4.5 Leben gedeiht nur gegen Widerstand
Nur aus dem Kampf des
Entgegengesetzten entsteht
alles Werden. -- Heraklit -Der Irrtum der Kreatur
210-235
Es ist nahezu hoffnungslos, heutigen Zeitgenossen eine auch nur annähernde Vorstellung von der Schwere des Lebens früherer Generationen zu vermitteln. Daran scheitert dann auch jede realistische Einschätzung unserer heutigen Lage.
Darum muß es kraß formuliert werden: Es ließe sich heute in der Bundesrepublik Deutschland kaum eine Arbeiterfamilie finden, welche den Bezug der Wohnung des Ministers Goethe in Weimar nicht als <sozial unzumutbar> ablehnen würde. In den Worten Ortega y Gassets heißt das: »Der durchschnittliche Mensch lebt heute leichter, bequemer und sicherer als früher der Mächtigste.«382
Die gänzlich veränderten Umstände haben den Menschen in eine Lage versetzt, die schwer nachvollziehbare Auswirkungen auf seine gesamte Existenz nach sich ziehen mußte. Unzählige Widrigkeiten, die früher zu seinem täglichen Brot gehörten, sind weggeräumt. Natürlich sind dafür neue aufgetreten; aber diese sind völlig anders geartet und stellen entsprechend andere Anforderungen an seine körperlichen und seine Sinnesorgane.
Vom physikalischen Standpunkt gesehen ist das Leben für die meisten so bequem geworden, daß dies medizinische Folgen haben mußte. Und die psychischen Veränderungen sind in der Regel noch viel weitreichender.
Die technische Zivilisation hat sich das Ziel gesetzt, dem Menschen die Hindernisse wegzuräumen, denen er auf seinem Lebensweg begegnet. Die erklärte Aufgabe der Wissenschaft, der Wirtschaft und des Staates ist es, einem jeden eine glatte, schaumbelegte Bahn zu bereiten, auf der er ungefährdet dahingleiten kann. Aufgabe der Ökonomie ist es, das Fließband der Wünsche stets mit neuen Waren zu bereichern, so daß Spannungen oder Lücken gar nicht erst aufkommen, denn sie werden als Fehler dem ganzen System und dem Staat angelastet, und sie bringen angeblich sofort die ganze Gesellschaft in Gefahr. Jeder Rückschlag, jede Unlust muß daher vermieden, das Angenehme, die Lust und die Fülle als Dauerzustand eingerichtet werden.
Ein Hauptziel dieses Buches ist, diese irrigen Vorstellungen zu widerlegen, denn sie widersprechen allen Prinzipien der Natur. Alles Leben muß sich physisch und psychisch zwischen entgegengesetzten Polen hin und her bewegen. Nichts liegt der Natur ferner als eine unbewegte statische Welt. Eine problemlose Ruhelage ist für jedes Lebewesen von Übel, auch für den Menschen.
»Hat ein Menschenkind erst den Mutterleib verlassen, so werden die Umstände, die dort seinem Wachstum förderlich waren, zur Behinderung. Nichts kann die Entwicklung so wirkungsvoll hemmen wie mühelose, sofortige Befriedigung jedes Bedürfnisses, jedes Wunsches, jedes blinden Impulses durch mechanische, elektronische oder chemische Mittel. In der ganzen organischen Welt beruht Entwicklung auf Anstrengung, Interesse und aktiver Teilnahme — nicht zuletzt auf der stimulierenden Wirkung von Widerständen, Konflikten, Hemmungen und Verzögerungen.«383
Zu diesem Resultat kommt Lewis Mumford am Schluß seines Werkes <Der Mythos der Maschine>.
Nur gegen Widerstände kann sich das Kind seiner selbst bewußt werden; denn jeder Widerstand ist zugleich ein Halt in der andernfalls grenzenlosen Welt. Fehlender Widerstand stellt den Menschen haltlos in den freien Raum, in die Leere. Er befindet sich dann in der Situation eines Bergsteigers, der ohne die Haken in der glatten Steilwand keinen Halt finden kann.
Der Chemiker Hans Sachsse geht noch weiter und hält die Schmerzerfahrung für eine Voraussetzung der Bewußtwerdung des Ichs: »Der Schmerz ist offenbar der erste Anstoß zur Organisation des Bewußtseins von uns selbst.«384
Auf jeden Fall braucht der Mensch Reize, »er muß gefordert werden, sein Aktionspotential muß provoziert werden. Er ist konstruiert für einen harten Lebenskampf, er hat einen starken Drang nach Veränderung, um die Erstarrung, die Stagnation und das Erschlaffen in allzu bequemer Verwöhnung zu überwinden.«385
Das allgemeinste Feld der Selbstbestätigung mittels Bewältigung gestellter Aufgaben ist die Arbeit. Sie war zu allen Zeiten eine vorwiegend körperliche Tätigkeit, die gleichzeitig den Kopf beanspruchte. Sie ist in der Zivilisation für den größeren Teil der Bevölkerung nur noch Kopfarbeit. Der Körper mit all seinen vielseitigen Funktionen, die ständig geübt werden müßten, wurde weitgehend stillgelegt.
*(d-2015:) L.Mumford bei detopia
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Das führt zu einer Verschiebung des gesamten Daseinsgefühls. Zu keiner Zeit der Evolution war vorauszusehen, daß das Gesäß einmal zum meist benutzten Körperteil avancieren würde. Darüber hinaus wird dem Körper weiterhin so viel Nahrung zugeführt wie zu Zeiten der Schwerstarbeit, ja sogar mehr, da im Überfluß und billig bereitliegt, was in früheren Zeiten mühselig selbst erjagt oder erackert werden mußte.
Die Arbeit, die eine Quelle ständiger Übung des Körpers und des Geistes und damit der seelischen Befriedigung gewesen war, ist zu einer widerwillig erbrachten Leistung degradiert, die man nur gegen gute Bezahlung tut. Die aktive Tätigkeit, die so zum Leben gehört wie die Hand zum Körper, ist nun ein potentielles Kapital, das nur dann auf dem Markt angeboten wird, wenn eine berechenbare Gegenleistung winkt. Ein lebender Körper kann aber nicht ohne Schaden für den Gesamtorganismus längere Zeit stillgelegt werden, wie das viele — natürlich längst nicht alle — im heutigen Wohlstand tun, selbst wenn sie einen Arbeitsplatz »besetzen«. »Komplementär zur Umwandlung des eigenen Planeten in einen Müllhaufen baut der Mensch auch seinen eigenen Organismus ab, insbesondere seine Umweltorgane.«386
Wenn der Körper gesund bleiben soll, benötigt er das fortwährende Training aller Organe. Nie zu hungern und nie zu frieren ist keine Voraussetzung ständiger Gesundheit, vielmehr die Ursache von Krankheiten des Körpers und der Seele. Die Alten wußten das, wie Verse des römischen Dichters Horaz beweisen:
Wer Rom-wärts aus Capua reist, triefend von Schlamm und Regen durchnäßt,
wünscht dennoch nicht, auf ewig im Wirtshaus zu wohnen;
Wen die Kälte versehrt, lobt dennoch nicht Ofen und Warmbad
Als einzig imstand, ein glücklich Leben zu schenken.387
Was ökonomisch nützlich erscheint, ist darum keineswegs biologisch nützlich — in vielen Fällen sogar schädlich. Nur teilweise deckt sich der biologische mit dem ökonomischen Nutzen. »Man glaubt gern, ein Leben, das in eine überreiche Welt hineingeboren ist, sei besser, das heißt mehr Leben als eines, dessen Hauptinhalt der Kampf gegen die Not ist.«388
Aber das ist nicht der Fall, sondern das Gegenteil: »Die Sicherheit, die der Fortschritt... zu gewähren schien, verdarb den normalen Menschen, indem sie ihm ein Selbstvertrauen einflößte, das übertrieben und daher hemmend und töricht ist.«389
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Es ist nicht nur das fatale Selbstvertrauen, wie Ortega y Gasset meinte; sämtliche Lebensumstände bekommen eine andere Richtung und verändern den Menschen und die Gesellschaft. Der Spanier führt den Gedanken fort:
»Eine allzu gut ausgestattete Welt bringt zwangsläufig jene schweren Deformationen und fehlerhaften menschlichen Typen hervor, die sich unter der allgemeinen Kategorie des <Erben> vereinigen lassen; der <Aristokrat> ist nur ein Spezialfall davon, ein anderer ist das verwöhnte Kind, ein anderer, weit umfassenderer und grundsätzlicher in seiner Bedeutung der Massenmensch unserer Zeit.«389
Man kann ein Gesetz aufstellen, folgert Ortega y Gasset, »daß sich menschliches Leben nur dann gebildet und fortentwickelt hat, wenn die Mittel, über die es verfügte, mit den Problemen, die es in sich trug, im Gleichgewicht waren. Das stimmt in der geistigen wie in der physischen Welt.«
Die materiellen Mittel sind heute gewaltig, und mit ihnen hoffte man, alle Probleme wegzuräumen, allen ein glattes Dasein zu gönnen. Doch nun wird klar, daß nicht nur die ökonomischen, sondern ebenso die geistig-psychischen Probleme ein exponentielles »Wachstum« zu verzeichnen haben, so daß die Psychiater auf lange Zeit ihre Konjunktur behalten werden. Doch wer behandelt die Psychiater?
