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   Teil 4  -  Die organische Weltauffassung 

4.1 - Die organischen Prinzipien    Gruhl-1982

Das Wahre war schon längst gefunden,

Hat edle Geisterschaft verbunden,

Das alte Wahre, faß es an! --Goethe

  Das alte Wahre  

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Lewis Mumford stellt folgendes Postulat auf: »Die große Revolution, die wir brauchen, um die Menschheit vor den drohenden Angriffen der Beherrscher der Megamaschine auf das Leben zu schützen, verlangt vor allem eine Ersetzung des mechanischen Weltbilds durch ein organisches ... Nimmt man ein organisches Modell an, dann muß man ... Endlichkeit, Begrenztheit, Unvoll­ständigkeit, Ungewißheit und schließlich den Tod als not­wendige Lebensattribute, ja als Voraussetzungen für die Erlangung von Ganzheit, Autonomie und Kreativität akzeptieren.«248

Innerhalb dieser Begriffe hat sich das Leben seit eh und je abgespielt. Nur der technische Erfolgsrausch der letzten Jahrhunderte hat Menschen zu der Ansicht verleitet, sie hätten eine ganz neue Ebene des Seins erklommen. Damit sei der Mensch einem endgültigen Stadium nahe, in dem alles gewußt, alles geregelt und ein jeder zufrieden sein werde. Daß dies das Ende der Geschichte sein würde, ist den mechanistischen Verfechtern der perfekten Lösung nie aufgegangen. Solange Lebewesen diese Erde bevölkern werden, bleibt dieses Stadium außerhalb des Möglichen und des Wünschenswerten; denn auf dem Wege dorthin müßte alles das, was »Leben« genannt werden kann, abgeschafft werden.

»Denn das Leben, sei es individuell oder kollektiv, persönlich oder historisch, ist das einzige Sein in der Welt, dessen Wesen Gefahr ist. Es besteht aus Peripetien. Es ist im genauen Sinn des Wortes Drama.«249  (*d-2010: Peripetie: Die entscheidende - meist tragische - Wendung im Drama.)  Doch Ortega y Gasset, der dies sagt, hat Zweifel, ob man ihn verstehen werde. Darum fügt er diesem Satz eine pessimistische Anmerkung hinzu: 

»Man braucht es kaum noch zu sagen, daß fast niemand diese Ausführungen ernst nehmen und die Bestgesinnten sie für bloße Metaphern, vielleicht für herzbewegende halten werden. Nur hier und da wird ein unbefleckter Leser, der noch nicht von Grund auf zu wissen glaubt, was das Leben ist, oder wenigstens was es nicht ist, sich durch den ursprünglichen Sinn dieser Sätze gewinnen lassen, und gerade er wird sie - seien sie nun wahr oder falsch - verstehen. Unter den übrigen wird die herzlichste Übereinstimmung herrschen, mit dem einzigen Unterschied, daß die einen meinen, das Leben sei <im Ernst> ein realer Ablauf von Seelenzuständen, während die anderen es für eine Auf­einanderfolge chemischer Reaktionen halten.«

Wir müssen also nun versuchen zu skizzieren, was unter einer organischen Weltauffassung zu verstehen ist, obwohl Goethe über unser Verhältnis zur Natur sagt: »Wir leben mitten in ihr, und sind ihr fremde. Sie spricht unaufhörlich mit uns, und verrät uns ihr Geheimnis nicht.«250 Auf welche Weise sich Leben abspielt und was es zu seiner Entfaltung benötigt, wird der Inhalt der folgenden Kapitel sein.

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Leben ist kein mechanischer Vorgang zwischen einem bekannten Anfang und einem bekannten Ende; es ist unberechenbar, eine Folge von positiven und negativen Überraschungen. Es spielt sich auf einem unübersehbaren Felde ab und ist doch begrenzt.

Im Bereich des Lebens herrscht nicht nur das Gesetz der Kausalität, mit dem es sich gut kalkulieren läßt und worauf das ökonomische Zeitalter alle seine Berechnungen aufbaut; hier herrschen die — im Ursprung unergründlichen — biologischen Prinzipien.

