5.4 - Die Todesmaschinerie
Das Atom kann immer nur der
Zerstörung dienen. Albert Einstein
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Langfristig gesehen besteht auf dieser Erde allezeit ein Gleichgewicht zwischen Leben und Tod. Die Natur hat es so eingerichtet, daß die Lebewesen selbst dafür sorgen, daß sich dieses Gleichgewicht immer wieder einpendelt. Bekannt ist der Todesmarsch der Lemminge, der etwas Faszinierendes an sich hat. Weniger erregt es den Menschen, wenn die explosive Vermehrung der Heuschrecken nach wenigen Tagen mit dem Absterben der Population endet.
Der Mensch hat sich in der Neuzeit gegen die unmittelbaren Naturgefahren weitgehend abgesichert, dafür hat er aber ein eigenes Tötungspotential entwickelt. Man kann sagen, daß auch hier zunächst ein Gleichgewicht zwischen den Zerstörungswaffen und der Vermehrungsrate der Menschen bestand. Genauer gesagt, in der bisherigen Geschichte waren die Kräfte der Zerstörung den vitalen Kräften immer ein wenig unterlegen. Noch während des II. Weltkrieges nahm die Bevölkerung der Erde trotz 55 Millionen Kriegstoter in fünf Jahren um 200 Millionen zu.
Seit 1945 die ersten Atombomben fielen und in drei Jahrzehnten eine Overkill-Kapazität von fast 20 Milliarden Tonnen TNT produziert wurde, hat nun die Vernichtungskapazität auf unseren Planeten dessen Lebenskapazität weit überholt. Und dies will etwas heißen, wo doch die Bevölkerungsexplosion in den letzten vierzig Jahren eine Verdoppelung von zwei auf über vier Milliarden Menschen brachte und weitere zwei Milliarden schon in zwanzig Jahren hinzukommen werden.
Mit dem Reichtum des Lebens wächst demnach auch die Ernte des Todes. Und wo der Tod zeitweilig zurückbleibt, dort wird er eines Tages den Rückstand aufholen. Jede Maschinerie, die sich der Mensch zur Erleichterung seines Lebens entwickelt, kann auch zu seiner Vernichtung dienen.
In diesen Zusammenhang gehört, daß in diesem Jahrhundert die Kriege immer rücksichtsloser, immer totaler geführt worden sind. Eine jede Partei glaubte für ihre »Endlösung« kämpfen zu müssen. »Je abstrakter das Ziel, um so unmenschlicher der Krieg«, notierte sich der Dichter Reinhold Schneider 1958 in Wien.496
»Ein Unbedingtheits- und Absolutheitsfanatismus, der schließlich philosophisch im <absoluten Idealismus> gipfelte, welcher sich zutraute, alle Differenzen auflösen zu können, sie in einer letzten totalen Synthesis zum Verschwinden zu bringen, braucht in seiner Dialektik als restloser Vermittlung und als endgültiger Lösung einen Kompromiß nicht mehr.«497
Gar vieles geschah in diesem Jahrhundert erstmalig auf diesem Planeten. Daß aber die Fähigkeit zur totalen Selbstvernichtung auftauchte, die nun in jedem Augenblick ausgelöst werden kann, ist ein noch nie dagewesenes Fatum. Es weist den Menschen als ein Wesen aus, welches sich selbst ein übernatürliches Schicksal bereitet. Er hat die Spaltung des Atomkerns im großtechnischen Stil entwickelt und damit Kräfte zur Verfügung, die das Leben »flächendeckend« vernichten können. Hier wurde ein entscheidendes Tabu gebrochen, dessen Existenz Bedingung alles Lebens auf Erden ist: Die Unantastbarkeit des Atoms. Seitdem leben wir alle buchstäblich auf dem Pulverfaß; ein unbedachter Funke genügt, um unsere Umwelt in Staub zu verwandeln.
Wer da noch behauptet, daß der Nutzen der gewonnenen Energie je diese permanente Drohung überwiegen könne, muß sich einer absurden Logik bedienen. Der Mensch, immer auf seinen Vorteil bedacht, muß nun auch bei diesem Schritt ins Unbetretene erfahren, daß jedem Zugewinn ein entsprechender Verlust gegenübersteht. Lebte er bisher alle Zeit mit der Möglichkeit des individuellen Todes, so lebt er nun mit der Zusätzlichen eines grauenvollen Kollektivtodes, wonach weit und breit niemand mehr dasein wird, um die Leichen zu begraben.