Das Gleichgewicht zwischen den zur Verfügung stehenden technischen Mitteln des Menschen und den lebensnotwendigen Herausforderungen, die sein Körper und seine Psyche benötigen, ist gründlich gestört. Die Herausforderungen sind die falschen, das heißt die, welche sich aus dem Streß der technischen Zivilisation ergeben. Weil nun jeder die nervlichen Überanstrengungen täglich erfährt, glaubt der Zivilisationsmensch unserer Tage, sein Heil bestünde in der Beseitigung der Anstrengungen überhaupt.
Dabei sind es gerade die Herausforderungen und harten Prüfungen gewesen, die den Menschen zu einem Kulturwesen gernacht haben. Aus purer Not hat er sich ursprünglich über das Tierreich erhoben; denn er war gezwungen, »ein intensiveres und anstrengenderes Leben als die Mehrzahl der anderen Tiere zu führen.«390 Arnold Toynbee sah in jeder Kultur das Ergebnis der Herausforderung durch die harte Umwelt. Und Sigmund Freud führte die Kultur zum Teil auf die Sublimation des Sexualtriebes zurück.
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Im Luxus dagegen sah schon der zivilisationskritische Schriftsteller Henry David Thoreau (1817-1862) etwas durchaus Entbehrliches und darüber hinaus ein Hindernis für den Aufstieg der Menschheit. Vom einzelnen Menschen sagte er, daß dieser um so reicher sei, je mehr Dinge zu entbehren ihm gelänge. Heute wird in den Wohlstandsländern jedes Kind in eine Umwelt hineingeboren, in der von vornherein alles verfügbar ist. Mangel, Hunger und Not werden zu keiner Zeit am eigenen Körper erfahren.
Zu allen Zeiten haben die Weisen unter den Aristokraten sich selbst und ihren Kindern ständig Anstrengungen auferlegt. Nur dadurch konnten sie sich vor dem Verfäll schützen, der gerade ihnen drohte, da sie sich schließlich auch ein ständiges Wohlleben hätten leisten können. Heute verfallen die emporgekommenen Familien in immer kürzerer Zeit, weil sie die Weisheit der Beschränkung nie gelernt haben. Sie protzen mit ihrem Reichtum und — was verderblicher ist — sie lassen ihre Kinder damit protzen. Sie haben es allerdings auch schwerer, ihre Kinder heute zur Bescheidenheit zu erziehen, da diese bei jedem Schritt aus dem Hause von schlechten Beispielen umringt sind.
Wird es der durch den Wohlstand korrumpierte Normalbürger jemals begreifen, daß menschliches Leben, wie jedes Leben, unter Anstrengungen besser gedeiht als in der Fülle?
In vielen Diskussionen wird entgegengehalten, daß vom Menschen Vernunft und Selbstbeschränkung selbst dann nicht zu erwarten seien, wenn die Gefahren unmittelbar drohten. Andererseits haben zu allen Zeiten einzelne und auch Gruppen Beispiele der Selbstbeschränkung, der Askese und auch der Selbstaufopferung gegeben, die gültig bleiben werden. Sie erscheinen heute allerdings unverständlich, denn sie konnten keinen »Marktwert« gewinnen. Gegenwärtig ist die Feststellung leider unumgänglich: Wenige leben Diät, andere fressen oder trinken sich buchstäblich zu Tode. (Alles in allem ein weiterer Beweis für die Ungleichheit der Menschen.)
Wer sich selbst beschränkt und wer sich selbst zu Leistungen zwingt, gehört zum aktiven Kern der Gesellschaft. Der passive Teil wurde früher durch die Umstände zum körperlichen Einsatz gezwungen und damit gleichzeitig vor Ausschweifungen bewahrt. Jetzt sind die existentiellen Anforderungen in den modernen Industrie- und Sozialstaaten weit geringer; ein gewisser Wohlstand kann auch ohne besondere Anstrengungen erreicht werden.
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»Während der Periode harter Arbeit haben wir uns daran gewöhnt, in der Steigerung der Entlastung, der Bequemlichkeit, ein Ziel zu sehen. Dieses Ziel aber erweist sich als ein Reinfall, ohne daß uns das bewußt wird. Ohne Zwang oder den Reiz zur Aktivität fehlt uns etwas, fehlt uns ein Betätigungsfeld... Das Gleichgewicht zwischen Anspannung und Beruhigung, zwischen Abwechslung und Gleichmaß, ist empfindlich gestört.«
Wo ihm die Notwendigkeit der Daseinserhaltung abgenommen wird, da verkommt der passive Mensch. Daraus folgert der Psychologe Reinhard Schulze:
»Wenn es gelingt, jeden Menschen vor Aufgaben zu stellen, die seine Gaben und Fähigkeiten herausfordern, und wenn es darüber hinaus gelingt, ihm die Überzeugung zu vermitteln, daß er auf diesem Platz gebraucht wird, dann hat er die echte Chance, zu seiner persönlichen Selbstverwirklichung zu finden.«391
Der Mensch der Industrienationen lebt heute wie sein eigenes Haustier: er ist domestiziert. Da die menschlichen Generationen ziemlich lang sind, werden sich die Folgen dieser Lebensweise erst viel später herausstellen. Es ist zu befürchten, daß es zu ähnlichen Erscheinungen kommen wird, wie sie bei der Wanderratte beobachtet werden konnten. Diese wurde um 1800 domestiziert. Mitte des 19. Jahrhunderts war dann eine Rasse von Albinoratten entstanden: ohne Zähne, ohne Fell, fettleibig, mit grauem Star. Ihre Lebensbedingungen waren die gleichen wie im heutigen Wohlfahrtsstaat:
»reichlich Nahrung, keine Gefahren, keine Belastung, Gleichförmigkeit von Umwelt und Klima.... Aber unter diesen scheinbar günstigen Bedingungen trat ein organischer Verfall ein: Verkleinerung der Nebennieren, die dem Körper Streß und Müdigkeit bekämpfen und gewisse Krankheiten abwehren helfen; zugleich ließ die Tätigkeit der Schilddrüse, des Stoffwechselregulators, nach. Es ist wohl kein Wunder, daß das Gehirn der Hausratte kleiner und wahrscheinlich auch ihre Intelligenz geringer ist. Hingegen reifen die Geschlechtsdrüsen früher, werden größer, aktiver und bewirken schließlich eine höhere Fruchtbarkeitsrate.«390
Schon früher hatte der Biologe Patrick Gedden die Bedingungen für die Degeneration in der organischen Welt ermittelt. Sie sind von zweierlei Art:
»Entzug von Nahrung, Licht usw., was zu Unterernährung und Entkräftung führt; die andere — ein Leben in Untätigkeit, verbunden mit überreichlicher Nahrung und verminderten Umweltgefahren. Es ist bemerkenswert, daß im ersten Fall nur der jeweilige Typus dezimiert oder schlimmstenfalls ausgerottet wird, während im zweiten die ungenügende Inanspruchnahme des Nervensystems und anderer Systeme infolge einer solchen Lebenserleichterung zu einer weit tückischeren und gründlicheren Degeneration führt, wie aus der Entwicklungsgeschichte von Myriaden Parasiten abzulesen ist.«
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Mumford schließt daraus: Der Versuch, »ein Leben herbeizuführen, das möglichst wenig Denken, physische Anstrengung und persönliche Anteilnahme erfordert«, führe schließlich zu Infantilität und Senilität.392 Die Entwicklung drohe so weiterzugehen,
»bis schließlich eines Tages die Merkmale der Infantilität in die der Senilität übergehen werden, ohne eine Lücke zu lassen für etwas, das man rechtens als reifes, selbstbestimmtes und erfülltes Leben bezeichnen könnte. ...
