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5.3   Die Reprivatisierung des Lebens

Betreibt mit Eifer eure
Rettung!  Buddha

   Die künftige Richtung der Wissenschaft und Technik, der Ökonomie und des Staates  

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Das Zeitalter der Gigantomanie, das Zeitalter der Megamaschine, wie es Mumford nennt, rast in schnellem Tempo seinem sicheren Ende entgegen. Seine Struktur beruht vor allem darauf, daß man mittels billiger Energie — außerordentlich billig war bis 1973 das Erdöl — die Rohstoffe, die Produkte und die Menschen unentwegt von Land zu Land transportiert. Damit wurde die Ausbeutung aller Winkel der Erde möglich, woraufhin schließlich alle Kontinente etwa gleichzeitig erschöpft sein werden. Martin Heidegger erkannte das 1935:

»Wenn die hinterste Ecke des Erdballs technisch erobert und wirtschaftlich ausbeutbar geworden ist... dann greift immer noch wie ein Gespenst über all diesen Spuk hinweg die Frage: Wozu? — Wohin? — Und was dann?«470

Als die »Grenzen des Wachstums« bekannt wurden, gab es zunächst eine Welle von Planentwürfen, die dem Verhängnis begegnen sollten. (Auch der Club of Rome verfertigte in der Folgezeit solche Entwürfe.) Diese waren beherrscht vom Glauben an die technische Machbarkeit aller Dinge. Der Ruf nach neuen Erfindungen wurde laut, nach Staatszuschüssen und neuen Gesetzen. Nicht wenige verlangten Pläne für die ganze Welt, womit die Probleme »gelöst« werden sollten. 

Nach und nach verbreitet sich nun die Erkenntnis, daß solche systemkonformen Vorschläge, die ganz dem Denken des mechanistischen Zeitalters entsprachen, keineswegs ökologisch waren, vielmehr die Probleme noch verschlimmern würden. Denn sie schlagen zur Heilung aller Übel eine größere Dosis der gleichen Medizin vor, welche die Krankheit verursacht hatte. Die letzten Jahre sind dadurch gekennzeichnet, daß diese Planungen steckenblieben oder gar nicht erst zur Anwendung kamen. Damit konnte, wenn schon die falsche Richtung beibehalten wurde, wenigstens Zeit gewonnen werden. Denn der Zug des »Fortschritts«, der bisher immer noch die Geschwindigkeit elegant steigern konnte, hat jetzt Mühe, Fahrt zu halten, und schlingert unruhig dahin.

Das Bremsen und Anrucken schlägt gelegentlich den Passagieren auf den Magen. Doch was geschieht nun in der unmittelbar vor uns liegenden Phase? Wie können wir die Atempause vernünftig nutzen?

Vor der Erschöpfung kommt zwar die Verteuerung. Aber die Verteuerung kommt nicht früh genug, um noch reichlich Vorräte für künftige Generationen zu retten; zumal geburtenreiche arme Völker oft vom Verkauf ihrer Vorräte leben und die Reichen weiterhin Verfechter des steigenden Verbrauchs sind. Dennoch werden sich die Völker bemühen, ihre Bodenschätze zurück­zuhalten, da ihr Wert unaufhörlich steigen wird. Der sich fortwährend erhöhende Preis für Energie und Rohstoffe wird zu gravierenderen Auswirkungen führen, als sie beim Erdöl bereits wirksam geworden sind. Auch die reichen Völker müssen von Jahr zu Jahr mit den Rohstoffen sparsamer umgehen und den Verbrauch drosseln.

Diese Entwicklung ändert die Grundlage der Volkswirtschaften. Die Voraussetzung für das technische Zeitalter war die billig verfügbare Energie und der billig verfügbare Rohstoff, der zu Maschinen und Verkehrsmitteln verarbeitet wurde. Folglich war es immer rationell, energiebetriebene Maschinen statt der teuer gewordenen Menschen einzusetzen. Die Arbeitskräfte in den Industrieländern werden nicht darum viel höher bezahlt, weil sie persönlich mehr leisten (im Gegenteil: ihre Arbeitszeit ist verkürzt und schwere Arbeit verrichtet die maschinelle Energie) als vor der Industrialisierung oder als in den Entwicklungs­ländern, sondern weil sie ausgiebig an den Produktionsleistungen partizipieren, die von den Maschinen und der Energie erbracht werden. 

Wenn aber in den nächsten Jahrzehnten energiebetriebene Maschinen immer teurer werden, da die Grundstoffe verknappen — wogegen die menschlichen Arbeitskräfte immer billiger werden, weil ihre Zahl exponentiell zunimmt — dann wandelt sich der Begriff »Rationalisierung« ins Gegenteil: Rationalisieren heißt dann, Energie und Rohstoffe sparen, hingegen mehr der billigen Menschen einsetzen.

Da die Grundstoffe in Zukunft der knappste Faktor auf dieser Welt sein werden, bei dem folglich die größte Sparsamkeit zu walten hat, sollte ihr Verbrauch heute schon versteuert werden. Wenn das die Staaten sofort täten, dann würden sie die künftige Verteuerung vorwegnehmen und somit einen heilsamen Zwang auf die Firmen und Verbraucher ausüben, damit sie sich auf die künftige Zwangslage der teuren Ressourcen allmählich umstellen.

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Gegenwärtig wird die Arbeit viel höher besteuert als die Ressourcen, also die Tendenz verstärkt, die teure menschliche Arbeitskraft hinweg­zurationalisieren. Damit wird die Arbeitslosigkeit erhöht und die Schwarzarbeit begünstigt, da der Schwarzarbeiter die immensen Steuern und Sozialabgaben umgeht.

Weil die Grundstoffe von den Industrienationen zum größten Teil importiert werden müssen, könnte argumentiert werden, daß dann die Ursprungsländer selbst ihre Lieferungen verteuern würden. Doch zum einen ist die Verteuerung durch die Steuer beim Erdöl (Benzin) schon seit jeher gang und gäbe. Zum anderen werden die Verkäufer immer so viel von ihren Bodenschätzen verkaufen, wie sie müssen, um gegenwärtig zu leben, nicht so wenig, wie langfristig richtig wäre. Die Dämpfung der Nachfrage in den Industrieländern hätte eine geringere Nachfrage auf dem Weltmarkt zufolge, was preisdämpfend wirken würde. Ein erwünschter Nebeneffekt in den Industrieländern wäre der, daß die Wiederverwendung der Abfallstoffe, weil diese unbesteuert blieben, viel schneller in die Zone der Rentabilität käme.

Wenn aber die Industrieländer, z.B. die der Europäischen Gemeinschaft, sich nicht zu einem solchen vorausschauenden Schritt entschließen können, dann wird die Verteuerung, die 1973 begann, auch so fortschreiten; sie wird nur eine weniger vorbereitete Wirtschaft treffen, unter Umständen so überraschend wie damals die Ölverteuerung.