Auf der einen Seite haben wir das gesicherte naturwissenschaftliche und mechanistische Wissen — auf der anderen die unerforschlichen Geheimnisse der Transzendenz, von denen nur hin und wieder ein Stück aufleuchtet; denn sie beginnen im biologischen Sein, zu dem wir selbst gehören. Zwischen der Transzendenz und dem mathematisch geordneten Wissen spielt sich alles das ab, was wir Leben nennen. Das ist zugleich das Feld der relativen Freiheit. Nur in diesem Bereich haben alle immateriellen Regungen des Menschen die Chance der Entfaltung. Hier haben seine seelischen Erlebnisse, seine ethischen Vorstellungen, seine Kunst und seine Religion ihren Ursprung.

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Einer der tiefsten Denker, der die Welt organisch auffaßte, war Goethe. Seine naturwissenschaftlichen Arbeiten mußten mit der herrschenden Auffassung in Konflikt geraten, besonders seine Farbenlehre. Dennoch hat er bleibende Beiträge geleistet, so die »Metamorphose der Pflanzen«.

Im 20. Jahrhundert hat der Kulturphilosoph Oswald Spengler die organische Weltsicht wieder aufgegriffen, indem er dem Kausalitäts­prinzip die »Schicksalsidee« entgegensetzte. Im Leben vollzieht sich die Verwirk­lichung des Möglichen, welche »als gerichtet, als unwiderruflich in jedem Zuge, als schicksalhaft hingenommen werden muß — dumpf und ängstigend vom Urmenschen, klar und in der Fassung einer Welt­anschauung, die allerdings nur durch die Mittel der Religion und Kunst, nicht durch Begriffe und Beweise mitgeteilt werden kann, von Menschen hoher Kulturen.«

Auch die Sprache kann mit Worten diesen Bereich beschreiben; es wird ihr aber nie vollständig gelingen. Spengler nennt einige bezeichnende Worte:

»Geschick, Verhängnis, Zufall, Fügung, Bestimmung. Keine Hypothese, keine Wissenschaft kann je an das rühren, was man fühlt, wenn man sich in den Sinn und Klang dieser Worte versenkt. Es sind Symbole, nicht Begriffe... Die Schicksalsidee verlangt Lebenserfahrung, nicht wissenschaftliche Erfahrung, die Kraft des Schauens, nicht Berechnung, Tiefe, nicht Geist. Es gibt eine organische Logik, eine instinkthafte, traumsichere Logik allen Daseins im Gegensatz zu einer Logik des Anorganischen... was in den Worten Hoffnung, Glück, Verzweiflung, Reue, Ergebenheit, Trotz liegt.«251

Das Organische, was Spengler das »Schicksalhafte« nennt, kann nur gefühlt und innerlich erlebt werden; es geht um Gewiß­heiten, welche die einfachsten Menschen früher besaßen und natürlich zu allen Zeiten die Gläubigen, die Liebenden, die Künstler und Dichter.252 Alles Lebendige hat eine andere, höhere Logik, eine solche, die nicht mit unserem Verstand zu erfassen ist, wohl aber mit unserer Vernunft.

Ein Grundzug des Lebens ist die Selbstverschwendung, ja Selbstpreisgabe. Wir finden sie in ihrer extremsten Form in der Aufopferung der Mutter oder auch beider Elternteile für ihre Jungen oder in der Selbstaufgabe unter Liebenden. Schwächere Formen der Selbstverschwendung liegen im Spiel und Wettkampf, im Tanz und Fest, in der Hingabe an ein Werk.

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Nur wo Hingabe eines Wesens stattfindet, kann sie vom Empfangenden als Geschenk empfunden werden, woraus irdische Wesen immer noch ihre größte Beglückung beziehen. Und das Glück, dessen Herkunft wir nicht ergründen können, nennen wir Gnade. Gnade ist das Geschenk, welches aus der Transzendenz kommt.