Nichts ist augenfälliger in der gesamten Menschheitsgeschichte als die chronische Unzufriedenheit, das Unbehagen, die Angst und die psychotische Selbstzerstörung der herrschenden Klassen, sobald sie <alles haben, was das Herz begehrt>.
Denn die herrschende Minderheit, das Häuflein der Privilegierten erlitt stets, was letztlich der Fluch einer solchen sinnlosen Existenz ist: schiere Langeweile.«392
Obwohl die Bequemlichkeit schon weit fortgeschritten ist, werden ständig neue Erfindungen angepriesen, die es gestatten, alle Wünsche auf Knopfdruck zu befriedigen. Doch was keine Mühe kostet, verstärkt die Langeweile. »Es ist ein Gemeinplatz menschlicher Erfahrung, daß selbst die Erfüllung unserer höchsten Wünsche uns selten die erwartete Freude oder Lust bringt.«393 Sie bringt die Befriedigung besonders dann nicht, wenn keine eigene Leistung dafür erbracht zu werden brauchte.
Darum sind die Gewinner in der Lotterie ganz selten glückliche Menschen geworden. Dies lag natürlich auch daran, daß sie in ihrer Unerfahrenheit mit dem plötzlich zugefallenen Reichtum nichts Vernünftiges anstellten, sich sogar oft ins Unglück stürzten; denn sie hatten vorher keine Gelegenheit, in ihre Aufgabe hineinzuwachsen.
Es lag aber ebenso daran, daß ihnen dieser Zufall nicht das befriedigende Gefühl der Selbstbestätigung auf Grund eigener Leistungen brachte. Hier begegnen wir wieder der Erkenntnis, die dem »Schatzgräber« Goethes zuteil wurde: Nur saure Wochen machen die folgenden Feste froh.
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Selbstverständlich ist nicht zu leugnen, daß auch das zivilisatorische Leben höchster Anspannung unterliegt. Aber es ist ein entnervender Streß, der an die Stelle der (altmodischen) körperlichen Anstrengungen getreten ist. Ihm folgt nicht der heilsame Schlaf; dafür benötigt man Schlafmittel. Und die psychische Belastung wird mit Psychopharmaka und mit Drogen bekämpft. Auf Grund aller heutigen Lebensumstände schwindet die Fähigkeit, »jene Freude zu erleben, die nur durch herbe Anstrengung beim Überwinden von Hindernissen gewonnen werden kann. Der naturgewollte Wogengang der Kontraste von Leid und Freude verebbt in unmerklichen Oszillationen namenloser Langeweile.«394
Eine große Fatalität waltet im modernen ökonomischen System. Das System kann nur dann »erfolgreich« sein, wenn es dem Menschen eine Anstrengung nach der anderen abnimmt, um sie durch Automaten und verwöhnende Konsumgüter zu ersetzen. Aber gerade diese »Befreiung« gereicht den Betroffenen nicht zum Wohle, obwohl sie das immer noch glauben. Ja, sie sind so in ihrem Irrtum befangen, daß ich auf ihre wütenden Proteste auf diese Zeilen schon gefaßt bin.
Damit sie auch brav weiter in ihrem Irrtum verharren, wirft die Wirtschaft in einem Land wie der Bundesrepublik Deutschland jährlich rund 40.000 Millionen DM für Werbung aus. Das sind rund 4 Prozent vom Bruttosozialprodukt oder 666 DM je Kopf zu seiner Verdummung. Historiker sollten die Geschichte aller Kulturen untersuchen, ob es das schon einmal gegeben hat: eine umfangreiche Werbeindustrie, um die Produkte der Industrie loszuwerden. Zum Vergleich: Für den Umweltschutz werden 2 Prozent des Bruttosozialprodukts ausgegeben.
Und die Ärzte und Psychologen, die um die Schädlichkeit des Überkonsums wissen müßten, sagen zwar hier und da etwas dagegen; aber ihr Einkommen steigt nicht mit der Gesundheit, sondern mit der Krankheit. Wer kann es ihnen auch in einer total vermarkteten Welt verdenken, daß sie zum großen Teil ebenfalls marktgerecht denken?
Dies ist der kreatürliche Irrtum: Der Durchschnittsmensch zeigt sich außerstande zu erkennen, was für ihn gut ist.
»Während in der Vergangenheit das Leben für den Durchschnittsmenschen gleichbedeutend war mit Schwierigkeiten, Gefahren, Nöten, Schicksalsenge und Abhängigkeit auf allen Seiten, erscheint die neue Welt gesichert, als ein Bereich praktisch unbegrenzter Möglichkeiten, wo niemand von niemandem abhängt. Dieser erste und dauernde Eindruck formt jede zeitgenössische Seele, wie der entgegengesetzte unsere Vorfähren formte.«395
Allerdings sind andere Abhängigkeiten in großer Zahl an die Stelle der alten getreten, und die »Befreiungen« zeigen immer mehr ihr zwiespältiges Gesicht.
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Das Elend der Jugend kommt vom Wohlstand
Was über die Lebensnotwendigkeit des Widerstandes gesagt worden ist, gilt für die Heranwachsenden im erhöhten Maß. Diese finden sich heute in einer Welt wieder, in der sie mit ihren organischen Anlagen wenig anfangen können. Es ist eine reichlich ausgestattete, aber künstliche Welt der leblosen Dinge, deren Regelmechanismen sich ein jeder zu fügen hat.
Besonders die Großstadtumwelt ist nivelliert, steril und monoton. Kükelhaus spricht von einer »biologischen Entropie«, da gerade die vitalen Anregungen und Reize fehlen, die durch künstliche Angebote wie Kinderspielplätze, Kindergärten, Schulen, Heime, Zoos und Parkanlagen keineswegs ersetzt werden können. »Die Welt« wird bereits fertig aus dem Fernsehen bezogen, bevor die jungen Menschen überhaupt Gelegenheit hatten, die dort dargestellten Probleme am eigenen Leibe zu erfahren.
Eine weitere unnatürliche Bedingung ist, daß alle ab dem sechsten Lebensjahr der »Pädagogik« ausgeliefert sind. Ich sage ausdrücklich der Pädagogik, und nicht etwa den Pädagogen, denn das sind notgedrungen immer noch Personen. Es sind Menschen, denen zusammen mit den Kindern alle paar Jahre ein neues unfehlbares pädagogisches System aufgezwungen wird. Und dies geschieht im Namen des Fortschritts und einer sich arrogant gebärdenden avantgardistischen Wissenschaft, die wieder mit der »Fortschrittlichkeit« anderer Länder konkurriert.
Welches wissenschaftliche Weltbild liegt fast allen diesen pädagogischen Methoden zugrunde? Kein anderes als das mechanistisch-technische.
Das Kind wird genauso »bearbeitet«, wie der Schlosser ein Stück Eisen bearbeitet, das er bekanntlich einen Rohling nennt. Weil es sich in der Fabrik als »rationell« herausgestellt hatte, die Bearbeitungsvorgänge fließbandmäßig zu organisieren und zu automatisieren, so kann man nun in der Schule nicht rückständig bleiben.
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Man löst den altmodischen Klassenverband auf und läßt die Schüler wie Kugeln über ein fein ersonnenes System von Fließbändern rollen: sie rollen an einer Stelle zusammen, trennen sich dann wiederum, bilden anders kombinierte Gruppen, fallen durch eine Lücke, rollen seitwärts und rückwärts... Ein jeder Schüler trifft fortwährend auf neue Schülergesichter (falls sie noch eins haben) und natürlich auf eine Unmenge von Lehrern, die kaum noch die Namen der Schüler behalten können.
Um das ganze System ökonomisch rentabel organisieren zu können, muß man natürlich genau wie in einer Fabrik große Materialmengen verarbeiten. Das heißt, es müssen möglichst tausend Schüler und mehr sein, um die Anlage auch effektiv zu »beschicken«; aber dafür schafft man ein großes »Einzugsgebiet«.
Das Gesamtsystem kann nun allerdings nicht mehr von einem menschlichen Gehirn überblickt und gesteuert werden, nicht einmal von dem eines Rektors. Das besorgt, wie sollte es anders sein, ein Computer; der ist dann auch in der Lage, die Prüfvermerke zu speichern, welche die Kügelchen auf ihren Stationen mitbekommen haben, um sie zu addieren, zu multiplizieren, zu dividieren und schließlich das Ergebnis zu attestieren. Das mehr oder weniger mit Wissen angefüllte Kügelchen rollt dann mit seinem Prüfungsvermerk zum nächsten System, das ist die Hochschule oder die Universität, deren Name schon ein Hohn ist; denn dort wird endgültig zum Fachidioten, wer es nicht schon ist.