Wenn wir diese mit der anderen Erkenntnis konfrontieren, daß sich die persönliche und die ethische Reife des Menschen in den letzten Jahrtausenden nicht erhöht hat, dann können wir mit Arnold Toynbee nur feststellen, daß
»die Kluft zwischen der physischen Möglichkeit, Böses zu tun, und der geistig-sittlichen Fähigkeit, diese Kräfte zu meistern, so klaffend weit geworden ist wie die mythischen Schlünde der Hölle«.498
Was verlorenging, läßt sich immer nur nachträglich ermessen. Erst in den letzten vierhundert Jahren hat Adam vom Baum der Erkenntnis gegessen, und erst jetzt haben wir das Paradies verloren; besser: wir haben uns selbst herauskatapultiert. Standen bis 1945 noch alle entfesselten technischen Kräfte in der Nähe einer ökonomischen Kalkulierbarkeit, so entziehen sich die atomaren nicht nur der Berechnung, sondern auch der Vorstellungskraft.
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Die neue Vernichtungsmaschinerie beinhaltet potentiell eine multiplikative Erhöhung der Kräfte der Entropie auf dieser Erde. Ihre Wirkgeschwindigkeit übertrifft die moderne technische Aufbauleistung der Menschen etwa um das Zehntausendfache und die Aufbaugeschwindigkeit der biologischen Evolution um das Milliardenfache. Denn ein Tag kann jetzt genügen, die Schöpfung wieder zu vernichten. Damit wird die Gott in der Bibel zugeschriebene Schöpfertat vom Menschen im umgekehrten Sinne erreicht. Dasselbe, was Gott in »sechs Tagen« schuf, kann der Mensch tatsächlich in sechs Tagen auslöschen.
»Wenn die Evolution — und welchen andern Sinn könnte man ihr geben? — das Erscheinen eines freien Wesens, das in der Lage wäre, über sich selber zu verfügen, vorbereitete, so war es wohl unausweichlich, daß dieses eines Tages die Macht haben würde, sich selber zu zerstören.«499
Dieser Tag, von dem Maurice Blin spricht, ist da.
Nachdem es dem Menschen in 200 Jahren gelungen ist, die Naturgewalten teils zu besiegen, teils zu versklaven, wenden sich die technischen Zerstörungsmittel nun gegen seinen letzten übriggebliebenen Feind — und das ist der Mensch selbst. Jetzt wird Leonardo da Vincis Prophezeihung wahr:
»... wenn sie satt sein werden, dann werden sie zur Befriedigung ihrer Gelüste Tod und Leid, Drangsal, Angst und Schrecken unter allen lebendigen Wesen verbreiten.«500
Den gleichen Gedanken äußerte Erich Fromm:
»Der enthumanisierte Mensch wird so verrückt werden, daß er nicht imstande sein wird, eine lebensfähige Gesellschaft langfristig aufrechtzuerhalten und kurzfristig nicht, sich des selbstmörderischen Gebrauchs nuklearer oder biologischer Waffen zu enthalten.«501
Wenn wir die neueste Geschichte als eine Auseinandersetzung zwischen der mechanistischen und der organischen Auffassung geschildert haben, so kommen wir nun um die Feststellung nicht herum, daß die faktische Macht in der Hand derer liegt, die auf die Technik gesetzt haben. Wenngleich diesen die Fähigkeit zur Zukunft verloren gegangen ist, mit der Fähigkeit zur Vernichtung sind sie ausgestattet. Es gibt heute Herren des Todes, die über den Tod in einem Ausmaß verfügen, wie man sie früher nur den mächtigsten Göttern zuschrieb. Aber diese neuen Herren sind Götter mit ausschließlich negativer Macht; sie können nur den Tod befehlen, nicht das Leben.
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Und sie können sich letzten Endes selbst nicht vom Sterben, das sie auslösen, ausnehmen. Doch sie könnten immerhin denken, daß die Drohung genügt, um alle Lebenden ihrer Macht zu unterwerfen. Insofern ist die größere Brutalität im Vorteil, wie früher auch, nur daß ihre Mittel damals tröstlich gering und von kurzer Reichweite waren.
Heute sind sie überirdisch mächtig und erdumspannend. Ja, die Erde gibt nicht einmal mehr genügend strategischen Raum her. Kapazität und Reichweite der Waffen sind so groß, daß man den Weltraum einbeziehen muß. Der Weltraumkrieg wird vorbereitet, der Weltkrieg ist überholt.
Auf der Erde fehlt schlicht und einfach der Raum für solche Operationen, zumal dieses enge Feld auch noch von »friedlichen Atomkraftwerken« überzogen wird, die im Kriegsfall die Wirkung von atomaren Minen haben werden, die das eigene Territorium von rückwärts ausradieren. Im technischen Krieg wurden stets Minen auf der Erde ausgelegt — und nun sind das atomare Minen. Diese Atomminen bauen die Länder freiwillig in Form von Atomkraftwerken, über ihre Territorien verstreut.
