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5.5  Das Schicksal des Menschen

Glückselig zu leben, wünscht jedermann,
aber die Grund­lagen des Glücks
erkennt fast niemand. -Seneca

   Die Tragik 

292-306

Optimismus wird heute allenthalben verlangt, eine »Perspektive« (wie es neudeutsch heißt) will man angeboten haben oder mehrere zur gefälligen Auswahl. Immer noch ist der Aberglaube verbreitet, daß es »Lösungen« gäbe. Damit kann ich nicht dienen, denn niemand kann es. Vielmehr sehen wir Tragik und Tod wieder in alle ihre Rechte eingesetzt. Mit dieser unheimlich klingenden Feststellung ändert sich an den Fakten nichts; denn Tragik und Tod sind von jeher Teilhaber dieser Erde gewesen und werden es immer bleiben. 

Die Menschen der Neuzeit haben sich nur in zunehmendem Maße darüber hinweg gelogen und gemeint, daß sie diese Teilhaber aus ihrem Leben verbannen könnten. Sie können es aber nur, wenn sie »das Leben« selbst aus ihrem Dasein verbannen. In der Tat lief alles emsige Bemühen darauf hinaus, sich aus dem Leben zu stehlen. Die mächtigsten Völker versuchten es, indem sie den neuzeitlichen babylonischen Turm bauten, an dem sie noch immer werkeln.

Das Leben der gesamten Lebewelt dieser Erde ist und bleibt Tragödie. Ob es sich um Pflanzen, Tiere oder Menschen handelt, alle können sowohl glücklich gedeihen als auch jederzeit tragisch enden. Und sie enden auch, früher oder später, einzeln oder in Massen.

Diejenigen, die alle Tragik auf dieser Erde abschaffen und den mechanistischen Himmel einrichten wollen, müssen das Leben überhaupt abschaffen. Schon mit ihren Versuchen brachten sie eine zusätzliche, naturfremde Tragik in diese Welt, die bisher einigen hundert Millionen Menschen das Leben gekostet hat. Ob das nun die 55 Millionen Toten des Zweiten Weltkriegs gewesen sind, die Opfer des Archipel Gulag oder die in Vietnam und anderswo. Nun steht er da mit seiner (atomaren) Macht im entzauberten Weltraum, der Mensch, »Krone der Schöpfung«. 

»Seit Gott der <Geschichte> Platz machte ... muß der Mensch sich selbst alles das zurechnen, was in den großen Ereigniswolken aus Politik, Wirtschaft und Aggression passierte, bei denen jeder beteiligt war und niemand mehr etwas deutlich erkennen konnte. Die Moral­forderung wird umgekehrt um so unerbittlicher, die Alten konnten sich noch mit dem Walten der Tyche, der Zufallsgöttin entschuldigen, die Christen der überzeugten Zeit mit dem <unerforschlichen Ratschluß Gottes>, wir haben keine Entlastungen.« 505

Zunächst ist da die Hoffnung, daß sich der Mensch auf »natürliche Weise« reduzieren werde, durch weniger Geburten. 

Wer immer noch nicht an die Tragik dieser Welt glaubt, der sehe aber wenigstens diese: Da waltet zur Zeit ein Papst in Rom, oberster Hirte von 750 Millionen Gläubigen. Er entstammt dem Volk aus einem vom Schicksal geprüften Lande, er ist ausgestattet mit Charisma und strahlender Güte, die er als erster Papst rund um den Erdball verbreitet. Er ist ein gebildeter und weiser Mann, wie alle seine Äußerungen ausweisen. Auf seine <Enzyklika Redemptor Hominis> können sich atheistische wie christliche Ökologen einigen, im Versuch, diesen Planeten zu retten. 

Und dieser selbe Oberhirte empfiehlt seinen Gläubigen die millionenfache Vermehrung, die zum milliardenfachen Tod auf dieser Erde führen muß. Und er hat für seinen Rat durchaus ehrenwerte Motive!

Wer will da noch leugnen, daß in jedem menschlichen Raten und Tun die Tragik unaufhebbar mit enthalten ist?

 

Dies und viele andere Gründe können zu der Schlußfolgerung führen, »es gibt keine weise Umkehr, keinen klugen Verzicht«, wie schon Oswald Spengler behauptete.506 Aber einen erzwungenen Verzicht kann es immerhin geben. In ihm kann sich der Mensch ebenfalls bewähren, eher als in der Fülle. Diese Prüfung auf die schwerere Weise scheint die dem Menschen gemäßere zu sein. Die Prüfung wird die Frage beantworten, ob wir uns ohne Rückweg im selbstgeschaffenen modernen Labyrinth verirrt haben. 