Beim Dichter Reinhold Schneider lesen wir: »Allein das Märchen von der Gnade löst das Wirrsal: Nur das Märchen ist Antwort an Leben und Zeit; es ist der Lobgesang der Tragiker.«253

Die Märchen enthalten wahrscheinlich die vollkommensten Darstellungen des organischen Lebensgefühls. Sie beziehen die Natur mit ein und stellen den Menschen mitten in die Natur. Die Tiere und sogar die Pflanzen sind im Märchen gleichberechtigte Wesen im Spiel des Lebens. Dieses Spiel bewegt sich psychisch zwischen den Gegenpolen, die wir später noch beschreiben werden: zwischen gut und böse, schlau und dumm, tapfer und feige, schön und häßlich. Die Handlung verläuft zwischen Hoffen und Bangen, so daß sie den Hörer oder Leser mitzittern läßt, denn so verläuft auch sein Leben: von der Geburt über Kampf und Liebe bis zum Tod. Bei aller Grausamkeit — die ebenfalls dem Leben entnommen ist — endet die Geschichte im Märchen doch meist glücklich oder versöhnlich. Bei aller Härte bleibt die Grundstimmung: Leben und leben lassen.

»Ein bevorzugtes Kriterium in der Kennzeichnung von Menschen ist im Märchen die Frage, ob einer einfühlsam und behutsam mit den Dingen und Kreaturen umgehen kann. Für das Märchen ist die Welt ein zusammengehöriger Bereich, in dem das eine mit dem anderen in Verbindung steht, der eine für den anderen Verantwortung tragen muß. ... Wer nicht das der Schöpfung innewohnende Gesetz respektiert, der vergeht sich an ihr und greift in einen komplizierten Zusammenhang ein, was sich dann verhängnisvoll auswirken muß. 

Die mißhandelte Schöpfung schlägt zurück, die vergewaltigte Natur verweigert dem Menschen den Gehorsam. Was wir heute durch die Einsichten in das ökologische Gleichgewicht der Natur mühsam uns vergegenwärtigen müssen, das weiß das Märchen in seiner Bildersprache immer schon. — Hinter dem Verständnis einer kosmischen Verbundenheit wird eine große Verläßlichkeit der Schöpfung geahnt, die den einzelnen trägt, wenn er bereit ist, sein Teil zum Ganzen beizutragen.«254

Im Märchen findet die Übertreibung, sei es die des Stolzes, des Reichtums oder der Macht, fast immer ihre Strafe. Die Hybris wird dem Menschen zum Verhängnis wie schon in der griechischen Tragödie.

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Und immer ist der Tod allgegenwärtig. Es ist ganz logisch, daß für Märchen in der heutigen mechanistischen Welt kaum Interesse besteht. Früher erzählte man sich Märchen oder Mythen in allen Ländern, gleich welcher Kultur. Also besteht in der organischen Lebensauffassung eine durchgehende Gemeinsamkeit der Völker bei reichster individueller Ausprägung. Wie könnte es auch anders sein; im einfachen Leben der Menschen herrschen eben überall die gleichen Grundmuster. »Die Menschheit hat seit jeher ihre schönsten Schöpfungen aus der animistischen Welt-<Anschauung> gewonnen«, urteilt der Göttinger Biologe Friedrich Gramer. »Die Märchen, die Sagen, Dichtung und Kunst sind der immerwährende Versuch, die Welt auf nicht wissen­schaft­liche, aber eben auch für den Menschen gültige Weise zu fassen.« 255) 

Das menschliche Leben, wie es sich auf unserem im Weltraum isolierten Erdball Tag und Nacht abspielt, kann nicht »auf die geschlossenen Systeme reduziert werden, auf die es nach rationalen Auffassungen gebracht wird.«256 Diese Aussage des französischen Philosophen Georges Bataille ist allzeit gültig gewesen, durch das lange Dunkel der Vorgeschichte bis zum heutigen Tag. Nur in den letzten Jahrhunderten ist der Vorrang des Organischen vor allem Mechanistischen ernsthaft in Frage gestellt worden. Aber auch dies nur auf der Ebene der intellektuellen Auseinandersetzungen, bisher kaum in der breiten Volksmasse — die natürlich daraufhin als rückständig gescholten wird und über die ständig Umerziehungspläne niederprasseln wie Gewitter. 

