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1-4    Der 10.000 Jahre dauernde Anlauf des Machens   Gruhl-1992

Wir sind die absoluten Meister dessen, was die Erde produziert ...
Wir streuen den Samen und pflanzen die Bäume. Wir düngen die Erde ...
Wir halten an, lenken und leiten die Flüsse um; kurz, mit unseren Händen trachten
wir ... danach, die Natur zu einer anderen zu machen. 
Der römische Staatsmann und Philosoph Cicero    wiki  Cicero - Begriff 

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Wir nähern uns in Riesenschritten der Gegenwart. Nur noch <drei Tage> sind es bis zum gegenwärtigen <letzten Tag>. Rund <170 Tage> oder 500.000 Jahre war der Mensch Jäger und Sammler dessen gewesen, was ihm die Natur bot — nicht viel anders als ein Raubtier. Erst im fünfzigsten Teil dieser Zeit lebt er als Umgestalter der Natur. Darum ist es kein Wunder, wenn er auch heute noch von jener Vergangenheit geprägt bleibt. 

Das »Machen« begann natürlich schon früher, ist aber vor 10.000 Jahren (8000 v.Chr.) in die Phase der vielseitigen Anwendung eingetreten. Die Funde primitiver Werkzeuge, wie Faustkeile aus Stein, reichen bis 100.000 Jahre und länger zurück. Vor etwa 45.000 Jahren benutzten die Menschen scharfkantige Feuersteine als Speerspitzen und ungefähr ebenso lange Steinbeile mit Stiel. Seetüchtige Schiffe erbauten die Steinzeitmenschen schon zwischen 40.000 und 30.000 Jahren vor unserer Zeit. Vor 30.000 Jahren arbeiteten sie bereits mit Sägen aus Stein. Seitdem gibt es auch Nähnadeln, aus Knochen gefertigt, die auf die Nutzung von Kleidungs­stücken schließen lassen. 

Pfeil und Bogen sind seit 12.000 Jahren bekannt, was sich für den Anthropologen Robert Ardrey als bedeutender Schritt zur Individuation darstellt, weil damit das Zusammenwirken der Horde bei der Jagd entbehrlich geworden war.  wikipedia  Robert_Ardrey 1908-1980  Viel wichtiger ist, daß damit der »Tod aus der Distanz« als neues Faktum in das tierische und menschliche Leben einbrach; denn mit dem Pfeil ließen sich natürlich auch Menschen töten.

Die wichtigste Voraussetzung für die Entwicklung der Technik - das Feuer - kann nicht datiert werden. Es wurde eigentlich nicht erfunden, sondern gefunden: in der Natur vorgefunden. Der Mensch sah, wie der Blitz Feuer zündete, wie Vulkane feurige Gluten ausstießen, wie gewisse Steine Funken gaben — bis er schließlich selbst versuchte, das Feuer zu entzünden. Das könnte schon vor ein bis anderthalb Millionen Jahren gewesen sein, wie neueste Funde in Südafrika zu belegen scheinen.103 Noch 1987 war man von 700.000 Jahren ausgegangen, da der Peking-Mensch es benutzte. Mit dem Feuer ließen sich wichtige Werkzeuge und Waffen für immer weitere Anwendungs­bereiche herstellen.

Als die Eiszeit vor rund 12.000 Jahren ganz vorüber war, ging auch bald die Steinzeit zu Ende. Die Steinwaffen und -geräte waren inzwischen so vervoll­kommnet, daß sie den Menschen ein durchaus auskömmliches Dasein ermöglichten. Manche Forscher meinen sogar, es sei ein besseres Leben gewesen, als es die Mehrzahl der Menschen auf dieser Erde heute führt. 

Als einer der vielen Beweise dient die Siedlung Gönnersdorf am Mittelrhein, die seit 10.400- existierte und 9080- beim Ausbruch des Laacher-See-Vulkans unter Bimsstein konserviert wurde. Die Menschen wohnten in Pfostenbauten, Licht spendeten Lampen aus Stein, gefüllt mit Talg und Fett und einem Docht aus Pflanzenfasern. Geheizt wurde mit Kiefernholz; Fleisch wurde gekocht und gebraten. Man kannte Schmuck, zeichnete Tiere und modellierte Figuren, die fast nur Frauen oder Mädchen darstellten.104

 

Die erste große Revolution der natürlichen Lebensweise, die vor rund 10.000 Jahren begann, benötigte nur wenige Jahr­tausende, um unser gegenwärtiges Zeitalter vorzubereiten. Das heißt auch, daß die Differenzen in der Lebensweise der Völker zunehmend weiter auseinander klafften. Wir kennen einige Reststämme, die bis in unser Jahrhundert ihre steinzeitliche Lebensweise beibehalten haben.

