1.2 Die Variationen der Wachstumslüge
Wirtschaftliches Wachstum ist nicht nur unnötig,
sondern ruinös. -Alexander Solschenizyn-
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Gepflegte und widerlegte Irrtümer
Größtes Unheil droht unserer Erde durch eine Begriffsverfälschung, die zum Alltagsschlagwort geworden ist: <Wirtschaftliches Wachstum>. Als Wachstum bezeichneten die Menschen die Vorgänge in der Natur; alles, was lebt, wächst auch. Aber es kann nicht immerzu wachsen. Es kann sogar nur dann neues Wachstum geben, wenn die Macht des Todes das Gewachsene immer wieder sterben läßt. Nur dadurch werden die Bedingungen für erneutes Wachstum geschaffen. In der Natur besteht zwischen Leben und Tod auf die Dauer ein Gleichgewicht. Wenn auf kurze Zeit das Leben oder der Tod ein Übergewicht bekommt, dann schlägt das Pendel wieder zurück in eine stabile Gleichgewichtslage, ohne je stille zu stehen.
Heute versteht man unter »wirtschaftlichem Wachstum« die Erhöhung der industriellen Produktionen des Menschen. Diese haben jedoch mit Natur- und Wachstumsvorgängen nicht das Geringste zu tun. Hier wächst nichts, sondern hier werden aus Materialien tote Güter hergestellt, gemacht, produziert, gebaut, konstruiert. Ihr Merkmal ist gerade, daß sie leblos sind. Und weil sie nicht leben, können sie auch nicht sterben, sie unterliegen der Entropie. Somit entfällt die Gegensteuerung durch den Tod, der für das Gleichgewicht sorgen könnte. Nur daraufhin konnten die Menschen im technischen Zeitalter die Produktion toter Gegenstände immer wieder steigern — verdoppeln, vervierfachen, verzehnfachen. Das ist aber nie und nimmer Wachstum, sondern Verbrauch, Aufzehrung der Bodenschätze, die gerade nicht nachwachsen. Es ist also Verminderung statt Wachstum.
Wenn diese Vorgänge »wirtschaftliches Wachstum« genannt werden, dann ist das eine Begriffsverdrehung, womit sich der Mensch selbst betrügt; aber ein so schwerwiegender Betrug, daß der Mensch darüber zugrunde gehen wird. Denn der Mensch unterliegt als Lebewesen sehr wohl dem regelnden Naturgesetz des Todes.
Die Lehre vom »ständigen wirtschaftlichen Wachstum« ist somit die größte Irrlehre, die Menschen jemals erfunden haben. Dennoch leugnen Politiker, Ökonomen und Wissenschaftler vieler Fachbereiche immer noch, daß es Grenzen des Wachstums gäbe, obschon ihre Theorien bereits durch die Tatsachen widerlegt werden. Wurde vor wenigen Jahren noch behauptet, das »wirtschaftliche Wachstum« ließe sich gar nicht aufhalten, da es mit der Automatik eines Naturgesetzes verlaufe — so hat es sich inzwischen von selbst gestoppt oder ganz beträchtlich verlangsamt. Alle Welt sieht, daß sein Ende keineswegs »unmöglich« ist, sondern jetzt automatisch eintritt. Dagegen erweisen sich zur Zeit die Versuche als ungemein schwierig oder wirkungslos, das »Wachstum« wieder anzukurbeln.
Welche Voraussagen waren richtig?
Noch vor einem Jahrzehnt wimmelte es geradezu von Hochrechnungen auf die herrliche Zukunft. Die steil nach oben gerichteten Exponentialkurven waren Bestandteil der Lehrbücher. Der amerikanische Wirtschaftswissenschaftler und Nobelpreisträger Paul Samuelson stellte in seiner weitverbreiteten zweibändigen »Volkswirtschaftslehre« eine Prognose für die Jahre von 1970 bis 2010. In dieser Zeit werde sich das reale Bruttosozialprodukt der USA mindestens verdreifachen, aber möglicherweise auch versiebenfachen. In den gleichen vierzig Jahren würde sich das Bruttosozialprodukt der Sowjetunion mindestens auf das Viereinhalbfache erhöhen, es könnte aber auch das Sechzehnfache erreichen; selbst der Mittelwert ergäbe immer noch eine Verachtfachung!
Ähnliche Prognosen wurden damals für alle Länder aufgestellt. Für die Bundesrepublik Deutschland schwankten die Prognosen um 5% jährlicher Zunahme zwischen 1970 und 1980. Das wären insgesamt 64% gewesen. Erreicht wurden 32% bei zunehmender Abflachung, die 1981 ins Minus fiel.13 Dies ist in der Zeichnung dargestellt. Dabei konnten die Relationen der drei Länder untereinander wegen der verschiedenen Währungen nur geschätzt werden. In keinem Land wurde auch nur die niedrigste Voraussage erreicht. In den Jahren 1980 und 1981 flachten die Kurven in allen drei Ländern weiter ab.
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(d-2015:) "Die Entwicklung in Wirklichkeit" sind die kurzen Striche, die bis 1979 reichen.
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Im Jahre 1972 war bereits die Studie »Die Grenzen des Wachstums« des Club of Rome erschienen. Sie wies nach, daß es auf unserer begrenzten Erde kein unbegrenztes Wachstum geben könne, weil all die Bodenschätze, die wir verbrennen oder verarbeiten, eben nicht nachwachsen. Inzwischen sind unzählige Autoren zu dem gleichen Ergebnis gekommen. Alle diese Wissenschaftler wurden zunächst wütend angegriffen: inzwischen behaupten nur noch ganz wenige, daß die Vorräte der Erde nie zu Ende gehen werden.
Wie verlief die reale Entwicklung?