Halten wir noch den Faden in der Hand, mit dessen Hilfe wir uns wieder zurück- und hinausfinden können? So wie weiland Theseus am Faden, den ihm Ariadne fürsorgend mitgab? Diese Sage enthält die Weisheit, daß es nicht einmal genügt, das Ungeheuer zu besiegen (das wäre unser »großer Leviathan«, von dem wir mit Franz Vonessen ausgingen), sondern es gilt danach auch noch den Rückweg zu finden.

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Die Menschen haben sich in der Neuzeit nicht auf die sichere Seite geschlagen, sondern auf die der gefährlichsten Wagnisse — und sie tun das noch immer! Alles Tun wird von grenzenloser Hybris beherrscht. Erst mit Beginn der achtziger Jahre werden größere Teile der Völker von Unsicherheit und Furcht erfaßt. Doch noch immer weigert sich der moderne Mensch, den Ernst seiner Lage zuzugeben; obschon er mitten in den größten Erfolgen entdeckt, daß sich hinter dem Überfluß die Askese verbirgt, daß seine Arbeit bereits asketisch und der Fortschritt zur Last geworden ist. Von der Handarbeit hat ihn die Maschine befreit, aber dafür wird er dem neuen Produktions­apparat tributpflichtig. War er früher der Natur und dem Wechsel der Jahreszeiten unterworfen, so hat er sich nun selbst angekettet; stärker als er je zuvor an die Erde gebunden war, ist er nun der Gefangene seiner eigenen Unternehmungen.

Nach einer phantastischen Erfolgsserie stellen wir fest, daß diese Erde unser Schicksal ist und bleiben wird und daß sehr vieles, was wir derzeit tun, die Natur dieser selben Erde tödlich verletzt.

Beginnend im 16. Jahrhundert in Europa »hat der Mensch die Botschaft der Bibel, die ihm auftrug, die göttliche Ordnung auf der Welt einzuführen und seine eigene Vernunft an die Stelle der Natur und der Gesellschaft zu setzen«, ernst genommen. »An jenem Tage wechselte die religiöse Instanz«, so formuliert es Maurice Blin, »das Lager. Sie überließ die Welt ihrem Schicksal und schlug sich auf die Seite des Menschen. Das Schicksal des Menschen, das bis dahin ein natürliches und kulturelles gewesen war, wurde somit buchstäblich ein übernatürliches.«507) Damit ist zur natürlichen eine übernatürliche Tragik hinzuge­kommen, ohne jene aufzuheben.

»Der Gott der Bibel, der die Welt transzendierte, dem Menschen feste Regeln gab und auf seine Untreue mit immer­währender Treue antwortete, tilgte immer wieder die Fehler des Menschen aus; wohingegen die Welt, mit der der technologische Mensch sich verbunden, und die Gesellschaft, die er aufgebaut hat, seinem Machtanspruch weder Regeln geben noch Grenzen setzen. Verletzlich wie sie sind, behandeln sie ihn paradoxerweise ohne Schonung.«508

Der Mensch, der sich an die Stelle Gottes gesetzt glaubte, sieht sich nun gezwungen, seine Überheblichkeit einzugestehen. Wenn man den Auftrag der Genesis so deutet, daß der Mensch als Statthalter Gottes auf dieser Erde eingesetzt ist, damit er sie erhalte und bewahre, dann wird nunmehr deutlich, daß er sich außerstande zeigt, den Auftrag zu erfüllen.

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Dem ersten Sündenfall folgte die Strafe, Mensch sein und im Schweiße seines Angesichts sein Brot essen zu müssen. Dem zweiten Sündenfall wird die Strafe der Auslöschung folgen. Es sei denn, der Mensch stellt das Bündnis mit der Natur wieder her. Dann muß er allerdings auf selbstherrliche Freiheiten verzichten. Verzichten gegenüber Gott, dem er wieder die Ehre gibt, oder, wenn er dazu nicht bereit ist, gegenüber der Natur, indem er ihre Gesetze anerkennt. Seine Würde und seine Kultur wird er jedoch nur wieder erlangen, wenn er beides tut: Gott in der Natur und die Natur in Gott zu verehren und sich beiden zu beugen. »Das religiöse Gebot früherer Zeiten wird zur historischen Lebensnotwendigkeit.« Das Abenteuer, auf das sich der Mensch eingelassen hat, und das doppelte Schicksal, das er sich damit selbst bereitet, »ist in seinem Ursprung übernatürlich. Alles deutet daraufhin, daß es dies auch an seinem Ende sein wird.«509

  

   Der Rest ist Hoffnung   

 

Niemand kann wissen, welchen Lauf die Dinge nehmen werden. So dürfen wir mit Lewis Mumford die Hoffnung hegen, daß es noch eine rettende Gnade für die Menschheit geben könnte. »Denn gerade unter der Drohung völliger Ausrottung haben die unbewußten Kräfte des Lebens sich stets wieder gesammelt und totale Niederlagen in einen teilweisen Sieg verwandelt. Dies könnte noch einmal geschehen.«510  

Andererseits gibt es kein historisches Beispiel für die heutige Lage, weil diese quantitativ und qualitativ in der langen Geschichte des Menschen erstmalig ist.