Weitere Umwälzungen der industriellen Wirtschaftsstrukturen kommen unweigerlich: Die automatisierte Produktion war bisher wirtschaftlicher, weil sie in konzentrierter Form, in Riesenkombinaten erfolgte. Dagegen war die manuelle Arbeit in vielen kleinen, dezentralisierten Produktionsstätten teuer. Doch die zentralistischen Großbetriebe sind nur so lange ökonomisch, wie die Transporte billig sind. Verteuern sich jedoch die Treibstoffpreise, die Fahrzeuge und die Verkehrskosten auf das Vielfache, dann wird es nicht mehr lohnend sein, die Rohstoffe über Tausende von Kilometern hin zu transportieren — oder auch nur Hunderte von Kilometern. Ebenso werden lange Wege zu den Arbeitsplätzen künftig unrentabel sein. Die völlige Mobilität der Menschen durch das Automobil förderte in den letzten Jahrzehnten auch die Zentralisierung der öffentlichen Verwaltungen und der Schulen, deren sonstige Absurditäten schon beschrieben wurden.

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Zusammenfassend läßt sich sagen, daß schon rein ökonomische Entwicklungen in Zukunft eine dezentralisierte Wirtschaft und Verwaltung nicht nur fördern, sondern erzwingen werden. Würde man das bereits in den jetzigen Planungen berücksichtigen, dann könnten Fehlinvestitionen vermieden werden, deren Größenordnungen insgesamt Hunderte von Milliarden DM erreichen. Hinzu kommt ein politisches Argument. In den unvermeidlichen Turbulenzen der Welt wird der globale Austausch nicht mehr funktionieren. Wehe dem Land, das sich dann nicht schlecht und recht selbst versorgen kann.

Nach dem jetzigen Stand der Dinge ist allerdings zu vermuten, daß die Völker erst unter dem Zwang der Fakten den »Mythos der Maschine« abschütteln werden. Wenn Lewis Mumford recht behält, »daß eine Katastrophe zur Voraussetzung einer wirksamen Erziehung geworden ist«,471 dann wird der gefährliche Weg bis zum bitteren Ende fortgesetzt werden. Siegt jedoch auf Grund vorausschauender Erwägungen die Einsicht früher, dann bleibt uns nicht nur die Vergeudung von Milliarden, sondern vielleicht auch die schlimmste Katastrophe für Mensch und Umwelt erspart.

Dazu ist auch eine kulturelle Wende nötig, wie Mumford betont:

»Überwindet jedoch die Menschheit den Mythos der Maschine, dann kann eines mit Sicherheit vorausgesagt werden: Die unterdrückten Komponenten unserer alten Kultur werden die dominierenden in der neuen Kultur sein; und die gegenwärtigen megatechnischen Institutionen und Strukturen werden auf menschliche Maße zurückgeführt und unter direkte menschliche Kontrolle gebracht werden.«472

 

Der konservative Rückgriff auf alte bewährte Lebensweisen und Kulturformen wird oft mißverstanden oder absichtlich in Mißkredit gebracht. Er kann nicht bedeuten, daß der Mensch wieder in einer Naturidylle leben wird. Die ist unwiederbringlich verloren. Es geht nicht um das Abschaffen technischer Errungenschaften, soweit sie wirklich Errungenschaften sind. Es geht nach der kritiklosen Euphorie um eine nüchterne Bestandsaufnahme all dessen, was uns weiterhilft, und dessen, was uns tiefer ins Verhängnis treibt.  

Ich stimme mit dem Atomphysiker Werner Heisenberg überein. Er sagte 1975, kurz vor seinem Tode: 

»Man wird also einen Weg in der Mitte beschreiten müssen, auf dem man Technik und Wissenschaft nicht einfach ihrer Eigen­gesetz­lichkeit überläßt, sondern versucht, sie wieder ganz in die Hand zu bekommen, um sie in wohlüberlegter, vorsichtiger Weise in den Dienst des menschlichen Lebens auf der Erde zu stellen.«

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Somit unterstellt Heisenberg sehr deutlich, daß Technik und Wissenschaft sich jetzt nicht in der Hand des Menschen befinden und nicht im Dienste des Lebens auf dieser Erde stehen. Diese Bedingung muß erst hergestellt werden, um den wirklichen Bedürfnissen des Menschen gerecht werden zu können. 

»Dazu wird ein Umdenken an vielen Stellen notwendig sein. Man kann vermuten oder hoffen, daß gegenüber dem materiellen Wohlstand andere Werte wieder in den Vordergrund treten. Die Aufgabe, die hier gestellt ist, wird sich auch an vielen Stellen in unzählige kleine Teilprobleme auflösen, zu deren Bewältigung Jahrzehnte notwendig sind. Aber auch diese Teilprobleme können nur in rationaler Weise gelöst werden, d.h. die Wissenschaft wird bei ihrer Lösung wieder eine wichtige Rolle spielen. Dies wird auch dann richtig bleiben, wenn im Prozeß der Umwertung der Werte die irrationale Seite des Lebens an Bedeutung gewinnt. So kann man hoffen, daß sich in der Beziehung zwischen Gesellschaft und Wissenschaft schließlich ein neues Gleichgewicht einstellt, das den wirklichen Bedürfnissen der Menschen, den materiellen wie den geistigen, in angemessener Weise gerecht wird.«473

Geradezu sensationell ist die Aussage des Physikers, daß die irrationale Seite des Lebens an Bedeutung gewinnen wird.

Doch bleiben wir zunächst bei den Aufgaben der Wissenschaft und der Technik. Sie werden nicht leichter, sondern komplizierter. Es genügt hinfort nicht mehr, daß eine Sache »funktioniert« — sie muß zusätzlich so funktionieren, daß die Umwelt nicht weiter zerstört wird, daß möglichst wenig Ressourcen verbraucht werden beziehungsweise später wieder verwendbar sind — und daß die menschliche Lebensweise auf Dauer qualitativ verbessert statt ständig weiter beeinträchtigt wird. Hier liegt die Befürchtung nahe, daß Wissenschaft und Technik so viele zusätzliche Forderungen gar nicht erfüllen können. Auf jeden Fall werden Wissenschaftler und Techniker eher zuviel als zuwenig Nüsse zu knacken haben, so daß die Beschäftigung vieler in Aussicht steht. Um überhaupt an die Aufgaben herangehen zu können, werden künftige Techniker ökologisches Wissen nötig haben.

Die weitere Notwendigkeit von Wissenschaft und Technik darf uns aber keineswegs zu der Annahme verleiten, daß sie schon alles schaffen würden und uns radikale Umstellungen ersparen könnten, damit ein jeder fröhlich so weiter lebe wie zur Zeit.

