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5.2  Der Segen der Knappheit

Ach, wie vieles gibt es doch, 
was ich nicht brauche.
Sokrates

256-264

Die Religionen haben zu allen Zeiten gewußt, daß materieller Reichtum den Menschen nie befriedigen und ihm nie das dauerhafte Glück auf dieser Erde bereiten kann.

»In der traditionellen religiösen Auffassung gibt es so etwas wie ein materielles Genug, jenseits dieses — zugegeben­ermaßen unbestimmten und historisch schwankenden — Betrages sind die Ziele des Lebens: Weisheit, Freude, Kultivierung des Gemüts und der Seele sowie Pflege des Gemeinschaftslebens. Es kann sogar sein, daß für die menschliche Gemeinschaft ein gewisser Grad von Knappheit erforderlich ist, ohne den Kooperation, Teilung und Freundschaft keinen natürlichen Grund haben, so daß die Gemeinschaft ausdörren würde. Bezeugt wird das durch die isolierte Selbst­genügsamkeit der Haushalte und den Mangel an Gemeinschaft in den gutsituierten Vorstädten der Mittelklasse.«454

Diese Meinung des amerikanischen Ökonomen Herman Daly, daß nur ein gewisser Grad von Knappheit die Basis für jede echte Gemein­schaft von Menschen abgibt, können wir als Gewißheit verbuchen.

Der Überfluß isoliert; denn jeder ist sich dann selbst genug. Die Reichen isolieren sich von den Armen, und sie isolieren sich auch untereinander, mit Ausnahme ihrer gegenseitigen geschäftlichen Interessen. Und auch die Ärmeren (ganz Arme gibt es nicht mehr) isolieren sich voneinander, denn ihr Partner ist jetzt pflichtschuldigst der Staat, nicht der helfende Nachbar, nicht einmal die eigene Familie.455

Es ist nun offenkundig: Der Wohlstand, erst recht der mit einer Staatsgarantie versehene, tötet das Gemeinschaftsleben; denn niemand hat den anderen existentiell nötig. Nur dort, wo man einander benötigt, entsteht eine Schicksals- und Lebens­gemein­schaft. Eine Notstandszeit setzt sinnvolle Ziele, in der Wohlseinszeit gehen sie verloren. Darum sind Zeiten des längeren Wohlstands niemals sinnträchtige Zeiten gewesen, in denen die Kultur, das Geistesleben und die Kunst geblüht hätten. Und es sind auch nicht die Zeiten, in denen ein gemeinsamer Geist und ein Glaube die Gemeinschaft eines Sinnes werden ließ.

Der amerikanische Psychologe William James schrieb 1902: »Die Hauptquelle der Melancholie ist die Überfülle. Not und Kampf sind es, die uns erregen; die Stunde des Sieges gibt uns das Gefühl der Leere. Nicht von den Juden in der Gefangenschaft, sondern von jenen aus den glorreichen Tagen von Salomos Größe stammen die pessimistischen Äußerungen der Bibel.«456 Im Übermaß des Wohlergehens, in einem wattierten Leben isolierter Individuen verkommt jeder Sinn. Fehlt aber der lebendige Sinn, dann wird sich der Mensch nach einem Wort von Friedrich Nietzsche eher mit der Leere vermählen als sinnleer zu sein.457

Dem Philosophen Immanuel Kant wird der Satz zugeschrieben: »Reich ist man nicht durch das, was man besitzt, sondern noch mehr durch das, was man mit Würde zu entbehren weiß, und es könnte sein, daß die Menschheit reicher wird, indem sie ärmer wird, und gewinnt, indem sie verliert.«458 Diese Feststellung stimmt nicht nur dem Sinne nach, sondern bis in den Wortlaut mit der über 2000 Jahre älteren Weisheit des Laotse überein:

So geschieht es
daß manches wächst
indem es minder wird
Daß manches minder wird
indem es wächst.
Fülle verdrängt Leben.
459

Es wäre lohnend, die Weltgeschichte daraufhin zu untersuchen, wo überall aus der Not ein Aufbruch erwuchs, der auch den Keim zu den großen Leistungen enthielt, die wir rückblickend als Blütezeiten der Kultur bewundern. Die übermäßige ökonomische Frucht dagegen führte stets zur abstumpfenden Sattheit und Trägheit, schließlich zur Fäulnis, die nun die ganze nördliche Halbkugel des Planeten ergriffen hat — nicht ohne bereits die südliche Halbkugel gründlich infiziert zu haben.