Die vorausgesagten Steigerungen trafen bei weitem nicht ein — entscheidender noch: Die Kurve wurde immer flacher und ging 1980/81 in die Waagerechte über. Verschiedentlich wird von Wachstümlern der Versuch gemacht, die veränderte Wirtschaftsentwicklung völlig der Erdölverteuerung seit 1973 anzulasten. Selbst wenn der Preisanstieg schuld wäre, so hätte man sich auch davon nicht überraschen lassen dürfen. In einem Artikel über das Erdölproblem der Welt schrieb ich Ende 1971: »Selbst bei Berücksichtigung neuer, bisher noch gar nicht in die Zukunftshoffnungen einbezogener Funde würde bei einer Verknappung des Öls gerade über die hochindustrialisierten Länder, die ihren Ölbedarf hauptsächlich aus dem Import decken (wie z.B. die Bundesrepublik), eine Katastrophe hereinbrechen.«14 Ich sagte voraus, daß das Erdöl einen Seltenheitswert bekommen würde, der sich auf die Preiskalkulation auswirken werde.
Als dann bereits 1973 die Preiseskalation begann, hatte die deutsche Bundesregierung gerade ihr erstes Energieprogramm fertiggestellt. Es sah die Steigerung des deutschen Energieverbrauchs bis 1985 von 354 Mio. Tonnen (1972) auf 610 Mio. Tonnen Steinkohleeinheiten (SKE) vor. Inzwischen wurde diese »Prophezeiung« für das Jahr 1985 bereits dreimal durch »Fortschreibungen« reduziert:
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Es läßt sich heute mit ziemlicher Sicherheit absehen, daß der wirkliche Verbrauch im Jahre 1985 dort angekommen sein wird, wo er sich 1973 bewegte, nämlich im Bereich von 370 Mio. Tonnen SKE. Wahrscheinlich wird er sogar tiefer liegen, denn der Verbrauch im Jahre 1981 betrug 371 Mio. Tonnen! Alle »Programme« haben sich als wertloses Papier erwiesen.
Ich bewertete diese »Prognosen« am 15. Juni 1977 vor dem Deutschen Bundestag:
»Die wirtschaftlichen Prognosen und die Energieprognosen der letzten Jahre verdienen den Nobelpreis für Fehlleistungen. Man verkündete z.B. ein Energieprogramm für 13 Jahre, und schon 4 Jahre später finden wir in den <Eckdaten> den behaupteten Mehrverbrauch um 49,2 %, also um die Hälfte, nach unten revidiert! Wenn das so weitergeht, dann wird die Prognose im Jahre 1981 bei einer Steigerung von Null angekommen sein... Die Bundesregierung baut ihr Energieprogramm auf der Wunschvorstellung eines vierprozentigen Wirtschaftswachstums auf, das mit Sicherheit nicht eintreffen wird.« 15)
Nachdem die falschen Prognosen sich immer deutlicher abzeichneten, ohne daß Konsequenzen gezogen wurden, erklärte ich am 20. April 1978 an gleicher Stelle:
»Das alles hindert aber die Bundesregierung nicht, weiterhin Programme auf der alten Basis zu machen, und die Opposition nicht, der Bundesregierung die Nichterfüllung ihrer Programme vorzuwerfen. Hierbei muß doch einmal erkannt werden, daß die Berechnungsmethoden völlig unsinnig sind.«16
Im Jahre 1975 habe ich dargestellt, daß sich die Bundesrepublik Deutschland und vergleichbare Industrieländer in der Sättigungsphase befänden. Schon damals wurden einige Produkte für die Halde produziert: Tanker und Autos. Zu den überzähligen Kraftwerken ist es nicht gekommen, da die geplanten Werke zum großen Teil durch Bürgerinitiativen und Gerichtsurteile verhindert wurden — worüber die Energieversorgungs-Unternehmen heute sehr erfreut sein dürften, denn damit unterblieben riesige Fehlinvestitionen. Zu Anfang der Siebziger Jahre sollten auch noch riesige Erdölraffinerien errichtet werden — nun werden bestehende stillgelegt!
Bei den Wohnungen spricht man heute wieder von »Knappheit«, obwohl sich Zahl und Größe der Wohnungen laufend erhöht hat. Der Grund ist darin zu suchen, daß hier die Ansprüche noch weiter steigen konnten.
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Was ich 1975 generell unterschätzt habe, ist die Tatsache, daß in einem reichen Land ein großer Teil der Bevölkerung noch lange über beträchtliche Kapitalien verfügt. Sie sind das Ergebnis vergangener Leistungen, ererbtes Gut. Darum kann immer noch relativ viel konsumiert werden. Man kann es sich leisten, gewisse Tätigkeiten weiterhin von Gastarbeitern verrichten zu lassen, obgleich sich die Arbeitslosigkeit verdoppelt hat, obgleich die Löhne zum Teil ins Ausland fließen. Bei negativer Zahlungsbilanz kann man zunächst einmal Sachwerte an das Ausland verkaufen, wie das — natürlich auf Kosten der nächsten Generationen — in diesen Jahren geschieht.18 Somit schlagen negative Entwicklungen in reichen Ländern erst später auf den Lebensstandard durch, als zunächst angenommen werden durfte.