Wenn man mechanistische Kategorien anwendet, dann führen alle Kausalketten in den Untergang. Insofern ist es logisch, daß die Mechanisten den Untergang voraussagen, wenn ihre Absichten scheitern; wenn zum Beispiel Politiker das Ende der Gesellschaft für den Fall prophezeien, daß das sogenannte »wirtschaft­liche Wachstum« ausbleibt. Wir müssen dagegen feststellen, daß solche Entweder-Oder-Denker die eigentlichen Propheten des Untergangs sind.  

Nur diejenigen, welche die Kräfte des Lebens so hoch veranschlagen, daß sie auch noch in der aussichts­losesten Lage nicht kapitulieren, können weiterhin Hoffnungen hegen. Die in organischen Kategorien Denkenden wissen um das Sowohl-als-auch.

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Ihr Vorteil ist, daß sie als Nichtmaterialisten mit einem Minimum an Materie auskommen. »Während die Materialisierung notwendigerweise ein langsamer Prozeß ist, geht die Entmaterialisierung schnell vor sich.«511 Eine Entscheidung auf materiellen Verzicht wirkt sich am schnellsten, nämlich sofort aus. Das haben die Wachstümler bereits in den letzten Jahren erfahren müssen. Der Verzicht, wenn er zunächst auch nur ein Verzicht auf die Steigerung war, hatte unmittelbare Folgen! Die auf Steigerung ausgelegten Produktions­kapazitäten wurden damit teilweise sofort stillgelegt, während die Errichtung zusätzlicher Produktions­kapazitäten Jahre benötigt hätte. Hier liegen die Entscheidungen somit »in der Reichweite jeder einzelnen Seele, wenn sie erst einmal aufgerüttelt ist«.512

Wir sehen uns genötigt, mit Lewis Mumford zu fragen: 

»Wie lebenskräftig sind die in der Luft liegenden formativen Ideen, in welchem Maße sind unsere Zeitgenossen bereit, die Anstrengungen und Opfer auf sich zu nehmen, die für eine solche menschliche Erneuerung notwendig sind? Darauf gibt es keine rein technologischen Antworten.«512

Immerhin glaubte Mumford schon wahrnehmen zu können: 

»Glücklicherweise gibt es bereits viele Anzeichen, wenn auch nur verstreute, schwache und oft widersprüchliche, daß eine neue kulturelle Umwandlung sich vorbereitet: eine, die davon ausgeht, daß die Geldwirtschaft bankrott gemacht hat und daß der Machtkomplex durch seine eigenen Exzesse und Übertreibungen machtlos geworden ist. Ob dieser Wandel schon ausreicht, um die Zersetzung aufzuhalten, oder gar, um die nukleare Megamaschine zu demontieren, ehe sie die totale Menschheits­katastrophe herbeiführt, das wird noch längere Zeit fraglich bleiben.«513  

Es sind inzwischen nicht mehr einzelne, die sich anders orientieren, es sind Gruppen und teilweise schon Massenbewegungen — wenn auch noch konfus und desorientiert, voll der Widersprüche einer Zeitenwende. 

Viele zögern auch noch, weil sie nicht glauben wollen, daß der künftige Weg der Menschheit dem alten Urstromtal folgen muß. Doch alle Antworten, die wir suchen, können wir nur aus der Geschichte beziehen.

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   Was uns bleibt, ist Glück und Leid   

 

Aus der Reprivatisierung des Lebens ergibt sich die Entpolitisierung des Glücks. Warum tun sich die Politiker so schwer dabei? Weil sie sich in die Rolle des Glückbringers hineingesteigert haben und diese gern angenommene Rolle nun nicht wieder loswerden. Wer 365 Tage im Jahr den Weihnachtsmann zu spielen beanspruchte, mußte zwangsläufig in das Dilemma kommen, welches jetzt offen zutage liegt. Nun müßte er freimütig zugeben, daß die Maske des Weihnachtsmannes nur aufgeklebt war und daß der Sack sich nicht durch seine guten Beziehungen zum Himmel füllte, sondern durchweg aus begrenzten irdischen Quellen gespeist wurde. 

