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   Teil 5  Die Rückbesinnung  

5.1  Der fatale Überfluß 

 

Arm ist ein Land, von Übeln ganz umstellt,
wo Reichtum zunimmt, doch der Mensch verfällt.
Oliver Goldsmith

    Die Faktoren des Überflusses 

246-255

Die allzeit beliebte Klage des Menschen ist die über den Mangel. Und sein Bestreben ist darauf gerichtet, eine Welt des Über­flusses herbeizuführen. Im ökonomischen Zeitalter bedeutet das Überproduktion materieller Güter. Damit findet eine Umschichtung statt: Der Überfluß der Natur wird abgebaut zugunsten eines künstlichen Überflusses von Wegwerfartikeln. 

Ein Überschuß in diesem Bereich führt aber unweigerlich zu einem Mangel im anderen. So geschieht es, daß viele Mangel­erscheinungen dort sich gerade aus dem Überfluß hier ergeben. Zur Zeit wird unsere Erde vom Überfluß bedroht, noch nicht vom Mangel. Wir können die Überfluß­probleme in fünf Gruppen einteilen:

#1. An erster Stelle steht gegenwärtig der schlimme Überfluß der menschlichen Geburten, gegen den bisher die Mittel versagt haben. Der Verstand konnte die Natur als Regulativ nicht ersetzen. Darum wird die Macht der Natur auch künftig stärker sein als rationelle Erkenntnisse. Der Überfluß der Geburten wird dazu führen, daß im nächsten Jahrhundert in weiten Gebieten der Erde der Hungertod die übliche Todesart sein wird.

#2. Der Überfluß an Energie, den die Industrieländer nötig zu haben glauben, führt über kurz oder lang zur Vernichtung der Umwelt. Er verleitet die Menschen auch zur Bequemlichkeit und zu sinnloser Vergeudung. Ihre Sorge um immer reichlichere Energie zwingt die Völker zu immer teureren und risiko­reicheren Unter­nehmungen; sie geraten in immer größere Abhängigkeit und in internationale Verwicklungen, die hinfort die Politik in hohem Maße beherrschen werden. Das Übermaß an Energie zeigt sich auch in der militärischen Bewaffnung ganz deutlich: Die atomare Vernichtungs­kapazität ist so groß, daß bei ihrer Anwendung die eigene Vernichtung inbegriffen ist; denn die Strahlen wandern unvermeidlich um den ganzen Erdball.

#3. Der Überfluß der automatisierten Produktionen schafft grundsätzlich die gleichen Probleme wie die Energie. Beide zusammen verursachen die Arbeitslosigkeit, das Problem der kommenden Jahrzehnte. Damit verbunden sind die psychischen Belastungen durch die Untätigkeit, welche sich auf die Familien, auf die Gesellschaft und selbst auf die noch in Arbeit Stehenden übertragen, denn ihnen droht das gleiche Schicksal. Die Überproduktion führt zu einem Kampf um die Märkte. Und letzten Endes ist schon etwas dran an der Theorie, daß die beiden Weltkriege auch die Funktion hatten, den angehäuften Überschuß der Vernichtung zuzuführen, um die Gewinn- und Produktions­maschinerie unter Dampf zu halten und die Arbeitsplätze zu erhalten. Da braucht man nur an die gegenwärtige Argumentation zugunsten der Waffen­exporte zu denken, weil diese doch Arbeitsplätze schaffen würden.

Willis Harman sieht im Bereich der Wirtschaft vier grundlegende Schwierigkeiten der technisch und industriell fortgeschrittenen Welt, die unlösbar erscheinen: Beschäftigung, Verteilung, Regelung und Produktion. »Ironischerweise entsteht die Krise, weil das industrielle Zeitalter so phänomenal erfolgreich bei der Lösung eines vierten klassischen ökonomischen Problems, dem der Produktion, gewesen ist.«437

In Bert Brechts »Manifest« heißt es:

Der gigantische Bau der Gesellschaft
Teuer, mit so vieler Mühe errichtet, von vielen Geschlechtern
Sinkt in barbarische Vorzeit zurück. Und es ist nicht der Mangel
Der da die Schuld trägt,
Überfluß ist's, das Zuviel macht ihn wanken.438

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#4. Der überflüssige Konsum ist die automatische Folge der hohen Produktivität. Er verursacht viele negative Folgen, von denen die Explosion der Krankheits­kosten gegenwärtig die spektakulärste ist. Der größte Teil der Bevölkerung arbeitet bewußt oder unbewußt daran, die negativen Effekte zu vermehren — deutlicher gesagt, sich krank zu füttern oder zu trinken, sich mit Nikotin oder mit Drogen zu vergiften.