»Wenn überhaupt einmal in der Menschheitsgeschichte der Pfad menschlicher Ökonomie sich von den Wegen naturgegebener Ökologie trennte, dann sicherlich in dieser Periode der Entdeckung, daß man die Natur durch Einsatz von Einfallsreichtum... und Fleiß dazu zwingen kann, für mehr Menschen mehr zu tun, als dies von selbst der Fall ist.«105  Damals begann die planmäßige menschliche Arbeit. Bei Feldbestellung und Viehzucht mußte in Wachstums­perioden gedacht werden; Geduld war erforderlich, bevor man ernten konnte. Auch jetzt blieb das Leben »ein Kampf Tag für Tag, ein Kampf ohne Rast: urbar machen, pflanzen, jäten, gießen bis zur Ernte«.106

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Vielleicht haben benachbarte Stämme abschätzig über die Handarbeiter gedacht oder sie sogar verhöhnt. Aber das Lachen dürfte ihnen dann vergangen sein, wenn ihnen im Winter die Nahrung ausging, während die Anbauer und Haustier­züchter noch Vorräte hüteten. Vielleicht haben sie dann bei denen gebettelt oder sich das Nötige geraubt. Das war die Geburtsstunde ökonomischer Kriege unter den Menschen, bei denen es um das nackte Überleben ging. Darum mußten die Ackerbauern ihr Hab und Gut verteidigen, auch das schon bestellte Stück Land. Es erschien ihnen sicher selbstverständlich, daß sie das Ergebnis ihrer Hände Arbeit gegen die, welche keinen Finger gerührt hatten, verteidigten.

 

Es war keine willkürliche Anmaßung, wie Rousseau behauptet hatte: »Der erste, dem es in den Sinn kam, ein Grundstück einzuhegen und zu behaupten, dies gehört mir«, sei ein Betrüger und Verursacher allen Elends der Mensch­heits­geschichte gewesen — es handelte sich nur um die Ernte einer wohlerworbenen Leistung unter neuen Umständen. 

In der Rechtsauffassung, wonach jeder besitzen solle, was er sich erarbeitet hat, leben wir noch heute. Der größte Versuch, allen alles zu geben, ist gerade jetzt, kurz vor dem Jahre 2000, unter anderem daran gescheitert, weil dann das Interesse an eigener Arbeit immer geringer wird. 

»Will man aber ... das Eigentum der Gemeinde zurückgeben und den Einzelnen nur zum zeitweiligen Pächter machen, so zerstört man das Acker­land. Denn der Mensch ist gegen Alles, was er nur vorübergehend besitzt, ohne Vorsorge und Aufopferung, er verfährt damit ausbeuterisch, als Räuber oder als liederlicher Verschwender.«107

Mit der ersten ökonomischen Revolution ergab sich die Teilung der Völker in zwei Hauptgruppen. Einige blieben Nomaden, die nun mit ihren Herden umher­zogen; da sie sich zugleich verteidigen und auch angreifen mußten, waren sie kriegerisch. Die Bauern aber, die in der Regel auch Vieh hielten, mußten seßhaft werden und feste Häuser bauen. Für sie kann diese gewaltige Umstellung auch negative Folgen gehabt haben. 

Jedenfalls kam der amerikanische Wissenschaftler Mark Cohen zu dem Ergebnis, daß sich der Gesundheitszustand beim Übergang zum Ackerbau verschlechtert habe und sogar die Lebens­erwartung gesunken sei.

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Er hat dafür keine eindeutige Erklärung; es könnte aber sein, daß psychologische Probleme entstanden oder daß die Ernährung zu einseitig wurde, da sie sich jetzt auf die angebauten Früchte konzentrierte.108 Cohen kam zu dem Schluß, daß sich kulturelle Entwicklungen nicht umkehren lassen, selbst wenn ihre Ergebnisse negativ sind.

Die größte Entdeckung des Neolithikums war, daß sich der Samen der Pflanzen sammeln und geplant aussäen ließ, wodurch die Ernte reichlicher ausfiel. Der Getreideanbau begann um 8000- im Gebiet des »Fruchtbaren Halbmonds«, der von Palästina aus im Bogen nach Norden ausschwingend bis zum Persischen Golf reicht, worin die Flußgebiete von Euphrat und Tigris den größten Teil der Fläche einnehmen.109 Dort wuchs auch der Wildweizen, der zur wichtigsten Nahrung der westlichen Welt werden sollte. Hinzu kamen Gerste und Einkorn, Hafer, die Hülsenfrüchte Linsen und Erbsen. 

