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Schluß 

 von Herbert Gruhl

Das eigene Verhalten auf die natürlichen Prozesse abzustellen, von denen wir alle abhängen, ist in der Tat der entscheidende Punkt der zukünftigen Entwicklung der Menschheit. -- Maurice Strong

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Die vorgelegte Analyse war zu leisten. Sie hatte sich fern der beliebten vordergründigen Klischees zu bewegen, die mit den Worten »Pessimismus« oder »Optimismus« bezeichnet werden; denn das sind nur menschliche Stimmungslagen, bestenfalls Charakter­eigenschaften, die in Anbetracht der Natur­gesetz­lichkeiten völlig gleichgültig sind. 

Wichtig ist allein die heutige Lage und deren Überprüfung auf die noch verbleibenden Möglichkeiten. Wir haben versucht, eine Überlebens­chance darzustellen, aber zugleich gesagt, daß diese den verwöhnten Menschen allzu mühselig sein dürfte, als daß sie sie annehmen werden.

Bei der Analyse der naturwissenschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Lage der heutigen Welt kamen wir ohne ethische Gesichts­punkte aus. Der Weg, der aus dem Dilemma herausführen könnte, ist dagegen ohne höhere Werte nicht zu finden. Dabei ist klar zu sehen: 

»Wenn wir zum Abschluß unserer schmerzlichen Bilanz eine neue ethische Orientierung der Menschheit, zumindest ihres aktivsten und aggressivsten Teils, fordern, dann haben wir von der Tatsache auszugehen, daß noch nie die moralischen und ethischen Werte der Zeitgenossen so weit von den objektiven Anforderungen ihrer Epoche entfernt waren wie heute.«1) 

Die Aneignung neuer Werte als Ersatz für den geistlosen Materialismus ist die Aufgabe jedes einzelnen Menschen und des Staates. Wer sollte sonst diese Aufgabe institutionell wahrnehmen, wo doch der Staat alle Schulen und Bildungsstätten in seiner Hand hat?

Die überhandnehmende Tendenz der letzten Jahrzehnte war leider die, daß Ausbildung nur noch den Sinn hatte, der Wirtschaft möglichst sachkundige, aber wertneutral programmierte Arbeitskräfte zu liefern, die zu nichts anderem bereit zu sein brauchten als zur Produktionssteigerung.

Das Ethos setzt die Ziele und die zu verteidigenden Werte. Eine Verteidigung lediglich materieller Werte hat es auf die Dauer nie gegeben. Der Materialist wird immer zum Stärkeren überlaufen. Und der Stärkere wird in diesem Punkt die Sowjetunion sein, weil sie schon jetzt bei weitem die meiste Materie besitzt. Wer daher nicht bereit ist, für die Freiheit des Denkens und des Glaubens, der freien Meinungsäußerung und künstlerischen Betätigung, für die Bewahrung der privaten Sphäre und seiner freien Lebensgestaltung – kurz: für irgendeinen ideellen Wert – zu kämpfen, der soll die Auseinandersetzung lieber vermeiden.

Vielleicht wird der Marxismus im Osten auch nur am Leben erhalten, damit man dem Volk wenigstens noch einen ideellen Wert vorweisen kann, nachdem die Religion gründlich verdrängt wurde. Die bisher letzte »Religion« der Menschheit – der Kapitalisten wie Kommunisten gleichermaßen anhingen – war der Glaube an den materiellen Fortschritt. Wir erleben gegenwärtig auf Grund der harten Fakten die Auflösung dieses Glaubens und seine Reduzierung auf den Nullpunkt.

Der Entzauberung der materiellen Werte wird zweifellos die Entzauberung aller Ausbeuter dieser Erde folgen. Daraus ergibt sich eine neue Sozialethik. Diese und die daraus folgende praktische Sozialpolitik von Grund auf neu zu entwerfen, ist auf wenigen Seiten nicht möglich. Sicher aber ist, daß der materielle Besitzstand der Menschen auf niedrigerem Niveau in einer bedeutend geringeren Bandbreite variieren wird, als das heute der Fall ist.