Das ist alles schon schlimm genug. Das Verheerende an der Ausbildung der Jugendlichen ist aber etwas anderes. Diese Kinder haben genau wie die Erwachsenen einen Acht-Stunden-Tag oder mehr. Zu den Unterrichtsstunden kommen ja die Hausaufgaben und die in Bussen oder sonstwie sitzenderweise sich vollziehende An- und Abfahrt, die auch schon Stunden dauern kann. Und das in einer Lebensphase, in welcher der gesunde Körper nach nichts so lechzt wie nach Bewegung, Betätigung, Anstrengung, die er zur Ausbildung der Körperorgane auch nötig hat.
Hoffentlich gibt es noch Leser, die sich daran erinnern, wie sie als Kinder der Pause entgegenfieberten, um dann wild herumzurennen. Aber damals hatte man auch noch die Schulwege — zu Fuß! Sage doch niemand, daß ab und zu eine Stunde Sport in der Woche den Drang junger Menschen nach aktiver körperlicher Betätigung ersetzen könne.
Das kann nur eine tägliche Belastung bis nahe an die Grenze der altersmäßigen Belastbarkeit, also auch von entsprechender Dauer. Das könnte allerdings auch irgendeine Arbeit sein. Aber die hat der kluge Gesetzgeber, der den Sitzzwang der Kinder einführte, total untersagt.
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Wenn man das nun gegeneinander hält: das Verbot einer naturgemäßen Betätigung des Körpers — andererseits den Zwang zum Acht-Stunden-Sitz-Tag, dann kann man nur zu dem Schluß kommen, daß gesetzliche Zwänge dieser Art als Verbrechen an der Jugend angesehen werden müssen.
Auch hier wird ein richtiger Gedanke durch den Absolutheitswahn ins Gegenteil verkehrt. Der Mißbrauch der Arbeitskraft von Kindern und Jugendlichen in den Frühzeiten des Kapitalismus ist zwar abgeschafft, aber inzwischen längst zum Mißbrauch ihrer Köpfe bei Verdammung des Körpers zur Untätigkeit geworden.
Den I-Punkt auf diese Entwicklung setzte vor einiger Zeit ein »Pädagoge«. Er verordnete seinen Schülern zwischen den Unterrichtsstunden Liegepausen, damit sie »völlige Ruhe« haben. Damit ist die Analogie zur Massentierhaltung perfekt, wo die Schweine und Kälber liegend gehalten werden, um sie schneller zu mästen — bei den Schülern soll offensichtlich auf diese Weise das Gehirn schneller gemästet werden — und das Ergebnis ist dann auch entsprechend!
Bis zum II. Weltkrieg war es noch so, daß die meisten Jugendlichen mit 14 Jahren die Schule verließen und ins Berufsleben gingen. Also in einem Alter, als sie noch begierig waren, endlich aus dem Zustand des Stillsitzens herauszukommen, um sich körperlich betätigen zu können. Heute drücken die meisten die Schulbänke, bis sie zwanzig Jahre und weit darüber hinaus sind. Diese Jugendlichen führen so lange ein Leben als Stubenhocker, daß sie sich danach eine andere, eine tätige Lebensweise, kaum mehr vorstellen können und auch immer weniger Lust dazu verspüren.
Genauso theoretisch, wie ihr bisheriger Daseinsinhalt war, sind dann auch ihre Anschauungen über die Welt. Mit praktischer Arbeit mußten sie noch nie ihr Brot verdienen, und sie haben es auch noch niemals mit Tränen gegessen. Die Welt und sich betrachten sie als einen computergesteuerten Rechenvorgang. Wenn die Wirklichkeit ihren Vorstellungen nicht entspricht, dann ist das »um so schlimmer für die Wirklichkeit«, wie Hegel einmal geantwortet haben soll.
Die Versorgung mit allem Lebensnotwendigen wie mit allem Unnötigen ist von Kindheit an kein Problem gewesen. Darum wird alles mit der größten Selbstverständlichkeit der Welt vernascht.
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Hier beginnt auch die Schuld der Eltern, die ihre Kinder überfüttern, in der Meinung, ihnen damit Gutes zu tun. In Wahrheit haben sie den Kindern nicht nur die eigene Arbeit und die eigene Eroberung abgewöhnt, sondern auch die Fähigkeit, sich über etwas zu freuen. Die Eltern haben dem »Abgott Verwöhnung« Tribut gezollt, ohne zu wissen, wie Christa Meves* sagt, »daß auf diese Weise Gefühl zugeschüttet statt gepflegt und entwickelt wird«.396 Nicht das Verweigern, sondern die sofortige Wunscherfüllung bringt den jungen Seelen Schäden.
Man braucht sich heute nur die Kinderzimmer, keineswegs nur in den »reichen« Familien anzusehen. Am augenfälligsten ist, daß sie mit Spielsachen überfüllt sind; hier wird das Wegwerfprinzip schon auf Spielzeugebene eingeübt. Eine Wertschätzung persönlicher Dinge kann bei dieser Fülle nicht aufkommen, ebensowenig eine emotionale Beziehung zu ihnen. Früher, als das kleine Mädchen eine Puppe bekam, war diese ihr ein und alles und vielleicht auch noch die zweite; doch wo sie im Dutzend herumliegen, finden sie kaum noch Beachtung.
Das ist auch Demonstrativkonsum — man kann es sich doch leisten! (Die Spielzeugbranche soll jetzt die Spitze des Wachstums übernehmen und in elf Jahren ihren Umsatz verdoppeln!397) Doch der Schaden wirkt fort, »auch die Wunschfähigkeit der Erwachsenen ist durch die Flut der Angebote, mit der bereits ihre Kindheit erstickt wurde, vorgestanzt und eingeebnet.«398
Der materiellen Übersättigung in der Wohlstandswelt entspricht die Überfütterung der Psyche, die schon beim Kleinkind einsetzt. Die Fernsehprogramme wurden bereits erwähnt; deren Verlockungen wollen aber interessierte Kreise künftig noch vervielfältigen. Dazu sind in den letzten Jahrzehnten die weiten Reisen der Familien gekommen, wodurch den Kindern schon die schönsten Orte der Welt vorgeführt werden. Welche Eindrücke bleiben da noch aufgespart, bis sie erwachsen sind? Schon Andrew Carnegie hatte gefordert, daß »der erfolgreiche Mann seinen Kindern nicht die Gelegenheit zur Bewährung entziehen darf, indem er sie von seinem Reichtum ausgehen läßt.«399
Eine freiwillige Beschränkung des Kindes ist nicht zu erwarten. Es liegt gerade im Reifeprozeß begründet, daß es die ihm offenstehenden Möglichkeiten stets bis zur Grenze testet. Gibt ihm die Umwelt mehr Spielraum, dann wird es nicht in Dankbarkeit verfallen, es wird forsch bis zur neuen Grenze gehen; wie könnte es sonst auch seine eigenen Möglichkeiten testen?
*(d-2013) Christa Meves bei Detopia
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Es ist doch völlig uninteressant, geräumte Felder zu besetzen. Es wird die grenzenlose Nachgiebigkeit der Erzieher nicht etwa mit Achtung belohnen, sondern eher mit Verachtung beantworten. Es wird sich bei solchen Erziehern auch nicht geborgen fühlen, vielmehr vermuten oder sehen, daß sie gegen ihre Außenwelt ebenfalls wenig Widerstand leisten.
Den Schaden aus der antiautoritären Erziehung trägt nicht nur die zukünftige Gesellschaft, sondern jeder Unerzogene selbst. Denn er wird unweigerlich im Leben auf Widerstände stoßen, darauf aber nicht vorbereitet sein. Ein Mensch, der unter verwöhnenden Bedingungen aufgewachsen ist, hat die Grenzen der Umwelt und seine eigenen nicht erfahren. Wenn ihm jeder Druck und jeder Zusammenstoß mit anderen erspart blieb, dann glaubt er, nie mit Widrigkeiten rechnen zu müssen, und auch nicht damit, daß ihm andere überlegen sein könnten.400
Den negativen Wandel der Lebensumstände hat Ortega y Gasset beschrieben.