Der englische Naturwissenschaftler G.P. Snow vertritt in seiner Darstellung der »Zwei Kulturen« sogar die Meinung, daß die überkommene Kultur unsere westliche Welt in einem Ausmaß dirigiert, daß diese »durch das Auftreten der natur­wissen­schaft­lichen Kultur erstaunlich wenig geschmälert wird«.257 Das ist übertrieben, aber soviel ist richtig: Man hat die Mehrzahl der Menschen — Gott sei gedankt — nicht einmal im technischen Zeitalter zu Automaten umfunktionieren können.

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»Wir sind durchaus nicht solche logische, konsequente Wesen. Was immer an betrüblichen Realitäten unser beschränktes Denken uns auch vor Augen führt, unser normales Leben besteht glücklicherweise aus persönlichen Begierden, Zuneigungen und großmütigen Regungen, es ist in nahezu jedem Individuum ein Amalgam von engherzigen Vorurteilen, Haß, Neid und Eifersucht mit Regungen selbstlosester, liebenswertester Art, edelsten Wohlwollens, freiwilliger Hilfsbereitschaft; und dies der alltägliche Vordergrund unserer Gedanken wird immer lebendig genug sein, jede begründete verstandesmäßige Überzeugung von einer stets größere Dimensionen annehmenden Katastrophe für die ganze Art in den Schatten zu rücken258

So H.G. Wells in seiner Schrift <Der Geist am Ende seiner Möglichkeiten>.

 

Auch Mumford ist der Meinung, daß bis zu unserer Zeit die menschliche Kultur sich in einer organischen, subjektiv modifizierten Umwelt »und nicht in einem sterilen, maschinell hergestellten Gehege« entwickelte. »In wirrer, ungeordneter Form herrschten überall die Kriterien des Lebens vor, und der Mensch gedieh in dem Maße, als ein lebensförderndes Gleichgewicht zwischen den Organismen erhalten blieb.«259

Heute begegnet der zivilisierte Mensch der Natur nur noch, soweit sie verarbeitet ist. Selbst das wichtigste aller Mittel, das Nahrungsmittel, verrät in der gelieferten Form seine Herkunft durch nichts. Das einzige organische Wesen, dem der Mensch noch im städtischen Alltag begegnet, ist der andere Mensch oder sein Haustier, soweit er eins hat. Doch der andere Mensch ist eben auch in der Regel ein Mechanist, und das Haustier ein bereits denaturiertes Geschöpf, auf die Notwendigkeiten der Stadt­wohnung abgerichtet. Von diesen beiden Partnern, obwohl sie Lebewesen sind, lernt man organisches Leben nur noch gefiltert kennen. Das geht so weit, und mir ist das völlig bewußt, daß viele, wenn sie diese Seiten lesen, kaum verstehen werden, wovon die Rede ist.

Der Teil der Bevölkerung, der noch in seiner täglichen Arbeit mit der Natur verbunden ist, schrumpfte in diesem Jahrhundert auf der nördlichen Halbkugel zu einer fast unbedeutenden Minderheit zusammen. Aber ein weiterer Teil blieb der Natur durch Gartenbau, Wandern, Jagd und Fischfang so verbunden, daß ihm doch ein gewisses Verständnis für organische Prinzipien erhalten blieb.

Ausschlaggebend bei der Mehrheit ist immer noch die Tatsache, daß der eigene Körper organisch funktioniert und reagiert, so sehr sich auch die Naturwissenschaften bemüht haben, ihn als chemisch-physikalischen Mechanismus zu erklären und zu behandeln. Die geheimnisvollen Antriebe, die sowohl die Existenz des Einzelnen als auch den Lauf der Geschichte bestimmen, bleiben stets die gleichen. Und gegen die mechanistische Weltanschauung gibt es schon seit Rousseaus Zeiten eine Gegenströmung, die in vielen pädagogischen Bemühungen fortwirkt.