Eine drastische Überkapazität wird inzwischen bei den Stahlwerken sichtbar. Noch 1975 hatte der Techniker Wilhelm Dettmering auf dem Deutschen Eisenhüttentag eine Rede gehalten, die heute nur noch ironisch aufgefaßt werden könnte. Er machte folgende Rechnung auf: Die Menschheit hat in ihrer gesamten Geschichte bis zum Jahre 1975 sechzehn Milliarden Tonnen Eisen und Stahl erzeugt, davon die Hälfte allein in den letzten Jahren (infolge der exponentiellen Steigerung). Da er an der weiteren exponentiellen Steigerung in die Zukunft hinein nicht zweifelte, schloß der Redner messerscharf, daß nach dem Jahre 2000 jährlich drei Milliarden Tonnen Eisen und Stahl erzeugt werden würden.19 Die Pleite dieser Prognose ist heute noch deutlicher sichtbar als die bei der Energie. Bereits in diesen Jahren müssen Stahlwerke stillgelegt werden. Die USA erzeugten 1980 nicht mehr Stahl als 1953, die Europäer so viel wie 1975.20)
Die Überkapazitäten im Hoch- und Straßenbau sind bekannt. Dies führt genauso wie beim Stahl und bei der Elektrizität zu unentwegten Forderungen, nicht wegen des Bedarfs, sondern wegen der Arbeitsplätze Straßen, Fabriken und Kraftwerke zu bauen. Schlagt Schneisen durch die Landschaft, damit die Leute Arbeit haben! Besser läßt sich der Bankrott der ökonomischen Theorie nicht demonstrieren!
In den Jahren 1975/76 hatten die Wachstümler der Bundesrepublik noch einen großangelegten Versuch gestartet, die Steigerungsraten wieder anzukurbeln. Das ganze Unternehmen kostete rund 100 Milliarden DM, womit sich die öffentlichen Haushalte auf kaum wieder gutzumachende Weise verschuldeten. Die Verschuldung war auch nichts anderes als der Versuch, auf Kosten der Zukunft den damaligen »Lebensstandard« zu steigern (nicht etwa zu halten!).
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Das Ergebnis trat im Jahre 1981 offen zutage. Da wäre auf Grund der viel höheren Arbeitslosigkeit ein »Konjunkturprogramm« eigentlich dringender gewesen als 1975/76. Dies war aber angesichts eines erreichten Schuldenstandes aller öffentlichen Haushalte von über 500 Milliarden DM gar nicht möglich, was sogar alle Parteien zugaben. Die Schwierigkeit ist nun eine doppelte: Jetzt muß für den Schuldenberg bzw. seine Abzahlung gearbeitet werden, also nachträglich für das, was man sechs Jahre zuvor verbraucht hat. Dies ist auch in anderen Industrieländern so. In den USA stieg die Verschuldung zwischen 1975 und 1981 von 560 Milliarden auf 1000 Milliarden Dollar.21
Die <Schreckensbilanz unserer Politik> wird inzwischen auch in diesen roten Zahlen sichtbar. Die Vergleichsverfahren müssen eröffnet werden, aus denen alle nur mit großen Verlusten herauskommen werden. Weigern wir uns aber, dem Vergleichsverfahren zuzustimmen, dann wird in wenigen Jahren die Pleite, das heißt in diesem Fall die Katastrophe, unvermeidlich. Plötzlich erschallt nun aus allen politischen Ecken ein Wort, für dessen Gebrauch wir in den siebziger Jahren verhöhnt wurden. Dieses Wort heißt Sparen. Die Wachstümler müssen jetzt zugeben, daß nichts mehr so lief, wie sie es für »unabdingbar« gehalten hatten. Insgesamt 18 Prozent »Wachstum« von 1973 bis 1981, das hatte man doch früher fast in zwei Jahren erreicht! Aber auch diese Erkenntnisse führen nicht zur Aufgabe der alten Theorien. Man hält an ihnen hier genauso eisern fest, wie das die Kommunisten im Ostblock tun. Es kann nicht sein, was nicht sein darf!22
Das Wachstumssyndrom
Es stimmt keineswegs, daß das sogenannte »wirtschaftliche Wachstum« schon immer das Ziel der Menschen war. Man könnte dieses Ziel sogar als Erfindung der Kommunisten bezeichnen, die nach dem I. Weltkrieg in der Sowjetunion die prozentualen Steigerungen in ihren Fünfjahresplänen programmierten. In den westlichen Industrieländern faßte die Theorie vom »ständigen wirtschaftlichen Wachstum« erst nach dem II. Weltkrieg Fuß. Sie ergab sich sozusagen aus der Praxis, für die man erst nachträglich eine Begründung suchte, die sehr dürftig ausfiel.
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Der amerikanische Ökonom und Nobelpreisträger Paul Samuelson führt ein »Sammelsurium« von Gründen, wie er es nennt, in seiner zweibändigen <Volkswirtschaftslehre> auf:
»Die militärische und wirtschaftliche Herausforderung durch die Sowjetunion.
Die Bemühungen, die um ihre Entwicklung besorgten neutralen Länder davon zu überzeugen, daß ein ökonomisches Mischsystem für sie die beste Alternative ist.
Der Glaube, daß der Staatsverbrauch an Gütern und Dienstleistungen in Zukunft steigen wird und daß es dann politisch einfacher ist, die dafür benötigten Mittel aus dem größeren Zuwachs des Bruttosozialprodukts abzuzweigen, als zu diesem Zweck die Steuern im langsam wachsenden Bruttosozialprodukt zu erhöhen.
Der Glaube, daß — selbst wenn materielle Güter an sich noch nicht das Wichtigste im Leben sind — eine Gesellschaft glücklicher ist, wenn es bergauf geht, und unglücklicher, wenn alles stagniert und protektionistische und ähnlich bedrängende Kräfte in solcher Atmosphäre blühen und gedeihen.«23
Die ersten drei Punkte enthalten nichts, womit sich das »wirtschaftliche Wachstum« echt begründen ließe. Der vierte Punkt, den Samuelson allerdings selbst wie den dritten einen »Glauben« nennt, könnte eine in sich stichhaltige Begründung für das »wirtschaftliche Wachstum« liefern. Aber auch nur dann, wenn der Glaube berechtigt wäre, daß eine Gesellschaft mit »Wirtschaftswachstum« glücklicher ist als ohne dieses. Der Wahrheitsgehalt dieses Glaubens wird uns das ganze Buch hindurch beschäftigen.