»Wenn der alte Spruch lautete: <Leben heißt begrenzt sein und also mit dem rechnen müssen, was uns begrenzt>, so schreit der neueste: <Leben heißt nirgends auf Grenzen stoßen und sich darum getrost sich selbst überlassen. Praktisch ist nichts unmöglich und grundsätzlich niemand niemandem überlegen>.«395
Heute gilt als Erziehungsprinzip, dem Heranwachsenden jede Widrigkeit fernzuhalten oder aus dem Wege zu räumen; er könnte sich ja sonst in seiner Entwicklung »beeinträchtigt« fühlen! Die Wohlstandsgesellschaft kann sich solches leisten — und sie ist auch stolz darauf, daß sie es kann — Hunger, Strapazen und weitgehend auch die Krankheit von jedem Einzelnen fernzuhalten. Daß dieser damit auch jeder Möglichkeit verlustig geht, seinen Geist und seinen Körper zu trainieren sowie seine Grenzen kennenzulernen, das geht einer anorganisch denkenden Gesellschaft nicht ein.
Der Jugendliche verträgt es jedoch viel weniger als die Älteren, wenn er nichts zu überwinden hat und damit auch auf das beseligende Gefühl verzichten muß, das dann eintritt, wenn er sich hin und wieder erfolgreich durchsetzen konnte. Und das eben nicht durch einseitige Spitzenleistungen im Schulstreß, sondern mit seiner Gesamtexistenz.
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»Wenn er nicht in der Frustration Geduld, in der Not Tapferkeit, im Leiden Entsagung lernt, kann sich die Seele des Menschen nicht entwickeln, oder, wenn der Leser es vorzieht, kann die Psyche nicht reifen. Und er wird den Reichtum und die Vielfalt jener Emotionen, die für den Menschen kennzeichnend sind, nie erfahren.« 401)
Die Frustration des Wohlstandsmenschen und besonders des Jugendlichen in der Wohlstandsgesellschaft entsteht infolge fehlenden Ernstes in seinem Dasein. Das Ziel der Ökonomie, der heutigen Politik und Pädagogik ist, allen Bedürfnissen mit dem Überfluß zu begegnen. Darin haben sie Erfolg gehabt; doch es gelingt ihnen gerade darum immer weniger, die Menschen zu befriedigen, weil Menschen vielschichtige Lebewesen sind. Das Leben ist für sie nur erträglich, wenn es darin jederzeit Aufgaben zu erfüllen gibt. Dies bleibt das große Problem zu allen Zeiten. Der Psychologe Tibor Scitovsky beantwortet die Frage:
»Was macht ein Organismus, wenn seine sämtlichen Bedürfnisse befriedigt sind und sein Unbehagen beseitigt ist? Die ursprüngliche Antwort hierauf — daß er dann nichts mehr tut — ist inzwischen als falsch erkannt worden. — Der Zustand der vollkommenen Zufriedenheit und des Fehlens jeglicher Reize wirkt zunächst beruhigend, wird jedoch bald als langweilig und dann recht schnell als störend empfunden.«402
Die niedergerissenen Tabus
Wo konnten für die Frustrierten der Wohlstandsgesellschaft noch neue Reizzonen aufgespürt und zur allgemeinen Bedienung freigegeben werden? In dieser Verlegenheit entdeckte man in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, daß es da noch diese alten überlieferten Tabuzonen gab, deren Zäune man niederreißen könnte. Wer dachte in diesem Augenblick daran, daß auch dieser Vorrat nicht weit reichen würde?
Unter den Hochkulturen und unter den vielen bekannten Stammeskulturen dieser Erde gab es keine, die nicht bestimmte Bezirke des Seins mit einem Tabu belegt hätten — und das meist mit guten Gründen. Man sprach über gewisse Dinge nicht und zeigte sie erst recht nicht im Bild. Von den zehn Geboten Mose sprechen acht Verbote aus; nur das dritte und vierte enthalten Aufforderungen, etwas zu tun. Das Tabu war die fest gesetzte Grenze, über die das Pendel nicht ausschlagen durfte.
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Die anerkannte Norm drängte die Aggressions- und Sexualtriebe zurück und verstärkte die ohnehin vorhandenen inneren Hemmungen des Individuums. Mishan spricht von einem »psychischen Plasma«, das den einzelnen Menschen umgibt und das man vor allem in der Kindheit in keiner Weise geringschätzen darf.403
Erst der jüngsten Zeit blieb es vorbehalten, aus der Zerstörung von Tabus eine Art Sport zu machen. Die Voraussetzung dafür war der Sieg des mechanistischen Weltbildes. Dieses Weltbild, das begierig »Fakten« offenlegt, kann seinem Wesen nach keine Tabus dulden. Wo alles auf mechanische Ursachen und mechanische Wirkungen zurückgeführt wird, die sich wissenschaftlich »erklären« lassen, kann es keine Hemmungen geben, um irgend etwas vor dem Seziermesser oder vor dem Fotografen zu schützen.
In der mechanistischen Denkweise ist die lebenswichtige Funktion der Tabus für das biologische und das psychische Dasein nirgendwo unterzubringen. Der religiöse Bereich konnte im Zeitalter des »wissenschaftlich begründeten Unglaubens« ohnehin nicht mehr geschützt werden; aber »Enthüllungen« in dieser Richtung interessierten nicht so sehr. Also blieb vor allem der Sexualbereich. Daß allerdings das Sextabu nach Jahrtausenden seiner Herrschaft schon in zwei bis drei Jahrzehnten ausgelöscht werden konnte, darin sieht Günther Anders zu recht »eine der epochalsten Revolutionen in der Kulturgeschichte der Menschheit«.404
Da konnte selbstredend die Schule mit ihrem »Bildungsauftrag« nicht mehr an sich halten. Da mußte bereits für die unteren Schulklassen (es könnte ja sonst jemand zuvorkommen) sexuelle »Aufklärung« verordnet werden. Was bleibt einem Lehrer oder einer Lehrerin — gerade dann, wenn sie sich noch einen Rest von Scham bewahrt haben — anderes übrig als die rein technische Erklärung »der Sache«. Das Kind kann sich dabei gar nichts anderes denken als: »Das ist es also, nichts weiter!«
Es ist naheliegend, daß es dann auch im späteren Leben dabei bleibt: beim technischen Vorgang. Andernfalls wäre die sich immer aufdringlicher zur Schau stellende Verrohung auf diesem Gebiet gar nicht erklärlich. Konsequenterweise wird dann die Vergewaltigung auch nur noch als ein physikalischer Vorgang abgetan.
Welcher Kahlschlag der Gefühle bereits in kindlichen Seelen angerichtet wird, darauf kann natürlich ein ökonomisch denkendes Zeitalter keine Rücksicht nehmen. Gnadenlos rollt die Walze der Aufklärung!
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»Die Kinder werden gehalten, sich sogar zu jenen Erfahrungen, die die am wenigsten mitteilbaren und austauschbaren, die persönlichsten und verschwiegensten sind, eines fremden Verstandes zu bedienen.«
So schreibt Franz Vonessen, der dann fortfährt:
»Vielleicht ist der Widerwille vieler Eltern, jene Aufklärung zu organisieren, die nun die Schule ihnen abzunehmen beliebt hat ... gerade in dem dumpfen Verstehn begründet, daß sich auf manchen Gebieten jede Führung, die über das lebendige Vorbild hinausgeht, verbietet, weil zum Reifen, zum Mündigwerden nicht zuletzt auch die Kraft, ein Problem allein zu bestehen, gehört. In der Tat gibt es Felder, wo die Selbstaufklärung durch jeden Eingriff von außen gestört werden kann, meist sogar nachhaltig.«405
Es ist ja nicht so, daß die Schüler früherer Generationen nichts über die Liebe erfahren hätten! Nur lernten sie zuerst, daß es tiefe seelische Regungen gibt, aus den Dichtungen, die oft tragisch endeten. Es kann wohl nicht sein, daß sie im übrigen unerfahren geblieben wären, sonst wären die Menschen ausgestorben. Sollten also die jetzigen Generationen nicht mehr intelligent genug sein, ohne »Aufklärung« auszukommen? Der Dichter Ovid berichtet jedenfalls über die jungen Römer: »Was sie tun sollten, lernten sie selbst, keines Lehrers bedurfte es, ohne jede Unterweisung vollendete Venus das süße Werk«.
Die heutige Manie, auch die geheimnisvollsten Regungen der Natur und der Seele mit den grellsten Scheinwerfern auszuleuchten, führt zu nichts anderem als zu kulturellen Verwüstungen, zu einer Verminderung der innigsten Gefühle, zu seelischer Entropie.