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»Nur eine grundlegende Umorientierung unserer vielgerühmten technologischen Lebensweise wird diesen Planeten davor retten, zu einer toten Wüste zu werden. Und ohne eine solche weitreichende Veränderung der menschlichen Wünsche, Gewohnheiten und Ideale werden die notwendigen materiellen Maßnahmen zum Schutz der Menschheit — von deren weiterer Entwicklung ganz zu schweigen — nicht angewendet werden können.«474

Mit diesen Worten betont Mumford wie Heisenberg, daß wir nicht nur einen Weg gehen dürfen, den technischen, wenn er auch steigende Bedeutung gewinnt. Denn entscheidend ist der ökologische, der die Grundlagen alles Lebens aufrechterhält, der jetzt noch sträflich vernachlässigt wird. Der Mensch kann nicht ohne Technik leben, aber erst recht nicht in einer Umwelt, die den Gesetzen der Technik statt denen des Lebens gehorcht.

 

   Anpassung heißt das Gebot   

 

Alle Erwägungen, die ökonomischen, die biologischen und die psychischen, laufen kategorisch auf die materielle Sparsamkeit hinaus. Sinnlose Verbrauchs­gewohnheiten müssen aufgegeben, die Tänze um das goldene Kalb abgebrochen und überflüssiger Konsum eingestellt werden. Wenn das geschieht, dann wird der Markt wieder seine echte Funktion erfüllen — allerdings in der Richtung, die seine eifrigsten Propagandisten in den letzten Jahrzehnten völlig ausgeklammert haben: in die verminderte Nachfrage.

»Nichts Menschlicheres könnte es geben, nichts Erfreulicheres, nichts Ehrenvolleres für die Sache, der zu dienen das Wirtschaftssystem organisiert wurde«, schrieb Eduard Heimann bereits 1963. Aber gerade das wollen die Politiker unter allen Umständen verhindern, weil sonst nach ihrer Meinung die Wirtschaft zusammenbrechen werde.475

Die Verfechter der geheiligten Selbstregulierungskräfte des Marktes gingen offensichtlich davon aus, daß diese Kräfte immer nur in Richtung der Nachfragesteigerung wirken würden. Nachdem jetzt das Gegenteil eintritt, plädieren nicht wenige von ihnen für Eingriffe des Staates, um die Nachfrage anzuheizen. Das beweist, daß sie gar keine Marktwirtschaft wollen, sondern »Wachs­tums­wirtschaft« um jeden Preis — auch um den der Umweltvernichtung und der Selbstvernichtung.

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In den letzten Jahrzehnten haben die Staaten und die Großunternehmen die Kräfte des Marktes immerzu reduziert. Das hat im einzelnen Galbraith nachgewiesen. Das langfristig planende Großunternehmen kann auch gar nicht anders als die Produkte, für die es gebaut war, schließlich an den Mann zu bringen, koste es (an Werbung) was es wolle. Auch in Deutschland bezeichnet es der Ökonom Edzard Reuter als »Heuchelei, wenn behauptet wird, daß der Preis unserer in großem industriellen Maßstab hergestellten Produkte ausschließlich oder überwiegend durch Angebote und Nachfrage bestimmt werde. In Wirklichkeit sind es nämlich in weiten Bereichen längst die Herstellkosten, die den Preis bestimmen und — da sie Ausdruck des sozialen Wohlstandes und damit auch der politischen Stabilität sind — unsere Staaten offensichtlich zur Hilfe zwingen, sollte der Wettbewerb ihre Weitergabe am Markt gefährden.«476

Daß es noch einen Markt gibt, der wirklich auf Angebot und Nachfrage kurzfristig reagieren kann, ist das Verdienst der Handwerks- und Kleinbetriebe, die noch flexibel in ihren Entscheidungen geblieben sind. Ihren Anteil im Zuge der Dezentralisierung wieder zu vergrößern ist Aufgabe der Politik und automatische Folge der oben geschilderten Dezentralisierungs­zwänge.

Die nötige Verzichtbewegung brächte die derzeitige Verschwendungs­ökonomie frühzeitiger an ihr Ende, als dies der Mangel an Ressourcen ohnehin besorgen wird. Es kommt jetzt, wie Mumford es formuliert, darauf an, »äußerliche Zwangsrituale durch innerliche Selbstdisziplin, Entpersönlichung durch Persönlichkeitsbildung, Automation durch Autonomie zu ersetzen«.477 Das heißt ins Praktische gewendet: »Gäbe es geistig-seelisch reifere Konsumenten, so müßten sich auch die Produzenten umstellen. Gegen die Macht der starken Charaktere wären auch die stärksten Konzerne machtlos.«478

Wenn jedoch die betroffenen Bürger nicht die Vernunft und die Kraft aufbringen, sich aus freien Stücken aus den Fesseln der »Konsumzwänge« zu lösen, dann hätten sie bewiesen, daß sie zur Freiheit nicht fähig sind, und sollten besser aufhören, die Phrase von der »Emanzipation des Menschen« im Munde zu führen. Die richtig verstandene Freiheit jedes Einzelnen kann künftig nur darin bestehen, das ihm Gemäße zu erstreben; die Zumutungen eines Roboterdaseins dagegen abzulehnen.

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Jedes Lebewesen paßt sich seiner natürlichen Umwelt an, teils unter Zwang, teils freiwillig. Und der Mensch hat eine besonders herausragende Anpassungs­fähigkeit bewiesen. Er kann in der kalten Eiswüste leben wie die Eskimos oder in der heißen Wüste wie die Beduinen. Er kann im feuchten Urwald wohnen oder seine Herden in der trockenen Steppe weiden. In allen Regionen hat er entsprechende Fähigkeiten entwickelt und sich kulturelle Errungenschaften erworben. Unter den jeweiligen Umständen hat er sich eingerichtet und glücklich gelebt. Und das war gut so; nur auf diese Weise konnten alle gerade noch erträglichen Landstriche unseres Planeten besiedelt werden. Jeder Stamm, jede Gesellschaft hat sich im Laufe der Geschichte auf seine Daseins-Frequenz eingependelt. Erst die abendländische Technokratie hat mit ihrer übernatürlichen Übermacht allen Völkern ihre Maßstäbe aufgezwungen. Aber ihre Macht hat sie eben nur infolge des bedenkenlosen Umgangs mit der Natur und den Bodenschätzen dieser Erde gewonnen.