In China begann der Anbau um 4000- im Norden mit der Hirse, die zunächst am wichtigsten blieb, und um 3000- im Süden mit dem Reis. Dieser war in Thailand schon um 7000- bekannt, dazu Ackerbohnen und Erbsen. In Ostasien kamen dann Mandeln, Gurken, Betelnüsse und Weizen hinzu. In Mittel­amerika begann der Anbau von Feldfrüchten ebenfalls um 7000- zunächst mit Kürbis und Bohnen, ab 5200- Mais, welcher die Grundlage der indianischen Kulturen bildete. In vielen der genannten Anbaugebiete gab es bereits künstliche Bewässerungs­anlagen, in Ägypten seit 5000-. (Das Minuszeichen nach Jahreszahlen bedeutet: v. Chr.)

Die zweite große Entdeckung war, daß sich Tiere gegen Verabreichung von Futter domestizieren ließen, so daß der Mensch nicht mehr auf das ungewisse Ergebnis der Jagd angewiesen blieb. Einige Arten gaben sogar über Jahre Milch oder Eier, und dann konnte man immer noch ihr Fleisch verzehren; ihre Felle oder Federn waren außerdem begehrt und sogar noch die Knochen als Werkzeuge und Waffen.

Erster und folglich auch treuester Begleiter wurde der vom Wolf abstammende Hund vor nun schon 17.000 Jahren. Das Rentier kam im nördlichen Eurasien dann vor 12.000 Jahren, auch als Zugtier, hinzu. Die Ziege wurde Haustier um 7000- in Persien und Anatolien, das Schaf um 6500- am Kaspischen Meer. Schwein und Rind treten gleichzeitig in Anatolien seit 6000- auf, letzteres seit 2500- auch im Industal. Der Esel ist seit 4000- in Ägypten bekannt, das Kamel seit 1000-.

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Das Pferd wurde in allen eurasischen Kulturen der bedeutendste Helfer des Menschen. Die Nomaden domestizierten es in den europäisch-asiatischen Steppen schon um 2500-, brauchten aber 1000 Jahre, bis es so groß wurde, um einen Reiter tragen zu können. Neueste Belege scheinen zu beweisen, daß in der Ukraine schon 4000- Pferde als Reittiere benutzt wurden.110  Die ersten zweiräderigen Wagen, die auch in China schon um 1700- auftauchten, mußten noch von vier der kleinen Pferdchen gezogen werden.

Als Zug- und Reittier, als Schlachtroß und auf dem Acker, überall ist das Pferd dem Menschen unentbehrlich geworden. Ohne das Pferd wären die Ritterkulturen, die es in mehreren Ländern gegeben hat, nicht entstanden, allerdings auch nicht die Schrecken der mongolischen Reiterhorden. Die Entwicklung der europäischen Landwirtschaft ist ohne das Pferd überhaupt nicht vorstellbar, und auch der ständig zunehmende Gütertransport über Land ist bis in die erste Hälfte unseres Jahrhunderts von den Pferden bewältigt worden. Der Verfasser dieser Zeilen rückte noch im Zweiten Weltkrieg mit einer pferde­bespannten Truppe ins Feld.

In der Maßeinheit PS (Pferdestärken) wird die Erinnerung an die Energieleistung der Pferde selbst noch in der Industriegesellschaft wachgehalten. Verbessert wurden in den letzten Jahrhunderten die von Pferden gezogenen Pflüge und Maschinen, die Wagen und Kutschen, das Geschirr sowie Sättel und Zaumzeug.

Die nomadischen Tierzüchter lebten gewöhnlich in einer Art Symbiose mit den Getreidebauern, bei denen sie ihre Tiere gegen Feldfrüchte eintauschten, falls sie nicht vorzogen, ihnen diese einfach zu rauben. Das war auch der Grund dafür, daß die Bauern wehrhafte Städte auch außerhalb der Hochkulturen bauten.

Vor wenigen Jahren wurde im Südural eine vorgeschichtliche Stadt namens Arkaim entdeckt. Dort lebten um 5000- hinter einer kreisrunden Mauer, die 20.000 Quadratmeter umschloß, Acker­bauern, die bereits Pferde vor ihre Wagen spannten.111     wikipedia  Arkaim

Die nötige Bautechnik war inzwischen auch im vorderen Orient entwickelt worden. Um 6000- erreichten die ersten Städte bereits 2000 Einwohner (Jericho in Palästina, Chatel Hüjük in Anatolien, Khirokitia auf Zypern). Das erste große Zentrum der Sumerer, Alt-Ur, beherbergte um 2800- bereits 34.000 Menschen.

