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   4.2  Die Menschenflut  

Der Erdkreis ruht von Ungeheuern trächtig,
und der Geburten zahlenlose Plage
droht jeden Tag als mit dem jüngsten Tage.
Der deutsche Dichter Johann Wolfgang Goethe

233-248

Schon das Bibelwort "Seid fruchtbar und mehret euch und füllet die Erde" enthält auch die Konsequenz, daß die Erde eines Tages überfüllt sein kann; denn alles, was voll wird, muß schließlich überfließen. Nun ist zwar die Erde kein Topf, bei dem der Moment des Überfließens genau ermittelt werden kann; dennoch sind ihre Kapazitäten berechenbar. Auch der Grundbedarf des einzelnen Menschen ist berechenbar. Weniger genau zu berechnen ist die Frucht­barkeit der Menschen, weil sich die einzelnen Völker und Kulturen höchst unterschiedlich verhalten und Lebensvorgänge nicht nach Plan verlaufen.

Um so erstaunlicher ist die Genauigkeit, mit der sich die Prognosen von 1974, die ich in meinem Buch <Ein Planet...> verwendet hatte, erfüllten. Die Menschen­zahl erreichte Mitte 1991 laut offizieller Mitteilung vom 13. Mai  5,4 Milliarden, und der UN-Weltbevölkerungsfond berechnete, daß sie im Jahr 2000 in der Nähe von 6,4 Milliarden liegen werde, da die jährliche Zunahme jetzt 100 Millionen beträgt.

Sie wird sich dann in unserem schicksalsschwangeren 20. Jahrhundert fast genau vervierfacht haben. Die weitere Zunahme auf 8,5 Milliarden im Jahr 2025 ist unvermeidlich, weil die wenig entwickelten Völker, die inzwischen 80 Prozent der Weltbevölkerung stellen, junge Völker sind, bei denen die Jahrgänge, die das gebärfähige Alter erreichen werden, überdurchschnittliche Stärke aufweisen.

Selbst wenn sie nur zwei Kinder pro Ehe hätten, bliebe die weitere Steigerung programmiert. Damit fällt alle vier Jahre eine Bevölkerungsmasse auf diesen Planeten hernieder, die der Einwohnerzahl der gesamten Europäischen Gemeinschaft gleichkommt. Wenn ein Land wie Mexiko ab sofort seine Geburtenrate derart senken könnte, daß sie im Jahre 2020 gleich der Sterberate wäre, so würde die Bevölkerung dennoch von 50 auf 130 Millionen anwachsen. 3)

Insgesamt wird die Weltbevölkerung, falls keine Sterbekatastrophen eintreten, um 2050 auf elf Milliarden angewachsen sein! Und das selbst dann, wenn die Geburten­planung einigen Erfolg haben sollte, andern­falls wird die Zahl noch höher liegen!

Wie konnte es zu dieser Flut innerhalb von 100 Jahren kommen, wo doch der Mensch schon seit drei Millionen Jahren auf der Erde lebt? Die Antwort lautet: Weil sich der Mensch genau in diesen hundert Jahren mit seinen neuen Mitteln den Erdball unterworfen hat. Die explosive Entwicklung der Technik und der Medizin führte zur Explosion der Menschenzahl. Und eine Explosion hat es an sich, daß sie nach der Zündung nicht mehr zu stoppen ist. Die Weltbevölk­erungs­kurve entspricht der Kurve der technischen und medizinischen Erfindungen.

Die Wissenschaftler haben aufgrund vieler Indizien ermittelt, daß unser Planet in der Steinzeit wohl zwischen ein und zehn Millionen Menschen trug, vielleicht auch noch weniger. Vor 8000 Jahren könnten die ersten zehn Millionen überschritten worden sein. Dann lag die jährliche Wachstumsrate bei 0,05 Prozent. Bei Beginn der ersten vorchristlichen Hochkulturen waren es schon 50 Millionen und um Christi Geburt 200 bis 300. 

Hätte man die Personen gleichmäßig verteilt, dann wäre in der Steinzeit der einzelne nach vier Kilometern auf den nächsten Menschen gestoßen, aber um die Zeitenwende schon nach 450 Metern.4) Um das Jahr 1000 waren es dann schon etwa 500 Millionen. Nicht nur in Europa verminderte die große Pest von 1348 bis 1352 die Zahl der Menschen, aber hier weiß man, daß sie 25 Millionen Todesopfer gekostet hat, womit die Bevölkerung in manchen Regionen auf die Hälfte dezimiert wurde. 