Das ist die Hauptschuld der Abendländer, daß sie in aller Welt Unzufriedenheit verbreitet und stabile Kulturen ihrer Fundamente beraubt haben. Mit ihrer technischen und ökonomischen Macht und mit dem Ziel, sich Rohstoff­vorkommen und Märkte zu verschaffen, haben sie alle Völker in die Knie und zur ideologischen Anpassung gezwungen. Nun herrscht dort oft ein größeres Chaos der Anschauungen, Verhaltensweisen und des ökonomischen Freibeutertums als hier. Die Völker verloren ihre kulturelle Identität genauso wie die europäischen. Denn auch den überentwickelten westlichen Völkern ist es nicht gelungen, eine neue Identität zu finden, auf die sich jeweils die Bürger eines Staates noch verständigen könnten. Dafür war das Tempo der Veränd­erungen allzu rasant, das die Geister in alle Himmelsrichtungen auseinander trieb.479

In den überentwickelten Völkern dämmert jetzt die Erkenntnis, daß man in den Dienst falscher Götter geraten ist. Das goldene Kalb der Bibel war durch den Öltank ersetzt worden und das gute Leben mit Arbeit durch den Traum vom besseren Leben mit der Maschine, ohne Arbeit.

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   Gelassenheit statt Aggressivität   

 

Viele positive Eigenschaften hat der Mensch im Industriezeitalter verloren. Eine davon läßt sich vielleicht mit einem Wort ausdrücken: Gelassenheit. Dazu gehört die klaglose Hinnahme von Widerwärtigkeiten, ja auch hier und da einer Ungerecht­igkeit. Aber nachdem sie rechnen gelernt haben, rechnen die Menschen auf. Und wehe, wenn sich da ein kleiner Rest zu ihren Ungunsten ergibt; dann kann dessen Einklagen zum Daseinsinhalt werden, der sie bis ans Lebensende beschäftigt und verbittert. Nachgeben gilt als verpönt und wird als Schwäche ausgelegt, man hat ja schließlich überall »Rechte«.

Vielleicht war man früher gelassener, weil man sich in der Hand Gottes wußte, an dessen Ratschluß ohnehin nichts zu ändern war. Ihm gegenüber hatte man keine »Rechte«, man hoffte vielmehr auf seine Gnade. Die Nachsicht und die Großmut, die man für sich erflehte, übertrug sich dann auch auf die Mitlebenden; man war eher zur Güte geneigt. Früher lehrte wohl auch die Natur Geduld. Man mußte auf die nächste Ernte warten, daran war ebensowenig zu ändern oder zu »machen« wie am Wetter.

Eine solche sich in organischen Kategorien bewegende Gelassenheit ist unvereinbar mit der Haltung des Maschinenmenschen. So wie dieser selbst »funktioniert«, so fehlerlos hat auch alles andere zu laufen, ob das nun Menschen oder Institutionen sind. Es ist kein Wunder, daß der Chauffeur, der selbst ein Automat werden mußte, die gleiche Präzision von allen anderen Verkehrs­teilnehmern verlangt. Darum offenbart sich auch die Unduldsamkeit am krassesten im Verkehr; hier wird auf kein Recht verzichtet und schon gar nicht auf die Vorfahrt.

Heute sehen viele ihre Aufgabe darin, die Mitmenschen aufzuputschen, woraus sie dann Vorteile zu ziehen hoffen. So besteht die Politik in der Demokratie zum großen Teil im Aufputschen der Massen. Die Opposition muß die Unzufriedenheit im Lande mit allen Mitteln schüren, um mit ihrer Hilfe an die Regierung zu kommen. Makaber ist es, wenn Politiker, die selbst täglich die Unzufriedenheit anheizen, zugleich behaupten, daß die Demokratie in einer Woge der Unzufriedenheit untergehen werde. Alle Demagogen benötigen aufgeputschte Massen. Darum war die »verdammte Anspruchslosigkeit der Proletarier« schon Karl Marx' Kummer.

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Auch die Verbände können das Interesse ihrer Beitragszahler nur wachhalten, wenn sie immer neue »Benachteiligungen« entdecken, die zu beseitigen sind. Die bittere Wahrheit ist, »der Anspruchsbürger, den die sozialen Wohlstandsstaaten erzogen haben, vernichtet nicht nur den Wohlstand durch seine Anspruchs­haltungen; er vernichtet auch sein eigenes Glück.«480

Ebenso müssen die Personen innerhalb jeder Partei oder Vereinigung, die andere verdrängen wollen, die Mitglieder aufwiegeln. Im Namen des Rechts oder der geforderten Effektivität gelingt das fast immer, wobei dann die »Neuen« sich sehr bald den gleichen Angriffen ausgesetzt sehen. Die ganze Gesellschaft ist »dynamisch« geworden, und damit sind alle in ihren Positionen permanent verunsichert; denn im Kampf um Positionen gibt es kein Pardon. Das ist der Preis der Demokratie und der Chancen­gleichheit für alle. Wir müssen heute nüchtern registrieren, daß in ständischen Gesellschaften eine viel größere existentielle Ruhe herrschte, weil jeder sich mit seinem Geschick von Geburt her abzufinden hatte. Dabei haben Begabte in allen Gesellschaften ihren Weg nach oben gefunden. Hier bestätigt sich wieder das Gesetz, daß alle Vorteile einer Gesellschaft mit Nachteilen aufzuwiegen sind und daß jede Übertreibung ins Gegenteil umschlägt.

Im alltäglichen Leben herrscht heute nicht die defensive, sondern die aggressive Haltung. Im historischen Sinne ist das die westlich-europäische, nicht die östlich-asiatische. Die Folge ist, daß heute selbst die »Friedenskämpfer« ebenso aggressiv auftreten wie die Militaristen, was nichts Gutes verheißt. Das Aufputschen ist heute eine internationale Angelegenheit geworden. Bei den globalen Informations- und Verkehrsmitteln bereitet das keine Probleme. So schaffen sich große und kleine Mächte ihre Guerillatrupps in fernsten Ländern und im tiefsten Frieden. Irgendein verletztes Recht, eine mißachtete Freiheit läßt sich immer finden. Und erst recht die geforderte Gleichheit! Die ist natürlich nirgendwo verwirklicht und liefert demnach immer Stoff zur Unzufriedenheit.

Die Anpassung ist weltweit in Verruf geraten, und damit wurde ein gutes ökologisches Prinzip seiner wohltuenden Wirkung beraubt. Die fanatisierte Menge gewinnt außer einigen Blutbädern in der Regel nichts, am Ende findet sie sich oft rücksichtsloser beherrscht als je zuvor.

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Der französische Dichter Eugène Ionesco sagt es deutlich: »Eine gerechte Ordnung ist ohne Barmherzigkeit und ohne Liebe nicht möglich.«481) Doch diese Liebe kann nicht eine der üblichen Sprechblasen sein, die einer anonymen weltweiten Humanität gilt; es kann nur die konkrete Liebe zu dem Mitmenschen sein, der mir begegnet, einem und auch mehreren. Die Liebe schließt ein, daß ich andere nicht liebe. Darum werde ich sie nicht hassen.