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Auch all das, was an geistiger und künstlerischer Kultur über die letzten Jahrhunderte hinweg gerettet wurde, bildet den Nährboden für das erneute Vordringen der organischen Weltauffassung.

Die noch nicht zivilisierten Völker, die man die »Unterentwickelten« zu nennen beliebt, verharren bis auf eine sehr dünne intellektuelle Oberschicht noch in der organischen Auffassung. Und eine unterschiedlich breite Mehrheit in den zivilisierten Völkern verhält sich in vieler Hinsicht ebenfalls noch organisch. Sie entwickelt daraus ein gesundes Mißtrauen gegen technokratische Heilsversprechungen. Die jetzt an den Hebeln der Macht Sitzenden — sei es in der Wirtschaft, in den Interessen­verbänden oder in der von ihnen abhängigen Politik — denken dagegen vorwiegend mechanistisch. Dies hat, nebenbei gesagt, zu dem Irrtum beigetragen, daß die jetzt entbrennende Auseinandersetzung eine zwischen Macht und Nichtmacht sei. Doch Macht gibt es nicht nur im Komplex der Megatechnik, wie Mumford meines Erachtens zu stark betont, sondern auch in der organischen Welt gibt es abgestufte Machtverhältnisse.260 Und die Macht von Personen und Ideen hat den Gang der Geschichte bestimmt. Es ist kein Zufall, daß man im technischen Zeitalter die Geschichte auf ökonomische, technische und soziologische Triebkräfte reduzieren wollte.

Zu den heutigen technokratischen Machthabern kommt in den Industrienationen eine breite Mittelschicht von Technokraten und Bürokraten, von Halbgebildeten, die in der Regel nur mechanistisch denken. Und das überrascht nicht; denn die natur­wissen­schaftlichen Grundbegriffe zu lernen, das schafft auch jeder durchschnittlich Begabte noch. Dagegen erfordert es viel mehr Bildung, Gefühl, Phantasie und Wissen, um die organische Welt in einiger Tiefe zu begreifen. Der Schweizer Jurist Rudolf Zihlmann spricht von einer »vegetativen Intelligenz«, die »feiner organisiert ist als das, was menschliche Intelligenz, auf sich selbst gestellt, zumeist hervorbringt.«261  

Die höchste Lebenskunst liegt wohl darin, sich in beiden Bereichen zurecht­zufinden, was einem Genie wie Leonardo da Vinci ohne Mühe gelang.

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   Zweierlei Wissenschaft   

 

Es ist andererseits nicht so, daß in der organischen Welt die Wissenschaften nichts zu suchen hätten. Auch hier werden gesicherte wissenschaftliche Erkenntnisse gewonnen; sie liegen in Fülle vor. Hier sind die Wissenschaften tätig, welche wir die organischen nennen möchten.

Die Trennung zwischen der mechanistischen und der organischen Welt ist nicht identisch mit der üblichen Zweiteilung in Natur- und Geisteswissenschaften — wenn auch die Naturwissenschaften vorwiegend auf die mechanistische Seite gehören. Da wir hier weniger vom Stoff, sondern mehr von der Denkweise der Wissenschaftler ausgehen, verläuft der Schnitt durch viele Fächer mitten hindurch. Darum erfaßt auch die von C.P. Snow beschriebene Spaltung in »Zwei Kulturen« den Kern der Sache nicht; denn er geht im wesentlichen von der alten Teilung in Natur- und Geisteswissenschaften aus.

 

Die neue Zweiteilung 

der Wissenschaften:

Vorwiegend organisch:

 

Ökologie

Biologie

Botanik

Zoologie

Agronomie 

Heilkunde 

Psychologie 

Sprachen

Völkerkunde

Soziologie

Geschichte

Politik

Philosophie

Theologie

Kunst

Vorwiegend mechanistisch:

 

Mathematik

Physik

Chemie

Technik

Ökonomie

Geologie

Astronomie

Dazwischen liegend: 

 

Geographie

Architektur

Rechtswissenschaft

 

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Alle Wissenschaften haben ihren Sitz im Geist des Menschen, der selbst ein organisches Wesen ist. Keine Wissenschaft gehört in ihrem ganzen Umfang ausschließlich auf eine Seite. Es gibt Wissenschaftler, die zum Beispiel die Biologie, die Psychologie oder die Geschichte auf völlig mechanistische Weise betreiben.