Die Entwicklung der Weltbevölkerung war stets ungleichmäßig. In den Nationen mit Hochkultur, also in nachchristlicher Zeit in Europa, nahm die Bevölkerung auch schon vor der Industrialisierung zu: von 1475 bis 1775 von 64 auf etwa 200 Millionen. Dies führte zu einem zunehmenden Auswanderungs­druck, dessen wichtigstes Ergebnis ein zweites Europa in Nordamerika wurde. 

Im Zeitalter der Industrialisierung verdichtete sich Europa bis 1900 auf das Doppelte in einem Jahrhundert, auf rund 400 Millionen, und stieg seitdem bis 1990 nochmals auf 700 Millionen. Davon sind aber bereits 20 Millionen außereuropäische Einwanderer abzuziehen. Das heißt, daß die europäischen Geburten­raten stark zurückgingen und zur Zeit nur eine geringe Vermehr­ung aufweisen. Dabei sind die Unterschiede zwischen den einzelnen Staaten beträchtlich. Ein Defizit ergibt sich zur Zeit in Deutschland, Österreich, Italien und Dänemark.

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Die Explosion der Erdbevölkerung

Abbildung 3 

Während sich die Menschenzahl auf unserem Planeten über die Jahrtausende nur mäßig erhöhte, zeigt die Kurve die starke Zunahme seit dem Mittelalter, die Explosion in unserem Jahrhundert und die unvermeidliche Steigerung bis zum Jahr 2025.  

Quelle: UNO 

 

Tabelle 4:

Größe und Zunahme der Menschenzahl und der Arbeitskräfte nach Regionen

Die Tabelle zeigt die stark differierende Entwicklung in den kulturell abgrenzbaren Großräumen der Erde.

Quelle: World Resources 1990/91

 

  

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Die übrige Welt, die sich von Christi Geburt bis 1900 nur bescheiden vermehrt hatte, von rund 100 Mill­ionen auf 1250, trat nun in das explosive Stadium ein, das auch die jemals höchsten Zunahmen Europas weit in den Schatten stellt: sie vervierfachte sich innerhalb der letzten 90 Jahre auf weit über vier Milliarden. Die Zunahmeraten betragen dort bei manchen Völkern vier Prozent jährlich, was eine Verdoppelung alle 17,5 Jahre ergibt.

Daß in Europa und Nordamerika die Bevölkerung überhaupt noch wuchs, ist darauf zurückzuführen, daß sich hier die Lebenszeit beträchtlich erhöht hat. Vermindernd wirkten sich auch die beiden Weltkriege aus, denn sie kosteten vor allem europäische Menschenopfer. Die Bevölkerung nahm also in historischer Zeit überall, aber höchst unterschiedlich zu.

Es gibt Differenzen in der Frage, ob ein gutes Nahrungsangebot eine stärkere Vermehrung nach sich zieht, oder ob eine wachsende Bevölkerung zu einer höheren Nahrungs­produktion geführt hat. Forrester meinte, in der Geschichte sei die Bevölk­erungs­zahl der zur Verfügung stehenden Nahrungsmenge stets "um eine Nasen­länge voraus" gewesen.5

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Das stimmt so pauschal nicht, denn die Hungersnöte mit hoher Sterblichkeit ereigneten sich stets nur in einzelnen meist abgeschiedenen Regionen. Sie kamen schicksalhaft aufgrund ungünstiger Wetterjahre und manchmal auch der Kriege. Von Christi Geburt bis zum Zweiten Weltkrieg gab es nach der Aufstellung von Anton Metternich 421 Hungersnöte größeren und großen Ausmaßes. Ihre Zahl schwankte zwischen zehn und 60 pro Jahrhundert bei ständiger Zunahme.6  

Die Speicherung von Lebensmitteln über Jahre war früher technisch schwer zu realisieren und immer teuer, so daß die optimistischen Menschen sich den Aufwand dafür sparten. Erst in diesem Jahrhundert ist die Speicherung mit Ausnahme der Kosten kein Problem, und seit dem Zweiten Weltkrieg sind die Transport­möglichkeiten so perfekt, daß in allen Teilen des Planeten schnell ausgeholfen werden kann. Damit wuchs aber auch die Versuchung, auf die Hilfe von oben zu vertrauen. Daß damit die Eigenverantwortung nicht gestärkt wird, liegt auf der Hand; denn das Trauma früherer Hungersnöte wirkt kaum noch.