Wo immer nun ein Tabu gebrochen wurde, stand bereits ein Geschäftemacher oder eine Beate Uhse bereit, um die freigegebene Zone zu vermarkten. Die »Aufklärung« dient der Wirtschaft, »die überall dort, wo <Sex> herrscht, mit Erwartung hoher Gewinne im Hintergrund steht«.406
»Wörter, die einst zarte Gefühle ausdrückten, haben ihren Glanz verloren. Einstmals erhabene oder feierliche, prägnante oder dichterische Wendungen, die man nur bei seltenen Gelegenheiten enthüllen sollte, werden im Staub der Werbekampagnen hin- und hergezerrt, mit grobschlächtigen Imperativen vermengt, bis sie schal und schmutzig werden. Sogar obszöne Bemerkungen, die man einst für Fälle besonderer Empörung in Reserve hielt, sind so alltäglich geworden, daß sie ihre Kraft zu schockieren oder zu amüsieren eingebüßt haben.«407
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Wir leben nun zu einer Zeit, in der bald das letzte Häuflein von Fäkalien durchwühlt sein wird, was bleibt uns dann?
Der Mensch ist außerstande zu begreifen, was für ihn gut ist. Wohlgemeinte Lebenshilfen halten verschiedenste Anbieter bereit, auch solche, die sich wissenschaftlich gebärden. Sie gehören zu den »Symptomwissenschaften eines auf den Menschen gestellten Jahrhunderts«, wie sie Gertrud Höhler nennt, nämlich Psychologie, Psychoanalyse, Soziologie. Sie »öffneten die Türen, die man bis dahin teils in frommer Scheu, teils aus Traditionstreue verschlossen gehalten hatte«.408
Jahrtausende alte bewährte Lebenserfahrungen wurden in wenigen Jahren weggeworfen und gegen die schnell wechselnden Linsengerichte mechanistischer Wissenschaften eingetauscht. Eilig gedruckte Fachrezepte werfen nun Lebensanweisungen unter das Volk, die alle Ähnlichkeit mit der Gebrauchsanleitung von Maschinen haben, die aber selten eine Hilfe für lebende Organismen darbieten. Die in der Industrie praktizierte Arbeitsteilung wird nun auch auf die Seele angewandt. So wie man die Schuhe vom Schuster, den Fernseher vom Elektriker, das Auto vom Mechaniker reparieren läßt, so geht man jetzt mit seinen psychischen Defekten zum Seeleningenieur — Verzeihung — zum Psychotherapeuten. Dies in der guten Absicht, sich eine Reparatur zu erkaufen, wobei ein jeder davon ausgeht, daß in unserem Zeitalter alles käuflich erworben werden könne.
Besser als jeder Psychotherapeut können dem Menschen jedoch vertraute Gefährten helfen. Der Gefährte widmet dem Patienten nicht dann und wann eine Sprechstunde, sondern viele Jahre seines Lebens oder das ganze Leben. Diesen Partner fand man früher in der eigenen Familie, oder es war die eigene Familie. Seit man diese Möglichkeit als eine zu naheliegende und »unwissenschaftliche« verachtet, begann die modische Suche nach Heilmethoden, die Mishan »ein gutes Stück törichter« nennt:
»denn unter diesen emanzipierten Köpfen ist es Mode, Kurse über <Persönlichkeitsentwicklung>, <Selbstbehauptungstraining>, <Erkenntniserweiterung>, <Vertrauensaufbau>, <Vermeidung von Stereotypen>, <Bildung schöpferischer Beziehungen> und über anderen psychologischen Kaugummi zu absolvieren...
Das Ziel, ein Maximum an angenehmen Erfahrungen zu machen, verlangt, daß man dem Risiko von Sorgen oder Schmerz, das Gefühlsbindungen mit sich bringen, ganz einfach dadurch ausweicht, daß man sie vermeidet...
Es bedarf jedoch keiner tiefenpsychologischen Finessen, um zu erkennen, daß die durch ein solch künstlich konstruiertes Verhalten bedingte Verdrängung die emotionale Entwicklung nur anhalten kann und schließlich zu Einsamkeit und Verzweiflung führen muß.«409
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Angesichts des Aufmarsches der Experten (die sich natürlich unentwegt über die »richtige« Methode streiten) wird der Einzelne immer unsicherer, er läßt alles und jedes gelten, auch in Sitte und Moral.
»Wahr und Falsch verwischen sich und verwischen sich immer von neuem durch die Anstrengungen einer endlosen Reihe von Wissenschaftlern und Spezialisten. Sie sind ihrerseits Opfer der gegenwärtigen Erosion des moralischen, ästhetischen und intellektuellen Konsenses, auf dem die Zivilisation des Westens beruht. Unverständlicherweise nimmt das Vertrauen intelligenter Menschen in ihr eigenes Urteil und ihren eigenen Sinn für das Zulässige ab. Die soziale Toleranz, die sie sich erwerben, ist zum großen Teil das Ergebnis moralischer Lähmung.«410
Gehätschelte Wohlstandskinder
Nachdem nun durch die Enttabuisierung die Toleranzzone über alle Grenzen erweitert worden ist, breitet sich das Gefühl der Leere erneut aus, ja um so heftiger erwacht nun »die Gier nach einem Widerstande und nach der Anstrengung, diesen zu brechen«.411 Günther Anders spricht auch von der »Gier nach Mühe«. Gerade in den Jugendlichen regt sich immer wieder der Tatendrang. »Tatsächlich gibt es viele Beweise dafür, daß die Menschen oft aktiv nach Störungen suchen, um die mit deren Beseitigung verbundenen Lustgefühle genießen zu können.«412
An anderer Stelle schreibt Scitovsky: »So üben Kinder reicher Eltern oder Menschen, die schon früh reich geworden sind, oft gefährliche Sportarten aus und nehmen an kühnen Abenteuern teil. Wäre es nicht denkbar, daß sie wegen ihres zu bequemen Lebens die einfacheren Freuden vermissen und dies durch die mit Aufregung und Gefahr verbundenen Lustgefühle zu kompensieren suchen? Vielleicht läßt sich die steigende Gewalttätigkeit unserer Wohlstandsgesellschaft ähnlich erklären.«413
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Die materielle Erklärung der Kriminalität aber ist die nach wie vor übliche, infolgedessen glaubte man, sie mit dem Wohlstand beseitigen zu können.
»Die Geschichte des 18. und 19. Jahrhunderts zeigt, daß die Reformer jener Zeit davon überzeugt waren, daß Verbrechen und vor allem Raub und Gewaltverbrechen auf Armut und Unwissenheit zurückzuführen seien. Die Ereignisse haben jedoch diese einfache Annahme nicht bestätigt. Der höhere Lebensstandard und die Hebung der Allgemeinbildung in allen reichen Ländern waren während der letzten zwei Jahrzehnte von einer steigenden Anzahl von Gewaltverbrechen begleitet.«414
Trotz den von Liberalen und Humanisten so liebevoll gehegten Überzeugungen hat das Wachstum des materiellen Reichtums in der Welt keineswegs zu der erwarteten Abnahme krimineller Handlungen geführt. Die Ziffern sind ganz im Gegenteil seit Ende des Zweiten Weltkriegs ununterbrochen angestiegen. Darum kommt Mishan zu dem Ergebnis, »daß das Wirtschaftswachstum der letzten zwei Jahrhunderte beiläufig auch günstige Voraussetzungen für ein verbrecherisches Leben geschaffen hat.«415
Gerade die Sicherheit und die Langeweile unserer Zivilisation verführt die Jugend zu gefährlichen Eskapaden. Was mit den sogenannten »Halbstarkenkrawallen« begann, hat sich inzwischen längst zur Vollstärke entwickelt. Die Jugendlichen wollen am Widerstand die eigenen Kräfte messen. Da sie sonst in ihrem Leben kaum Widerstand erfahren, suchen sie die Konfrontation mit der Polizei. Diese halten sie für einen angemessenen Gegner; denn ein Gegner, den man nicht ernst nehmen müßte, wäre schließlich kein rechter. Aber gegen einen überlegenen Gegner am Ende zu unterliegen ist hier wie beim Sport keine Schande.
Die Suche nach den Motiven für die Gewalttaten füllt seit Jahren landauf und landab die Spalten der Presse. In unserem ökonomischen Zeitalter geht man natürlich davon aus, daß nichts ohne einen »materiellen Grund« geschieht und daß die Gewalttaten ein rationales Ziel haben müssen. Und so wird man noch lange ohne Ergebnis diskutieren. Denn die Erklärung, daß Tausende Jugendliche tagelang Zürich in Schrecken versetzten, weil sie in einem öffentlichen Heim Schach spielen wollten, ist schlichtweg lächerlich.
Eine verbreitete Form gefährlicher Betätigung ist die Motorrad- und Autoraserei, die in hohem Maße den Verkehr gefährdet und der unschuldige Personen zum Opfer fallen.
