht, sondern auch an Weisheit. Er hat auch nicht einmal die Nerven, das Unabänderliche gelassen hinzunehmen.

Zu einer Weltregierung wird es nie kommen. Und wenn man die heutige Lage der Menschen auf diesem Erdball analysiert, dann darf man nicht einmal wünschen, daß es zu einer einheitlichen »Weltinnenpolitik« käme. Daß es diese einheitliche Weltlage nicht gibt, ist der richtige Ausgangspunkt, den Mesarovic und Pestel für ihre Untersuchung65) wählten. Absurd ist aber ihr Lösungsvorschlag: zunächst einmal auf einheitliche Verhältnisse in der Welt hinzuarbeiten. Wenn das nämlich gelänge (es wird nicht), dann wäre man genau an dem Punkt, wo die globalen Katastrophenkurven von Meadows wieder volle Gültigkeit erlangen würden.

Wenn man Bücher über die heutige Weltproblematik und über die Zukunft aufschlägt, dann findet man allerdings meist solche Sätze wie: Die Menschheit wird entweder gemeinsam überleben oder sie wird untergehen! Dies hört sich wunderschön und andererseits auch wieder furchtbar schaurig an. Es ist ein rechtes Wort zum Sonntag. Nur ausgesagt ist damit nichts und erreicht noch weniger.

Die Völker werden diesen Propheten keineswegs den Gefallen tun, sich entweder alle friedlich auf ein Weltprogramm zu einigen oder aber alle gemeinsam zu sterben.

304


Von Meadows wurde in den »Grenzen des Wachstums« schon dargelegt, daß die gesellschaftlichen und sozialen und damit auch politischen Entwicklungen in die Berechnungen nicht einbezogen werden konnten.66 Da diese regional höchst unterschiedlich sind, ist die Gewähr gegeben, daß sich die Weltgeschichte auch weiterhin uneinheitlich, unlogisch und in Kompromissen voranbewegen wird. Es wird wie früher zu Auseinandersetzungen und zu vorübergehenden Teillösungen kommen. Nur mit dem Unterschied, daß jedes Land gezwungen sein wird, die grausamen Grenzen des Planeten zur Grundlage aller seiner Aktionen zu machen, in der Gewißheit, daß die anderen Länder dies auch tun.

Zu einer einheitlichen Entwicklung bis zum globalen Zusammenbruch wird es auch darum nicht kommen, weil die einzelnen Staaten höchst unterschiedlich auf die Planetarische Wende reagieren werden wie auch zu ganz verschiedenen Zeitpunkten. Das Gespür für neue Entwicklungen ist sehr ungleich verbreitet und die Möglichkeit, politisch zu handeln, ebenfalls.

Die arabischen Ölländer waren die ersten, die umschalteten. Wer gerne Daten festhält, der kann den 17. Okt. 1973 als den Tag in seinen Kalender eintragen, an dem die Welt in eine neue Epoche eintrat. Es ist das Stadium, in dem mit der Knappheit große Politik gemacht werden wird. Was der damals ein Jahr alte Bericht von Meadows nicht erreicht hatte, wurde jetzt fast schlagartig erzwungen: das Ende des »Wachstums« im Westen.

Im kommunistischen Machtbereich gilt eine andere Gesetzmäßigkeit. Auch schon darum kann es zu der einen Welt nicht kommen; weil es auf der Erde bereits zwei geschlossene Systeme gibt: den Ostblock und China. Und die werden jetzt gerade in der Richtigkeit ihrer Politik der Selbstversorgung bestärkt, wenn sie die unübersehbaren Schwierigkeiten der übrigen Welt betrachten.

Wie gering die Chancen sind, daß alle Völker der Welt eine gemeinsame Strategie unter dem Druck der Planetarischen Wende entwickeln werden, dürfte klargeworden sein. Darum wenden wir uns der Entwicklung zu, für die alle Erfahrungen der Geschichte und der Wahrscheinlichkeit sprechen.

Denn es ist sinnlos, neue Utopien zu entwickeln, die auf die Entwicklung nicht den geringsten Einfluß haben.