Vorsicht vor denen, die behaupten, alle zu lieben; entweder sie haben die Liebe nicht erfahren, oder sie heucheln. Liebe bedarf der privaten Sphäre, sie ist keine öffentliche Angelegenheit. Barmherzig dagegen kann ich auch zum Feind sein; ich kann ihm verzeihen. Ohne Barmherzigkeit ist kein friedliches Zusammenleben möglich. Aber gerade die Barmherzigkeit ist aus dem Leben der Gegenwart verschwunden. 

Es ist bezeichnend, daß Ionesco sich in der obigen Rede sofort entschuldigte: »Ich weiß, diese beiden Worte sind verfemt, und ich bitte Sie, nicht darüber zu lächeln, daß ich sie ausgesprochen habe.« Rührend von ihm? Nein, beschämend für die Menschen dieser Zeit, daß man sich bei Gebrauch dieser Worte der Lächerlichkeit aussetzt!

Wir gedenken, uns nicht zu entschuldigen! Wir sagen offen, daß der Mensch — von seiner Kultur gar nicht zu reden — nur gerettet werden kann, wenn er dem Götzen abschwört, den die 700 Intellektuellen in Bert Brechts Jugendgedicht anbeten, dem Öltank, vor dem ein Gefühl nichts ist.

 

   Die Wiederentdeckung der Privatsphäre   

 

Wir entdecken wieder, daß es in diesem Dasein gar nichts Besseres geben kann als die Dauer und den Wechsel im Leben des Einzelnen innerhalb seiner belebten Umwelt. Es bleibt vergeblich, auf die »endgültige Einrichtung« der Welt zu warten oder das persönliche Glück über öffentliche Einrichtungen frei Haus beziehen zu wollen. Der Einzelne wird eine glückliche Liebe haben oder eine unglückliche oder keine. Er wird eine Familie zu gründen versuchen oder auch lieber allein bleiben. Er wird einen Beruf ausüben, der ihm Freude macht, oder einen, der ihm widerwärtig ist. Er wird sich dabei unter Kollegen befinden, die er gern sieht, oder solchen, die ihm ein Ärgernis sind. Hat er einmal keine Arbeit, wird er sich bemühen, eine zu finden, und solange die Hoffnung hegen, bis ihm das glückt.

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Er kann sich in seiner Wohnung wohl fühlen oder sie abscheulich finden. Er mag freundliche Nachbarn um sich haben, oder wird ihnen lieber aus dem Wege gehen. Entweder liebt er seinen Wohnort und die Umgebung, oder findet sie öde und eintönig. Die Umwelt ist vielleicht sauber und heil, das Klima zusagend oder alles belastend. Er wird seine Clubs oder Lokale haben, die er gern besucht, oder er hält sich von diesem Treiben fern. Ist er einem Hobby oder einem Sport verfallen, so wird er damit viele Stunden seines Lebens sinnvoll verbringen. — Nichts davon wird jemals irgendwo bestellt und darauf geliefert werden können.

Es ist vorauszusehen, daß künftig viele ihr Dasein wieder mit der Pflege eines Gartens ausfüllen werden; denn ein solcher bietet ökonomische, psychische und gesundheitliche Bereicherung zugleich. Überhaupt wird die Eigenarbeit einen großen Teil der Freizeit ausfüllen, da die Selbstherstellung verteuernde Umwege vermeidet und die einzelne Familie allezeit unabhängiger macht. In negativen Situationen sollte ein jeder versuchen, seinen Zustand durch eigene Initiativen zu verbessern, statt auf den Staat oder eine Institution zu warten. Aktivität und Selbstbestätigung sind wertvoller als Zuteilungen von selten unsichtbarer Hände.

Die Bindung an die erlebte Umwelt und an die vertraute Gewohnheit kann so stark sein, daß der Betroffene alle übrigen Widrigkeiten in Kauf nimmt. So harrt mancher an einem Ort allein darum aus, weil der dortige Friedhof das Grab des geliebtesten Menschen birgt; oder er bleibt in der Wohnung, worin sie gemeinsam lebten. Immer deutlicher stellt sich in jüngster Zeit heraus, daß die Tradition einen starken Halt geben kann, so daß sie wieder gesucht wird. Die Tradition der Familie, der Stadt, des Landes. Das darf ruhig auch Nostalgie sein, wenn ein echter Kern vorhanden ist. Die noch mit Vergangenheit beladen sind, lassen sich nicht mit kurzfristigen Wegwerf-Werten belasten. Held der Zukunft wird ein jeder sein, der sich mit seinem Schicksal abzufinden vermag. Gerade er wird erfahren, was Edmund Burke die »unbought graces of life«, die unkäuflichen Freund­lichkeiten des Lebens genannt hat.

Ein wirklich menschliches Leben führen kann nur heißen, organisch und in Übereinstimmung mit der Natur zu leben. Das Zusammen­leben kann nur ein ständiges Geben und Nehmen sein, was sich letzten Endes immer irgendwie ausgleicht — ohne gegenseitige »Aufrechnung«. Nur wenn auch im persönlichen Bereich Geben seliger ist als Nehmen, entsteht eine gelöste Atmosphäre der vertraulichen Geborgenheit.

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Auch in unserer Zeit finden noch viele Menschen ihre Erfüllung darin, »daß sie für ihren Mann, ihre Frau, ihre Kinder, ihre Eltern oder andere Menschen etwas bedeuten und daß sie deshalb ihr Leben als lebenswert und sinnvoll betrachten.«482 Viele sind bestrebt, abseits vom Markt füreinander zu sorgen, ohne Bezahlung zu dienen. Doch das Dienen ist in diesem Jahrhundert in Verruf gekommen. Jemandem »dienen« zu sollen, das ist so ziemlich die ungehörigste Zumutung an einen Zeitgenossen. Dagegen spricht man ständig vom »Dienst an der Sache«; wenn man der Sache dient, dann unterwirft man sich einem Mechanismus, der keine Gefühle hat, dann tut »man« das, was eine mechanistische Welt benötigt und fordert. Das ist es, was heute unter »Dienstleistungsgesellschaft« verstanden wird: Nicht etwa unmittelbare Dienste von Mensch zu Mensch, sondern die Einrichtung von Service-Stationen, die dem Menschen ihre unpersönlichen Dienste »gegen Berechnung« anbieten. Die präsentierte Rechnung ist allerdings teuer, denn darin ist der Preis des ganzen Apparats und der staatliche Anteil (wie oben geschildert) enthalten.

»Die Technik erlaubt eine logische, aber keine biologische Gliederung der Gesellschaft.«483 Die logische Organisation der Bevölkerung ist auch im Westen weit vorangeschritten. Die Kinder werden in Kinderkrippen und -gärten »untergebracht«; die Jugendlichen in Schulen und Fächer aufgeteilt; die Generation der Berufstätigen nach Berufen und Betrieben sortiert und die Rentner in Altenheime überführt. Im Ostblock wurde die fabrikationsgemäße Organisation der Gesellschaft noch konsequenter durchgezogen, dort gibt es denn auch Betriebssportvereine, kulturelle Betriebsgruppen und natürlich Betriebskampfgruppen.