Gerade in den letzten Jahrzehnten wurden Berge von Wissen über die Lebewesen zusammengetragen, so von der Ethnologie, der Biologie und der Psychologie. Wenn es auch eine andere Art von Wissen ist, Gesetzmäßigkeiten herrschen auch in diesen Bereichen. »In den Bewegungen der Tiere, in den Empfindungen und Leidenschaften der Menschen ist auch Exaktheit. Ein homerischer Hexameter oder eine Ode von Pindar sind nicht weniger exakt als irgendein Kausalverhältnis oder eine mathematische Formel. Diese rhythmische, metrische Exaktheit ist nur eine andere, höhere. Wenn sie nicht berechenbar ist, so ist das noch kein Grund, sie für unzuverlässiger zu halten als das Ergebnis irgendeiner Quanten­messung.«262

Die mechanistische Denkweise ist rationalistisch. Aber auch die organische Denkweise ist auf ihre Weise »rational«; sie muß sich nur einer viel komplizierteren und vielfältigeren Denkform befleißigen; für die Mehrzahl der Gebildeten reicht der Verstand lediglich aus, die mechanistische Welt zu erfassen.

Ökologische Vorgänge bestehen aus so vielen Komponenten, daß sie größere Anforderungen an die Auffassungsgabe jedes Menschen stellen. Bestes Beispiel für die Unbegreiflichkeit organischer Prozesse: Müßte der Mensch die Millionen Funktionen seines Körpers bewußt steuern, dann würde das Gesamtsystem »menschlicher Körper« sofort zusammenbrechen; denn in jeder Sekunde werden Millionen Entscheidungen im Körper getroffen, wovon wir nicht das Geringste merken. Das Bewußtsein braucht den Körper nicht zu steuern, wir können schlafen, und alle Vorgänge des Körpers funktionieren voll weiter; außer denen natürlich, die nur während des Wachseins benötigt werden.

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Der Naturwissenschaftler Hoimar von Ditfurth schreibt in seinem neuesten Buch: 

»Kein Mensch wäre in der Lage, auch nur eine Leber zu steuern. Oder eine einzige Zelle zu bauen. Es ist eine triviale Feststellung, daß weitaus das meiste von dem, was die Evolution — ohne Bewußtsein und ohne Gehirn! — hervorzubringen in der Lage war, von uns trotz aller Anstrengungen erst zu einem winzigen Teil verstanden, geschweige denn nachgeahmt werden kann. 
Wir sind nicht  — wie wir allzu naiv und in aller Unschuld stillschweigend zu unterstellen pflegen — der einzige und im Ablauf der Geschichte erst erstaunlich spät aufgetretene Hort des <Geistes> innerhalb der irdischen Natur oder gar im ganzen Kosmos. 
Wir sind — als ein Ergebnis dieser Geschichte — mit unseren psychischen Fähigkeiten nichts als ein erster, matter Abglanz der Prinzipien, die alles hervorgebracht haben, was wir unsere <Welt> nennen.« 263)

Da die organischen Wissenschaften viel schwieriger zu erfassen sind als die anorganischen, steht unseren Anschauungen keine leichte Laufbahn bevor. Der Mensch braucht ohnehin zunehmend mehr Lebensjahre, um sich diese Welt im umfassenden Sinne anzueignen. Immer weniger schaffen es, und die erst gegen ihr Lebensende. Die neue Forderung lautet: »Wissenschaft muß wieder das werden, was sie — abgesehen von den letzten 200 Jahren — immer war: die wichtigste und angemessenste Betätigung des menschlichen Geistes, zweckfrei und unabhängig, fern der Technik und nahe der Kunst.«264

Das, was sich Aufklärung nannte, entrollte die Fahne der Freiheit und Autonomie des Menschen, hinter der alle hoffnungsvoll in die Zwänge des mechanistischen Zeitalters hineinmarschierten. Inzwischen hat es sich als überlebensnotwendig herausgestellt, Aufklärung über die Aufklärung zu betreiben. Es läßt sich leicht denken, daß damit viel höhere geistige Ansprüche gestellt sind, als sie in der rationalistischen Aufklärung erforderlich waren.