All diesen Erscheinungen schob früher der schlichte Mangel einen Riegel vor; doch wenn Haschisch praktisch für jeden zugänglich und bezahlbar ist, werden immer so und so viele davon Gebrauch machen, auch wenn sie sich selbst ruinieren. Heute scheint fast niemand mehr so arm zu sein, daß er sich nicht mindestens eine Art der Selbst­zerstörung leisten kann. Die Wieder­gutmachung, soweit sie noch möglich ist, leisten dann bekanntlich die Normalgebliebenen.

Ein Bürger eines modernen Sozialstaates fühlt sich zur Zeit berechtigt, zwei Ansprüche zu stellen: den Anspruch, sich ganz nach freier Wahl selbst zu schädigen, und den zweiten Anspruch, sich auf Kosten der Allgemeinheit wieder heilen zu lassen — und das, so oft er Laune hat, beziehungs­weise so lange sein Körper es durchhält. 

#5. Schließlich gibt es noch ein besonderes Dilemma der Überflußgesellschaft. Der Überfluß beseitigt zwar materielle Mängel, doch nicht das Mangelgefühl der Menschen. Also nimmt im Zeitalter der Fülle die Zufriedenheit keineswegs zu, vielmehr werden laufend neue Mängel entdeckt, »zugegeben, kein Mangel an maschinell erzeugten Gütern oder an technischen Dienst­leistungen, aber an allem, was eine vollere Persön­lich­keits­entwicklung ermöglichen würde, die auf anderen Werten als auf Produktivität, Geschwindigkeit, Macht, Prestige und Profit basiert.« 439)

Im ganzen gesehen schafft der Überfluß allemal größere Probleme als der Mangel.440 Der Überfluß ist die extreme Pendel­bewegung nach einer Seite hin. Somit ist der Überfluß der Vorbote der Katastrophe. Die Größe der Katastrophe korrespondiert mit dem Ausmaß des Überflusses. Ein Ausschlag zum Mangel hin läßt auf den Umschlag zum Besseren hoffen. So lange, wie der Überschlag in die Vernichtung noch nicht stattgefunden hat, bleibt allerdings auch im Überfluß die Möglichkeit einer Umkehr der Bewegung.

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Diese Umkehr wird jedoch niemals mit technischen und ökonomischen Mitteln eingeleitet werden, sondern durch Katastrophen oder einen Wandel der menschlichen Daseinsauffassung. Wenn jemand dreißig Jahre nach uns die heutigen Zeitungen durchblättern sollte, dann wird er den Eindruck bekommen, daß dies Jahre des Mangels gewesen sein müssen. Es ist dagegen zu bezweifeln, daß die Zeitungen der frühen fünfziger Jahre einen solchen Eindruck vermitteln.

Alle Darlegungen ergeben, daß es sich nicht nur um eine physische Katastrophe handelt, sondern mehr noch um eine psychische und kulturelle, und daß diese die bedeutendere ist.

Daß die materielle Katastrophe um so größer sein und um so früher eintreten werde, je erfolgreicher das sogenannte »wirtschaftliche Wachstum« noch vorangetrieben werden würde, war das Ergebnis meines ersten Buches.

Daß der psychische und kulturelle Niedergang jeder menschlichen Gemeinschaft im gleichen Ausmaß zunimmt, wie der materielle Wohlstand Triumphe feiert, ist das Ergebnis dieses Buches.*

Es ist eine Frage der Sensibilität, inwieweit Einzelne bereits im Stadium des Überflusses heutige und kommende Schäden erkennen, während die große Masse noch ahnungslos dahintaumelt.