305


   Der Zustand der Nationalstaaten   

 

Politisch und rechtlich hat heute nur eine Institution auf der Welt einen klaren Auftrag und eine wirksame Organisation: der Nationalstaat. Ihn trifft damit die ganze Last und die gesamte Verantwortung für die weitere Entwicklung. An ihn werden sich die enttäuschten Massen halten, denn eine andere verantwortliche Instanz ist einfach nicht vorhanden. Nach Crowe »stellt der Nationalstaat die einzige, genügend ausgedehnte politische Einheit dar, in der man politische Lösungen ... der <technisch unlösbaren Probleme> finden und durchsetzen kann.«67

Die Verantwortung des Gemeinwesens, des Staates, umfaßt im Prinzip zweifellos die Zukunftsvorsorge mit. Das bedeutet, daß ein Staat nicht warten kann, bis einmal 150 Staaten Einstimmigkeit erzielt haben werden. Er muß handeln. Er wird aber auch innenpolitisch nicht auf die Selbsteinsichtseiner Bürger warten können. Er vermag diese allerdings durch Aufklärung zu fördern - und darin liegt schon eine seiner wesentlichen Aufgaben. Dennoch existiert kein Staat allein aufgrund der Einsicht aller seiner Bürger. Er muß einen mehr oder weniger großen Teil mit Zwang durchsetzen — nicht anders, als eine Weltregierung das für den ganzen Erdball tun müßte.

Sind aber die Staaten in ihrem heutigen Zustand überhaupt in der Lage, solche noch nie dagewesenen Aufgaben zu meistern? 

Die Staaten haben bei der technologischen Entwicklung weder die Ziele gesetzt noch auf die Entwicklung nennenswerten Einfluß genommen. Wie bequem sie es sich gemacht haben, wurde dargestellt. Nun sind die herrlichen Zeiten, die das Versprechen noch herrlicherer Zeiten durchaus plausibel erscheinen ließen, vorbei. Jetzt heißt die neue Losung: Vorwärts Kameraden, wir müssen zurück! An völlig unvorbereitete Regierungen und Parteien werden riesige Anforderungen gestellt, die »ohne historisches Vorbild« sind.68

Der Staat — und das trifft für fast alle westlichen Industrieländer zu — wird gerade zu einer Zeit vor früher völlig unbekannte Aufgaben gestellt, in der seine Potenz am miserabelsten ist. Der ursprünglich durch die Theologie legitimierte Staat hat heute fast jede Autorität verloren. Ernst Forsthoff stellte 1972 fest, daß zum Beispiel die Bekundungen der Bundesrepublik Deutschland nicht selten in einem Ton gehalten seien, »als wolle sie sich dafür entschuldigen, daß es sie als Staat noch gibt«.69)  Außerdem waren die heutigen Weltprobleme während der Entstehungszeiten der rechtsstaatlichen Verfassung völlig unbekannt und unvoraussehbar, so daß auch von der rechtsstaatlichen Verfassung her die Voraussetzungen schlecht sind.

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Forsthoff stellt daher die Frage, 

»welche Chancen der heutige — geistiger Gehalte weithin beraubte — Staat hat, wenn es sich darum handelt, die technische Realisation in die Grenzen zu verweisen, die das Gemeinwohl gebietet. Die dazu notwendigen Entscheidungen fallen natürlich nicht im luftleeren Raum. Sofern sie, was möglich ist, zur Folge haben, daß sich die Zahl der Arbeitsplätze vermindert oder auch nur eine technisch angezeigte Vermehrung der Arbeitsplätze unterbunden wird oder sich die Situation im Wettbewerb auf dem Weltmarkt verschlechtert, ist mit dem solidarischen Widerstand der Unternehmer und der Gewerkschaften zu rechnen. Darüber liegen Erfahrungen vor.«70

Bisher konnte sich der Staat, soweit er sich nicht schon selbst in der Hand der organisierten Interessengruppen befand, in der 

»Rolle des Maklers und Schlichters bewegen, wie das seine Gewohnheit geworden ist«.71) —  »Ein Gegeneinander-Aushandeln widerstreitender Interessen — ein Grundzug demokratischer Staatsverfassung und parlamentarischer Gesetzgebung — unter größtmöglicher Schonung aller Betroffenen, kann nicht beibehalten werden, wenn das Überleben der Menschheit auf dem Spiel steht.«72

Der Staat schaffte aber bisher seine Aufgabe nur darum mit Mühe, weil immer noch etwas hinzukam, was er verteilen konnte.73

Jetzt kann er nichts mehr verteilen (was allein schon unfaßbar ist), jetzt muß er wegnehmen, entziehen, rationieren — und das nicht nur einer Gruppe, sondern allen! Er müßte eine Überlebensstrategie nicht nur konzipieren, sondern auch rücksichtslos durchsetzen. Nicht Produktionsprogramme, sondern Sparprogramme müssen aufgestellt werden. Regierungen und Parlamente werden nicht mehr den Überfluß, sondern den Mangel zu verwalten haben.*

Und das nicht etwa, weil ein Krieg erklärt ist und das Land blockiert wäre, sondern um das Leben der nächsten Generationen vor noch viel schlimmeren Katastrophen zu retten.