Das Gesellschaftsspiel in der mechanisierten Welt ist nicht mehr ein Spiel zwischen Personen, sondern das teure Spiel der Institutionen und Organisationen. Es läuft mit der rationellen Kälte ab, die der Maschinen­welt eigen ist. Ein von Seele, Geist und Gefühl erfülltes Zusammenleben ist nur in der biologisch gegliederten Gesellschaft möglich. Nur im privaten Bezirk gedeihen psychische Befriedigungen, nach denen die Menschen dürsten. Seit uralten Zeiten fühlt sich der Mensch nur in seiner Gruppe wohl; darin zu leben ist sein »biologisches Bedürfnis«, wie Scitovsky beschreibt. Denn der Mensch kann als isoliertes Individuum nicht überleben, sondern nur in einer zusammengewachsenen Gruppe.

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Deshalb muß er sich so verhalten, daß er aufgenommen und als deren Mitglied akzeptiert wird; das ist genauso wichtig wie die Nahrung, denn er fürchtet nichts so sehr, als in eine Außenseiterposition zu geraten.484 Caspar Homans: »Wenn Freiheit nicht mehr als emotionale Isolation bedeutet, so wird sie sich nicht am Leben erhalten können. Die Menschen begehen jede Torheit, sie verschmelzen sogar unter dem Schwert eines Tyrannen zur gesichtslosen Masse, nur um der Freiheit dieser Art zu entgehen.«485 Das ist auch der Grund, warum Aussteiger in der Regel sofort neue Gruppen bilden, obwohl dort das Leben kaum »freier« als in der Familie abläuft.

In der Wohlstandsgesellschaft hat der Einzelne nicht nur Angst vor der Isolierung, er fühlt sich schon oft verlassen und überflüssig; unbeachtet und ungefragt bleibt er eine Null im Getriebe der Welt. Aber daran wird sich nichts ändern, wenn er zu Bindungen und Diensten für andere selbst nicht bereit ist; vor allem dann nicht, wenn ihm die biologische Herkunft nicht die selbst­verständliche Heimat bedeutet. Liebe und Barmherzigkeit, Freundschaft und Verständnis können nicht eingeklagt werden. Sie werden nur durch die eigene Hingabe zurückkehren — als gnädige Gaben des Lebens.

 

   Die Familie als Basis der Gesellschaft   

 

Auf welche bewährte Struktur kann die Privatisierung des Lebens zurückgreifen? Zuerst auf die Familie.

Im Stadium der geschlechtlichen Fortpflanzung mußte die Natur auch eine entsprechende gesellschaftliche Struktur entwickeln, und die begann mit der Familie. Nur bei einigen wenigen Tierarten ist die Familie ein vorübergehender Zustand. Wo die Hilflosigkeit der Jungen länger anhält und die Menge der Informationen, die von einer Generation zur nächsten weitergegeben werden müssen, zunimmt, wird die Familie zum Zentrum des Lebens. So können wir mit Edward Goldsmith feststellen, daß für den Menschen »die Familie zweifellos die Basiseinheit der gesellschaftlichen Organisation ist — und zwar so unbedingt, daß, wenn sie nicht vorhanden ist, sich wahrscheinlich keine anderen gesellschaftlichen Strukturen entwickeln können.«486 Daß die Familie in allen stabilen Gesellschaften vorhanden ist, hat der amerikanische Ethnologe Georg Peter Murdock am Beispiel von 250 Kulturen nachgewiesen.487

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Es überrascht nicht, daß im mechanistischen Zeitalter die Familie in Frage gestellt und ausgehöhlt wird. Wo alles »fortschreitet«, muß man sich auch von der Familie fortbewegen. Der englische Nationalökonom Mishan urteilt: »Ein erfülltes Leben ohne die Institution der Familie kann nicht von vornherein als unmöglich erklärt werden. Aber da sporadische Experimente im Gruppen­leben sowohl in der Vergangenheit wie der Gegenwart — einschließlich solch familien­zersetzender Neuerungen wie Partnertausch — keinen dauernden Einfluß auf die große Masse der Menschheit ausgeübt haben, gibt es kein Beweismaterial, auf das die Befürworter der Auflösung der Familie sich berufen könnten. Wir kennen keine Zivilisation, in der es die Familie nicht gegeben hätte. Das heißt, daß die Beweislast auf jene fällt, die uns davon überzeugen wollen, daß durch die Abschaffung der Familie der Menschheit gedient sei.«488

In den menschlichen Bindungen verwirklichen sich die Bedürfnisse der Seele, die dieses Jahrhundert mißachtet hat; denn in der volkswirtschaftlichen Rechnung haben sie keinen Stellenwert. Alle Dienste und Ereignisse, die sich im privaten Raum abspielen, werden nicht notiert; denn ihnen fehlt eine entsprechende Verrechnungseinheit. Die bezahlte Dienstleistung aber ist gerade dadurch gekennzeichnet, daß sie selten die erwünschte Befriedigung bringt. »Der Wert der familieninternen Aufgaben... ist mindestens genauso groß wie der Wert der ökonomischen Befriedigungen durch Güter und Dienstleistungen, die über den Markt gehen; daraus folgt, daß der Wert des Sozialprodukts verglichen mit den gesamten menschlichen nichtökonomischen Befriedigungen relativ unbedeutend sein muß.«489

Der englische Ökologe Edward Goldsmith hat ein Buch geschrieben, dessen Lehre ist, »daß wir nicht utopische sozio­ökonomische Einrichtungen ohne jeden Bezug zu denen aufstellen können, die der Mensch in der Vergangenheit zu entwickeln imstande war.«490 Es gibt eben Grundgesetze, die das Verhalten von stabilen und daher langfristig lebensfähigen Gesell­schaften beherrschen.

Es sind zwei Informationsstränge, die durch die Generationen laufen: die biologisch-genetische Information, welche die Stabilität des Menschen als Naturwesen aufrechterhält, und die kulturelle, welche die tradierten Weisheiten, die sich in vielen Generationen angesammelt haben, weitergibt.

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Das sind die Weltanschauungen und die Verhaltensweisen, welche sich in den Umweltbedingungen, der die jeweilige Gesellschaft unterworfen war, in Jahrtausenden als die geeignetsten erwiesen haben. Die Familie war von jeher ein Hort der Tradition und der Ort ihrer Weitergabe von Generation zu Generation.

Innerhalb jeder Familie bestehen höchst differenziert gestaltete Beziehungen zwischen jedem Elternteil zu jedem Kind und auch der einzelnen Kinder untereinander. Goldsmith nennt die Beziehungen asymmetrisch. Die Familie war zu allen Zeiten auch die kleinste menschliche Gemeinschaft, in der eine sinnvolle Arbeitsteilung herrschte. Die Großeltern und sogar die Urgroßeltern wurden einbezogen, sie behielten so den Kontakt mit der Familie und mit dem Leben. Sie nahmen sich besonders der Enkel an, womit die kulturelle Tradition bereits über zwei Generationen weitergereicht wurde.