Im November 1981 erklärte der Generaldirektor der »Internationalen Atomenergiebehörde«, Sigvard Eklund, vor der UNO New York, daß man »die schreckliche Möglichkeit« nicht ausschließen sollte, daß ein bewaffneter Konflikt zivile Nukleareinrichtungen erfassen könnte; er schaudere allein bei dem Gedanken an die Konsequenzen von Angriffen auf nur einen der gegenwärtig vorhandenen 260 Kernkraftreaktoren oder einen der 300 atomaren Forschungsreaktoren.502
Im Deutschen Bundestag sagte ich bereits am 22. Januar 1976:
»Ein potentieller Angreifer kann gegen die Bundesrepublik einen Atomkrieg mit konventionellen Waffen führen. Er braucht nur einige Kernkraftwerke durch großkalibrige Geschosse oder Bomben zu zerstören... Damit setzt er die Radioaktivität über ganze Landstriche frei. Man wird einem solchen Gegner gar nicht vorwerfen können, daß er einen Atomkrieg führe. Ja, er wird behaupten können, daß es sich um unbeabsichtigte Treffer handele. Infolgedessen helfen auch keine internationalen Verträge, wie sie die Bundesregierung in ihrer Antwort in Aussicht stellt... So dicht besiedelte Räume wie die der Bundesrepublik Deutschland mit einigen Dutzend Kernanlagen zu überziehen, heißt nach meiner Ansicht, unser Land verteidigungsunfähig zu machen.«503
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Meine Ausführungen fanden weder im Bundestag noch bei den Medien die geringste Beachtung. Meine damalige Fraktion, die CDU/CSU, überschlägt sich noch heute in ständigen Forderungen nach mehr Atomkraftwerken, ruft aber gleichzeitig nach größerer militärischer »Sicherheit«!
Der Mensch lebt nun wieder mit der Apokalypse, und sie hat diesmal die Dimension des Jüngsten Gerichts. Das Jüngste Gericht konnte nur von Gott allein befohlen werden, die neue Version kann vom Menschen selber, im Extremfall sogar von einem einzigen ausgelöst werden. Wem wird da nicht vor seiner Gottähnlichkeit bange? Der Mensch zittert nicht mehr vor den Göttern, muß aber nun vor sich selber zittern!
»In der Natur erleidet das Leben den Tod, triumphiert jedoch immer über ihn. Im Gegensatz dazu liegt über dem Leben der Menschheit heute die Drohung eines Todes, der, weil er von ihr selber bewirkt würde, auch unwiderruflich wäre.«504) Die drohende Vernichtung schließt die Selbstvernichtung ein.
Sicherlich könnte eine Gruppe von Menschen, in unterirdischen Bunkern sitzend, die Welt durch ihre Drohung auf Vernichtung beherrschen, aber sie könnte sie nicht konkret dirigieren. Sie wäre machtlos, wenn sich die Völker nichts aus ihrer Drohung machten. Würde sie dann ihre Drohung wahr machen, dann könnte sie zwar darauf die Welt beherrschen, aber die Welt als Wüste.
Somit haben die Mächtigen soviel Macht erreicht, daß diese sich schon wieder total aufhebt; aber sie könnten diese dennoch anwenden, ohne daß sie jemand daran zu hindern vermöchte.
Sollte sich in irgendeinem Winkel der Erde ein Rest von Pflanzen und Tieren erhalten können — und gar einige Menschen dazu — dann werden diese ein neues absolutes Tabu einführen! Jeden, der auch nur Anstalten macht, sich mit dem Atomkern zu befassen, werden sie auf der Stelle totschlagen.
Die Atomsprengköpfe haben eine neue Art von Hoffnung in unserer Welt erforderlich werden lassen, die Hoffnung, daß das apokalyptische Ereignis nicht ausgelöst wird. Diese zusätzliche Hoffnung muß uns nun das ganze Leben begleiten. Es ist eine Hoffnung, die nie erfüllt, die nur beendet werden könnte, indem der atomare Krieg eben doch eintritt. Solange er nicht eintritt, bleibt die Hoffnung. Nur so lange diese Hoffnung fortbesteht, kann sich ein jeder den üblichen Hoffnungen zuwenden, die Menschen immer hatten. Alle Hoffnungen auf dieser Erde sind damit an die Voraussetzung gebunden, daß die Raketen mit den nuklearen Sprengköpfen in den Bunkern bleiben.
Jede Aussage über die Zukunft, jeder gute Vorsatz muß seit 1945 mit einem »wenn« beginnen: wenn der atomare Krieg nicht stattfindet. Erst nachdem wir dies vorausgeschickt haben, können wir uns dem zuwenden, was auf dieser Erde noch geschehen sollte. Erst wenn der »Normalzustand« erhalten bleibt, können wir fortfahren. Doch auch der heutige »Normalzustand« des Menschen und der Erde ist kein normaler mehr.
Auf die atomaren Machtmittel zur Vernichtung dieser Erde werden die Menschen hoffentlich verzichten, weil es ihr eigener Selbstmord wäre. Doch werden sie auch auf den langsamen Muttermord verzichten? Wenn die heutigen ökonomischen Prinzipien herrschend bleiben, dann münden sie in ein langsameres, aber genauso gründliches Dahinsiechen unseres ökologischen Systems im ganzen.
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Dr. Herbert Gruhl Das
irdische Gleichgewicht 1982