Darum sind die Politiker die letzten, die den Bürgern reinen Wein einzuschenken wagen; denn sie wären von allen am wenigsten glaubwürdig. Sie haben sich in einen falschen Erfolgszwang begeben, dem sie nun nicht mehr gerecht werden können. »Während man in früheren Zeiten das Glück primär von der Hilfe der Götter, von der Gunst des Schicksals oder vom Segen des Dreifaltigen Gottes erwartete, sind heute im Allgemein­bewußtsein die maßgeblichen Politiker selbst primär zuständig für die Herbeiführung allgemeiner Wohlfahrt.«514  

Fährt dann das allgemeine Wohl nicht wunschgemäß, so müssen »Verant­wortliche« gesucht werden, damit die großzügigen Versprechungen nicht als Lügen entlarvt werden.

Nur eine völlige Umkehr des Denkens und Redens könnte hier helfen. Doch wer wagt sie? Noch immer werden »Warenbesitz, Wissensbesitz und Glücks­besitz als Bürgerrechte gehandelt und von den Staatsmännern als solche angeboten.«515 Der Aberglaube, daß sich das Maß des Glücks an dem Zeiger ablesen lasse, der die Höhe des Bruttosozialprodukts oder des persönlichen Einkommens anzeigt, ist immer noch der Glaube der Mehrheit. 

»Unsere Konsum- und Marktwirtschaft beruht auf der Idee, daß man Glück kaufen kann, wie man alles kaufen kann. Und wenn man kein Geld bezahlen muß für etwas, dann kann es einen auch nicht glücklich machen. Daß Glück aber etwas ganz anderes ist, was nur aus der eigenen Anstrengung, aus dem Innern kommt und überhaupt kein Geld kostet, daß Glück das <Billigste> ist, was es auf der Welt gibt, das ist den Menschen einer Gesellschaft, die sich für alles bezahlen läßt, noch nicht aufgegangen. Deshalb meinen sie, die Reichsten müßten auch die Glücklichsten sein.«516

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Die Politisierung und Vermarktung des Glücks war schon immer ein Irrweg. Daß wir dies erst heute entdecken, ist zwar nicht schmeichelhaft für das Urteilsvermögen, doch die Entdeckung kommt gerade zur richtigen Zeit.

Jetzt, wo die politischen und wirtschaftlichen Theorien total abgewirtschaftet haben, kann uns gar nichts Heilsameres zustoßen als die Entzauberung des angeblich herrlichsten Zeitalters der Menschheit.

Diesen Vorgang haben wir hier in folgenden Schritten vollzogen:

  1. Die ökonomische Bilanz erwies sich als weit nach oben verfälscht.

  2. Die Negativposten blieben in der Bilanz weitgehend unberücksichtigt.

  3. Eine ökologische Bilanz fehlt ganz.

  4. Die psychologische Bilanz wurde für unnötig erachtet.

  5. Nur auf Grund von Widerständen kann der Mensch mit der Welt und mit sich selbst zu einem Gleichgewicht und zu einem erfüllten Leben gelangen.

  6. Nach alledem kann selbst ein positiver ökonomischer Saldo bei Hinzufügung des psychologischen Saldos zu einem negativen Ergebnis führen.

  7. Jede Überentwicklung, ob materiell oder psychisch, schlägt schließlich irgendwann ins Negative um.

  8. Das irdische Gleichgewicht pendelt sich immer wieder ein, solange der Mensch das Leben nicht vernichtet.

  9. Jeder existierende Mensch ist befähigt, sein Dasein mit sich selbst und mit seiner Umwelt ins Gleichgewicht zu bringen.

 

Für die Gesamtbewertung des technischen Zeitalters heißt das: Die materiellen Grenzen, die in den letzten Jahren mit Erschrecken wahrgenommen wurden, haben eine viel geringere Bedeutung für das menschliche Leben, als bisher angenommen worden ist.

Andererseits schwebt die neue, übernatürliche Drohung der globalen Selbstvernichtung über uns allen. Nur wenn diese gebannt werden kann, bleibt uns die Chance des Weiterlebens.

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Solange aber Leben auf diesem Planeten möglich bleibt, wird es so sein, wie es immer war. 
In der Rück­besinnung erkennen wir, daß dies schon viel ist. 

 

Wir entdecken alte tröstliche Wahrheiten nun zu einer Zeit wieder, zu der wir sie am bittersten benötigen. Damit finden wir die Sinngebung, deren es für das Durchstehen auf dieser Welt bedarf. Die Bedingungen dafür — und damit für Glück — bestehen nur zum kleinsten Teil aus materiellen Verfügbarkeiten, weitaus bedeutender sind verborgene und unerforschliche psychische Kräfte der Seele. Ihre Unsichtbarkeit ist die Ursache ihrer unglaublichen Vernachlässigung.  