Die nächstgrößere menschliche Gemeinschaft ist die Gemeinde. Sie umfaßt 50 bis etwa 1000 Personen; wenn es darüber hinausgeht, dann ist kein enger Kontakt zwischen ihnen mehr möglich. Nach der Darstellung von Goldsmith spiegelt jede größere Einheit von Menschen die Struktur der Familie wider; denn die Familie liefert das einzige Modell für den Zusammenhalt.491 Wo keine Zellen existieren, kann es auch keinen biologischen Organismus geben — wo es also keine Familie gibt, dort kann auch kein größeres organisches Gemeinwesen entstehen.

Die traditionelle Gesellschaft bildet ebenfalls ein höchst differenziertes System. Ihre Mitglieder stehen — wie in der Familie — in einem festen Netz von asymmetrischen Beziehungen, und sie haben klare gegenseitige Pflichten. Die Differenzierung schließt anerkannte gesellschaftliche Rollen und damit die Kooperation ein. »Beim Fehlen der Differenzierung wird eine Gesellschaft durch Wettbewerb und Aggression gekennzeichnet sein.«492 

Das ist genau der gegenwärtige Zustand in allen Industrieländern. Das Geflecht organischer Beziehungen wurde umgewandelt in mathematische Beziehungen von Individuen, die von der Gleichheitstheorie beherrscht werden. Da die ökonomischen Prinzipien die Leistung verlangen und ein jeder auf Grund der von ihm eingebrachten Quantitäten bewertet wird, kommt es — bereits in der Schule beginnend — zu einem gnadenlosen Wettbewerb. Unter anderem auch darum, weil keinem Menschen seine erreichte Position sicher ist; denn wie er selbst die Chance hatte, dorthin zu kommen, so hat nun jeder andere die Chance, ihn auch wieder aus dem Sattel zu heben. —

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Dabei bestreitet jetzt jedes Familienmitglied seinen Wettkampf einzeln. Vater und Mutter arbeiten getrennt irgendwo, unter Umständen, von denen die Kinder keine Vorstellung haben. Der Beruf der Hausfrau und Mutter ist bei konsequenter Anwendung der mechanistischen Fortschrittstheorie überholt. Wer die Maßstäbe heutiger Ökonomie und Technik anlegt, muß die Familie als biologisches Relikt betrachten.

Die Industriegesellschaft entwertet die biologischen Strukturen und ersetzt sie durch schematische. »Eine Massengesellschaft ist eine unstrukturierte, undifferenzierte Ansammlung von Leuten.«492  Dies entspricht ganz den Vorstellungen von der grund­sätzlichen Gleichheit aller Individuen; es gibt dann nur noch quantitativ wie qualitativ gleichwertige Ichs; ob dies Männer oder Frauen, Kinder oder Greise sind, bleibt gleichgültig. Wichtig ist ihre Arbeits- und Konsumleistung. Gleichgültig bleibt auch die Herkunft, der Stand, die Gemeinde­zugehörigkeit, die Landsmannschaft und auch das Volk. Diese Millionen von Ichs bilden keine organische Gesellschaft mehr; es ist eine undifferenzierte Ansammlung — infolge des Verkehrs ein weltweites Gewimmel.

Die Entwicklung führt zu einem Zustand humaner Entropie — biologisch, kulturell und ökonomisch. Wilhelm Röpke kam zu dem Ergebnis: »Die Massengesellschaft ist eben der Sandhaufen der Individuen, welche abhängiger als je, ungeprägter und unpersönlicher als je, zugleich isolierter, entwurzelter, verlassener, gemeinschaftsärmer, sozial desintegrierter sind als je. Das gilt es zu begreifen, wenn wir das Wesen der Massengesellschaft und ihre politischen, geistigen, sozialen und wirtschaftlichen Folgen klar erkennen wollen.«493

Das einzelne Ego kann nach wie vor nicht isoliert existieren, es bleibt abhängig. Doch die Existenz jedes einzelnen hängt jetzt nicht mehr von der Familie und der Gemeinde ab, sondern vom Gesamtstaat. Dessen Zusammenbruch würde jetzt auch die eigene Existenz mitreißen, was früher selten der Fall war. Darum wächst in jeder Industriegesellschaft der Totalitarismus des Staates, denn dieser ist zur einzigen Instanz geworden, die dem isolierten Individuum jetzt das Weiterleben sichert. Diejenigen, die heute gegen diesen Totalitarismus anrennen, gleichzeitig aber die familiären und andere organische Strukturen verachten, sind die gefährlichsten Narren, wenn sie nicht Betrüger sind, die dem totalen Staat die Bahn bereiten wollen.

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Die Verfechter des mechanistisch funktionierenden Totalstaates haben sehr wohl gewußt, daß sie zunächst die organischen Gesellschafts­strukturen zerstören mußten, mit welchen Mitteln auch immer. Die Durchsetzung der sozialistischen proletarischen Diktatur erfordert die Beseitigung der Bauern und des Mittelstandes, die Auflösung der Familie und Ausschaltung der Religion. Die fortschreitende Industrialisierung besorgte dieses Geschäft viel gründlicher als der Sozialismus, mit dem Ergebnis, daß die Gesellschaft ihrer Kontinuität, sowohl in Bezug auf ihre zurückliegenden Erfahrungen als auch in ihrer Beziehung zur Umwelt beraubt wurde. Sobald eine Gesellschaft kein organisches System mehr ist, muß etwas der Ordnung Ähnliches, wie künstlich auch immer, mit den Mitteln mächtiger und systemwidriger Kontrollen aufrechterhalten werden — mit Hilfe von Bürokratien und Diktaturen. Diese können aber die gesellschaftliche Stabilität auf die Dauer nicht aufrechterhalten. Gesellschaftliche und ökologische Instabilitäten nehmen in dem Maße zu, wie das industrielle System höhergetrieben wird — bis es schließlich zum gesellschaftlichen und ökonomischen Zusammenbruch kommt.

An der Entwicklung der Strukturen des Zusammenlebens wird die Ambivalenz genauso deutlich wie auf anderen Gebieten. Was zunächst als Befreiung aus den naturgemäßen und konventionellen Bindungen gefeiert wurde, entpuppt sich nun im 20. Jahr­hundert immer deutlicher als ein Umbruch in die unpersönlich mechanistischen Zwänge der technischen Arbeitswelt, der bürokratischen Verwaltung der Massen und der Machtkonzentration bei weitgehend anonymen Institutionen. Wer diese in der Tat lebensfremden Systeme zurückschrauben will — mehr als das kann gar nicht gelingen — der muß die erprobten organischen Formen menschlichen Zusammenlebens bejahen.