Alle Begründungen des wirtschaftlichen »Wachstums« gehen erst gar nicht auf die grundsätzliche Frage ein, ob dieses auf der Erde auf die Dauer jemals möglich ist. Mit dieser Fundamentalfrage glaubten Ökonomen und Politiker sich überhaupt nicht beschäftigen zu müssen, sonst wären sie auf die Ökologie gestoßen.
Der Wirtschaftsrat des Präsidenten der USA gab 1971 folgende Logik zum besten: »Wenn Konsens besteht, daß wirtschaftliche Produktion eine gute Sache ist, so folgt definitionsgemäß daraus, daß es nicht genug davon geben kann.«24 In internationalen Verträgen sind auch Wachstumsverpflichtungen enthalten. So im <Allgemeinen Abkommen über Tarife und Handel> (GATT): »Jeder Mitgliedstaat soll aktiv bemüht sein ... eine große und ständig wachsende Nachfrage zu schaffen ...«.
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In der Bundesrepublik Deutschland wurde das »wirtschaftliche Wachstum« im Jahre 1967 kurzerhand per Gesetz zur Staatsaufgabe erhoben. Daß man damals etwas Naturgesetzwidriges beschlossen hat, indem man unsere endliche Erde durch ein Gesetz in einen unendlichen Planeten umwandeln wollte, das ist den Vertretern der Parteien bis heute noch nicht aufgegangen. Und die Politiker der CDU/CSU wie der FDP haben bis heute auch nicht gemerkt, daß sie die Marktwirtschaft mit diesem Gesetz in eine Wachstumswirtschaft umgewandelt haben, indem sie das »wirtschaftliche Wachstum« ausdrücklich zur Staatsaufgabe erhoben.
Wo ist da noch ein Unterschied zur sozialistischen Doktrin, die das »Wachstum« von jeher als Ziel ihrer Pläne ansah? Zwangsläufig mußten nun auch in der Bundesrepublik Deutschland Pläne aufgestellt werden, so das besagte Energieprogramm. Es entbehrt nicht der Pikanterie, daß von 1973 bis heute ausgerechnet die CDU/CSU der Regierung immerhin vorwirft, daß sie ihr Energieprogramm nicht entschlossen verwirkliche. Mit dieser Forderung mißachten die verbalen Kämpfer für die Marktwirtschaft die Daten des Marktes völlig, die, wie wir sahen, überhaupt keine steigende Nachfrage signalisieren.
Nicht nur im »Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft« wurde die Steigerung zum Normalzustand erklärt und damit eine gleichbleibende Wirtschaft zum Ausnahmefall, ja zum Unglücksfall gestempelt — auch die gesamte Publizistik eignete sich eine solche Denkweise an. Wohl in den meisten graphischen Darstellungen werden die Änderungen der Prozentsätze in Kurven umgesetzt, nicht die realen Größen.
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Das sieht dann so aus:
Wenn die falschen Darstellungen nicht zu einer gedankenlosen Gewohnheit der Medien geworden wären, dann müßte man all diese Zeichnungen als raffinierte Täuschungen bezeichnen.
Die ganze Absurdität solcher Kurven, die sich auf die vorausgegangenen prozentualen Steigerungen oder Minderungen beziehen, wird noch deutlicher, wenn wir das irreführende Prinzip in einem Beispiel darstellen. Gehen wir von einer Wirtschaft aus, die mit hohen Steigerungsraten beginnt, zum Beispiel in den ersten drei Jahren mit jeweils + 8 %, danach aber acht Jahre lang jeweils 1 % weniger Steigerung erreicht als im Vorjahr; dann würden alle gängigen Zeichnungen folgenden Verlauf suggerieren:
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Der mit dieser Darstellung hervorgerufene Eindruck ist absolut irreführend. Jeder Mensch, der seinen Verstand beisammen hat, wird sich den gleichen Verlauf der Konjunktur so vorstellen:
Was kann man von einer Gesellschaft erwarten, die sich in solch mathematisch klaren Dingen Tag für Tag an der Nase herumführen läßt? Diejenigen, die kurzerhand eine ansteigende Linie zum Normalzustand erklären, müssen dann konsequenterweise die waagerechte Linie (die gleichbleibende Wirtschaft) als unnormal, ja als katastrophal verrufen.
Alle Jahre wieder treffen sich die Regierungschefs der neun führenden Industrienationen auf dem <Weltwirtschaftsgipfel>. Ihr Hauptanliegen ist die Vorgabe der wirtschaftlichen Steigerungsraten für das nächste Jahr, deren Förderung man sich gegenseitig schwört. Von der »Sicherung des Wachstums«, vom »besseren« und »höheren Wachstum« ist dort die Rede. Beim letzten Treffen 1981 war man bereits vorsichtiger geworden, aber auf das wiederholte Bekenntnis zum »Wirtschaftswachstum« hat man auch dort nicht verzichtet. Bei den deutschen Parteien herrscht diesbezüglich Konformität.