Alle Welt wird immer noch nach der – möglichst bequemen – wirtschaftlich-technischen Lösung fragen. Wer kann aber, nach vollendetem Geschehen, hier eine »Lösung« anbieten? Der heutige Turm zu Babel hat eine schwindelnde Höhe erreicht. Jetzt fängt er überall zu knistern an; erste Risse treten schon deutlich hervor. Die Überprüfung ergibt, daß die Fundamente nicht solide sind, ja daß sie nicht einmal berechnet worden waren. Einen Architekten, der den Gesamtbau vorher entworfen und geplant hätte, hat es nie gegeben. (Weil man das wußte, hatte man einfach behauptet, der Turm sei »gewachsen«.) Tausende und Millionen von Fachleuten haben, jeder für sich, nur immer darauflosgebaut. Die allgemeine Sprachverwirrung ist – wie in der Bibel beschrieben – längst eingetreten; die verschiedenen Experten sprechen jeweils ihre eigene Fachsprache.

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Sie verstehen sich untereinander schon lange nicht mehr, was sie nicht daran hindert, weiterzubauen, jeder nach eigenem Gutdünken und Geschmack. Wer soll nun noch eine Lösung finden? Es gibt nur zwei »Lösungen«:

Lösung 1  Man wartet ab, bis der heutige Turmbau zu Babel in sich zusammenstürzt. Allerdings wird er dann mindestens 2 Milliarden Menschen unter sich begraben.
Lösung 2  Man versucht die höchsten Türme und Stockwerke vorsichtig abzutragen, damit zunächst die Belastung geringer wird. Vielleicht kann man dann an den Fundamenten etwas tun.

Wie wenig Aussicht diese 2. Lösung hat, ist sicherlich genügend deutlich geworden. Denn die Mehrheit in fast allen Völkern zieht es immer noch vor, den Turm weiter emporzutreiben. Es muß erst völlig deutlich werden, daß die bisherige Erfolgspolitik der aller­sicherste Weg in die Katastrophe ist.

Bisher ist noch nicht viel von den Ergebnissen der sogenannten »Friedensforschung« bekannt geworden. Zu einem Ergebnis hätte diese aber zumindest sehr schnell kommen können: daß Kriege um so schneller herannahen, je mehr Menschen immer mehr Güter von der gleichen Erde haben wollen. Insofern sind alle »Wachstumsfanatiker« per definitionem »Kriegstreiber«. Darin herrscht eine physikalische Gesetzmäßigkeit. Man braucht dazu nur an die Energiegesetze zu denken: Je höher die Temperatur (= Lebens­standard) unter allen Umständen gehalten werden soll, desto mehr Brennstoff muß beschafft werden, da ständig entsprechend viel verbraucht wird.

Wer sich von vornherein mit einer tieferen Temperatur begnügt, verbraucht weniger Brennstoff. Um die Versorgung damit sicherzustellen, muß er erst viel später zu den äußersten Mitteln greifen. Folglich sind die Wachstums­fetischisten die schlimmsten Unheilsbringer der heutigen Welt. Sie wollen die Temperatur, die schon auf der heutigen Höhe nicht mehr zu halten sein wird, noch weiter anheizen. Dies ist nichts anderes als eine weitere Erhöhung der death-line (wörtlich übersetzt: Todeslinie), die dann zwangsläufig um so eher aufgegeben werden muß – und der Notstand beginnt. Darum werden die Völker, die dem Wachstums­fetischismus weiter folgen, die ersten sein, die sich unversehens in der Katastrophe wiederfinden; es sei denn, daß sie entschlossen sind, andere umzubringen – also Ausrottungskriege zu führen.