Der französische Philosoph Georges Bataille ist der Ansicht, daß der Überschuß allezeit auf irgendeine Weise beseitigt werden muß. Das geschah durch seine unökonomische Verschwendung, für die in der Geschichte viele Belege zu finden sind: so in den Opfergaben für die Götter, in kulturellen Werken, in der Verschenkung und in der Vernichtung. In allen diesen »Veraus­gabungen« sieht Bataille eine ökonomische Notwendigkeit.

Denn ein nicht beseitigter Überschuß erschwert das natürliche Wachstum, wenn dieses nicht mehr in der Lage ist, den Überschuß zu verbrauchen. »Die gegenwärtige Welt wird bestimmt von der Ungleichheit des (quantitativen oder qualitativen) Druckes, der vom menschlichen Leben ausgeht.«441

Arbeit und Technik haben zum Anschwellen der Menschenzahlen geführt. Diese Menschenmassen geben wiederum einen noch stärkeren Impuls zur Steigerung aller Produktionen, der rückwirkend wieder die Vermehrung steigert. Es kommt zur fortwährenden gegenseitigen Eskalation der Produktion von Menschen und deren Produktion von Gütern bis zur unmittelbar bevorstehenden Explosion.442

* (d-2014:)  "Ergebnis dieses Buches" im Sinne von <Recherche-Ergebnis>; und nicht im Sinne von Folge des Buches.

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Das Problem des Überschusses, welches es nach Bataille zu allen Zeiten gab und das immer irgendwie bewältigt wurde, erreicht nun im 20. Jahrhundert den Siedepunkt. Die explosive Situation ergibt sich, weil der Überschuß im ökonomischen Zeitalter ständig so angelegt wurde, daß er erneuten und noch größeren Überschuß erbrachte. Seit zwei Jahrhunderten dient der Überschuß zum größten Teil der Erzeugung eines immerzu steigenden Überschusses. »Investieren!« lautet der Schlachtruf der Epoche.

Nach Ortega y Gasset »gab es einen Augenblick, wo die zivilisierte Welt, verglichen mit der Aufnahme­fähig­keit des Durch­schnitts­menschen, einen Zug übermäßigen und überflüssigen Reichtums annahm.«443 Georges Bataille kommt auf Grund dieses Tatbestandes zu der Folgerung: 

»Ein Fluch lastet offensichtlich auf dem menschlichen Leben, insofern es nicht die Kraft hat, eine schwindel­erregende Bewegung einzudämmen. Wir müssen ohne Umschweife aussprechen, daß es prinzipiell vom Menschen, und nur vom Menschen abhängt, ob dieser Fluch aufgehoben wird. Aber er kann nicht aufgehoben werden, wenn die Bewegung, die ihn begründet, uns nicht ganz klar bewußt wird. In dieser Hinsicht scheint ziemlich enttäuschend, daß man als Mittel gegen die drohende Katastrophe nur die >Hebung des Lebensstandards< anzubieten hat. Dieser Notbehelf rührt, wie schon gesagt, daher, daß man die Notwendigkeit, der er zu entsprechen sucht, nicht in ihrer Wahrheit sehen will.«444  

Es ist nicht bloß ein »Notbehelf«, wie Bataille sagt, sondern seine Anwendung verschlimmert die Lage.

 

Am Schicksal der Entwicklungsvölker erkennen wir, was wir bei uns selbst schon nicht mehr nachvoll­ziehen können: Der Verlust der eigenen Kultur und des einmütigen Glaubens an diese Kultur liefert die Völker dem Verfall aus. Dafür liefern die Indianer Amerikas das beste Beispiel. Ihre unter ökologischen Gesichtspunkten weit überlegene Kultur brach unter dem ökonomischen Großangriff der Europäer zusammen.

Hier wie in Afrika und schließlich auch in Asien führte die technische Dampfwalze der Europäer zur hilflosen Verzweiflung am Wert der eigenständigen Kultur, an den eigenen Sitten und an der eigenen Religion. Es ist bezeichnend, daß die christlichen Missionare zugleich die westliche Technik und Medizin einsetzten, um die Überlegenheit ihrer Lehre zu demonstrieren.