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Walther Leisler Kiep sagte 1978 in einer Rede: »Wachstum ist nicht alles, aber ohne Wachstum ist alles nichts.« Dies hat er ein Jahr später präzisiert: »Wenn Nullwachstum einträte, bedeutete das das Ende der Gesellschaftsordnung, in der wir leben.«25) Das Gleiche hatte schon 1977 der damalige Wirtschaftsminister Hans Friderichs (FDP) gesagt: »Ein Nullwachstum bei 1985 löscht die Demokratie bei uns aus.«26
Wenn er recht behalten würde, dann müßte die Demokratie nun bald in ihren letzten Zügen liegen. Franz Josef Strauß geht noch weiter und macht die Demokratie schon allein von der Einführung der Kernenergie abhängig:
»Wir sind keine unbedingten Verfechter der Kernenergie, aber wir brauchen sie, wenn die jetzige politische und wirtschaftliche Ordnung der Bundesrepublik aufrechterhalten werden soll.«
Bei der Eröffnung der Weltenergiekonferenz 1980 in München offerierte er die Prophezeiung:
»Wenn es nicht gelingt, die Kernkraft als Energieträger auszubauen, so wird es Krieg geben, und der Stärkere holt sich, was er braucht. Die Alternative dazu wäre, mit dem Mangel zu leben. Die Folge davon ist, daß die innerstaatlichen Ordnungen zerbrechen und in der Revolution der Unzufriedenheit untergehen werden.«27
Das Ausbleiben zusätzlicher Energie wäre also bereits ein Grund zur Revolution! Alle zitierten Äußerungen gehen von einem wohlstandsgierigen Bürger aus, der durch keinerlei Fakten, keine Vernunftgründe, ja nicht einmal durch die Gefahr des Krieges von seinen von Jahr zu Jahr steigenden Ansprüchen abzubringen ist. Für die steigenden Ansprüche ist er bereit, eine Revolution auszulösen und den Staat zu zerstören. Welch eine beschämend niedrige Einschätzung von Menschen durch Politiker!
»Parteien, die aus Konkurrenzangst dem Bürger den Anblick der Grenzen des Mehr und Besser ersparen möchten, nehmen ihn im Grunde nicht ernst, sondern für kindisch. Das aber merkt er und antwortet mit Vertrauensentzug, und wenn es für das entzogene Vertrauen keine Alternative mehr gibt, zerfällt die Legitimität des Systems.«28) Dies schrieb der Züricher Politikwissenschaftler Hermann Lübbe 1974.
Am ausbleibenden »wirtschaftlichen Wachstum« wird unser Staat und die Welt gewiß nicht zugrunde gehen,
wenn wir uns nur einigermaßen vernünftig verhalten, und wenn wir etwas Glück haben, auch nicht unsere Demokratie.
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Den Pessimismus der Strategen aller Parteien kann ich nicht teilen. Allen Anlaß zum Pessimismus bietet allerdings ihre verantwortungslose Kurzsichtigkeit, ja ihre Unlogik.
Wenn wirklich alle immer mehr haben wollen, dann muß es doch um so früher zum Krieg um die Ressourcen kommen,
nicht nur um Erdöl, auch um Uran, um Erze und um Düngemittel. Das System ist also am ehesten dann in Gefahr, wenn das Unmögliche immer noch weiter programmiert wird. Wo sind die Staatsmänner, die nach einem Wort von Gladstone nicht an die nächste Wahl, sondern, an die nächste Generation denken müßten? »Die heutigen Staatsmänner arbeiten gehetzt, um mitzukommen, am laufenden Band der Technikgeschichte«.29 So urteilt der in Breslau geborene und jetzt in Österreich lebende Philosoph Günther Anders. Entwicklungen, denen wir mit heraushängender Zunge hinterher laufen, »setzen diesen Lauf selbst dann noch fort, wenn wir bereits ahnen, daß sie nicht nur unser Schicksal geworden sind, sondern dessen Ende sein werden.« Aber aus Angst zurückzubleiben würden wir es noch soweit bringen, meint Günther Anders, »daß von uns allen wirklich nichts >zurückbleiben< wird.«29
Die Welt befindet sich in einem Zeitalter der Gigantomanie. Und die Politik, angefangen vom Weltwirtschaftsgipfel bis hinunter zur Gemeinde, steht im Dienst der Gigantomanie. Andererseits zeigt sie neuerdings auf allen Ebenen die Zeichen schlimmer Hilflosigkeit. Günther Anders vergleicht die heutigen Machthaber treffend mit Goethes »Zauberlehrling«. Als er den in einen Wasserträger verwandelten Besen nicht mehr bremsen kann, spaltet er ihn in zwei Hälften, was zur Folge hat, daß nun zwei Träger Wasser herbeischleppen. (Ein anschauliches Bild für die Verdoppelung des »Wachstums«.) 150 Jahre nach Goethes Tod hat sich die Menschheit in ein Milliardenheer von Zauberlehrlingen verwandelt. Aber, »heute wissen wir Zauberlehrlinge nicht nur nicht, daß wir die Entzauberungsformel nicht wissen, oder daß es keine gibt; sondern noch nicht einmal, daß wir Zauberlehrlinge sind.«30
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So wie Goethes Zauberlehrling, so haben heute die Verantwortlichen kaum einen Schimmer von dem, was wirklich vorgeht, geschweige, daß sie die Formel des Zaubermeisters wüßten, von der die Rettung kommt. Ortega y Gasset schrieb schon 1930:
»Je weiter die Zivilisation fortschreitet, um so verwickelter und schwieriger wird sie. Die Probleme, die sie heute aufgibt, sind höchst verzwickt. Immer kleiner wird die Zahl der Menschen, deren Geist auf der Höhe solcher Aufgaben ist... Dies Mißverhältnis zwischen der Subtilität der Probleme und der Intelligenzen wird, wenn man nicht Abhilfe schafft, ständig zunehmen; und hier rühren wir an die tiefste Tragik der Zivilisation... Ich glaube nicht, daß sich etwas dergleichen jemals in der Vergangenheit zugetragen hat... jetzt ist es der Mensch, der scheitert, weil er mit dem Fortschritt seiner eigenen Zivilisation nicht Schritt halten kann. Es ist haarsträubend, wenn man die verhältnismäßig Gebildetsten über die einfachsten Tagesfragen sprechen hört. Sie wirken wie grobe Bauern, die mit steifen, dicken Fingern eine Nähnadel vom Tisch zu klauben suchen. Politische und soziale Fragen etwa werden mit dem schwerfälligen Begriffsapparat behandelt, mit dem man vor zweihundert Jahren zweihundertmal weniger zugespitzten Situationen gegenübertrat.«31