In der jüngsten deutschen Geschichte gibt es ein eindrucksvolles Beispiel der Solidarität in der Not. Nach dem II. Weltkrieg, als Millionen Soldaten in ein zerstörtes Land zurückkehrten und weitere Millionen vertriebener Deutscher nach Westen strömten und die Zahl der Hungernden und Wohnungslosen täglich vermehrten, gab es gegenseitige Hilfe und Teilung des Wenigen. Das geschah zu einer Zeit, als die meisten gerade noch soviel Nahrung hatten, um nicht zusammen­zubrechen, und soviel Heizmaterial, um nicht zu erfrieren! Gewiß gab es auch abstoßende Ausnahmen.

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Aber in der gegenwärtigen Wohlstandsrepublik hört man wenig von Hilfsbereitschaft, dagegen viel von Forderungen. Man braucht nur die täglichen Verlautbarungen der unzähligen Interessen­verbände zu verfolgen: Keiner hat genug. Und das am Ende dreier Aufbaujahrzehnte! Eines Aufbaus wohlgemerkt, zu dem ein Volk unmittelbar nach der totalen Niederlage fähig war!

Welche Völker haben denn nach dem letzten Krieg den imposantesten Aufschwung vollbracht? Die Besiegten: das japanische und das deutsche Volk. Von den Siegerländern hat das meistzerstörte, Rußland, die größten Steigerungsraten erzielt und sich zur zweiten Weltmacht emporgearbeitet. Es ist sehr wahrscheinlich, daß gerade der Angriff Hitlers auf die Sowjetunion das kommunistische System überhaupt erst fest installiert hat. Denn die über Nacht notwendig gewordene Verteidigung der Heimat gegen den deutschen Angriff hat das Volk in eine Solidarität mit der Führung gedrängt, die ohne eine solche existentielle Herausforderung kaum eingetreten wäre.

Schon die kommunistische Revolution in Rußland hätte wohl nie eine Chance bekommen, wenn das Land nicht durch den I. Weltkrieg in den völligen Ruin gerissen worden wäre. Ein ähnlicher Vorgang spielte sich 130 Jahre früher in Frankreich ab. Napoleon hatte nach den Blutbädern der Revolution eine nationale Bewegung in Gang gesetzt, die ihn bis nach Moskau trug. Preußen, über 200 Jahre eine deutsche Führungsmacht, entstand auf den kargen Sandböden der Mark Brandenburg und nicht etwa im üppigen Rheintal.

Der natürliche Rhythmus der Weltgeschichte lehrt uns, daß dem Wohlleben verfallene Völker noch immer von den aktiven, die man meist Barbaren nannte, ihrer Herrschaft beraubt wurden. Dies dauerte oft Jahrhunderte, denn die Kulturvölker hatten schon damals bessere technische Mittel zu ihrer Verteidigung; sie umfriedeten ihre Städte mit Wehranlagen. Dennoch wurden die Kriege bis ins 20. Jahrhundert letzten Endes im Kampf Mann gegen Mann entschieden. 

Erst in jüngster Zeit wurde die Übermacht der Technik so vollständig, daß nun keine noch so entschlossene Menschenlawine mehr dagegen ankommen kann. Somit böte sich den technisierten Wohlstandsvölkern die Gelegenheit, hinter ihren atomaren Mauern gesichert und zufrieden dahinzusiechen. Das wird jedoch aus anderen Gründen nicht geschehen. Erstens weil ihr Wohlstand von der Zufuhr aus aller Welt abhängt; zweitens weil der Kampf um die Ressourcen gerade unter den höchst technisierten Nationen entbrennen wird; drittens — und das interessiert an dieser Stelle — weil das Wohlleben die innere Stabilität der reichen Völker zerfrißt, wessen wir heute Zeuge sind.

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Der Politiker und Ökonom Walther Rathenau fragte 1917, ob nicht »Bedrückung und Armut, Not, Sorge und Unbill die echtesten Kräfte im Menschen befreien, die Seelen erlösen und das Gottesreich hernieder­tragen.«460 Und er kam zu dem Ergebnis: »Es scheint ein Naturgesetz, daß jeder Organismus, der vom natürlichen Lebenskampfe auch nur um ein weniges entlastet wird, zunächst zwar üppig gedeiht, dann erschlafft und eingeht.«461  

Eine organische Gemeinschaft und ein leistungsfähiges Staats­wesen entsteht nicht in Zeiten der Fülle, sondern im gemeinsamen Überlebenskampf. Darum ist es ein Wahn zu glauben, man könne die Wohlstandsfrustration mit noch mehr Wohlstand bekämpfen und mit der Verteilung weiterer Güter beseitigen. Das gleicht dem Versuch, Feuer mit Benzin zu löschen — und dennoch geschieht es alle Tage.

