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Vorwort

von Herbert Gruhl, 1992

 

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Das große Thema vom Aufstieg und Untergang der Kulturen steht aus dringendem Anlaß erneut auf der Tages­ordnung der Weltgeschichte — und diesmal für die Erde insgesamt; erweitert um das Entstehen und Vergehen der Lebewesen überhaupt. 

In den letzten 200 Jahren wurde die Oberfläche unseres Planeten immer schneller umgestaltet, zerfurcht, ja verwüstet, die Luft verändert und die Gewässer verdorben. Nichts läuft mehr so, wie es die letzten Jahrtausende und sogar noch die letzten Jahrhunderte im natürlichen Rhythmus des Himmels und der Erde verläßlich dahinging. Die Ereignisse haben ein rasendes Tempo und eine globale Gleichzeitigkeit angenommen, in deren Wirbel alle besinnungslos hinein­gerissen werden. Nur einzelne gewinnen soviel Abstand, um das Geschehen noch überschauend zu begreifen.

Wir erleben zur Zeit das faszinierende Schauspiel, wie eine Art von Lebewesen — unsere eigene — die kosmische Tragödie ihres Unterganges inszeniert. Die Ein­leit­ung meines Buches <Ein Planet wird geplündert> schloß ich 1975 mit den Worten des Dichters Eugène Ionesco: "Ich bin ein Mensch unter drei Milliarden Menschen. Wie kann da meine Stimme gehört werden? Ich predige in einer übervölkerten Wüste. Weder ich noch andere können einen Ausweg finden. Ich glaube, es gibt keinen Ausweg."(1)

Danach habe ich 15 Jahre nach Auswegen gesucht und wohl um die tausend Vorschläge von Zeitgenossen überprüft, die solche gefunden zu haben vorgaben oder auch nur vortäuschten. Alle griffen zu kurz, erwiesen sich als einseitig und verkannten außerdem die Schwierigkeiten jeder politischen Umsetzung.

Die Zahl der Bücher, die sich mit der Krise des Menschen auf diesem Planeten auseinander­setzen, ist inzwischen auf einige tausend Titel angeschwollen. Die meisten schließen mit klugen Plänen, wie diese Erde zu retten sei. Doch fast nichts davon wurde politisch aufgegriffen. Alles blieb so folgenlos wie gelesene Romane oder Gedichte. 

Folgenlos blieben auch die unzähligen wohl­gemuten Konferenzen, zu denen die Teilnehmer von Erdteil zu Erdteil jagen. 

In der UNO wurde am 29.10.1982 eine <Weltcharta für die Natur> von 111 Nationen <verabschiedet>.

Bedeutende Wirkungen hätte die »Erste Umwelt­konferenz der Vereinten Nationen« 1972 in Stockholm haben sollen. Man schrieb damals: »Die Menschheit hat vielleicht gerade noch eine geringe Chance, ihr Überleben für einige Zeit zu sichern.«2

Diese »Umweltkonferenz« wird 1992 ihren zwanzigsten Jahrestag in Brasilien feiern, ohne eine nennenswerte Erfolgsbilanz vorlegen zu können, obgleich doch schon der seinerzeitige Generalsekretär der UNO, U Thant, 1969 erklärt hatte, daß nach seiner Schätzung nur noch ein Jahrzehnt zur Verfügung stünde, weil danach »die Probleme derartige Ausmaße erreicht haben werden, daß ihre Bewältigung menschliche Fähigkeiten übersteigt«.3

Die geschätzten zehn Jahre sind bereits zweimal verstrichen, obwohl wir seit jener Zeit den Ruf hören: »Es ist fünf vor zwölf!« Wie lange bleibt es immer noch fünf vor zwölf? Hat jemand die Weltuhr angehalten? Nein! Nichts wurde in den zwei Jahrzehnten gestoppt, das Tempo ins Unheil vielmehr weiter gesteigert! Dem suchen einige Weltbetrachter Rechnung zu tragen, indem sie variieren: »Es ist schon zwölf« oder »Es ist eine Minute nach zwölf«

Das gibt Anlaß zu fragen, wie lange denn nun eine solche Weltminute dauert. In der Bibel heißt es: »Tausend Jahre sind vor Dir wie ein Tag oder eine Nachtwache.« Rechnen wir die Nacht zu acht Stunden, gleich 480 Minuten, dann vergehen pro Minute zwei Jahre. <Fünf vor zwölf> hieße dann: zehn Jahre vor dem Ende. Wenn es also heute <fünf vor zwölf> wäre, dann würde ausgerechnet im Jahre 2000 die Posaune der Apokalypse ertönen! Wie erfreulich suggestiv für diverse Sekten! 