Die Welt verfiel in Sorglosigkeit, weil Robert Malthus mit seinen prophezeiten Hungerkatastrophen im vorigen Jahrhundert nicht recht bekam, weil die sogenannte zweite agrarische Revolution von Justus von Liebig eingeleitet wurde. Durch die Versorgung der Pflanzen mit den Hauptnährstoffen Stickstoff, Phosphor und Kali konnten die Ernten erhöht werden und durch immer raffiniertere Sortenzüchtungen noch zusätzlich. Die hochgezüchteten Arten erwiesen sich zwar als krankheits- und schädlings­anfällig, aber dafür stand wieder die chemische Industrie bereit. Ein entsprechender Vorgang vollzog sich in der Tierzucht.

Die Erfolge führten zu irrsinnigen Hochrechnungen auf künftige Ernten. Diese reichten zum Beispiel bei Fritz Baade bis zur Versorgung von 65 Milliarden Menschen und bei dem Briten Fremlin bis zu Billionen, der allerdings zugab, daß seine Rechnungen nur theoretisch sind. Derartiges gehört zu den "Triumphen des Wahns", die aber auf dem sensiblen Gebiet der Ernährung viel gefährlicher sind als bei sonstigen Techniken. 

Sie tragen leider dazu bei, daß der größte Teil der Weltbevölkerung in dem vertrauensseligen Wahn lebt, die landwirtschaftliche Produktion ließe sich durch Investitionen ebenso steigern wie jede Industrieproduktion. Das ist eine Täuschung, die übrigens auch noch der <Club of Rome> mit seinen Computermodellen verbreitete; aber wen wundert's, es waren Techniker, die jene Kurven berechneten. 

* (d-2015:)  A.Metternich bei detopia 

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Daß nun auch die zweite Agrarrevolution der Menschheitsgeschichte an ihre Grenzen gestoßen ist, wird immer klarer, denn sie richtet schon jetzt Schäden im Ökosystem an, die wir noch beschreiben werden. Damit bekommen die Befürchtungen des Robert Malthus, die er 1798 veröffentlicht hatte, nach 200 Jahren erneut brennende Aktualität. Die unwissenden Schwätzer hielten ihn mit der zweiten Agrarrevolution für widerlegt; doch um mit der jetzigen Bevölkerungs­explosion Schritt zu halten, müßte die dritte und dann die vierte kommen und so fort. Im übrigen konnte Malthus noch keine Ahnung davon haben, daß die Industrie­gesellschaft die natürliche Umwelt immer stärker belasten und deren Wachstumsergebnis vermindern würde.

 

Die Völker geben sich gern der Illusion hin, daß es letzten Endes immer irgendwelche Auswege geben werde. Sehr viele vernachlässigen darüber ihre eigene Landwirtschaft. Ihr Verhungern wird sie eines Tages eines anderen belehren; doch dann wird es für eine Umkehr zu spät sein. Welch tolle Blüten die Dummheit treibt, zeigen diese Jahre. Die Amerikaner erwarten, daß die Europäische Gemeinschaft ihre Landwirtschaft opfert, damit sie nach Europa exportieren können. Dagegen sagt sogar ein Ökonom, Maurice Allais

"Wenn wir unsere Grenzen ohne Zollerhebung den amerikanischen Agrarprodukten öffnen, würden wir unsere Land­wirtschaft endgültig zerstören. Das wäre Selbstmord ... Daß Deutschland beispielsweise seine Bauern opfert, erscheint mir völlig untragbar."7

Würde eine ständige weltweite Einheitsversorgung eingeführt, dann wäre die Gefahr, daß alle darauf vertrauten, noch größer. Wenn es dann global zu einem schlechten Erntejahr kommt, müßte theoretisch die gesamte Menschheit hungern. Aber eben nur theoretisch; denn wer noch genügend hat, wird erst einmal sich selber sättigen und nur den Rest zur Verfügung stellen, und das zu horrenden Preisen.