Läßt sich ein Volk rechtzeitig genug für die Aufgabe der Überlebensstrategie mobilisieren? Der Wähler urteilte bisher nur nach den kurzfristigen Resultaten einer Wahlperiode. Der politische Partikularismus, um nicht zu sagen Opportunismus, denkt nicht an eine langfristige Politik, die aufgrund der Naturgesetze heute geboten wäre. 

Klaus Müller trifft die richtige Feststellung, daß »die relativ dünne politische Führungsschicht aus Staatsmännern, Berufspolitikern, Verbands­funktionären samt Beratergremien und Ministerialbürokratie weder genug Unabhängigkeit noch ein hinreichendes Mandat, weder genug Zeit noch zureichende Phantasie besitzt.«74

* (d-2012:)  Das markierte verwendet H. Hug, 2006 in "Angsttrompeter". 

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Die Politik befindet sich in einer »Grundlagenkrise«,75) da sie auf die unerhörten Anforderungen nicht im geringsten vorbereitet ist.

»Die Exekutive krankt heute daran, daß sie
a) neue Grundeinsichten zu spät oder gar nicht gewinnt, also den Kanon ihrer Vorstellungen, den sie bei Antritt ihrer Tätigkeit mitbrachte, nicht oder nur schwer zu überschreiten vermag,
b) die Fülle der möglichen Alternativen nicht oder zu spät erfährt, weil zu wenig Menschen, die über diese Fragen schon einmal nachgedacht haben, in den Entscheidungsprozeß integriert sind.«
76)

Niemand überspringt die Lücke, die zwischen den auf die nächste Wahl abgestellten Parteiprogrammen und den künftigen Erfordernissen besteht. Ein Parlamentarier wie ein Regierungschef ist auf das fixiert, »was zur Zeit seines beginnenden Aufstiegs in der Parteiorganisation aktuell und vordringlich war oder erschien.«77) Andere Politiker kennen wieder die Zukunftsprobleme. »Aber sie werden nicht aktiv, solange sie nicht damit zu rechnen brauchen, daß die Öffentlichkeit sie auch kennt und von ihnen beunruhigt wird.«

Klaus Müller fährt dann fort: 

»Die totalitär regierten Länder des Ostblocks kennen eine solche opportunistische Abhängigkeit ihrer politischen Führer vom Bewußtseinsstand der Bevölkerung nicht in vergleichbarem Maße, und es könnte sein, daß dies zeitweise zum Vorteil des diktatorischen Regierungsstils ausschlägt. — Solche Überlegungen lassen es als durchaus möglich erscheinen, daß einem in absehbarer Zeit eintretenden Weltnotstand nur durch Einführung diktatorischer Vollmachten auch in den parlamentarisch regierten Ländern zu begegnen ist.«78) 

Dies führt uns abermals zu einem Vergleich der Lage zwischen den kommunistischen und den demokratisch konstituierten Ländern. Michael Lohmann meint, daß in letzteren »zunächst eine bessere Steuerbarkeit der Produktionsentwicklung« erreicht werden müsse.79) Wenn dies nicht erreicht wird, dann kann es hier zu Zusammenbrüchen des Systems kommen — mit der Folge der Diktatur.

