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1-5    Was ist Leben? 

Wir sind nicht eingeweiht in die Zwecke
der ewigen Weisheit und kennen sie nicht.

Der Schweizer Historiker Jacob Burckhardt

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Wir sind jetzt imstande, den unglaublich phantastischen Gang der Evolution auf unserem wundersamen Planeten geistig nachzu­vollziehen. Aber die Fragen nach drei Dingen, die uns am brennendsten interessieren, bleiben unbeantwortet:

1. Was ist Leben eigentlich?
2. Warum entstand Leben?
3. Was ist das Ziel der unermeßlich langen Evolution des Lebens?

Solche Antworten wie »Leben bedeutet Selbstorganisation räumlich und zeitlich begrenzter Materiebereiche in Richtung höherer Ordnung, das heißt — physikalisch gesprochen — in Richtung verminderter Entropie«, beschreiben nur, was Evolution ist, ohne sie zu deuten. Auch die »Fähigkeit zur Energie- und Informations­verarbeitung« ist nur eine Eigenschaft des Lebens.114 Das gilt auch von der Definition, wonach integrierte Systeme Eigenschaften aufweisen, welche ihre einzelnen Bestandteile nicht besitzen, was schon der griechische Philosoph Aristoteles (384-322) erkannt hatte.

Der Biochemiker Erwin Chargaff hat unter vielen anderen eine Antwort gesucht und betitelt eines seiner Bücher bezeich­nender­weise »Unbegreifliches Geheimnis«. Darin legt er dar, »daß es ein strikt natur­wissen­schaftliches Verständnis des Lebens nicht geben kann«.115

Es muß wohl heute nicht eigens betont werden, daß die Teilung des Menschen in Leib und Seele nicht mehr haltbar ist; »denn die Seelen sind so sterblich wie die Leiber«.116 Ebensowenig besteht eine Grenze zwischen Mensch und Tier, wonach dieser eine Seele hätte, das Tier aber nicht. »Den Menschen seinem Seelenleben nach mehr als gradweise vom Tier zu trennen, seiner Leib-Seele etwa eine besondere Art von Herkunft und zukünftigem Schicksal zuzuschreiben ... besteht nicht der mindeste Grund. Die Mendelschen Gesetze bestehen für den Aufbau des psychischen Charakters im selben Maße wie für irgendwelche körper­lichen Merkmale.«117

Der Philosoph Max Scheler trifft sich hier mit Nietzsche: »Der menschliche Leib, an dem die ganze fernste und nächste Vergangenheit alles organischen Werdens wieder lebendig und leibhaft wird, durch den hindurch, über den hinweg und hinaus ein ungeheurer unhörbarer Strom zu fließen scheint: der Leib ist ein erstaunlicherer Gedanke als die alte ›Seele‹.«118

 

Obwohl wir nun als Menschen mit dem eigenen Leib als Objekt unserer Nachforschungen unmittelbar eins sind, verschweigt uns die Natur das Allermeiste über den Leib, wir haben »kein Gefühl davon, wie tief unbekannt und fremd wir uns selber sind«.119  

Das sagt ein Denker, der aufgrund seiner verschiedenen Krankheiten den eigenen Körper so intensiv beobachtet hat wie selten ein Mensch. Im Vergleich zu unserem Bewußtsein hält er den Leib für das Erstaunlichere; »denn man kann es nicht zu Ende bewundern, wie der menschliche Leib möglich geworden ist: wie eine solche ungeheure Vereinigung von lebenden Wesen, jedes abhängig und untertänig und doch in gewissem Sinne wiederum befehlend und aus eigenem Willen handelnd, als Ganzes leben, wachsen und eine Zeit lang bestehen kann —: und dies geschieht ersichtlich nicht durch das Bewußtsein!«120  

Diese bewundernde Einschätzung Nietzsches ist von der Medizin und der Neurologie in unserem Jahrhundert in jeder Hinsicht bestätigt worden. Wie wir schon gesehen haben, wurde eine große Zahl der Vorgänge, besonders des Gehirns, aufgeklärt, ohne allerdings dem Phänomen des Lebens im Körper des Menschen und in der übrigen belebten Natur nähergekommen zu sein.

Die zweite Frage, die ungeklärte Ursache der Entstehung des Lebens vor fast vier Milliarden Jahren, kann eher dahingestellt bleiben als das Ziel der Evolution; denn ein unbekanntes Ziel könnte ja schon erreicht sein oder unmittelbar vor uns liegen. Sollte es dagegen Millionen Jahre vor uns liegen, dann hätte es heute kaum akute Bedeutung. Wir wissen aus der Geschichte, daß einige Male ein angeblich unmittelbar bevorstehendes Weltende verschiedene Völker in Aufregung versetzt hat. Mit einem unbekannten Ziel des Lebens wollten sich die denkenden Menschen nie so recht abfinden. Sie haben vielmehr das Ziel religiös definiert und tun es auch heute, obwohl ihnen das infolge der wissenschaftlichen Datenfülle immer schwerer gemacht wird. 