Inzwischen sind wir fünfzig Jahre, in denen sich die Entwicklungen überschlugen, weiter. Wenn wir damals eine um zweihundertmal zugespitzte Situation hatten, dann sind die heutigen Schwierigkeiten gar nicht mehr zu beziffern. Dabei ergeben sie sich noch nicht aus den schwindenden Grundlagen der Natur, sondern aus dem Ausbleiben des »wirtschaftlichen Wachstums«. Die erste Folge ist Arbeitslosigkeit. Eine weitere Dopingbehandlung ist fällig.32)
Auch eine lange genährte Hoffnung hat sich nicht erfüllt: Die angekündigten Erfindungen, die man machen wollte, um neue Konsumstöße zu erzielen, sind ausgeblieben. Auf einigen Gebieten kann man bereits heute eine gegenteilige Entwicklung beobachten; man kehrt zur guten alten Naturproduktion zurück. Vor zehn bis zwanzig Jahren waren die Zeitungen voll von Berichten, daß man aus Erdöl Nahrungsmittel herstellen werde. Heute liest man es umgekehrt. In Brasilien wird Zuckerrohr angebaut, um daraus Treibstoff zu gewinnen. 2,5 Millionen Hektar werden dem Nahrungsmittelanbau entzogen, um 4 Millionen Tonnen Alkohol-Kraftstoff zu gewinnen. Die Anbaufläche soll auf 9 Millionen Hektar gesteigert werden.33)
In den USA und anderen Ländern laufen Projekte, schnellwachsende Bäume anzupflanzen, die der Energieerzeugung dienen sollen. Das ist zwar auch eine eindrucksvolle Rückkehr zur Natur, verschärft aber ebenfalls den Mangel an Nahrung; denn wo ein Energiewald wächst, kann kein Getreide angebaut werden.34)
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Die Verwirrung in der heutigen Welt ist nicht mehr zu überbieten. Während die einen bereits wieder die guten alten Wachstumsmethoden der Natur für der Weisheit letzten Schluß halten, schwelgen andere immer noch in großtechnischen Projekten. Weil es mit dem Naheliegenden nicht mehr so recht vorangeht, verlegt man die Utopien ins Weltall. Der Himmel wurde durch die Astronomie in den letzten Jahrhunderten so fern gerückt, daß man hier nur noch mit Lichtjahren rechnen kann. Nun soll er wieder ganz nahe sein. Man will diesen Himmel künftig nicht mehr erst durch den Tod, sondern lebend per Raumschiff erreichen.
Die jüngste Generation von Scharlatanen will die Menschen glauben machen, daß die überschüssig geborenen Milliarden »den Weltraum besiedeln« werden. Man ist zwar nicht mehr in der Lage, alle Menschen in ihrem irdischen Leben mit genügend Nahrungskalorien zu versorgen (für 70 Jahre wären das fast 64 Millionen Kilokalorien pro Person); aber zum Start in den Weltraum soll die 35fache Menge an Kilokalorien pro Person sofort zur Verfügung gestellt werden können! (Der Berechnung liegt allein die Startenergie eines Apollo-Raumschiffes zugrunde. Hinzu kommt der Energieeinsatz für die Herstellung der Rakete und des Raumschiffs sowie für seine Ausrüstung.)
Aber selbst dann, wenn das alles keine Probleme wären, wohin soll die Reise gehen?
Sollten einzelne Astronauten über den Mond hinaus auch nur in unser Sonnensystem vorstoßen, dann müßten sie auf Jahre unter Bedingungen leben, denen gegenüber das Leben eines jeden Strafgefangenen auf dieser Erde paradiesisch ist. Diese Utopie ist die Fortsetzung der Sehnsucht nach einer Erlösung, die der Fortschrittsglaube bereits in diesem Leben realisieren wollte. Wer ernstlich solche Auswege sucht, gleicht dem, der sich im Meer ertränkt, um dem Regen zu entgehen.
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Vom Sinn und Unsinn der Futurologie
Noch vor wenigen Jahren wurde die Welt von glanzvollen Zukunftsentwürfen geradezu überschüttet. Die bessere Zukunft war eine programmierte Sache, ganz gleich, ob die Entwürfe von Kapitalisten oder von Sozialisten stammten. Die Eroberung der Zukunft war zur Aufgabe der Wissenschaftler und Techniker geworden (nicht mehr des Militärs), was in einem ökonomisch bestimmten Zeitalter folgerichtig ist. Die Politiker machten sich die Pläne gutgläubig zu eigen, weil nach dem II. Weltkrieg über zwei Jahrzehnte lang die Entwicklung so über Erwarten wunschgemäß verlaufen war, daß man diese nur zu verlängern brauchte. Keine Regierung wollte im Wettlauf um die bessere Zukunft zurückstehen, denn es war ja zugleich der Wettlauf der Parteien mit dem jeweils glänzenderen Angebot an die Wähler. Der Wirtschaftswissenschaftler Albrecht Kruse-Rodenacker beschreibt die Szene der siebziger Jahre:
»Wortgewaltige Futurologen dürfen mit eigenen Formulierungen zu Regierungserklärungen beisteuern. In den Vorhöfen der Macht werden neue Denkmodelle entworfen. Professoren gehen ein und aus. Ihre Prognosen stützen die politischen Grundsatzerklärungen. Ihre Namen schmücken die Wahlkampagnen. Die Administration läßt finanzielle Großzügigkeit walten. Mit der Springflut von Zukunftsmodellen entstehen allerorten neue Institute für Zukunfts- und Friedensforschung.«35
Ein Manager aus der Schweiz schilderte vor einigen Jahren ein Erlebnis, das er in den Vereinigten Staaten hatte. Der Mitarbeiter eines Prognoseinstituts flüsterte ihm zu: wir dürfen unseren Auftraggebern nicht die Ergebnisse liefern, zu denen wir gekommen sind, denn die wünschen nur »positive« Voraussagen, negative lehnen sie ab. Das ist ein Ergebnis der Kommerzialisierung der Futurologie. Dem entspricht die Aussage des Londoner Sozialwissenschaftlers Peter Wiles, daß.....