Sind aber die kommunistischen Regierungen wirklich in der Lage, eine Politik ohne Rücksicht auf die Massen zu betreiben? Hans Magnus Enzensberger meint dazu: 

»Wesentlich besser gerüstet für ökologische Krisensituationen scheinen die revisionistischem Länder, allen voran die Sowjetunion. Sie kann auf eine lange Periode administrativer Kontrolle und Verteilung des Mangels zurückblicken und verfügt nicht nur über einen Apparat, der diese Aufgabe sozusagen verinnerlicht hat; auch die sowjetische Bevölkerung ist an Situationen gesellschaftlicher Armut gewöhnt, wenn auch von einer generellen Immunität dem Warenfetischismus gegenüber seit dem XX. Parteitag nicht mehr die Rede sein kann.«

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Enzensberger bezeichnet den bisherigen Grad der Umweltzerstörung in der Sowjetunion als gravierend. Dennoch ist er der Auffassung, daß »eine Tendenzumkehr von den zentralen Instanzen jederzeit beschlossen und notfalls mit Gewalt durchgesetzt werden kann«.80) 

Weniger optimistisch äußerte sich der Budapester Professor Gyula Bora auf dem 2. St. Galler Symposium über »Umweltpolitik in Europa«:

»Theoretisch gesehen, scheint diese Aufgabe in einem sozialistischen Staat wie Ungarn leichter zu sein als in den kapitalistischen Ländern ... Das ist in der Praxis jedoch nicht so einfach. In Ungarn zum Beispiel verfügen viele Unternehmen (Genossenschaften) über Autonomie, in deren Gefolge sich auch sogenannte Unternehmungsinteressen einstellen; die Steigerung des Unternehmungsgewinns gilt auch in Ungarn als ein wichtiger Aspekt des unternehmerischen Handelns. Es kommt daher mitunter zu einem Konflikt der Zielsetzungen der Unternehmungen mit jenen des Staates... Vor allem auf dem Gebiet des Umweltschutzes kollidieren diese Interessen des Staates — in diesem Fall der gesamten Gesellschaft — häufig mit jenen der Unternehmung; die Methoden, dieser Konflikte Herr zu werden, müssen allerdings noch endgültig gefunden werden.«81

Am Schluß seiner Ausführungen fragt Bora ganz kapitalistisch nach dem »Wert oder Preis der natürlichen Umwelt und wie ein solcher in die Produktions­kosten mit einbezogen werden soll. Wie kann der Umweltschutz in das Modell der wachsenden Wirtschaft mit einbezogen werden? Welche Relationen sind zwischen den Ausgaben für Umweltschutz und dem Volkseinkommen möglich? Diese Fragen harren noch der Klärung ...«82) 

Interessanterweise wird hier für ein kommunistisches Land (allerdings nicht für die Sowjetunion selbst) die Rollenverteilung fast genauso beschrieben, wie das Forsthoff für die Bundesrepublik Deutschland tat: Der Staat als Interessenvertreter aller seiner Bürger gerät in Konflikt mit den Unternehmungen und den Arbeitnehmern. Damit wird aber die Frage, welche Macht hat der Staat? zur Entscheidungsfrage darüber, mit welchen Erfolgsaussichten er in den Überlebens­kampf geht.

309


Michael Lohmann hat wahrscheinlich richtig beobachtet, wenn er feststellt: »Die bessere Steuerbarkeit eines totalitären, planwirtschaftlich-zentralistischen Systems nimmt offensichtlich mit fortschreitender Entwicklung des wissenschaftlich-technisch-administrativen Produktionsapparates ab. (Darum, und nicht weil das maoistische System >besser< wäre als das der Ostblockstaaten, hat China derzeit noch eine ökologisch bessere Chance als die Sowjetunion.

Es wird darauf ankommen, wo der größere Wille zum Überleben herrscht. Darum dürfte auch die zweite Feststellung von Lohmann stimmen: »Die prinzipielle Steuerbarkeit ist ein wirkungsloses Instrument, wenn der Handlungswille oder der Handlungsspielraum zu seiner Benutzung nicht gegeben ist. Der Handlungswille hängt aber vor allem von der richtigen Erkenntnis der ökologischen Grenzen und der rechtzeitigen und richtigen Beurteilung der eigenen Situation ab (Reaktionszeit, Bremsweg, Risikospielraum). Der Handlungsspielraum wird von außen und (auch in totalitären Systemen) von innen stark eingeschränkt: von außen durch die Konkurrenzsituation zwischen den Systemen und Nationen, vor allem auf militärischem und wirtschaftlichem Gebiet; von innen durch den erwähnten meist extrem kurzsichtigen Trieb des Menschen, seine Lage zu <verbessern>.«83

Dieser Trieb spielt nicht nur bei den kleinen Partnern der Sowjetunion, sondern auch in ihr selbst eine beträchtliche Rolle. Dennoch fällt er weder so stark ins Gewicht wie im Westen, noch wurde dort bisher ein so ausgedehntes Verbrauchsvolumen erreicht. Es wird auch nicht die gesamte Bevölkerung Tag für Tag von der Wirtschaftswerbung überflutet. Dies hat zur Folge, daß eine staatliche Aufklärung große Chancen hätte, während sie bei uns immer in einem absurden Mißverhältnis zur Verbrauchs­propaganda stehen wird.