Gertrud Höhler spricht — in ihrem neuesten Buch über »Das Glück« — von den geheimnisvollen Bedingungen des Glücks, das 

»über seine augenblicklichen Anlässe und Gaben hinausreicht. Es hebt uns auf eine andere Stufe unserer Existenz, so als stünden wir auf einer Anhöhe und überschauten die Zufälligkeiten im Bewußtsein überlegener Zusammenhänge, die uns tragen und glücksgewiß machen.«517

Sogar bei Friedrich Nietzsche heißt es: »Das Wenigste gerade, das Leiseste, Leichteste, einer Eidechse Rascheln, ein Hauch, ein Husch, ein Augenblick — wenig macht die Art des besten Glücks.«518

Das Glück ergibt sich aus den Schwingungen im Innenraum des Pendels, aus der vielfältigen Bewegung der verschiedensten Gefühle. Wer in einer statischen Welt ein statisches Glück sucht, befindet sich auf dem Holzweg. Darum ist Glück kein definierbarer stabiler Zustand, sondern das jeweils überraschende Ergebnis eines Daseins, das erlebend und erleidend zwischen Geburt und Tod unterwegs ist. Glück kann »ein mittleres zwischen zuwenig und zuviel« sein, wie der französische Soziologe Emile Durkheim in seiner ersten These sagt. Er hat jedoch mit seiner zweiten These nicht recht, wenn er behauptet, »einmal erreicht, wird es festgehalten, weil es ein gesunder Zustand ist, nicht eine Aufeinanderfolge von Reizen«.519

Vielmehr hat Erich Fromm recht, wenn er die Prämisse, »daß das Ziel des Lebens Glück, das heißt ein Maximum an Lustempfindungen« sei, ablehnt.520 Der griechische Philosoph Epikur (341-270 v. Christi Geburt) lehrte schon, daß auf Lust zwangsläufig Unlust und Schmerz folgt, wie zwei Jahrhunderte früher der griechische Dichter Pindar: 

»Für ein Glück teilen die Unsterblichen den Menschen zwiefaches Leid zu. Das können die Toren nicht mit Anstand ertragen, wohl aber die Edlen, die ihren Adel nach außen wenden... Bald hierhin, bald dorthin wehen die hochfliegenden Winde. Nicht auf eine lange Strecke zieht das Glück der Menschen unvermindert einher, wenn es ihnen in wuchtender Fülle nachfolgt.«521

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Nach allen Darlegungen ist Glück eben niemals ein Dauerzustand, sondern das Ergebnis der Schwingungen, die sich unverhofft aus der ständigen Folge von Reizen ergeben. Das Beharren auf der Null-Linie kann niemandes Glück sein, aber auch das Anhalten im »Zuviel des Glücks« würde das Glück unkenntlich machen, denn es kann nur mit seinem Gegenteil zum Bewußtsein gebracht werden. Das Leben bewegt sich zwischen Gegensätzen. »Alle Geburt wird mit dem Tod bezahlt, jedes Glück mit Unglück.«522

Im Dreißigjährigen Krieg schrieb Paul Fleming ein Gedicht mit der Überschrift »An sich«. Die entscheidenden Verse lauten:

... und acht es für kein Leid,
Hat sich gleich wider dich Glück, Ort und Zeit verschworen.

Was dich betrübt und labt, halt alles für erkoren,
Nimm dein Verhängnis an, laß alles unbereut.
Tu, was getan muß sein und eh man dir's gebeut.
Was du noch hoffen kannst, das wird noch stets geboren.
523

Daß auch das Leiden zu den Beständen des glücklichen Daseins gehört, ist dem wissenschaftlich-tech­nischen Denken unbegreiflich; dieses weiß nicht einmal etwas über die Notwendigkeit des Widerstandes. Doch »Glücksträume leben von den Widerständen; wenn die Widerstände abgeräumt werden, müssen die Hoffnungen sterben.«524 Solange die Widrigkeiten noch da sind, bleibt die Aufgabe und somit die Hoffnung auf ihre Bewältigung.

»Der Mensch wird nicht glücklich durch Befriedigung seiner Wünsche, sondern durch Hoffnung auf diese Befriedigung. Wenn er sich durch immerwährende Wunschsättigung keine Hoffnungs­perioden gönnt, wenn er sich nicht zeitweise enthält und dadurch die Hoffnung nährt, dann wird die Wunscherfüllung schal, zur Routine und abgeschmackt. Ich glaube, unsere Zeit hat viel von der Kunst des Lebens verlernt.«525 Glück beruht eher auf der Erwartung und der Hoffnung als auf Erfüllung.