»der Futurologe, der Forschungsgelder bekommt, wachstumsgläubig ist. Da er ehrlich ist, zieht er anfänglich die schlimmsten Katastrophen in Erwägung, doch schiebt er sie dann ausdrücklich beiseite, damit er seine Kunst ausüben kann... Der Futurologe ist nicht aus freiem Willen Optimist. Doch es gibt keine guten Katastrophen, somit ist er Optimist als Ergebnis seiner Methodenlehre. Darüber hinaus wird von seinem Bericht vorausgesetzt, daß er dem offiziellen Entscheidungsprozeß zur Hand geht... Solche Leute aber m.ü.s.s.e.n für eine unzerstörte Welt planen. Wenn man ihnen sagt, es besteht eine, sogar eine sechzigprozentige, Aussicht auf völlige Zerstörung innerhalb fünf Jahren, ist das einzige, was sie tun können, nicht zuhören und allein für die Möglichkeit des Weiterlebens planen.«36
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Es ist aber nicht nur das Marketing einer neuen Branche und auch nicht nur Betrug, was hier am Werke war und — inzwischen in reduzierter Form — noch ist, es handelt sich auch um ein psychologisches Phänomen. Schließlich war es doch eine Erfolgsserie, welche die Welt in die schwindelnde Höhe geführt hat. »Während die Ökologie dem Menschen einen niedrigen Rang zuweist, stärkt die Technologie sein Ich-Bewußtsein.«37) Man sieht die jüngste Vergangenheit als aufsteigende Kurve, die es unbedingt zu verlängern gelte. Doch die steile Kurve nach oben ist eben nicht kennzeichnend für die lange Vergangenheit des Lebewesens, welches sich Mensch nennt. Der Mensch hat, nach heutiger Schätzung, zwei bis drei Millionen Jahre Geschichte unter fast gleichbleibenden Bedingungen hinter sich.
Eine der weitreichenden Folgen des Industriezeitalters ist, daß es die Menschen aus ihrer Tradition herausgeworfen und geschichtslos gemacht hat — und das in wenigen Jahrzehnten. Für das deutsche Volk kommt verschärfend hinzu, daß das zwölfjährige Dritte Reich, weil es sich auf die deutsche Tradition berief, damit auch die traditionellen Werte in den Strudel der darauffolgenden Entwertung der NS-Ideologie hineinriß. So tut sich nun dieses Volk besonders schwer mit jeder Art von Tradition. Dieses deutsche Zusatzerlebnis darf uns aber nicht den Blick dafür verstellen, daß die heutige Zivilisation die Vergangenheit in die Museen verwiesen hat.38
Echtes Festhalten an kulturellen Traditionen hätte ja nur den Fortschritt behindert. Nach dem Krieg galt nur der letzte Schrei; das Allerneuste war inzwischen zum Feind des Neuen geworden. So führten Parteien Wahlkämpfe mit dem Versprechen: »Wir schneiden alte Zöpfe ab!« Der autonome Mensch wollte seine Geschichte selber machen, in den freien Raum hineinstellen; alles Bisherige war bloße Vorgeschichte zu der nunmehr begonnenen »endgültigen Geschichte«. Das Bewußtsein geschichtlicher Kontinuität ging verloren, die geschichtslose Leistungs- und Produktionsgesellschaft trat an seine Stelle. Man bedauerte, daß überhaupt Vergangenes mitgeschleppt werden mußte, weil es eben noch herumstand; ganze Städte konnte man nicht niederreißen, wenn auch der Bulldozer die Bombardements des Krieges fleißig fortsetzte.
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Dagegen waren Juden und Christen immer so von ihrer Tradition erfüllt gewesen, daß sie zwischen Erinnerung und Erwartung lebten, wie der Theologe Wolf-Dieter Marsch darstellt. Sie waren »unterwegs im Horizont einer Zeit, in der Gott zukommt, in einem Kontinuum, das im Wechsel der Ereignisse auch Bestand, Festigkeit und Handlungsmöglichkeit gibt, das diese Ereignisse aber zuletzt transzendiert.«39) Gegenwärtig schwankt man nun hin und her zwischen einer Verklärung der vortechnischen <heilen Welt> und einer wildgewordenen futurologischen Phantasie, »die sich in revoluzzerhaften Impulsen und Aktivitäten oder in prophetischen Andeutungen erschöpft«.40)
Angesichts der radikalen Enttäuschung der goldenen Zukunftserwartungen kann allerdings eine verklärte Vergangenheit nicht die Alternative sein — wohl aber die Rückbesinnung auf die Vergangenheit, in der Menschen über Jahrtausende gekämpft und gelitten, gesiegt und verloren haben und über alle Höhen und Tiefen hinweg auch ihre Erfahrungen sammelten. Wenn wir uns Gedanken über die Zukunft machen, dann dürfen wir das nicht an Hand der lächerlich kurzen Periode des technischen Zeitalters tun, da müssen wir die lange Geschichte des Menschen auf dieser Erde einbeziehen. Entsprechend der Forderung Goethes müssen wir uns zumindest über die letzten dreitausend Jahre Rechenschaft geben können.