Das materialistische Zeitalter ist einfach außerstande, aufkommende Unzufriedenheiten anders als materiell zu erklären. Die Geschichte hat diese Wendung genommen, obwohl es an besseren Einsichten nicht gefehlt hat. So auch die von Walther Rathenau: »Der Sinn aller Erdenwirtschaft ist die Erzeugung idealer Werte. Deshalb ist das Opfer materieller Güter, das sie erfordern, nicht Verbrauchsaufwand, sondern endgültige Erfüllung der Bestimmung.«462 Er sprach das zu einer Zeit aus, als der Pegel der materiellen Güter nur einen Bruchteil des heutigen Standes erreicht hatte. Erst nach dem II. Weltkrieg begann die eigentliche Güterorgie in den kapitalistischen wie in den sozialistischen Ländern.

Die Verlockungen des technischen Zeitalters und seiner Ökonomie gingen von Europa und Nordamerika aus, infizierten dann Japan und Rußland und inzwischen fast den ganzen Rest der Welt. Das überrascht insofern nicht, als die Menschheit eben auf technischen Gebieten viel spektakulärere Durchbrüche aufzuweisen hat als auf allen anderen in ihrer Geschichte. Jetzt schien das Tor in eine neue grenzenlose Welt aufgestoßen. Darum stürzte sich der Mensch kopfüber in die realisierbaren Wunder, zumal ihm das rasende Tempo des Fortschritts ohnehin kaum Zeit zur Besinnung ließ.

Somit liefert die Überentwicklung der letzten zwei Jahrhunderte den Beweis für die Beschränktheit des menschlichen Denkens: Der Mensch weiß nie, was letzten Endes zu seinem wahren Nutzen ausschlägt.

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Alle bedeutenden Religionen sind von einer solchen Unzulänglichkeit des Menschen ausgegangen. Besonders die christliche Lehre ist voll von Aussagen, daß nur Gott weiß, was dem Menschen letztlich dient. Doch der »moderne« Mensch hat diese Religionen abgeschüttelt und geglaubt, daß er mittels wissenschaftlicher Erkenntnis sein eigenes Sein selbst begründen könne. Aber jede Fundierung, die er mit eigenen Mitteln versucht, ist relativ, also letzten Endes nicht tragfähig. »Alle Religionen der Vergangenheit waren göttlichen Ursprungs«, sagt Mishan, denn »die Ursprünge des Gesetzes müssen von einem göttlichen Gesetzgeber stammen.«463  

Nur eine »absolute Moral« bietet dem Menschen Sicherheit; darum sucht er die transzendente Wahrheit. Die gesamte Geschichte beweist, daß materieller Fortschritt und existentielle Erfüllung ganz verschiedene Dinge sind, die eher im Widerspruch zueinander stehen.

»Daß sittliche Größe, erfüllte menschliche Existenz ohne Einüben von Verzicht nicht denkbar sei, galt der Menschheit über Jahrtausende als selbstverständlich.« So Franz Furger in einem Beitrag zum Thema <Überleben und Ethik>464  

Friedrich Gramer versteht unter <neuer Askese>, »daß wir freiwillig das wählen, was notwendig auf uns zukommt, nämlich Reduktion des Lebensstandards, mögliche Opfer«. Und er fragt: »Gibt es nicht auch einen Lustgewinn durch Verzicht? Sind nicht vielleicht frühere asketische Vorschriften, wie etwa das wöchentliche Fasten und die Fastenzeit im Christentum oder die Einhaltung des Ramadan im Islam, besonders raffinierte Formen des Genusses?«465

Doch sollten wir uns fragen, ob es zutreffend ist, sogleich von Askese zu reden. Derartige Übertreibungen kennzeichnen unsere Zeit; sie dienen der Werbung, der Gegen-Propaganda und sogar zur Diffamierung in den Auseinandersetzungen. Askese im Mittelalter war etwas viel weitgehenderes; sie erforderte Ehelosigkeit, bestand aus Fasten und wenig Schlaf, dazu Bußübungen bis zur Selbstkasteiung. Die christliche Askese war weitgehend naturfeindlich, antiökologisch. Sie bekämpfte die Natur des eigenen Leibes oft in jeder Beziehung zugunsten einer abstrakten geistigen Vervollkommnung, die nichts Irdisches mehr an sich haben sollte. Diese Art von Askese oder Kasteiung meinen wir hier nicht; wir reden von keinerlei gesundheits­schädigendem Hungern und Fasten, sondern im Gegenteil von einer gesunden Lebensweise, die nur erreicht wird, wenn Genuß und Verzicht in einem ausgewogenen Verhältnis stehen.