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Der erzeugte Lärm belästigt einen noch größeren Personenkreis, und der kann sich kaum dagegen schützen. Daß es sich auch hier um angestaute Kräfte handelt, die sich in der Arbeitswelt nicht mehr austoben können und schließlich nach einem Ventil suchen, liegt weitab vom mechanistischen Denken.
Darauf kommen nur einzelne wie zum Beispiel Günther Anders, der infolgedessen eine Eskalation der Gewalttätigkeiten voraussieht:
»Aber übermorgen wird die Sehnsucht nach Anstrengung, mindestens nach Tun, überwältigend werden... Automationshirten und Arbeitslose, die sich nach der Fließbandarbeit, obwohl diese ausschließlich aus dehumanisierenden und chaplinesken Bewegungen bestanden hatte, zurücksehnen werden, weil diese Arbeit doch noch ein Minimum an Tun, also etwas vergleichsweise Humanes, dargestellt und sie der Mühe, die Zeit selbst totschlagen zu müssen, enthoben hatte... Die Gewaltakte, die heute Individuen oder konspirative Gruppen aus Verzweiflung über die <Sinnlosigkeit> ihres Lebens oder in der Hoffnung auf einen Seinsbeweis, auf ein <ergo sumus>, begehen, diese Terrorakte werden, so fürchte ich, je unbestreitbarer die Automaten triumphieren werden, um so rascher in die Hände der Massen hinüberwandern.«416
Günther Anders verlegt diese Entwicklung in die Zukunft und übersieht dabei, daß bereits heute der überwiegende Teil der männlichen Bevölkerung nicht mehr körperlich arbeitet (was auf die Frauen nicht in dem Maße zutrifft). Hinzu kommt, daß einer faden Routinearbeit herzlich wenig Sinn abzugewinnen ist. So werden gerade zur Aktivität veranlagte Personen von Sehnsucht nach einer Lage befallen, in der es endlich wieder einmal »Ernst wird«, wie Jonas sagt,
»wo man plötzlich seinen Mann stellen muß und zeigen darf, aus welchem Stoffe man gemacht ist, wo die Entschlossenen sich von den Ratlosen, die Mutigen von den Zaghaften, die Opferwilligen von den Selbstischen scheiden und der Gemeinsinn tätig wird, den die Gefahr aufgeweckt hat. ... So kann der Hunger nach entbehrter Wirklichkeit in die Irre gehen; bei Verschluß aller anderen Durchlässe auch bis zum Verbrechen, bei dem es auf seine Art ja auch <Ernst wird>.«417
Hier helfen also keine »Freizeitprogramme« für die Jugend oder öffentliche Millionen für die »Jugendarbeit«; denn »die Scheintätigkeit schützt sowenig vor Anomie und Verzweiflung wie die Untätigkeit — und das kann um des Menschen willen fast als Trost verbucht werden«, folgern wir mit Hans Jonas.417
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Das ist eben der große Irrtum unserer Zeit:
Man glaubt alles mit Haushaltmitteln und Wohltaten sowie mit der Zuteilung neuer »Rechte« ins Lot bringen zu können. Da jedoch alle Arten der Anbiederung bei der Jugend durch Erfüllung ihrer Wünsche nicht die erhoffte Wirkung gehabt, sondern zu erhöhter Gewalttätigkeit geführt haben, wird dann zum Beispiel eine Untersuchungskommission des Deutschen Bundestages eingesetzt. Ich wette zehn zu eins, daß auch diese Kommission die echten Ursachen der Jugendrevolte nicht findet.
Einmal nicht, weil sie nur die üblichen mechanistischen Denkschablonen anwenden wird, und dabei kommt dann ein Milliardenprogramm zur »Jugendförderung« heraus. Dies hätte zwar zur Folge, daß die Probleme in einigen Jahren noch schlimmer würden, aber man hätte doch »etwas getan« und sogar noch das Bruttosozialprodukt erhöht.
Zum anderen darf man doch unter keinen Umständen auf diesem Umweg zu dem Ergebnis kommen, daß der vielgerühmte Wohlstand, auf den die Politiker noch immer stolz sind, die Wurzel des Übels ist. Und die Jugendlichen selbst werden solches der Kommission nicht vortragen, da sie es selbst gar nicht wissen, denn sie haben in ihrem Leben noch nichts anderes kennengelernt. Da man drittens ohnehin vorwiegend die Funktionäre der Jugendverbände anhören wird, die finanziell gefördert werden wollen, wird sich eine von niemandem beanstandete Interessenidentität — wie auf anderen Gebieten üblich — zwischen diesen und den Politikern ergeben.
Dabei wird man ein weiteres Faktum vergessen, die verständliche Undankbarkeit des heutigen Staatsbürgers gegenüber der anonymen Beglückungsmaschinerie. Es handelt sich in der Regel um verwöhnte Kinder. »Jemanden verwöhnen heißt, seine Wünsche nicht beschneiden, ihm den Eindruck geben, daß er alles darf und zu nichts verpflichtet ist.«400 Clevere Geschäftsleute — und das sind die Politiker heute — fangen schon bei den Erstwählern an, sich Stimmen einzukaufen. Und da müssen sie den Marktgesetzen folgen: keine Ware ohne Bezahlung.
Auch das physische Leben des Menschen wird taxiert und gehandelt. Menschenraub zur Gelderpressung kommt nicht nur zwischen Kidnappern und den Angehörigen der Opfer vor, sondern auch ganz offiziell zwischen Staaten. Die USA mußten 1980 das Leben ihrer Botschaftsangehörigen erkaufen, also von Personen, deren Status weniger zivilisierte Nationen die Weltgeschichte hindurch immer respektiert hatten; dabei befanden sich die USA und Persien nicht einmal im Kriegszustand.
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Es ist heute üblich, daß der Mensch mit Geld aufgewogen wird, getreu dem modernen Grundsatz, daß es nichts mehr gibt, was kein Geld kostet — also kann auch die Humanität nicht mehr umsonst sein. Ein modernes Iphigenie-Drama würde mit den Worten Thoas enden: »Wieviel Drachmen sind die Griechen bereit, für dich zu zahlen?« Jüngst wurde ein weiteres Gebiet vermarktet: ein Massenmörder ließ sich in Kanada sein Geständnis von der Polizei für 100.000 Dollar abkaufen. Immerhin führte der »Handel« noch zu einer heftigen Diskussion im Lande.418
Warum lassen heute in gesicherten Verhältnissen lebende Bürger ihre Mitmenschen im Stich? Warum lassen sie Verletzte eiskalt verenden? Weil sie die Schmerzen der Opfer niemals am eigenen Leibe erlebt haben. Darum fehlt ihnen Erfahrung und Vorstellungsvermögen, um mit den Leidenden zu fühlen. Könnten sie sich in ihn versetzen, dann würden sie ihm helfen. Je größer die Masse der Menschen ist, um so geringer ist die Betroffenheit des Einzelnen. Die aufgeteilte Verantwortung führt zu einem Anteil nahe Null.
Das gute Leben unserer Zeit führt keineswegs zu mehr Mitmenschlichkeit und erst recht nicht zu mehr Moral, sondern zu berechneter materialistischer Rücksichtslosigkeit.
Ehe nicht die wahren Ursachen der Demoralisierung, nämlich das mühelose Leben vieler und die mechanistische Weltauffassung offengelegt (und abgeschafft?) sind, kann es und wird es keine Änderung geben.
»Ohne Gebote, die uns zu gewissen Lebensweisen verpflichten, verharrt unser Leben in bloßer Bereitschaft. Das ist die furchtbare innere Lage, in der sich heute unsere beste Jugend befindet. Rein weil sie sich frei, der Fesseln ledig fühlen, fühlen sie sich leer. Ein Leben zur Disposition ist schlimmere Lebensverneinung als der Tod. Denn Leben heißt, etwas Aufgegebenes erfüllen; und in dem Maße, wie wir vermeiden, unser Leben an etwas zu setzen, entleeren wir es. Es wird nicht lange dauern, bis von dem ganzen Planeten wie das Heulen unzähliger Hunde ein Schrei zu den Sternen aufsteigen und nach einer Kraft verlangen wird, die gebietet, die ein Tagwerk, eine Pflicht auferlegt.«419
Dies schrieb Ortega vor über fünfzig Jahren, als der europäische Mensch noch weniger verwöhnt war.