Doch ich halte nichts von solchen runden Jahreszahlen; denn das Jahr 2000 wird ein Jahr wie jedes andere sein. Daß die meisten Länder heute dem gregor­ianischen Kalender folgen, ist purer Zufall; für die Juden wird dann das Jahr 5761 sein, die Mohammedaner werden dann Mitte Juli vom Jahr 1378 in das Jahr 1379 übergehen.

In welchem der Jahre die große Katastrophe eintreten wird, läßt sich nicht vorausberechnen, abgesehen davon, daß es wahr­scheinlich Ketten von Katastrophen geben wird. Sicher ist nur, daß sich das Verhängnis nicht mehr aufhalten läßt — genauso wenig wie eine Lawine zu stoppen ist, wenn sie sich gelöst hat. 

detopia-2012:  2 (Jahre/Minute) x 480 (Minuten) = 960 (Jahre).  Ich sage das, weil H.G.  später darauf zurückkommt. Auch Lauterburg nennt 1998 sein Buch <Fünf nach Zwölf>  

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Aus Amerika kam vor 20 Jahren die Vorstellung eines <Point of no Return>. Bevor ein Flugzeug soweit geflogen ist, daß es die Hälfte seines Treibstoffs verbraucht hat, muß es umkehren, wenn es seinen Heimathafen noch erreichen will. Für die Entscheidung bleiben letztlich nur Sekunden, bevor der Punkt, von dem aus keine Rückkehr mehr möglich ist, überflogen wird — und die Reise ins Nichts beginnt. Auch dabei könnte geschehen, daß die Passagiere das Ereignis zunächst nicht einmal bemerken.

Auf unseren Planeten übertragen heißt das: Eine Umkehr müßte frühzeitig in die Wege geleitet werden, wenn die Gegen­maß­nahmen überhaupt noch Aussicht auf Erfolg haben sollen. Der amerikanische Wissenschaftler Thomas Lovejoy meinte 1988, »daß die meisten Kämpfe um die Erhaltung der Umwelt in den neunziger Jahren entweder gewonnen oder verloren werden. Im nächsten Jahrhundert wird es zu spät sein.«(4)

 wikipedia  Thomas_Lovejoy 1941-2021

Aber wir befinden uns noch keineswegs im Stadium der Kämpfe und Gegenmaßnahmen, sondern im Stadium der Diskussion, ja des Streites darüber, ob die Lage überhaupt bedrohlich sei! Und während einige wenige über die Altlasten diskutieren... — schaffen Milliarden Menschen Tag für Tag Neulasten und jubeln darüber! Der Psychologe Erich Fromm wunderte sich schon 1976: 

»Alle Daten sind der Öffentlichkeit zugänglich und weithin bekannt. Die nahezu unglaubliche Tatsache ist jedoch, daß bisher keine ernsthaften Anstrengungen unternommen werden, um das uns verkündete Schicksal abzuwenden. Während im Privatleben nur ein Wahnsinniger bei der Bedrohung seiner gesamten Existenz untätig bleiben würde, unternehmen die für das öffentliche Wohl Verantwort­lichen praktisch nichts, und diejenigen, die sich ihnen anvertraut haben, lassen sie gewähren. Wie ist es möglich, daß der stärkste aller Instinkte, der Selbsterhaltungstrieb, nicht mehr zu funktionieren scheint?«5

Ja, wie ist das möglich? 
Diese Frage erforscht das vorliegende Buch. Dazu müssen wir das Wesen des Menschen und seine Vergangenheit studieren. Eine mögliche Antwort gab uns bereits der bekannte britische Schriftsteller Herbert George Wells

»Es gibt große, ungewisse Massen im Ameisenhaufen, deren Führer, weil sie unfähig sind zu erfassen, was geschieht, ihre Zuflucht zu den übelsten und bösartigsten Beschwörungen nehmen .... Die unglückselige, von diesen wimmelnden, stoßenden Massen gepackte Ameise tut ihr Bestes, sich ihren Glauben an die zu erhalten, denen sie sich überantwortet hat.«6