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Das bedeutet nicht einmal Verzicht auf technische Errungenschaften, soweit diese wirklich sinnvoll sind. Aber es heißt »Verzicht auf sinnlose Zivilisationsgüter, auf Chrom und Lack, auf Supersauberkeit, auf Modetorheit, auf Überfressen, auf Wohlstands­alkoholismus«.466 Wir sollten das aber nicht zur »neuen Askese« hochstilisieren wollen, weil daran überhaupt nichts Außer­gewöhnliches ist. Richtiger erscheint es, mit Erich Fromm dem herrschenden Habenmodus den Seinsmodus entgegen­zustellen. (Fromm, Haben oder Sein

Der Habenmodus beherrscht den Maschinenmenschen, von dem Ivan Illich sagt: »Der Maschinenmensch kennt nicht die leicht erreichbare Freude, die im gewollten Verzicht liegt; er kennt nicht die durchaus nüchterne Trunkenheit am Leben. Eine Gesellschaft, in der jeder wüßte, was genug ist, wäre vielleicht eine arme Gesellschaft, sie wäre ganz sicher eine an Überraschungen reiche und freie Gesellschaft.«467

 

Wir müssen uns aus der Narretei angeblicher Zwänge befreien. Der Mensch hat sich in eine Selbstgefälligkeit hineingesteigert, die inzwischen lächerlich geworden ist. Eine Schülerin erklärte mir in einer öffentlichen Versammlung, daß sie ihrerseits im Winter auffrische Erdbeeren nicht verzichten könne, diese also per Flugzeug importiert werden müßten! Heute übliche Redensarten besagen, daß dies und jenes »unzumutbar« sei, daß man es unter keinen Umständen »hinnehmen« werde. Wer so spricht, kommt mir vor wie einer, der auf den geborstenen Deich der Nordsee steigt, um der Sturmflut entgegenzurufen: »Weiche zurück Flut, wir dulden dich nicht in unserem Land!«

Das heutige Leben zeigt alle Anzeichen von Hysterie, besonders das politische Leben. Unter diesem Gesichtspunkt ist.es ein Segen, daß sich gar nicht so viele um Politik scheren. Die ökonomische Realität stellt sich in der Bundesrepublik Deutschland heute — 37 Jahre nach dem Ende des II. Weltkrieges — so dar, daß die meisten Familien mit ihrer Kleidung, ihrem Hausrat und sogar mit ihren Verkehrsmitteln etwa zehn Jahre ohne Zufuhr auskommen könnten. Erst in zehn Jahren wären wir etwa auf dem dürftigen Stand der Ausstattung angelangt, mit der wir in den II. Weltkrieg hineingingen. Entscheidend in jeder Krise ist und bleibt, ob die Versorgung mit Nahrung aufrechterhalten werden kann.

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Diese Aufgabe muß daher zum zentralen Punkt aller Politik erhoben werden. Zweitens muß die Energie­zufuhr soweit ausreichen, um die Land­wirtschaft und den Verkehr, soweit er lebensnotwendig ist, sowie die Beheizung sicherzustellen.*

Anmerkung für Böswillige: 

Ich wünsche einen solchen Zustand nicht; aber es ist besser, wenn wir uns darauf vorbereiten. Die sich nicht darauf vorbereiten wollen, tragen die Hauptschuld, wenn daraufhin die fatale Krise schlimmer wird, als sie zu werden brauchte, und früher hereinbricht, als das zwangsläufig nötig wäre.