Es ist eben gerade nicht so — wie unsere Gegner behaupten —, daß wir die Welt zu einfach sehen. In die platte Vereinfachung haben uns die schrecklichen Simpel geführt, deren blinder Technokraten-Fanatismus die Welt noch immer fröhlich in den Abgrund treibt. 
In ihrer arroganten Engstirnigkeit ignorieren sie:
1. Die Natur und die organischen Prinzipien.
2. Jedwede Transzendenz.
3. Daß unser wesentlicher Daseinsinhalt immaterieller und biologischer Herkunft ist.

Rückblickend können wir feststellen, daß ungeheure Verluste die Straße des Fortschritts säumen.  
Gerade wo er (Fortschritt) perfekt erscheint, müssen wir die Bilanz ziehen:
1. Wir haben die emotionale Beziehung zur Natur und zu uns selbst verloren.
2. Wir haben Gott verloren.
3. Wir haben die Kultur der Seele verloren.

Nackt stehen wir in der eisernen, kalten Maschinenwelt und sind im Begriff, auch die Hoffnung zu verlieren. 

Nein! Wir stünden so in dieser Welt, wenn die Entwicklung ganz konsequent verlaufen wäre. Wäre sie so vollständig, dann könnten wir in Wirklichkeit gar nicht mehr leben. Unser biologisches und psychisches Überleben verdanken wir den Reservaten, die wir heimlich und oft ganz privat gerettet haben. 

Wir zeigen sie meist nicht vor, weil sie nicht in die heutige Welt passen — und wir uns bei ihrer Entdeckung schämen müßten, selbst nicht in diese Welt zu passen.

Die hauptsächliche Schizophrenie unserer Tage ist, daß die Menschen in beiden Welten zugleich leben müssen. Dies ist auch die Ursache der meisten individuellen Schizophrenien. Der zivilisierte Mensch befindet sich in einem ständigen Zwiespalt zwischen seiner mechanistischen Gedanken- und Arbeitswelt und seinem biologischen Leben. 

Dies ist der Hauptgrund dafür, daß heute so viele Psychopathen herumlaufen. Ein großer Teil gehört zu denjenigen, die an dem Zwiespalt so stark leiden, daß daraus ihre Krankheiten entstehen. Mancher menschliche Körper hilft sich durch einfaches Abschalten, um die Belastung zu vermindern.

Für manchen wird der herrschende Rationalismus so unerträglich, daß er in einen völligen Irrationalismus flüchtet. Aber auch umgekehrt — und das war die vorwiegende Tendenz dieses Jahrhunderts — flüchtet der Mensch aus seinen natürlichen Gefühlen in eine rein mechanistische Welt, wo er wissenschaftlich »begründete« Sicherheit zu finden hofft. Doch jetzt wird offenkundig, »daß sowohl das mechanische Weltbild als auch seine technologischen Komponenten in bezug auf den Menschen hoffnungslos rückständig sind.«265 

Jetzt ist ein tiefgehender Entdeckungsprozeß im Gang, »der sich nicht nur auf den Raum, sondern auch auf die Zeit und ebenso auf subjektive wie auf objektive Phänomene erstreckt. Es geht dabei nicht nur um Ursache und Wirkung, sondern um Strukturen von fast unentwirrbarer und unbeschreibbarer Komplexität, die sich in ständiger Wechselwirkung durch die Zeit bewegen. In einem Bereich nach dem anderen entfaltet sich bereits dieses organische Weltbild.«266  

Seine Regeln sind im Folgenden zu ergründen und zu beschreiben.

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Dr. Herbert Gruhl   Das irdische Gleichgewicht 1982