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Der Zweck der Welt stand solange fest, wie man an eine jenseitige Bestimmung des Menschen glaubte. In seinem <Buch der Natur> konnte Konrad von Megenberg (1308-1374) schreiben: »Die sichtbare Welt ist um des Menschen willen da, getreu der Aufforderung Gottes: macht euch die Erde Untertan!«

Nietzsche meinte an mindestens drei Stellen, wenn das Dasein, beziehungsweise die Welt ein Ziel hätte, »so müßte es erreicht sein«.121 Aber warum müßte es denn erreicht sein? »Die Tatsache des ›Geistes‹ als eines Werdens beweist, daß die Welt kein Ziel, keinen Endzustand hat und des Seins unfähig ist.«122 Ob diese Erklärung schlüssig ist, sei dahingestellt. Wichtiger ist Nietzsches Schlußfolgerung: »Der Zweck des Daseins wird nie erkannt, sondern immer sind es die endlichen Zwecke ... immer neue Wahnbilder schieben sich vor.«123

Diese Wahnvorstellungen, »die bis zur Heiligung und zum Kunstwerk sich steigernden Trugmechanismen« sind es, die des Menschen Willen zum Leben aufrecht erhalten. Die Kunst ist ein Heilmittel der Erkenntnis und »das Leben nur möglich durch künstlerische Wahnbilder«.124 Folglich liege die Aufgabe der Menschheit darin, große Heilige und große Künstler hervorzubringen.125 Für Nietzsche ist der Wille entscheidend, der Wille zum Leben, der sich gegen Schlüsse der Vernunft wehrt und diese zu trüben versucht; der Wille hält uns am Dasein fest, er »wendet jede Überzeugung hin zu einer Ansicht, die das Dasein ermöglicht«.126  

Andererseits meinte Nietzsche, daß es nur »mit dem Glauben an die Notwendigkeit des Weltprozesses« möglich sei zu existieren. Dieser Glaube erfordert allerdings noch kein bestimmtes Ziel des Weltprozesses. Dennoch sucht Nietzsche ein solches Ziel: »Es ist vielleicht das wichtigste Ziel der Menschheit, daß der Wert des Lebens gemessen und der Grund, weshalb sie da ist, richtig bemessen werde. Sie wartet deshalb auf die Erscheinung des höchsten Intellekts; denn nur dieser kann den Wert oder Unwert des Lebens endgültig festsetzen.«127 Hier taucht die Vision des »Übermenschen« auf, aber der war eben noch nie da — weder damals noch heute.

Einerseits traut der Mensch sich selbst nicht recht, darum sucht er Halt bei einer höheren Macht und deren Schutz. Andererseits will er über sein Dasein selbst befinden. Der Mensch ist — soweit wir das wissen können — das einzige Lebewesen, das sich die Frage nach dem Sinn des Daseins stellt. Eine für das einfache Leben völlig überflüssige Frage, die von einer überschüssigen Gehirnkapazität zeugt.

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Alle anderen Wesen leben einfach — die meisten Menschen übrigens auch! Denn für den normalen tätigen Menschen ergibt sich der Wert des Lebens schon daraus, daß er sich für wichtiger hält als die ganze übrige Welt.128  

Das ist vielleicht auch nur ein Trick »des Lebens«, um zu überleben. Aber für die Wenigen, die das Für und Wider abwägen, ist offensichtlich in der Regel ein kleines Übergewicht für die Plusseite heraus­gekommen. Angesichts der geringen Zahl der Selbstmörder müßte das Plus sogar groß sein. Aber die Zahl derjenigen, die lediglich aufgrund des Beharrungsvermögens am Leben bleiben, muß wahrscheinlich sehr hoch angesetzt werden, weil der Selbstmord eine derart aktive Handlung erfordert, wie sie nur wenige fertigbringen. Außerdem schreckt die Endgültigkeit einer solchen letzten Tat. Immerhin kam mit dem Menschen ein neues Phänomen auf: Das Leben kann sich gegen sich selber wenden und sich selbst vernichten.

Es ist festzuhalten: Ohne »Gründe« für sein Leben zu haben, hat sich der Mensch dennoch über rund 100.000 Generationen fortgepflanzt! Der Zoologe Wolfgang Wieser kann sich als alleiniges Ziel des Lebens die Weitergabe der genetischen Information denken.129 Diese rein naturwissenschaftliche Auskunft erhebt aber ein bloßes Mittel zum Endzweck. Sie gibt keine Auskunft auf eine metaphysische Frage.