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Daß der soziale Niedergang der Völker die Folge des kulturellen ist, erkannte bereits der Ökonom Karl Polanyi (1886-1964): »In Wirklichkeit ist natürlich soziales Elend primär ein kulturelles Phänomen und nicht ein ökonomisches, das mit Einkommens­zahlen und Bevölkerungs­statistiken gemessen werden könnte.«445 Das gilt für die Industrieländer und für die Entwicklungs­völker:

»Nicht die wirtschaftliche Ausbeutung ist in diesem Fall die Ursache des Niedergangs, wie dies oft angenommen wird, sondern der Zerfall des kulturellen Ambiente der Opfer. Die ökonomische Entwicklung kann natürlich das Vehikel der Zerstörung sein, und die wirtschaftliche Unterlegenheit wird fast immer den schwächeren Teil zum Nachgeben zwingen, aber die eigentliche Ursache seines Niedergangs ist deshalb nicht ökonomischer Natur, sondern vielmehr die tödliche Schädigung der Institutionen, in die sein gesellschaftliches Sein eingebettet ist. Das Ergebnis ist der Verlust der Selbstachtung und der Maßstäbe, ob es sich nun um ein Volk oder eine Klasse handelt, ob sich die Entwicklung aus einem sogenannten >Kulturkonflikt< oder aus der Veränderung der Position einer Klasse innerhalb der Gesell­schaft ergibt.«446

Nach den Industrievölkern haben nun auch bereits die meisten der übrigen ebenfalls ihre kulturelle Identität und ihre Religion aufgegeben. Diese wie jene entdecken jedoch nach und nach, daß das entstandene Vakuum niemals durch eine mechanistische Global­zivilisation sinnvoll gefüllt werden kann.

Vierhundert Jahre nach Francis Bacon wissen wir nun, daß die materiellen Möglichkeiten begrenzt sind und unsere Erde nach etwa einem Jahrhundert des Überflusses — allerdings nur für etwa ein Drittel der Menschheit — der Erschöpfung entgegengeht. Die kurze Zeit hat allerdings genügt, um den Geist der Epoche auf das verhängnisvolle mechanistische und materialistische Denken einzustimmen. Mit dem Gedanken der unaufhaltsamen Steigerung ausgerüstet, mußte von den Menschen dieser Zeit die plötzliche Verkündung der »Grenzen des Wachstums« wie ein Todesurteil aufgenommen werden. Und das Urteil schwebt ja auch — solange der Weg in die Verschwendung fortgesetzt wird. Die Programmierung des Selbstmords erfolgte perfekt, der Countdown läuft!

Der Blitz der Erkenntnis kann nur aus einer anderen Denkweise kommen — der ökologischen. Am Anfang müssen wir die Frage stellen: War der mechanistische Weg überhaupt sinnvoll?

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Wenn wir diese radikale Frage stellen, dann wird uns heute — über 2400 Jahre nach Laotse, fast 2000 Jahre nach Christus, 200 Jahre nach Kant — mitten in der industriellen Expansion von Tag zu Tag klarer:

Nicht der Mangel, der Überfluß ist es, welcher derzeit die Welt im ganzen wie auch — in den überentwickelten Ländern — den einzelnen Menschen in die Ausweglosigkeit führt.

Der Mangel hat dagegen in der Geschichte die Menschen stets zu vielfältigen Versuchen und gemeinsamen Anstrengungen vereint, die alle Chancen einer nachfolgenden Blüte in sich bargen. Darin liegt ein gewisser Trost, der uns bleibt.

Der Überfluß erstickt, der Mangel belebt. Auch dies wußte Laotse:

Haben verhindert Erhaben.
Reichtum verhindert Erreichen.
Wer Fülle meidet / erreicht Erfüllung.447

Nun kann eingewandt werden, das sei Perversion. Ja, das ist Perversion! Aber die Ziele des Industrie­zeit­alters waren eben pervers! Folglich wird nun die Perversion der Perversion notwendig, um die Welt wieder in ihr Gleichgewicht zu bringen. Und wenn es der Mensch nicht vermag, die Natur wird es rücksichtslos besorgen.