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Es mag sein, und es ist sogar wahrscheinlich, daß die Probleme unlösbar sind. Aber müssen alle unsere geistigen und physischen Kräfte dafür eingesetzt werden, auf daß die Katastrophe schneller erreicht und auf daß sie noch furchtbarer werde? Und ist es nicht ein Verbrechen, unaufgeklärten Völkern exakt diesen Weg in den eigenen Untergang als die absolute Spitze menschlicher Errungen­schaften zu empfehlen?

 

Daß die Menschen das Denken erfunden haben, mochte unproblematisch sein, solange sie nicht die Ergebnisse ihres Denkens mittels Arbeit in die Realität umsetzten. Erst seit sie die mittels technischer Energie vervielfachte Arbeitskraft einsetzten, konnten sie mit ihrem eigenen Tun eine zweite, künstliche Welt errichten. Diese geriet den Zauberlehrlingen scheinbar so gut, daß sie diese gar nicht schnell genug vergrößern konnten. Zu diesem Zweck beuteten sie die Jahrmillionen der Vergangenheit immer hektischer aus und entleerten damit zugleich die Zukunft.

Fünf gewaltige unerlaubte Vorgriffe auf die Zukunft wurden in den letzten Jahrzehnten vorgenommen:

  1. Der Vorgriff auf die Energie- und Rohstoffvorräte.

  2. Die Leerung des Wissensvorrats zugunsten der Gegenwart.

  3. Die bisher vollzogene Umweltzerstörung, die wir den kommenden Generationen übereignen.

  4. Die wirtschaftliche Inflation: »Kaufe heute, morgen ist alles teurer!«

  5. Die haltlosen politischen Versprechungen, deren Verwirklichung immer noch in Aussicht gestellt wird.

Diese fünf Punkte enthalten das ganze umfangreiche Waffenarsenal, das zum »totalen Erfolg« geführt und dem Menschen eine teuflische Arroganz eingeimpft hat.

Der Mensch muß sich von der lächerlichen Vorstellung befreien, daß dieses Universum eine Veranstaltung um seiner selbst willen sei. Oder wie es Carl Amery formuliert: »Wir müssen - theologisch gesprochen - auf diese letzte Kenosis, diese letzte Selbst­entäußerung hinaus: auf die Entäußerung von der garantierten Zukunft. Nur wenn wir sie verlieren, werden wir sie gewinnen; nur wenn wir handeln, als gäbe es sie nicht, wird sie uns – vielleicht – zufallen.«2  Das heißt: Nur wenn wir die Erwartungen fahrenlassen, erwartet uns eine – bescheidene – Zukunft.

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Die Natur ist in all ihren Gesetzmäßigkeiten sparsam – sie rationiert. Sie kann sich keine kurzfristige Verschwendung leisten, weil das ihr Untergang wäre. John Stuart Mill spricht überspitzt von der Schäbigkeit der Natur, von ihrem »unbegreiflich schmutzigen Geiz«.3)  Das ist falsch. Die Natur ist zwar nicht maßlos wie der Mensch, aber doch sehr verläßlich. Das Sonnenlicht fällt mit immer gleicher Kraft auf uns hernieder und wird wohl noch Milliarden Jahre strahlen. Die jährlichen Ernten sind einmal sehr gut und dann wieder weniger gut, aber auf einen gewissen Ertrag können die Lebewesen immer rechnen.

Doch der Mensch will selbstherrlich bestimmen, was er sich alles nehmen darf. Sein Versuch, selbst die Verantwortung in die Hand zu nehmen und die Welt zu regeln, ist gescheitert, weil er ein System außerhalb der Natur errichtet hat. Dem ganzen künstlichen Produktionskreis fehlt das (dauerhafte) Fundament. Wenn Schumacher dies auf die Formel bringt: »das Produktions­problem ist nicht gelöst«, dann ist das eine äußerst zurückhaltende Beschreibung einer verhängnis­vollen Fehl­einschätzung.