Der Direktor des Umweltprogramms der Vereinten Nationen mit Sitz in Nairobi, der Ägypter Mostapha Tolba, rechnete 1978 vor, daß bei anhaltendem Bevölkerungs­wachstum — und es hält weiter an — im Jahr 2000 nur noch 0,16 Hektar fruchtbaren Landes pro Erdbewohner zur Verfügung stehen würden, gegen damals noch 0,31 Hektar. Als Biologe vom Fach fuhr er fort: "Wenn mir jemand sagt, daß die 0,16 Hektar von morgen ebensoviel hergeben werden wie die 0,31 heute, dann habe ich als Wissenschaftler meine Zweifel."8

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Aber selbst wenn die Ernten pro Fläche nochmals verdoppelt werden könnten, was passiert dann Mitte des nächsten Jahrhunderts, wenn uns nur noch ein Garten von 800 Quadrat­metern je Person zur Verfügung stehen wird? In der Steinzeit besetzte jede Horde ein Landgebiet. In den Agrarkulturen besaß jede Familie ein Stück Land und wußte, daß sie davon leben mußte.

Wären die Menschen weiter so verfahren, dann hätten sie gemerkt, wie die Flächen mit der Zunahme der Köpfe immer kleiner und kleiner wurden. "Es gibt viele Säuger- und Vogelarten, bei denen der Besitz eines Territoriums Voraussetzung für den Fort­pflanzungserfolg ist. Individuen, denen es nicht gelungen ist, ein Territorium zu besetzen und gegen Konkurrenten zu verteidigen, sind Ausgestoßene, die nur selten zur Paarung gelangen, die auch als erste emigrieren oder Räubern zum Opfer fallen." 9)

Die Menschen merkten die schnelle Verkleinerung ihres Raumes nicht, weil sie inzwischen die Stadt erfunden hatten. Und seitdem spielen sie das Spiel ihres Lebens mit verdeckten Karten. Ein Spiel, das nun laufend undurchsichtiger geworden ist; denn keiner kennt mehr die Grundregeln, die unter dem künstlichen Regelwerk verborgen liegen.

Die Stadt war der Ausweg für alle überzähligen Menschen. Und die Entfaltung der Technik samt Industrie sorgte dafür, daß dort alle etwas zu tun bekamen, ja daß es oft an Arbeitern fehlte. Die Einkommenschancen waren seit eh und je höher als auf dem Dorf. Diese Ballungstendenz hat sich inzwischen auf die Entwicklungsländer übertragen, denn was sollten sie sonst unter "Entwicklung" verstehen, wenn nicht "Verstädterung"? Das System Stadt hat die gleiche magische Anziehungskraft wie seinerzeit die "Auswanderung nach Amerika" für die Bauernkinder Europas.

Die Verlockungen der Städte sind immer noch grenzenlos, und deren Aufnahme­kapazitäten scheinen unendlich zu sein. In den Entwicklungsländern verlassen täglich 140.000 Menschen ihr ländliches Zuhause. Vor 60 Jahren gab es erst 40 Großstädte mit mehr als einer Million Bewohnern, davon 26 in Europa und Amerika. Damals hatte Spengler gerade geschrieben: "Ich sehe — lange nach 2000 — Stadtanlagen für zehn bis zwanzig Millionen Menschen, die sich über weite Landschaften verteilen, mit Bauten, gegen welche die größten der Gegenwart zwerghaft wirken, und Verkehrsgedanken, die uns heute als Wahnsinn erscheinen würden." 10)

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Im Tempo irrte sich Spengler gründlich; nicht lange nach 2000, sondern vor 2000 traf seine Vision ein! Schon heute gibt es 400 Städte mit mehr als einer Million Menschen, und der Wahnsinnsverkehr ist längst Wirklichkeit. Schon 1990 lebten zwei Milliarden Menschen in Städten, das sind genauso viel, wie 1930 insgesamt auf der Erde gelebt haben! Noch vor 50 Jahren lebten 80 Prozent der Menschen in Agrardörfern.11) Die UNO-Organisation für das Siedlungswesen (Habitat) teilte weiter mit, daß im Jahr 2025 schon 60 Prozent der Menschen in Städten leben werden, was dann bereits fünf Milliarden heißt.12