 

   Die Paradoxie   

Die Aufgabe unserer Zeit ist es zweifellos, darzustellen, daß bisher vermeintlich Richtiges falsch und Falsches künftig richtig ist. Eine Umwertung von Werten hat es in der Geschichte auch früher gegeben; doch waren das jeweils Vorgänge, die sich über Jahrhunderte erstreckten. So viel Zeit ist jetzt nicht übrig, da ein wesentlicher Charakterzug des technischen Zeitalters darin besteht, die Geschwindigkeit der Abläufe vervielfacht zu haben. Dem Umdenken vor der Katastrophe stehen nur noch Jahre zur Verfügung. Daß sie schlecht genutzt werden, kann zur Zeit als sicher gelten. Denn wir treffen auf eine große psychologische Schwierigkeit.

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Eduard Heimann sieht sie ganz richtig, wenn er feststellt, »psychologisch kann kaum etwas schwerer vorstellbar sein, als daß der westliche Mensch sich von der Straße, die ihn zu seinem Triumph getragen hat, im Augenblick dieses Triumphs abwendet... unser ganzer Stolz heftet sich an jene gigantische Leistung — und nun werden wir angewiesen, ihr den Rücken zu kehren?« Dies erscheint als eine allzu große Zumutung und Antinomie; denn »der Mensch sehnt sich danach, seinen Erfolg zu verewigen.«448 Er glaubt, ohne dessen Fortsetzung nicht mehr leben zu können; doch diese irrige Annahme muß ausgeräumt werden.

»Es scheint, daß zwei Jahrhunderte beispielloser wissenschaftlicher Entwicklung einen unauslöschlichen Eindruck auf den Geist des modernen Menschen hinterlassen haben. Im Vergleich mit der Weltanschauung des vorindustriellen Zeitalters ist die Veränderung so drastisch, daß sie mit einer starken, süchtigmachenden Droge zu vergleichen ist. Es ist eine natürliche Reaktion, daß das Opfer, wann immer es den Entzug fürchtet, die Tugenden dieser Droge preist... Der Strom der Ernüchterung hat zwar zu fließen begonnen, aber er ist vielleicht nicht tief oder stark genug, um eingewurzelte Institutionen aus dem Weg zu räumen oder festgefahrene Einstellungen abzutragen.«449  

 

Das ist die Einschätzung, welche Mishan in seinem Buch weiter darlegt: 

»Die westliche Zivilisation, die Zivilisation der Aufklärung, der Wissenschaft, eine Zivilisation, welche mit hohen Hoffnungen und unter glückverheißenden Auspizien geboren wurde und welche heute vor Macht und Übermut förmlich schäumt, wird fröhlich an den Rand des Abgrunds geleitet. Und all das, was den tödlichen Sturz noch aufhalten könnte, liegt im Schmutz — verachtet und zerfallen.«450

Schwerere Prüfungen als die dem Menschen bevorstehenden sind noch nie dagewesen. Wo sind in dieser fatalen Lage die Fixpunkte zu finden, welche in dieser Entscheidungsphase ausreichend Rückhalt bieten könnten, um den Kampf um das Fortbestehen durchzustehen? Es wird eine gründliche Rückbesinnung nötig sein, um auch nur die Voraussetzung einer Chance zu schaffen.

»Denn damit das Neue möglich werden kann, muß die Unechtheit, Verlogenheit und Verderbtheit des Alten nicht nur enthüllt, sondern anerkannt und bereut werden. Die Menschen müssen über ihr eigenes Bild in Verlegenheit geraten und müssen sich dadurch dem, was sie waren, überlegen zeigen, erneuert im Geist, offen für das Neue und fähig, es zu tun.«
451, Eduard Heimann 1963

 

Doch die bloße Erkenntnis dessen, was notwendig ist, wird nicht ausreichen, um das Notwendige auch zu tun. Heimann sagt es selbst: »Reform scheint nicht möglich zu sein, bevor die falsche Prosperität erschüttert ist und die Menschen für ihre Existenz statt für ihre Ansprüche zu zittern beginnen.« 

Die Zeit des großen Zitterns liegt allerdings unmittelbar vor uns, ja sie hat schon begonnen. Zwar zittert die Mehrheit erst um ihre Ansprüche, noch nicht um ihre Existenz. Doch das geht dann schnell!