300


 »Es ist ein Gemeinplatz menschlicher Erfahrung, daß selbst wenn unsere höchsten Wünsche in Erfüllung gehen, sie uns selten die erwartete Freude oder Lust bringen... Tatsache ist, daß der Mensch nie weiß, wann er glücklich ist. Er weiß nur, wann er glücklich war.«526 Damit geht Mishan in die entgegengesetzte Richtung und verlegt das Glück in die Vergangenheit; die Erinnerung macht glücklich. Dieser Meinung sind viele Dichter. Wir erfassen beide Möglichkeiten und auch die gegenwärtige Erfüllung, wenn wir feststellen: Des Menschen Glück besteht in Schwingungen der Seele, unabhängig von Zeit und Raum.

Es ist eine allgemein verbreitete Ansicht, daß der Mensch die Vergangenheit »verklärt«. Dies wird so gedeutet, daß er sich nur an die angenehmen Erlebnisse erinnere und die unangenehmen vergesse oder verdränge. Ich halte diese Erklärung für falsch. Der Mensch erinnert sich sehr wohl an alles, an die harten Zeiten ebenso wie an die guten! Ja er erinnert sich an die harten Prüfungen gern und mit Stolz, denn schließlich hat er sie durchgestanden — sonst lebte er nicht mehr. Das heißt sogar, daß die Vergangen­heit eine um so ausgiebigere Quelle unserer Zufriedenheit und unserer Erhebung ist, je schwerer unser Leben war.

Entscheidender dürfte sein, daß wir rückblickend die Gesamtbilanz unseres Lebens ziehen. Da wir hindurchgekommen sind — »wer spricht von Siegen, überstehen ist alles!« — ist die Bilanz positiv. Je größer die Summe aller Erlebnisse ist und je weiter der Abstand, um so günstiger wird die Abwägung ausfallen. Das ist der eigentliche Hintergrund des Satzes von Abraham Maslow: »Je mehr wir das Ganze des Seins verstehen, desto mehr können wir die gleichzeitige Existenz und Wahrnehmung von Ungereimt­heiten, von Gegensätzen und Widersprüchen ertragen. Diese scheinen das Ergebnis von ausschnittsweiser Erkenntnis zu sein und verschwinden beim Erkennen des Ganzen.«527

Aus der jeweiligen Situation heraus wird das Urteil oft negativ und manchmal verzweifelt ausfallen. Das bezeugen uns die Dichter. Als Goethe dem Schatten seines »Werther« wieder begegnete, schrieb er die Verse:

Zum Bleiben ich, zum Scheiden du, erkoren
Gingst du voran — und hast nicht viel verloren.
528

Als er aber die Summe des Daseins zog, schrieb er: »Wie es auch sei, das Leben, es ist gut!« Die Einschränkung ist auch hier unüberhörbar: wie es auch sei; die Waage neigt sich nur leicht zur Seite der Bejahung.

301


Nicht nur der Olympier Goethe, ein jeder Erdenbewohner kämpft mit der Welt, hat Erlebnisse, sammelt Erfahrungen — und so entsteht der Schatz seiner Erinnerungen. Das Ringen war stets bedeutsamer als das schließlich Erreichte, wobei sich viele mit klemer Münze begnügen mußten. Man könnte daraufhin annehmen, daß sie im Groll aus dieser Welt geschieden seien. Doch Bert Brecht sagt uns:

Fast ein jeder hat die Welt geliebt
Wenn man ihm zwei Hände Erde gibt.

So lauten die Schlußverse des Gedichts »Von der Freundlichkeit der Welt«.529

 

Nicht die erreichten Ziele, die Wege und die Begegnungen sind das Entscheidende im Leben. Im Verlauf der immer­währenden Bemühungen fällt uns ein Glück hin und wieder als gnädiges Geschenk zu, oft an unerwarteter Stelle, so ganz nebenbei. Die zu Ende gehende Epoche hat sich verleiten lassen, die Glücksmittel mit den Zielen gleich­zusetzen. Sie hat Berge von Mitteln angehäuft und darüber die Ziele vergessen. Das »letztendliche Ziel« aller unserer Unternehmungen kann kein materielles und kein ökonomisches sein.

Das letztendliche Ziel — in der Auffassung des amerikanischen Ökonomen Hermann Daly gleichzusetzen mit Gott — kann nicht wie ein Gegenstand auf die Erde herniedergeholt werden, denn dann würde es auf den Märkten gehandelt, verfiele der Abnutzung und endete im Abfall. Winston Churchill sah 1932 auch dies voraus: »Komfort, Beschäftigungen, Erleichterungen, Vergnügen werden zuhauf auf unsere Nachkommen eindringen, aber die Herzen werden ihnen weh tun, ihr Leben wird leer sein, wenn sie nicht nach Dingen Ausschau halten, die über das Materielle hinausgehen.«530 Menschliches Dasein benötigt stets ein Darüber-hinaus*. Toynbee nannte es den Hunger nach Unendlichkeit.