Die Organisation möchte den Städten mehr Geld geben! Dies würde die Zuwanderung noch verstärken! Woher soll dann die Nahrung kommen? Von den Städten der Dritten Welt hatten schon 1985 acht über zehn Millionen Einwohner, im Jahr 2000 werden es 23 sein.13 Das heißt, in den Slums, die sich wie Jahresringe um jede Stadt legen, werden die Menschen zunehmend im eigenen Dreck umkommen, wie das in einigen Ballungszentren Indiens lange der Fall ist. Selbst in einem relativ geordneten Land wie Kenia sah sich die Regierung 1990 gezwungen, die illegalen Slums mit Bulldozern zu beseitigen. Da schrie die dortige Katholische Kirche auf; was tut sie wohl sonst?14 Der Müll verrottet stinkend auf den Straßen, sogar in Hauptstädten wie Manila, Mexiko, Kairo, Ankara, Colombo, Dhaka, Rangun, ja selbst in Hongkong. Jakarta wird in 50 Jahren unbewohnbar sein.15 In Bangkok ist es nicht besser, aber die Stadt ist mit 1,8 Millionen Autos und Motorrädern "versorgt".

In vielen Städten bleibt den verwaisten Kindern oft nichts weiter übrig, als vom Diebstahl zu leben, und sie bilden Banden, gegen die sich die Bevölkerung natürlich wehrt. Nach Berichten aus Rio de Janeiro wurden schon viele dieser Kinder ermordet, 450 sollen es 1990 gewesen sein.16 Die Probleme der Ballungs­zentren werden immer furchtbarer.

Schon 1973 schrieb Manfred Niermann vom <Institut für Tropisches Bauen> der TH Darmstadt: Es sei in all diesen Ländern "völlig undenkbar, daß die öffentliche Hand durch Einsatz von finanziellen Mitteln für Milliarden Menschen an dieser Aufgabe mitwirkt". Er schloß seine Betrachtung: "Noch nie ist die Menschheit ... so unvorbereitet in eine beinahe unlösbare Situation solch katastrophalen Ausmaßes hineingestolpert."17

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Wenn die Probleme bereits 1973 beinahe unlösbar waren, heute sind sie unlösbar. Diese Städte sind nicht nur Krebsgeschwüre an sich, sie fressen sich Jahr für Jahr weiter ins Land hinein; das Land, von dem andererseits erwartet wird, daß es steigende Mengen von Nahrungsmitteln in die Städte liefert.

Das Land wird gerade in den Wohlstandsländern immer knapper. Das deutsche Bundesland Nordrhein-Westfalen berichtete, daß seit 1975 jede Minute 146 Quadratmeter Land den Gebäuden und Verkehrsbauten zum Opfer fallen, 20 Prozent der Landes­fläche ist bereits dafür verbraucht worden. Im Gebiet der ganzen alten Bundesrepublik waren es 1990 täglich 1,59 Quadrat­kilometer.

Zwei Naturgeschehnisse rasen aufeinander zu: So wie die Zahl der Menschen mit hoher Geschwindigkeit wächst, nimmt andererseits die Bodenfläche ab. Wir sind dem Zusammenprall nahe. Wann er eintritt, hängt von den Witterungsbedingungen der nächsten Jahre und von den politischen Ereignissen ab, die nicht voraussehbar sind. Wer hätte zu Beginn des Jahres 1990 den Golfkrieg voraussagen können? Also bleibt nur die Alternative: Untergang oder vorsorgliche Reduktion.

Eigenartigerweise sind gerade die Völker, die das Sterben zuerst treffen wird und die es schon trifft, am wenigsten imstande, ihre Geburtenraten zu reduzieren. Das rührt auch von ihrer völlig anderen Grund­einstellung zum Leben her; der eigene Tod wird wie der der Kinder als Schicksal hingenommen. Für uns ist eine solche Haltung nicht nachvollziehbar. So kommt es, daß die Geburtenplanung nur im euroamerikanischen Bereich sowie in Japan und auch noch China einigermaßen Erfolg hat, wenn er auch nicht ausreicht. Denn ein Prozent jährlicher Zunahme bedeutet in 70 Jahren dennoch Verdoppelung.

Der Hungertod breitet sich gerade in den ärmsten Ländern aus; dennoch hat er dort die Geburten nicht stoppen können. Es sind die gleichen Länder, in denen das Bruttosozialprodukt pro Kopf abnimmt.

In Afrika ist jeder dritte Einwohner unterernährt, und 22 Millionen waren im Frühjahr 1991 vom Hungertod bedroht. Im September 1990 fand in Paris die "2. Konferenz über die am wenigsten entwickelten Staaten" statt: 41 Staaten mit 500 Millionen Menschen, die unter dem Existenzminimum leben, kamen zusammen; 1981 waren es noch 31 gewesen.