Der menschlichen Ersatzwelt fehlt im Grunde alles, was für ihren dauerhaften Bestand nötig wäre. Ein Vergleich zeigt es:

 

1. Natürlicher Regelkreis

2. Künstlicher Produktionskreis

Endlose Sonnenwelt

Kurzfristige Ersatzwelt 

Unbedingt

Bedingt durch »Natur«

Selbstregulierend

Ohne Steuerung

Organisch

Überwiegend anorganisch

Geringer Aufwand an Energie

Riesiger Aufwand an Energie und Rohstoffen

Verwertung aller Reste

Umweltbelastende Reststoffe

Dauernde Knappheit  

Vorübergehende Fülle

Nahversorgung

Fernversorgung

Verstreute Besiedelung mit Ausweichmöglichkeit 

Geballte Besiedelung ohne Ausweichmöglichkeit

Überschaubare Wirtschaft

Anonyme, mit Papier (darunter Geld) gesteuerte Wirtschaft

Handwerkliche Vollendung

Zersplitterte Arbeitsgänge

Gesamtschau

Expertenchaos 

Individueller Tod

Gesamttod

Das Unterfangen des Menschen, die Dinge selbst regeln zu wollen, wird nur dann Erfolg haben, wenn er in voller Über­ein­stimmung mit den Naturgesetzen handelt. Dies ist die Bedingung des Überlebens.

»Wir müssen uns mit unserem Denken, Herstellen und Handeln wieder in die unabänderlichen Ordnungen des Naturhaushalts einfügen, von denen unser Fort­bestand abhängt. Das heißt keineswegs <zurück zur Natur> im Sinne romantischer oder revolutionärer Apostel. Wohl aber müssen wir auf jeden sogenannten Fortschritt verzichten, der unsere nicht herstellbaren Daseins­voraussetzungen oder diejenigen unserer Nachfahren schädigt oder zerstört. Es kann also nur noch einen Fortschritt mit der Natur und keinesfalls einen gegen sie gerichteten geben.«4

Das heißt auch, daß wir überall dort auf Eingriffe verzichten müssen, wo uns noch die Gewißheit über die Folgen fehlt. Gerhard Helmut Schwabe sagt weiterhin: 

»Nur die Ehrfurcht vor dem Leben im ganzen kann das Verhalten zum außermenschlichen Sein derart verändern, daß menschenwürdiger Fortbestand wieder möglich wird; denn nur sie kann noch der verfügbaren Macht Grenzen setzen. Wenn der Wald, der für irgendein fortschrittliches oder einträgliches Unternehmen gefällt, beseitigt werden soll, nicht mehr nur auf der Landkarte, sondern zugleich im Gewissen der Planer stünde, dann und nur dann müßten sie seine Wirklichkeit ernst nehmen. Die der Mit- und Umwelt zugewandte Ethik, die es nicht mehr oder noch nicht gibt, ist der einzige bewährte Wegweiser überall dort, wo der Verstand versagt. Das notwendige Umwelt­gewissen ist zugleich das Gewissen vor der Nachwelt.«5

Allerdings hat der Mensch inzwischen den Planeten schon derart in Unordnung gebracht, daß er selbst wahrscheinlich kaum noch in der Lage ist, ihn wieder in Ordnung zu bringen. Der Hauptpunkt ist, daß er auf seine Freibeutermethoden verzichten muß, ob er sie nun Marktwirtschaft oder Planwirtschaft nennt. Daß die Völker schon sehr bald ihre Güter rationieren werden, ist so gewiß, wie zwei mal zwei gleich vier ist. Ob sie es etwas früher oder später tun werden, hängt vom Maß ihres Verant­wortungs­gefühls ab. Nicht etwa nur des Verantwortungsgefühls gegenüber zukünftigen Generationen, sondern des Verantwortungs­gefühls gegenüber den heute schon lebenden Kindern.

345-346

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Herbert Gruhl   Ein Planet wird geplündert   Die Schreckensbilanz unserer Politik