 

Das Notwendige, das heißt, was die Not wendet, wird von den Menschen hingenommen werden müssen und auch hinge­nommen werden, so wie das früher in der Geschichte der Fall gewesen ist. Der britische Unternehmer und Sozialreformer Robert Owen (1771-1858) hat uns vorausgesagt:

»Sollte es sich erweisen, daß manche Ursachen des Übels durch die neuen Kräfte, die der Mensch zu erwerben im Begriff ist, nicht zu beseitigen sind, dann wird er erkennen, daß es sich um zwangsläufige und unvermeidbare Übelstände handelt, und dann werden kindische und nutzlose Klagen eingestellt werden.«468

Dafür liefert die Geschichte Beweise in Fülle. Der Mensch wehrt sich zwar zunächst, den Ernst einer Lage einzusehen, er tut es dann aber doch. Allerdings hat es ein solches Ausmaß der Umwälzungen wie die bevorstehenden noch nicht gegeben. Auch Lewis Mumford zweifelt, ob die Erkenntnis ausreicht:

»Damit es zu einem dynamischen Reagieren auf diese Situation kommt, bedarf es einer Art allgemeinen Erwachens, weitgehend genug, um eine innere Bereitschaft zu einer tieferen Umwandlung zu bewirken. Gewiß, eine solche Reaktion bloß als Folge rationalen Denkens und erzieherischen Einflusses ist in der Geschichte noch nicht dagewesen; es ist auch nicht wahrscheinlich, daß sie diesmal auf solche Weise erfolgen wird — zumindest nicht so kurzfristig, wie es notwendig wäre, wenn größere Zusammenbrüche und schlimmere Demoralisierung vermieden werden sollen.«469

Das erste Problem, die Arbeitslosigkeit, ist da. Hier wird die Solidarität in den nächsten Jahren nötig sein, zumal die Arbeits­losigkeit auch infolge der Rationalisierung weiter zunehmen wird. Bei der gerechten Verteilung der vorhandenen Arbeit handelt es sich in Wirklichkeit um eine gerechte Verteilung der Einkommen. Es kann nur dann genügend Geld für sinnvolle Arbeitseinsätze bereitgestellt werden, wenn die in Arbeit Stehenden einen Teil ihres Lohnes dafür abzweigen, aufweichen Umwegen auch immer. Das ist die grundsätzliche Art von Solidarität, die man von einem Volk erwarten muß.

*  (d-2005:)  Und eine ärztliche Grundversorgung: Chirurgie, Zahnarzt, Anästhesie, Optiker, Apotheke, und so was

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Das für eine Umstellung wohl notwendige schrille Alarmsignal ertönt noch nicht. Wenn die Krise eintritt, dann wird jedes Volk, das noch nicht ganz verkommen ist, die notwendige Gemeinschaftsleistung ohne weiteres vollbringen. Ob schon in Zeiten des allgemeinen Wohlergehens die ersten Warnzeichen beachtet werden, das wird sich sehr bald herausstellen. Wenn keine verheerenden politischen Ereignisse eintreten, dann könnte der jetzige materielle Besitzstand noch bis zur Jahrtausendwende zu halten sein; doch erhöhen wird er sich keinesfalls! Die Narren-Theorie vom »ständigen wirtschaftlichen Wachstum« ist widerlegt. Die Notzeit ist zwar noch nicht da, aber die Herausforderung zum Wandel während des Wohlstands ist bereits signalisiert.

Angesichts der drohenden Zusammenbrüche müssen wir uns fragen: Worüber verfügen wir noch?

  1. Wir haben noch den vitalen Willen zur Selbsterhaltung. Und dieser Wille wird noch alle Tage neu geboren. Die Kräfte des Lebens sind bisher noch nicht geschlagen, sie halten das Gleichgewicht zu Verfall und Tod.

  2. Wir haben noch die Hoffnung, die allem Leben innewohnt; wenngleich der derzeitige Hoffnungsschimmer so winzig ist wie noch nie in der Geschichte.

  3. Da sind noch viele, deren alter Glaube unerschütterlich ist. Vielleicht können diese die übrigen künftig stärker stützen, die nach einem Sinn suchen.

  4. Da gibt es auch noch wirksame Bestände althergebrachter moralischer Auffassungen. Daß ohne sie kein Zusammen­leben möglich ist, wird von keiner Wissenschaft bestritten.

  5. Viele Wissenschaften haben begonnen, neuerdings die Welt und den Menschen umfassender und tiefer zu erkennen. Wenn wir diese Erkenntnisse so erfolgreich anzuwenden vermöchten wie bisher die naturwissenschaftlichen, dann könnte eine schnellere Rückbesinnung um sich greifen.

Mit diesen Beständen ausgerüstet, könnte uns eine weitere Epoche der Geschichte beschieden sein. Dies würde kein »neues Zeitalter«, keines der »Vollendung« sein, aber die Verlängerung unseres Hierseins, die Verlängerung der Wiederkehr von Leben und Sterben. 
Das ist die Hoffnung, die uns bleibt.

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Herbert Gruhl   Das irdische Gleichgewicht  Ökologie unseres Daseins