Daß die Vergangenheit die »Quelle des Wissens vom Menschen« ist und daß wir von der Vergangenheit lernen müssen, was der Mensch im Positiven wie Negativen sein kann, hat der in Deutschland geborene Philosoph und Religionswissenschaftler Hans Jonas dargelegt. Darin finden wir »allen nur erwünschten Stoff zu Erhebung und Schauder, zu Hoffnung und Furcht, und auch Maßstäbe der Wertung«.41)
Der Freiburger Politologe Franz Vonessen ist der Frage nachgegangen, warum die Futurologie, wie wir sie bisher kennen, keine Wissenschaft von der Zukunft ist, sondern lediglich »eine dem jeweiligen Kalenderstand vorauslaufende Chronometrie«.42) Inzwischen ist die Pleite dieser Art simpler Fortschreibungen und Hochrechnungen offenkundig.
Schon Platon schrieb, daß keine Wissenschaft von einem Objekt denkbar sei, die nicht auch seine Vergangenheit und Zukunft beträfe. Aber heute sind Geschichtswissenschaft, praktische Politik und Zukunftsforschung getrennte Spezialgebiete, die nichts miteinander zu tun haben wollen, wie Franz Vonessen feststellt,43 wobei er bedauert, daß die Historiker, die schon Wissen um die Zukunft beisteuern könnten, bislang in der Futurologie vermißt würden.
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»Zukunftsforschung, richtig verstanden, müßte als Geschichtswissenschaft, als Erforschung der Vergangenheit, einsetzen.«44) Die Vergangenheit ist das einzig Sichere, was wir besitzen, sie ist das Feste, »das nicht mehr zu Ändernde, Unverrückbare, Halt und Stand für alles, was ist, Prinzip und Maßstab der Realität, ja alles Materiellen; Vergangenheit ist Erde, Boden und Standform ... Die Zukunft dagegen ist das Unsichtbare, Ungreifbare, Unbekannte, das nicht zu Fassende, Ungewisse, das aber nicht fern von uns, sondern immer bei uns ist ...« 45)
Wahre Zukunftsforschung kann uns nur darüber mit Sicherheit belehren, was wir keinesfalls tun dürfen, selten darüber, was wir tun sollen.
»Die Sybillen und Propheten haben immer gewarnt. Nie haben sie zum besseren Planen der Zukunft, stets nur zu Einsicht und Besinnung gerufen; denn allein darin liegt Zukunft.« Daraus folgert Franz Vonessen, »Zukunft kann nicht gemacht, wohl aber vertan werden; denn Zukunft ist Schicksal, kein Machwerk.«46) Zukunftsforschung hat also die Funktion des Katastrophenschutzes, für den wir vergangene Erfahrungen zu Rate ziehen. Der Philosoph Ortega y Gasset hielt es ebenfalls für geboten, »von der Vergangenheit, wenn auch keine positive Führung, so doch gewisse negative Ratschläge anzunehmen. Die Vergangenheit kann uns nicht sagen, was wir tun, wohl aber, was wir lassen müssen.«47)
Die bisherige Futurologie hat aber den Ernst des Negativen nicht einmal ins Auge gefaßt. Im Gegenteil, sie ist von der Lust am Positiven erfüllt, an dem, was »die sonnige Zukunft« genannt wird.48) Das Problem ist, daß man die Zukunft auf das festlegt, was man zur Zeit für positiv hält, während man taub für alle Argumente (auch die wissenschaftlichen) ist, sobald diese die negativen Folgen von Unternehmungen darlegen.
Zur Zeit werden die folgenden Generationen durch grandiosere und gefährlichere Projekte, als sie die Erde jemals gesehen hat, unentrinnbar festgelegt. Hunderte von Atomkraftwerken werden gebaut, tausende von Tonnen radioaktiven Mülls jährlich erzeugt, die in noch gefährlicherer Weise wieder aufgearbeitet oder auf Jahrtausende gelagert werden müssen. Zehntausende von Raketen mit Atomsprengköpfen liegen in immer mehr Ländern der Erde abschußbereit.
Es werden also gerade negative Bedingungen für die Zukunft geschaffen, nicht vermieden! Eine negative Festlegung geschieht auch durch die Milliarden von Geburten in diesen Jahrzehnten, während andererseits die Pflanzen- und Tierarten ausgerottet werden, die kommende Generationen viel nötiger gehabt hätten — so nötig wie das fruchtbare Land, das wir heute unter Beton begraben.
Dies sind nur die unheimlichsten Zwangsläufigkeiten, in die wir künftige Generationen hineintreiben. Darum wird die Frage auch juristisch diskutiert: Dürfen heutige Politiker — mit welcher Legitimation und welchen Mehrheiten auch immer — den künftig Lebenden ihre Entscheidungsfreiheit durch unumstößlich geschaffene Fakten entziehen?
Hier wird eklatant gegen den vorhin aufgestellten Grundsatz verstoßen, wonach unsere Zukunftsvorsorge nur darin bestehen kann, erkannte Gefahren auszuschließen. Hier schichtet man diese vielmehr mit der schnoddrigen Behauptung auf, daß die von uns aufgetürmten Reichtümer wichtiger seien als alle drohenden Gefahren. Aber die Geschichte belehrt uns, daß wir dann ein größeres Verdienst um die Zukunft erwerben würden, wenn wir auf möglichst vieles verzichteten. »Das Opfer sichert die Zukunft.« 48)
Völlig unnütz sind also die Versuche, die Zukunft konkret voraussagen zu wollen. Sie wird so nicht verlaufen. Und sie wird niemals nach den Plänen verlaufen, die heute in großer Zahl entworfen werden. Was allein Erfolg verspricht, ist die Minderung der drohenden Gefahren — und gerade diese Methode wird verworfen; sie gilt als konservativ und fiel bisher der allgemeinen Verachtung anheim.
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Herbert Gruhl Das irdische Gleichgewicht Ökologie unseres Daseins