Die wirtschaftliche Propaganda (und die politische ist damit bis heute identisch) für den ständig steigenden Konsum hat die Staaten des Westens in eine geradezu wahnwitzige Abhängigkeit gebracht. Sie sind nun von ihren Lieferanten abhängiger als der Süchtige vom Dealer. Ein Staat kann aber nur so lange selbständig und auch außenpolitisch Herr seiner Entscheidungen sein, wie er in seiner lebenswichtigen Versorgung nicht völlig abhängig ist. Der gesamte »Fortschritt« war für die meisten Industrieländer ein Weg in immer mehr und immer größere Abhängigkeiten, die längst das Stadium der akuten Lebensgefährdung erreicht haben. Der Ausfall von Nahrungsmitteln (Dünge- und Futtermitteln), Rohstoffen und Energien würde die meisten Industrieländer kurzfristig in die Katastrophe führen.

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Früher konnte man in Krisenzeiten, solange das Land nicht militärisch blockiert war, mit Nahrungsmitteln aus irgendeiner Weltgegend rechnen — vor allem, wenn man das Geld dafür hatte. Das wird in Zukunft anders sein. Aufgrund der Bevölkerungszunahme in allen Erdteilen werden die einzelnen Regionen ihre Erzeugnisse selbst verbrauchen. Und: soweit sie diese nicht selbst benötigen, werden sie damit Politik machen. (Ist den Idealisten in unserem Lande, die das für unanständig halten, bewußt, daß sie jetzt schon hungern müßten, wenn die Nordamerikaner ihre Überschüsse in die Dritte Welt liefern würden, statt sie ganz unmoralisch für gute DM an uns zu verkaufen?)

Ein Land, das sich nicht ständig am Rande des Abgrunds bewegen will, muß darum das Optimum der vertretbaren Einwohnerzahl errechnen, mit der es Krisenzeiten gerade noch, wenn auch unter großen Strapazen durchstehen kann. Daß diese Krisenzeiten vor der Tür stehen, ist die einzige absolut sichere Voraussage, die über die Zukunft gemacht werden kann.

Für die Bundesrepublik Deutschland dürften etwa 40 Mill. Einwohner zu verantworten sein, also 2/3 des heutigen Bestandes. 

Wenn auch die Nahrungs­mittel­erzeugung 80 % des heutigen Bedarfs deckt, so wird doch fast ein Viertel davon aus Futtermitteleinfuhren erzeugt.84 Die deutsche Industrie ist aber zu 90 % von der Rohstoffzufuhr und zu 60 % von der Energieeinfuhr abhängig. Bei einem Ausfall dieser Zufuhren müßte sie in wenigen Wochen zusammen­brechen. Es gibt niemanden, der auch nur eine vage Vorstellung davon hätte, mit welchen Methoden wenigstens die lebenswichtigsten Einrichtungen dann aufrechterhalten werden könnten.

Über die nötigen Entscheidungen werden die Menschen aber höchstwahrscheinlich so lange streiten, bis das Chaos unvermeidlich geworden sein wird; denn das Schlimmere kommt immer erst morgen. Darum ist damit zu rechnen, daß der Lauf der Dinge auch weiterhin von den Entscheidungen bestimmt wird, die unterblieben sind. Da das Leben aber weitergeht, ist nichts wahrscheinlicher, als daß es schließlich zu einem erbarmungslosen Kampf ums Überleben kommt. Auch dafür lassen sich Vorbereitungen treffen und Positionen aufbauen. Verantwortungsbewußte Staatsführungen werden das tun.

Wir erinnern noch einmal: Zur Wahl steht nur der naturgesetzliche Zusammenbruch mit einem endlosen Chaos oder der Versuch eines geordneten Übergangs in das naturgesetzliche Gleichgewicht. In dieser unentschiedenen Situation bleibt die Tragik, die im erbarmungslosen Wirken der Dinge liegt, im vollen Umfang erhalten.

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Herbert Gruhl   Ein Planet wird geplündert   Die Schreckensbilanz unserer Politik 1977