Wer dagegen die Vorteile aus beiden Systemen herausfiltern möchte, während er die Nachteile beider abzuschaffen verspricht, gehört zu jenen im Raum der reinen Theorie operierenden Scharlatanen, die sich in der gegenwärtigen Politik so zahlreich tummeln — in alten Parteien wie in neuen. Sie alle betreiben Anbiederung an den (inzwischen veralteten) »Zeitgeist«; sie versuchen, die angenehm erscheinenden Errungenschaften verschiedenster Lebensweisen in einer gefälligen Dekoration zu arrangieren. Sie gehen nicht fehl in der Hoffnung, immer noch naive Mitläufer anlocken zu können.

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   Der Machtkampf mit den Robotern  

 

Wenn auch die Elemente einer organischen Gesellschaft und eines erfüllten Privatlebens ziemlich klar vor Augen liegen, so wird ihre Realisierung doch auf einen gefährlichen Feind stoßen: die faktische Macht. Die Macht liegt bei denen, die über die technischen Apparate verfügen und die mit Hilfe straff organisierter Gruppen diese Machtmittel einsatzbereit halten. Gerade darum, weil die wirksamere Technik stets auch wirksamere Waffen hervorgebracht hat, wurde sie von Machthabern in aller Welt gefördert. Die Waffentechnik war oft der Vorläufer einer späteren wirtschaftlichen Anwendung. Der jüngste klassische Fall ist die Atombombe.

Nicht nur überdimensionale Waffen halten heute die Völker in Schach, es ist vielmehr ein ganzes Reservoir verschiedenster technischer Mittel, unter denen die technischen Nachrichtensysteme eine ganz wichtige Rolle spielen. Deren Anwendung erlaubt auch eine Kombination von Befehlsgewalt und propagandistischer Beeinflussung, somit die Lenkung ganzer Völker und Staaten­gruppen.

Die Machthaber werden sich im Guten wie im Bösen aller wirksamen Mittel bedienen, um von ihnen für richtig erachtete Ziele durchzusetzen. Dazu benötigen sie eine Menge Befehlsempfänger, die sich nur für ihren winzigen Bereich verantwortlich fühlen, im übrigen jede Verantwortung negieren, wie das im Kapitel III, 1 beschrieben wurde. Sie »arbeiten« nur — gegen Bezahlung und auch für Privilegien, die sie genießen. Die moderne Geschichte beweist, daß sich immer genügend Leute finden, die sich für einen solchen Roboter-Job einsetzen lassen, sogar im Dienst fremder Mächte.

Die Schicksalsfrage der Welt wird daher lauten: Haben die Kräfte des Lebens, so dezentralisiert und auf ihr privates Leben konzentriert, wie das ökologisch nötig ist, überhaupt eine Chance gegen die supertechnische Gewalt? Zumal dann, wenn diese Gewalt auch noch gewissenlos ist? 

Organisch Denkende drängen nicht oder selten in die Politik, dagegen gerade diejenigen, die an die technische Machbarkeit der Dinge glauben, Menschen mit der dargelegten organischen Weltauffassung lehnen den rück­sichtslosen Gebrauch der Technik ab und zeigen wenig Neigung, sich persönlich in die Infrastrukturen der Macht zu begeben.

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Dies ist das eklatante Dilemma der ökologischen Bewegung: Sie will die vorhandenen Macht­strukturen (zum Teil auch die demokratischen) abschaffen, selbst aber keine Macht und damit auch keine Verantwortung übernehmen. Und die Verantwortung kann nun einmal ohne die entsprechende Macht nicht delegiert werden. Die Folge ist, daß sich der Bürger unter einem Zustand der Verantwortungsfreiheit nichts Gutes vorstellen kann! Es kann also nur um eine bessere Aufteilung der Verantwortung und damit der Macht gehen. Eine totale Aufsplitterung der Verantwortung und der Macht kann niemand wünschen.

Nun sagt Lewis Mumford sehr richtig, nichts könnte dem jetzigen megatechnischen System »gefährlicher werden als ein stetiger Entzug des Interesses, eine stetige Verlangsamung des Tempos, eine Beendigung der sinnlosen Gewohnheiten und gedankenlosen Handlungen.«494

Das heißt, daß der »Mythos der Maschine« seines Zaubers beraubt werden muß, nicht nur bei einer Minderheit wie zur Zeit, sondern im Gesamt­bewußtsein der Epoche.

Wenn die Entzauberung Erfolg haben soll, dann muß sie bis in die Etagen der Macht vordringen. Sie kann dort eindringen, weil in ihnen trotz allem Menschen sitzen, die Gefühle und Gedanken haben wie andere auch. Ausgehend von der Privatsphäre greift jetzt eine andere Anschauung vom Leben um sich. Sie konnte nicht eher entstehen, und sie kann nicht erfolgreich sein, bevor der Irrweg des Menschen für alle deutlich an seinem bitteren Ende angelangt ist. Es läßt sich nicht sagen, wieviel handgreifliche und schmerzliche Beweise dafür noch nötig sind. Es läßt sich nicht voraussagen, ob es im Kampf des Lebens gegen die Herrschaft der Maschine auch noch zur Eskalation des atomaren Krieges kommen wird. Wobei auch wieder der Zeitpunkt offenbleibt. 

Karl Jaspers schrieb im 3. Band seiner <Philosophie> bereits vor dem Zweiten Weltkrieg: 

»Wäre die Möglichkeit, auf technischem Wege die Grundlagen allen Menschendaseins zu vernichten, so ist kaum zu zweifeln, daß sie auch eines Tages verwirklicht würde. Unsere Aktivität kann hemmen, verlängern, Aufschub für eine Spanne Zeit gewinnen; nach allen Erfahrungen von Menschen in der Geschichte wird auch das Furchtbarste, das möglich ist, irgendwann und irgendwo, von jemandem vollbracht.« (495)

Nach der Zündung der ersten Atombombe ist die Möglichkeit vorhanden, komplette Vernichtungssysteme stehen bereit, deren Automatik jederzeit ausgelöst werden kann. Sie bestehen aus unterirdischen Bunkern, Satelliten im Weltraum, Unterseebooten in allen Weltmeeren, Radaranlagen, kreisenden Flugzeugen in der Luft und startbereiten auf der Erde, sowie fahrbaren Abschußrampen. 

Ich bezeichne darum das Ganze als Todesmaschinerie. Mit ihr hat die menschliche Zukunftschance eine früher unbekannte Verengung erfahren, die uns auch der Fortschritt beschert hat. Zur verschärften Bedingung des Weiterlebens gehört neuerdings, daß diese Vernichtungs­mechanismen nicht ausgelöst werden.

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Dr. Herbert Gruhl   Das irdische Gleichgewicht 1982