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Die Menschenmassen glauben immer noch an eine ihnen weit überlegene und überlegende Führung, und die Völker sind Mitläufer und Mittäter der ökolog­ischen Zerstörung. Dabei dürften sie sich heute durchaus entscheiden, dagegen zu sein, zu protestieren oder sogar »auszusteigen«. Doch einige Dutzend anderer Themen erscheinen den Menschen der Gegenwart wichtiger als die Grundlagen ihres Lebens. 

Das Wissen von der belebten Natur ist in unheimlich kurzer Zeit aus den Köpfen verschwunden. Die Wissenschaften haben, um zu immer detaillierteren Kenntnissen zu kommen, unsere Welt in zunehmend winzigere Stückchen aufgesplittert, und nun ist niemand da, der sie wieder zusammenfügen könnte. 

Andererseits haben es die Wissenschaften, an denen wir zugrunde gehen werden, auch möglich gemacht, jetzt das große Welttheater vor uns aufzurollen, was ich mit diesem Buch versuche.

Eine die Lebensvorgänge zusammenfassende Wissenschaft, die Ökologie, ist erst im Laufe dieses Jahr­hunderts zögernd entstanden. Sie hat inzwischen das Weltbild des Menschen der industriellen Zivilisation als fatal entlarvt. Die Ergebnisse der Ökologie sind für die menschliche Gattung deprimierend. Das auserwählte Geschöpf, ja Statthalter Gottes auf Erden, sieht sich zeitlich und räumlich eingebunden in die Lebenskette und in das Lebensnetz aller Wesen. Seine Vorfahren waren nicht nur affenähnlich, sondern seine Ahnenreihe reicht weit zurück bis zum Einzeller. Da findet sich keine göttliche Abstammung, von der viele Religionen ausgehen, und auch keine Gottähnlichkeit.

Und kein ehrlicher Biologe kann dem Menschengeschlecht die gewünschte herrliche Zukunft versprechen, er muß vielmehr vor den von Jahr zu Jahr steigenden Gefahren warnen. Die Wissenschaft hat nach Wahrheit zu streben. Noch viel wichtiger: »Nicht eine glücks­orientierte, nur eine wahrheits­orientierte Gesell­schaft kann auf die Dauer gedeihen«, befand der Physiker Carl Friedrich von Weizsäcker.7

Damit ist aber auch unsere Situation gekennzeichnet; denn wann hat es je so glücksbesessene Gesellschaften gegeben wie heute? 

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Der Philosoph Martin Heidegger konstatierte schon kurz nach dem Krieg die Notlage: 

»Der geistige Verfall der Erde ist so weit fortgeschritten, daß die Völker die letzte geistige Kraft zu verlieren drohen, die es ermöglicht, den ... Verfall auch nur zu sehen und als solchen abzuschätzen. — Diese einfache Feststellung hat nichts mit Kultur­pessimismus zu tun — freilich auch nichts mit einem Optimismus —; denn die Verdüsterung der Welt, die Flucht der Götter, die Zerstörung der Erde, die Vermassung des Menschen, der hassende Verdacht gegen alles Schöpferische und Freie hat auf der ganzen Erde bereits ein Ausmaß erreicht, daß so kindische Kategorien wie Pessimismus und Optimismus längst lächerlich geworden sind.«8

Es ist bezeichnend, daß sich die sogenannte »Öffentlichkeitsarbeit« sowohl der Wirtschaft wie der Politik des kindischsten optimistischen Geschwätzes bedient, um sich die frisch-fröhlichen Konsumenten zu erhalten. So haben nicht einmal die entsetzlichsten Ereignisse dieser Jahre einen Schrecken, geschweige eine Lähmung auszulösen vermocht. Im Gegenteil! Es kam zu gewaltigen Anstrengungen in Richtung »wirtschaftliches Wachstum« gerade bei den Völkern, die schon längst das meiste verschwenden — also zur Forcierung der Kräfte auf ein schnelleres Ende! Und das auf allen Gebieten: Wissenschaft, Technik, Produktion, Verkehr, folglich auch Erhöhung der Müllberge, der chemischen und radioaktiven Vergiftungen rund um die Erde.