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Die Wohnbauten jener Zeit waren rund, später zunehmend rechteckig. Sie bestanden aus Lehm, zum Teil auf Steinsockeln aufgesetzt. Stein, Holz und luftgetrocknete Ziegel wurden schließlich die bevor­zugten Bauelemente, welche auch die Errichtung zweistöckiger Häuser erlaubten.

 

Die gemischtwirtschaftliche Bauernkultur hatte sich bis 3500- über ganz Europa verbreitet, wohin sie die aus dem östlichen Europa eingewanderten Indogermanen getragen haben mögen. Sie hat in den folgenden Jahrtausenden eine große Stabilität bewiesen. Hier baute man rechteckige Häuser von beträchtlicher Größe aus Holz, Lehm und Flechtwerk, worin Wohnung, Stall und Scheuer unter einem Dach vereint waren. Einen Eindruck davon vermitteln uns heute die »Bauernhausmuseen«, denn in dieser Beziehung hatte sich bis 1800 n. Chr. wenig verändert. — Und noch etwas beweisen diese Wohnbauten: Solange wir zurück­blicken können, hat der Mensch in Familien gelebt. Und die Dorfgemeinschaften in Europa umfaßten bis zu 300 Einwohner. Daß so wenige Befestigungs­anlagen aus dem vorgeschichtlichen Europa gefunden wurden, liegt an der Holzbau­weise.

Was die Technik betrifft, so war von 100.000 bis 10.000 v. Chr. etwa alle zehntausend Jahre eine große Erfindung zu registrieren gewesen, von 10.000 bis 4000 v. Chr. jedoch schon eine Innovation alle 500 Jahre. Die Erfindungen verbreiteten sich damals sehr langsam über die Ökumene, zu der Amerika und Australien noch nicht gehörten. Als die nächste Erfindung auftauchte, hatte sich die vorhergehende höchstens erst in den erreichbaren Regionen durchgesetzt.112

Die Metallbearbeitung hat wohl im 8. Jahrtausend v. Chr. im anatolisch-iranischen Hochland begonnen. In dieser Zeit soll es im Grenzbereich zwischen der Türkei und dem Iran schon Schmiede gegeben haben, die Kupfer verarbeitet haben. Da dieses zu weich war, schmolzen sie es mit Zinn und Arsen. Dabei geht Arsen in eine gasförmige Phase über, wovon die Schmiede chronisch vergiftet und ihre Nerven geschädigt wurden. Dies führte zu Lähmungen und Beinbehinderungen.

Darum hinken die Schmiede in den alten Sagen — und dementsprechend auch die Gottheiten der Schmiede, ob sie nun Hephaistos, Vulkan oder Wieland heißen; dennoch werden sie wegen ihrer Kunst hoch geachtet. Später verzichtete man auf das Arsen.113 Die Mischung von Kupfer und Zinn ergab die härtere Bronze, die dem folgenden Zeitalter ihren Namen verlieh. Ab 4000- gab es entsprechende Werkzeuge und ab 3000- kompliziertere Metallgüsse. Doch schon um 1500- wurde von den indogermanischen Hethitern in Anatolien die Eisenzeit eingeläutet.

Die genialste und folgenreichste technische Erfindung, die der Mensch jemals vollbracht hat, ist wohl das Rad. Die Töpferscheibe könnte im vierten Jahrtausend v. Chr. zuerst dagewesen sein. Der Karren oder Wagen, von Tieren oder Menschen gezogen, erlaubte den Transport schwerer Güter und konnte schließlich auch den Menschen selbst fortbewegen. Noch heute startet und landet kein Flugzeug ohne Räder, und wir legen längst mehr Kilometer auf Rädern zurück als auf unseren Füßen. Energie, auch die elektrische, wird mittels kreisender Räder erzeugt und in Motoren aller Art wieder in kreisenden Kraftantrieb umgewandelt. Kurz, der größte Teil der technischen Maschinerien der heutigen Zeit beruht auf dem Prinzip der kreisenden Bewegungen; selbst Türen und Fenster werden auf diese Weise geöffnet und geschlossen.

Eine andere folgenreiche Errungenschaft, wenn auch von zunächst geringerer Auswirkung, war das Segel; es ermöglichte dem Menschen, sogar die Ozeane zu überwinden und mit großer Ladung heimzukehren.

Mit den genannten technischen Erfindungen waren die Grundlagen für die ersten Hochkulturen geschaffen, deren Entwicklung um 5000- begann.

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  www.detopia.de      Literatur       ^^^^ 

Himmelfahrt ins Nichts - von Herbert Gruhl 1992