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Diese Länder verfügen über keine nennenswerten Rohstoffe für den Export, und ihre Bevölkerung wächst schneller als das Bruttosozialprodukt. Ihre Lage hatte sich in den neun Jahren sehr verschlechtert. Afrika ist der einzige Kontinent, auf dem die Zunahmerate in den letzten drei Dekaden noch etwas höher geworden ist, während wenigstens diese in der übrigen Welt abnahm.

Dichtestress haben die Verhaltensforscher bei einigen Tierarten nachgewiesen. Bei zu dichter Population kommt es zu Verhaltens­änderungen mit der Folge geringerer Nachkommenschaft. Ratten werden kannibalisch, Lemminge gehen ins Wasser, Rotwild leidet an Muskelschwund und hat weniger Junge. Andererseits gibt es im Tierreich explosive Vermehrungen, bei Heuschrecken und anderen Insektenarten, auch bei Ratten und Mäusen, bei Kaninchen und in Australien gegenwärtig bei Känguruhs. Jede Epidemie liefert den Beweis, daß sich eine gewisse Art von Bakterien oder Viren im Explosionsstadium ihrer Vermehrung befindet; aber nach einiger Zeit bricht jede Population auch wieder zusammen.

Theo Löbsack bringt das Beispiel von den Rädertierchen, die sich im Wasser von 15°C gleichmäßig fortpflanzen ohne zuzunehmen, aber im Wasser von 25°C innerhalb von sechs Tagen um ein Drittel vermehren; doch darauf kommt es zu einem dramatischen Rückschlag, "dem zwar noch zweimal kurzfristige Erholungsphasen folgen, dann aber — nach vier Wochen — das unweigerliche Ende: Die Räder­tierchen-Gesell­schaft stirbt aus."18) Robert Ardrey schließt: "Neben jenen Spezies, die ihre Anzahl selbst regulieren können, gibt es andere, die dazu nicht imstande sind."19)  

Der Mensch gehört offensichtlich nicht generell zu den Spezies, die sich von selbst regulieren. Zwar hat Eckart Knaul 1985 in seinem Buch <Das biologische Massenwirkungsgesetz> darzulegen versucht, daß proportional zur Massendichte ein Bevölk­erungsrückgang eintrete. Er glaubt beim Menschen ein "Nachlassen der speziell männlichen wie weiblichen Sexual­hormon­produktion" feststellen zu können.20) Da müßten aber in den Armenvierteln der Ballungs­zentren und in den Entwicklungs­zentren die Konsequenzen längst zu erkennen sein. Leider ist das nicht der Fall. Die Menschen können offen­sichtlich den "Pferchungsdruck" durchstehen; er hat nicht zu weniger Kindern geführt. In den Slums der Weltstädte ist die Geburtenziffer im allgemeinen hoch.

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Rene Dubos meint wie viele: "Der Mensch ist ein Herdentier"; denn er neigt dazu, bevölkerte Umgebungen zu akzeptieren und sogar aufzusuchen.21) Aber es gibt dennoch Grenzen: "Jenseits dieser Grenzen wird eine Übervölkerung aller Wahrscheinlichkeit nach psychologische Schäden verursachen. Für einige überfüllte Populationen mag dann Gewalt oder sogar die Atombombe eines Tages keine Drohung mehr sein, sondern eine Befreiung." 22) 

Einen entscheidenden Unterschied der menschlichen Gattung gegenüber allen anderen hatte schon Leonardo da Vinci erkannt: 

"Die Natur... hat es so eingerichtet, daß sich ein Tier von dem anderen ernährt, um den kommenden Geschlechtern Platz zu machen. Daher sendet sie auch Seuchen und Pestluft dorthin, wo sich die Geschöpfe, besonders die Menschen, zu sehr vermehrt haben. Bei den Menschen übersteigt nämlich die Anzahl der Geburten die der Sterbefälle beträchtlich, weil sie nicht anderen Geschöpfen zur Nahrung dienen."23) 

Seitdem nun der Mensch bei der Bekämpfung der Seuchen große Siege errungen hat, denn außer Malaria und Schlafkrankheit spielen sie keine Rolle mehr, traten die von Leonardo erkannten Konsequenzen ein. Aber das schließt nicht aus, daß völlig neue Erreger auftauchen.