In Anbetracht der »Unerkennbarkeit des Lebens«130 und weil wir seinen Zweck nicht kennen, »ist es kindlich, die Mittel nach Seite ihrer Vernünftigkeit zu kritisieren«.131 Schon vor anderthalb Jahrhunderten schrieb Ralph Waldo Emerson, daß man der Natur keinen Endzweck unterschieben könne132 und das Leben nicht anders darstellen oder erkennen könne, als indem man es lebt.133 Wir dürfen mit Nietzsche folgern: »Nur wenn die Menschheit ein allgemein anerkanntes Ziel hätte, könnte man vorschlagen ›so und so soll gehandelt werden‹: einstweilen gibt es kein solches Ziel.«134)  Doch Nietzsche wollte dem Menschen ein solches Ziel setzen, den Übermenschen. An anderen Stellen sah er das Ziel darin, große Menschen und große Werke hervorzubringen.

Es gibt nun gerade in letzter Zeit unzählige Vorschläge zur weiteren »richtigen« Entwicklung des Menschen und andererseits Klagen über die »falsche« Evolution. Einige glauben die Fehlentwicklung in unserem überdimensionierten Gehirn geortet zu haben.

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Doch solche Urteile dürfte doch nur fällen, wer wüßte, was für ein Ziel die Evolution des Lebens auf der Erde verfolgt. Da aber niemand weiß, »welchem Zwecke Menschen, Tiere, Pflanzen zuletzt dienen«,135) wissen wir auch nicht, auf welches Ziel wir hinsteuern sollten, selbst wenn wir das könnten.

Der Psychobiologe Roger Sperry kommt zu dem Schluß, daß es nur Vermutungen über Sinn und Ziel des Lebens gibt, die ohne Beweisführung angenommen werden müssen, da sich ja auch Physik, Mathematik und Geometrie auf Axiome gründen, die ohne Beweis als gültig anerkannt werden. Sein Axiom lautet:

»Der große Wurf der Natur, von dem wir unter besonderer Berück­sichtigung der Evolution in unserer Biosphäre erkennen, daß er in vier Dimensionen die Kräfte umfaßt, die das Weltall bewegen und den Menschen geschaffen haben, dieser große Entwurf ist etwas an sich Gutes, das zu bewahren und wertvoller zu machen recht und das zu zerstören oder verderben zu lassen unrecht ist.« 136) 

Damit endet die Weisheit der Naturwissenschaft dort, wo auch der naturwissenschaftlich mit Leidenschaft engagierte Dichter bereits angekommen war, als er <Über Natur­wissenschaft> schrieb: »Das Höchste, was wir von Gott und der Natur erhalten haben, ist das Leben, die rotierende Bewegung der Monas um sich selbst, welche weder Rast noch Ruhe kennt; der Trieb, das Leben zu hegen und zu pflegen, ist einem jeden unverwüstlich eingeboren, die Eigentüm­lichkeit desselben jedoch bleibt uns und ändern ein Geheimnis.«137)  Noch deutlicher wurde Goethe 1792 in einem Brief an Heinrich Meyer: »Der Zweck des Lebens ist das Leben selbst.«

 

Wir wissen also nicht, was das Leben eigentlich ist, noch welches Ziel es hat. Wir können es nur an seinen Erscheinungen beobachten, die uns die Welt­geschichte reichlich darbietet. Nur das scheint mir gewiß zu sein: Das Leben hat gewiß keinen Sinn, der <im Sinne des Menschen> läge.  

Aber gerade weil Sinn und Zweck des Lebens unergründlich bleiben, steht dem schöpferischen Geist hier ein weites Feld offen. Auf diesem siedelten sich die Religionen an und tummelten sich die Künste. 

Sobald der Mensch etwas gefunden zu haben glaubte, wurde aus diesem Glauben eine Religion. Und seine Religion wird dem Menschen noch immer jeden nötigen Trost bieten, solange er fest daran glaubt. 

Das wird uns auch weiterhin genügen müssen. Ein letztendliches Ziel mit den Mitteln der Wissenschaft zu ergründen, wird uns wohl nie gelingen. Was es mit dem Leben auf sich habe, ist darum zu allen Zeiten ein unerschöpfliches Thema gewesen. Gerade weil es ein Rätsel bleibt, drängt es die Menschen immer wieder, über den Sinn des Daseins zu grübeln. 

Seitdem die vorgeschriebene Antwort der angestammten Religion nicht mehr als selbst­verständlich hingenommen wird, werden individuelle Antworten gefunden und auch verkündet, nicht zuletzt von den Dichtern. Rainer Maria Rilke gelangt auf seinem dichterischem Höhepunkt in den <Duineser Elegien>, nach zögernden Erwägungen, zur hymnischen Bejahung des Lebens und des Todes:

»Erde, du liebe, ich will. O glaub, es bedürfte
nicht deiner Frühlinge mehr, mich dir zu gewinnen, einer,
ach, ein einziger ist schon dem Blute zu viel.
Namenlos bin ich zu dir entschlossen, von weit her.
Immer warst du im Recht, und dein heiliger Einfall
ist der vertrauliche Tod.«

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von Herbert Gruhl 1992