Wir hören die Hunde heulen, aber ihr Heulen bleibt unverstanden, und sie wissen zum größten Teil selbst noch nicht, warum sie heulen. Das Bestreben vieler Jugendlicher ist immer noch darauf gerichtet, Pflichten loszuwerden. Das Selbstverständnis ist schwach entwickelt, das gegenseitige Unverständnis ist allgemein, und zwischen den Generationen hat sich eine Kluft aufgetan.
*(d-2015:) Wikipedia Ortega Gasset 1883-1955
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Die Brüche zwischen den Generationen
Die Kluft, die sich besonders in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts aufgetan hat, ist mit den Generationskonflikten früherer Zeiten nicht zu vergleichen. Das derzeitige Auseinanderdriften hat mehrere Ursachen, die sich aus Umfang und Tempo der Veränderungen ergeben. Auf Grund des rasenden Wandels der Zivilisation gingen alte Kenntnisse und alte Werteskalen sehr schnell den Bach hinunter. Die Älteren, die ihre Erfahrungen unter ganz anderen Umständen gesammelt hatten, konnten bald nicht mehr folgen.
Die Jugend wächst mit dem jeweils Neuesten auf, was auch bald veraltet. Soweit sich Ältere in ihrem Beruf umstellen mußten, blieben sie doch in ihren Wertvorstellungen beheimatet. So hängen sie »emotional noch an Werten, von denen ihr Verstand weiß, daß sie im Lebensalltag nicht mehr verwendbar sind... Mit einem verinnerlichten Zynismus leben viele Ältere im Berufsalltag nach einer anderen Werteskala als zuhause.«420
Was die heutigen Alten zu bieten hatten, waren Kenntnisse aus der organischen Welt, Weisheiten über »das Leben«. Solche sind bei ihren Enkeln nicht gefragt; denn die leben in der mechanischen Welt der Autotypen und Kassettenrekorder. Die Märchen erzählende Großmutter ist längst nicht mehr <in>.
»Die Älteren empfinden eine seltsame Einmütigkeit darin, daß sie auf dem Rückzug sind; die Jüngeren darin, daß sie auf dem Vormarsch sind. Aber beide wissen nicht, aus was sie sich zurückziehen und auf was sie vormarschieren. Die Älteren resignieren, die Jüngeren frustrieren. Alle sind in irgendeiner Weise an diesem Spiel beteiligt. Es sind die Passionsspiele einer Leistungsgesellschaft, die sich in Frage stellt, ohne die Ursachen zu erkennen.«421
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Eine Verständigung zwischen Alten und Jungen ist gar nicht möglich; sie sprechen inzwischen verschiedene Sprachen. Ganz abgesehen davon, daß man Großvater und Großmutter in der Regel selten sieht, denn sie wohnen im Altersheim, oft in einer entfernten Stadt.
Aber selbst dann, wenn Eltern und Kinder noch zusammenleben, gehen sie ganz verschiedenen Berufen nach, so daß sich auch von daher keine Gemeinsamkeiten ergeben. Und wenn Sohn oder Tochter einfacher Eltern gar erst studieren, dann leben sie bald in getrennten Vorstellungswelten.
Das ist der schwere Preis für den galoppierenden Fortschritt, daß nicht nur jede Generation, sondern jetzt bereits jedes Jahrzehnt von anderen existentiellen Erfahrungen überfallen wird und daß die Spezialisierung der Individuen eine babylonische Zersplitterung und Sprachlosigkeit zur Folge hat.
Das alles gehört zu den nicht vorausgesehenen negativen Folgen des »Fortschritts«.
Besonders die deutschen Nachkriegsgenerationen — dazu zählen etwa diejenigen, die seit Beginn des Krieges geboren wurden — identifizieren sich schon darum nur schwach mit diesem Staat, weil er nicht ihre Leistung ist. Er wurde fertig übernommen, geerbt. Das Erlebnis des gemeinsamen Neuanfangs aus den Ruinen und der Stolz auf die Aufbauleistung erfüllt bald nur noch die über Fünfzigjährigen. Die Jungen sehen das Erbe unter dem gleichen Aspekt wie den Sonnenschein: er war schließlich immer vorhanden. »Im Wohlstand aufgewachsen, können die sattgegessenen Söhne und Töchter, von Bequemlichkeiten in ihrer körperlichen und geistigen Leistungsfähigkeit beeinträchtigt, nur die abgenutzte Hülle einer Wertvorstellung erkennen, die für ihre Eltern durch die Erinnerung des Mangels mit Sinn gefüllt wird.«422
Um selbst noch etwas dazutun zu können, suchen die Jugendlichen die Fehler, die sie den Älteren ankreiden könnten. So fand die Jugendrevolte der sechziger Jahre heraus, daß Wohlstand, Fortschritt und Gleichheit noch bei weitem nicht schnell genug vorangeschritten wären. Für eine solche Rüge erwies sich das als ein ganz ungeeigneter Zeitpunkt; denn der Fortschritt war bereits dabei, sich selbst ad absurdum zu führen.
So hatte denn auch die in den siebziger Jahren aufkommende Umweltbewegung bereits das entgegengesetzte Grundmotiv: Stopp dem technischen Fortschritt! Bewahrung der Natur! Doch nicht dieser fundamentale Gegensatz wurde öffentlich zur Kenntnis genommen, sondern daß es sich ebenfalls um eine Opposition gegen das Bestehende handelte, folglich warfen auch die Gegner beide Bewegungen in einen Topf.
Und geschickte Demagogen nutzten die Verwirrung für ihre Zwecke.
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So sprach unter anderem Rudolf Bahro vom »historischen Kompromiß« zwischen dem Sozialismus und der Ökologiebewegung; wo gerade nur die kompromißlose Frontstellung weiterhelfen kann. Mit der Kompromißformel wurden noch einmal all jene Veteranen angelockt, die Ende der sechziger Jahre für den mechanistischen Fortschritt auf die Barrikaden gegangen waren.
Der damalige Angriff auf die kulturelle Substanz »beruhte auf dem Mißverständnis, die offenkundig anwachsenden Schwierigkeiten unserer Lage seien darauf zurückzuführen, daß jene Substanz den Fortschritt verzögere«. Der in Zürich lehrende Politikwissenschaftler Hermann Lübbe stellt aber klar: »In dieser Lage ist kulturell nicht Bilderstürmerei, sondern Schonung nötig ...«423
Mit das Schlimmste an der heutigen Lage ist, daß die Traditionen abgebrochen sind: die Tradition zwischen den Generationen, die Tradition der Kultur und das tradierte Miteinander mit der Natur. Ein Volk ist bereits verloren, wenn es die Tradition aufgegeben hat.
»Der Mensch ist ein historisches Wesen, er muß auch mit den vergangenen Ideen und Werten leben, er muß in der Lage sein, sie für die Gegenwart fruchtbar zu machen; hüten wir uns davor, die historische Vergangenheit zu verlieren, das könnte den Verlust der Zukunft bedeuten!«424
Aber die Vergangenheit ist weitgehend verloren, dies ist eine der großen Schwierigkeiten unserer heutigen Lage.
Ein großer Irrtum der jüngeren Generationen ist der, daß in der Natur alles so herrlich frei und beliebig abliefe. So meinen viele, wenn sie sich nur spontan und chaotisch verhielten, dann seien sie naturnah. Das Gegenteil ist der Fall. In der Natur herrscht ständiger Anpassungsdruck wie auch angestrengte Wachsamkeit; die fortwährende Leistungsbereitschaft ist dort zwingend; denn das Leben steht immer unter hautnaher Todesdrohung. Die Natur kennt bei Verstößen keine Gnade.
Das Geflecht der karitativen menschlichen Einrichtungen hingegen, das man heute als »soziales Netz« bezeichnet, fängt auch noch den auf, der seine Lage selbst verschuldet hat. Darin liegt die große Verführung: alle wiegen sich in einer Sicherheit, die ganz und gar unnatürlich ist. Wenn sie echt sein und halten soll, dann muß sie durch harte Leistungen gedeckt sein. Die Natur erzwingt die disziplinierte Einhaltung ihrer Gesetze. Wenn in der freien Wildbahn ein Tier die ungeschriebenen Gesetze des Rudels durchbricht und seinen eigenen Weg geht, bezahlt es diese Eigenmächtigkeit in der Regel mit dem Tod in der Wildnis.
Es gehört zu unserer an Absurditäten reichen Zeit, daß sich einige im Namen der Naturfreiheit gegen das zivilisatorische System auflehnen, dabei aber alle komfortablen Absicherungen ihrer persönlichen Existenz durch eben dieses System als ihr mit ihnen geborenes Recht einfordern.
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Herbert Gruhl Das irdische
Gleichgewicht Ökologie unseres Daseins