*  (d-2015:) Bindestrich im Original

302


Wir benötigen über die wahrgenommene Welt hinaus einen »Hintergrund von Unerschöpflichkeit«, wie es Robert Spaemann nennt. Er fragt,

»warum sind wir denn traurig, wenn wir erfahren, daß irgendwo in der Welt eine Vogelart ausgerottet wurde, die wir wahrscheinlich ohnehin nie zu Gesicht bekommen hätten? Es ist offenbar so, daß das Glück des Menschen gerade mit dem nicht auf ihn bezogenen Reichtum des Wirklichen zusammenhängt. Die Reduktion der Welt auf das, was wir im Augenblick wahr­zunehmen und zu genießen vermögen, würde jeden Genuß zerstören; denn zu diesem gehört ein Hintergrund der <Uner­schöpflichkeit>. Zu wissen, daß das Wißbare und Sichtbare immer mehr ist als das aktual Gewußte und Gesehene, ist eine Bedingung dafür, daß der Mensch in der Welt heimisch sein kann.«531) 

Aber nicht nur die räumliche Unerschöpflichkeit gehört zum Sein des Menschen, auch die zeitliche. Der Mensch lebt gefühls­mäßig auf eine nie endende Zukunft hin — obgleich ihm sein Verstand sagt, daß er selbst an ihr nicht mehr teilhaben wird. Insofern kann die bange Frage, wie man angesichts der düsteren Zukunft weiter existieren könne, doch eine tiefere Dimension haben: Ist mit meinem Tod alles zu Ende, oder wird »das Leben« weitergehen? Werden künftige Generationen auch noch über uns berichten? Oder ist unser Leben und Trachten bald schmählich vertan, sinn- und kraftlos?

So wie unser Dasein der unerschöpflichen Hintergründe in Raum und Zeit gewiß sein will, so öffnet sich die Seele allzeit den kommenden Dingen, auch wenn sie unbegreiflich sind. Stets sind Heraus­forderungen auf dem Wege, denen wir uns stellen müssen — seien sie nun freudvoll oder leidvoll, gut oder böse.

»Das Bedürfnis des Menschen nach Ringen, Konflikt, Tragödie und Verzweiflung liegt jenseits der Überlegungen von Gut und Böse. Es liegt an den eigentlichen Wurzeln der menschlichen biologischen Existenz. Der Mensch ist ein lebendiges Wesen und hat des Verlangen, sich in vielerlei Formen auszudrücken, in denen sich Leben ausdrückt, in Befriedigung wie im Kampf.«532

Darum liegt des Lebens Ziel nicht irgendwo in der Zukunft vollendet bereit, es ist immer schon da — wir müssen es nur erkennen. Das Gegenwärtige immer erneut auf sich zu nehmen heißt, unser Schicksal bejahen, im Guten wie im Bösen. Sophokles schrieb vor 2400 Jahren über den Menschen: »So über Verhoffen begabt mit der Klugheit erfindender Kunst, geht zum Schlimmen er bald und bald zum Guten hin.«

303


Die Spannung und den Wechsel auszuhalten bedeutet, ein ökologisches Leben zu führen — im Haus der Erde. Der Mensch steht in der gleichen Spannung vielfältiger Kräfte, wie sie sich in der Natur alle Tage zusammenballen, denen sich auch die Pflanzen und Tiere stellen müssen. Die Vorgänge bleiben unberechenbar wie die Turbulenzen des Wetters. Darum sind von den großen Künstlern und Dichtern die Naturvorgänge mit dem Dasein der Menschen verwoben und gleichgesetzt worden. Goethe sprach: »Seele des Menschen, wie gleichst du dem Wasser, Schicksal des Menschen, wie gleichst du dem Wind.«

Wenn wir nach der Hoffnung fragen, die wir noch haben dürfen, dann ist es die Hoffnung, daß uns dieses Leben aufgegeben bleibe. So wie es immerdar dem Menschen aufgegeben war, sobald er ins Dasein gerufen wurde.

Der Dichter Rainer Maria Rilke greift gegen Ende seines durchlittenen Lebens die Frage nach dem Sinn des Daseins in der Neunten der Duineser Elegien auf — mit zweimaligem »Warum?« — und gibt die Antwort:

O, nicht, weil Glück ist, ...
Aber weil Hiersein viel ist ...
...
einmal gewesen zu sein, wenn auch nur einmal:
irdisch gewesen zu sein, scheint nicht widerrufbar.