Nach dem kurzen Schock der Ölkrise des Jahres 1973 wurden in den achtziger Jahren wieder phantastische Steigerungs­raten erzielt. Die Bewohner des Planeten Erde schwelgen im »Erfolg«, da sie die Massen­statistik als Wertmaßstab betrachten. Die Völker werden mit Geld und Zahlen gefüttert und ruhig gestellt. Wer denkt da noch an die Warnungen des <Club of Rome> vor bald 20 Jahren, an meine <Schreckens­bilanz unserer Politik> vor 17 Jahren und an die Unheil verkündenden Prognosen der Untersuchung für den amerikanischen Präsidenten Jimmy Carter vor zehn Jahren mit dem Titel <Global 2000>.

Seit rund zwei Jahrzehnten erweisen sich immer wieder die negativsten Umweltprognosen als die zutreff­endsten, wenngleich sie stets im ohren­betäubenden Lärm rastloser Geschäftigkeit untergehen und nur ab und zu mit unerwarteten Schreckens­meldungen die Bewußtseins­schwelle durchbrechen — allerdings in immer kürzeren Abständen. 

Das heißt, daß die verschrienen Pessimisten zunehmend Recht behalten und mit Friedrich Nietzsche gelassen antworten können: »Pessimismus ... hat in der Not seine Mutter. Er ist älter und ursprünglicher als der Optimismus, produktiv, so daß er selbst noch seinen Gegensatz an's Licht ruft.«9

Ich schließe mich darum Nietzsche an: »Weg mit den bis zum Überdruß verbrauchten Wörtern Optimismus und Pessimismus! Denn der Anlaß, sie zu gebrauchen, fehlt von Tag zu Tag mehr: nur die Schwätzer haben sie jetzt noch so unumgänglich nötig.«10

Ich werde den letzten genialen Philosophen, Friedrich Nietzsche, vielfach heranziehen, denn er sah bereits ein Jahrhundert früher, wohin sich die Welt mit unausweichlicher Konsequenz entwickelt. Der monumentale Block seiner Gedanken über das Leben und die Geschichte ist bei weitem noch nicht in seiner ganzen Dimension erkannt.

Nur einzelne erklimmen wie er »den archimedischen Punkt außerhalb der Vorgänge«,(11) die mit ihrem Getöse die heutige Zeit erfüllen; denen aber wird immer klarer, »daß der kosmische Ablauf der Ereignisse in wachsendem Maße der geistigen Struktur unseres Alltagslebens entgegengesetzt ist«.(12)

Wo sollten da noch Menschen zu finden sein, die Notwendiges nicht nur mitdächten, sondern auch mittäten? Wo das Mittun jetzt ein Mitverzichten sein mußte — also etwas, was der Mensch wie jedes Lebewesen noch nie einüben konnte und auch nicht einüben durfte, weil er sonst die Millionen Jahre nicht überstanden hätte. Der Bericht <Zur Lage der Welt 89/90> endet mit der Erkenntnis, daß, solange nicht mehr Menschen mitmachen, um die Zerstörung der Erde aufzuhalten, wenig Hoffnung bleibt.

Weltverbesserer laufen scharenweise herum. Um aber einige zu finden, die sich damit begnügen, die Welt zu erhalten, muß man lange suchen. Das ist meine Erfahrung aus einem zwanzigjährigen hoffnungslosen Kampf gegen die Gleichgültigkeit. Weder mit Gott noch mit dem Teufel kann man heute den Menschen so viel Angst einjagen, daß sie ihr Leben ändern würden. 

Dennoch bin ich im siebzigsten Lebensjahr immer noch darauf bedacht, in dieser Zeit der Verwirrung für die angesammelten Erfahrungen nutz­bringende Verwendung zu finden. 

Um Zustimmung bemühe ich mich nicht mehr, schreibe aber infolge des gleichen Dranges, unter dem der Mensch vor einigen zehntausend Jahren angetreten ist, um schließlich den Geist bis an die äußersten Grenzen seiner Möglichkeiten voranzutreiben.

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   www.detopia.de      Anmerk  (s.389)   Literatur  (402)    ^^^^ 

Himmelfahrt ins Nichts von Herbert Gruhl 1992