Was kommen wird, hat uns der sechsundachtzigjährige Arnold Toynbee kurz vor seinem Tode prophezeit. Am 22.10.1975 veröffentlichte er in der englischen Zeitung <The Observer> einen Artikel mit der Überschrift <Nach dem Überflußzeitalter...>. Darin heißt es:

 

»In den sogenannten <entwickelten> Regionen — Europa, Nordamerika, der Sowjetunion und Japan — wird es kein <Wachstum> mehr geben. Noch mehr: Die Entwicklung wird sogar umgekehrt verlaufen. Ein ständiges wirtschaft­liches Wachstum wird zukünftig durch die fortwährende wirtschaftliche Rezession ersetzt. 

Wie werden die Industrieländer auf diese gewaltige Herausforderung reagieren?.... Diese Völker werden erfahren, daß sie sich in einem permanenten Belagerungszustand befinden, in dem die materiellen Lebensbedingungen so bescheiden wie während der beiden Weltkriege sein werden. Die bescheidene Lebensweise während der Kriege war vorübergehend, die zukünftige indes wird von Dauer und zunehmend ernster sein. Was geschieht dann?

Wenn die <entwickelten> Völker durch die Ereignisse gezwungen werden, die unerbittlichen, neuen Tatsachen anzuerkennen, werden sie sich zunächst durch unnützen Widerstand selbst Schaden zufügen. Und da sie weder die <unterentwickelten> Völker noch die Natur unter ihre Gewalt zu bringen vermögen, werden sich die Menschen in den <entwickelten> Ländern untereinander attackieren: In jedem der belagerten <entwickelten> Länder wird man bitter um die verminderten Ressourcen ringen. 

Damit wird eine bereits schlechte Wirtschaftslage lediglich verschlimmert, so daß dem irgendwie Einhalt geboten werden muß. Ließe man diesen Dingen freien Lauf, würde dies zu Anarchie und einer drastischen Minderung der Bevölkerung, zu Hungersnot und Seuchen, den historischen Bevölkerungs-<Killern> führen, die keine Mittel zur Daseins­erhaltung mehr sind.«

 

Die allgemeine Ignoranz der Politiker hat auch diese Warnung bisher in den Wind geschlagen. Doch die Wähler sollten sich nicht darüber beklagen. Bis auf wenige Ausnahmen verharren sie selbst weiterhin wohlgefällig in Ignoranz und Selbstgefälligkeit. »Wir teilen unsere Blindheit redlich und einverständig mit den blinden Führern, die wir uns ausgesucht haben, weil sie viel schicker und geschickter blind sind als wir«, schrieb Franz Vonessen 1978.452) Doch Toynbee verkündet auch den positiven Aspekt: 

»Eine Gesellschaft, die sich materiell beugt, kann sich geistig aufrichten. Vielleicht kommt es soweit, daß wir notgedrungen zur Lebens­weise der ersten christlichen Mönche im oberen Ägypten und deren Nachfolger im 6. Jahrhundert zurückkehren. Der Verlust unseres Überflusses wird außerordentlich unbequem sein, und es wird uns gewiß schwerfallen, damit fertig zu werden. Aber irgendwie mag das <Glück im Unglück> bedeuten, falls wir uns dieser ernsten Lage gewachsen zeigen.«

Das ist die totale Wende, vor der die Welt steht, vor der besonders die wohlhabenden Nationen stehen. Jetzt, am Ende des 20. Jahrhunderts, müssen wir erkennen: Das Übermaß ist genauso negativ zu bewerten wie der Mangel. Der Reichtum korrumpiert den Menschen sogar gründlicher als die Not. 

»Statt Unterernährung ist heute Überernährung das Problem, der Mensch, ein Wesen, das biologisch auf Mangel eingerichtet ist, auf ständiges vom Hunger getriebenes Beutemachen, auf lange, kalte Winternächte mit sich erschöpfenden Vorräten, dieser Mensch ist heute übergewichtig, vollgefressen.«453

Im materiellen Überfluß dürstet seine Seele. Diese Weisheit verkündete bereits Christus: »Was hülfe es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne und nähme doch Schaden an seiner Seele?« (Matthäus 16, 26)

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Dr. Herbert Gruhl   Das irdische Gleichgewicht  1982