Was bleibt uns? Was nehmen wir hinüber »in den andern Bezug«?

Also die Schmerzen. Also vor allem das Schwersein,
also der Liebe lange Erfahrung, — also
lauter Unsägliches ...

Und die Elegie endet mit den Versen:

Erde, du liebe, ich will. O glaub, es bedürfte
nicht deiner Frühlinge mehr, mich dir zu gewinnen, einer,
ach, ein einziger ist schon dem Blute zu viel.
Namenlos bin ich zu dir entschlossen, von weit her.
Immer warst du im Recht, und dein heiliger Einfall
ist der vertrauliche Tod.
Siehe, ich lebe. Woraus? Weder Kindheit noch Zukunft
werden weniger ... Überzähliges Dasein
entspringt mir im Herzen. 533) 

304


Uns ist bestimmt, das hiesige Schicksal auf uns zu nehmen; wir haben uns dem Druck der Kräfte und Gegenkräfte zu stellen und dem gleichgearteten Spiel in der Welt der Geister und der Seelen. Es bleibt bei Versuch und Irrtum, Sieg und Niederlage, Glück und Leid.

Die ewige Klarheit eines in sich ruhenden Seins ist uns irdischen Geschöpfen versagt. Sie bleibt jenseitig. Unser ist das immer wiederkehrende Werden und Vergehen. Die Widersprüche gehören nicht nur zum Leben, sie sind das Leben. Wer sich dem Dasein stellt, nimmt alle Widersprüche auf sich; es sind schließlich die Widersprüche, die auch zum Wesen eines jeden von uns gehören, solange wir leben.

Uns gilt die Weisheit, die Goethe durch Worte Mephistos im <Faust>534 verkündet: 

Glaub' unser einem, dieses Ganze
Ist nur für einen Gott gemacht!
Er findet sich in einem ew'gen Glanze,
Uns hat er in die Finsternis gebracht,
Und euch taugt einzig Tag und Nacht.

Der Mensch ist weder im Himmel noch in der Unterwelt beheimatet, ihm ist die irdische Welt zugewiesen. Ist er damit verflucht oder gesegnet? Weder das eine noch das andere; denn »Leben« ist nur zwischen zwei Polen möglich und nur so denkbar. Das bedeutet, im Gewoge der Gegensätze zu stehen und dem ständigen Wechsel ausgesetzt zu sein. Nichts anderes sagt die Verheißung unter dem Regenbogen: »Solange die Erde steht, soll nicht aufhören Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht.«535)

Die Natur der Erde kennt keine Erstarrung, sondern nur die schwankende und zitternde Bewegung der Waagschalen, die immerzu auf- und niederpendeln. Wie widerstrebend die Elemente auch sind, die Natur schafft den Ausgleich stets erneut, so flüchtig er auch sein mag. Solange der Mensch existiert, befindet auch er sich im irdischen Gleichgewicht. Die Haushaltlehre unseres Daseins ergibt, daß sich die Einzelexistenz wie die Natur in wunderbarer Weise dem auferlegten Schicksal entsprechend immer wieder neu einstellt.

Diese Welt ist so angelegt, daß die »Lösung« ihrer Probleme ihren Tod herbeiführen müßte. Unser Dasein wankt immerzu zwischen dem Chaos auf der einen und der mechanistischen Perfektion auf der anderen Seite dahin, bis es vom Tod ereilt wird. Die Menschen haben, solange sie die Erde bewohnen, sich gegen das Chaos behaupten müssen. Erst in den letzten zwei Jahr­hunderten glaubten sie, den Sieg über die Zwänge der Natur errungen zu haben. Da die Erfolge einmalig waren, wurden die letzten Generationen in einen Rausch versetzt. Sie können nun nicht begreifen, daß die größere Gefahr für alles Leben jetzt von der mechanistischen Perfektion her droht.

Das irdische Gleichgewicht ist nichts anderes als die ruhelose Bewegung, die stets Überraschungen birgt und Aufgaben stellt. Die Erfüllung liegt in der ständig erneuten Bewährung. Wer dieses Gesetz alles Irdischen begreift, wird seine Gewißheit aus einer tieferen Seinsschicht beziehen, woraus er das Gleichgewicht seines eigenen Daseins immer erneut gewinnt. Und er wird versuchen, auch das Gleichgewicht auf unserer Erde zu wahren, denn sie ist unsere einzige Heimat in der Zeit und wird es bleiben, solange wir sie bewahren.

305-306

E n d e

 

 

 

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Dr. Herbert Gruhl   Das irdische Gleichgewicht  1982