Hubert Markl beschrieb 1987 die Lage: 

"Wir sollten uns nicht darüber täuschen, daß 200 Millionen Tonnen Menschen — soviel wiegen wir alle miteinander —, zu denen jedes Jahr noch einmal 4 Millionen Tonnen hinzukommen, eben auch ein fantastisches Fleischgebirge darstellen. Die Menschheit ist nichts anderes als das Schlaraffen­land ihrer Parasiten. Und wir sind es ja nicht allein: Die Weltgetreideernte betrug 1986 1,8 Milliarden Tonnen, dazu kamen noch einmal mehr als eine Milliarde Tonnen Wurzelfrüchte, Obst und Gemüse und eine Tierfleischproduktion von nochmals 150 Millionen Tonnen von Milliarden Rindern, Schafen und Schweinen. Allein der Weltbestand an Geflügel liegt bei 10 Milliarden ... Das alles ist nicht nur ein gigantisches Kombinat von Nahrungs­konkurrenten für alle anderen Lebewesen: Es ist zugleich ein schier unerschöpfliches Nahrungsangebot für jeden Parasiten, jeden Wurm, der es sich zu erschließen weiß." 24)

Das Letztere bestätigt sich bereits in diesen Jahren, denn immer häufiger hören wir Meldungen von rätsel­haften neuen Tierkrank­heiten, aber auch von solchen, die den Menschen befallen.

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Aids ist wie aus heiterem Himmel heruntergefallen. Die Weltgesundheits­organisation rechnet bis zum Jahr 2000 mit 40 Millionen Infizierten, davon 90 Prozent in Entwicklungs­ländern mit Schwerpunkt in Afrika sowie Indien und Südostasien.25 Die Zahl der Toten wurde für 1989 auf 200.000 beziffert. Auf der WHO-Konferenz über Aids im August 1990 wurde berichtet, daß mindestens zwei Millionen Kinder von aidsinfizierten Frauen geboren wurden.26 In Afrika schätzt man 1990 etwa fünf Millionen Infizierte. Laut einer USA-Studie werden dort in 25 Jahren 70 Millionen Menschen erkrankt sein, bei einer auf 900 Millionen angewachsenen Bevölkerung.27 In Indien wird mit einer ähnlich starken Ausweitung gerechnet. 

Wie weit solche Seuchen, gegen die mit Hochdruck Mittel gesucht werden, die Bevölkerung dezimieren werden, bleibt im Dunkel. Der Krebs konnte bis heute nicht besiegt werden. Die Auswirkung künftiger Krankheiten auf die Bevölkerungsentwicklung läßt sich kaum berechnen.

 

Da der Mensch unter den Lebewesen keine ihm überlegenen Feinde hat und eine natürliche Geburten­steuerung in ihm nicht wirksam ist, bleibt nur seine vielgepriesene Vernunft. Aber gerade da, wo die Rationalität am dringendsten nötig wäre, bei den armen Völkern der Erde, reicht sie nicht hin.28 Dort nimmt zwar die Zahl derer, die Lesen und Schreiben lernen, zu, aber prozentual zur Bevölkerung sinkt sie sogar. Und hunderte Millionen Menschen wissen auch dort nichts mehr über ihre eigenen Lebensgrund­lagen, die sehr schnell schwinden. Das Nötigste ist noch meist irgendwoher gekommen. Da die Menschen sich auch unter kein Gebot zwingen lassen, bleibt letzten Endes nur die zwangsläufige Regulation durch den Mangel, der um so schärfer werden wird, je länger die Völker das Problem vor sich her schieben.

Jede aus der jetzigen Sicht scheinbar "erfolgreiche" Rettung wird, solange die Menge der künftig nicht mehr Versorgbaren zunimmt, das kommende Verhängnis vergrößern. Die gegenwärtig Geborenen haben normalerweise 70 Jahre des Bedarfs vor sich, den man jetzt immer noch zu erhöhen trachtet! Die naturgegebenen Voraussetzungen dieser Erde reichen aber — auf Jahrtausende gesehen — nur für eine Milliarde Menschen oder höchstens zwei. Aber schon heute sind die Weichen auf weiter zunehmende Menschenmassen im nächsten Jahrhundert gestellt.

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Es geht nur noch darum, ob sie sich verdoppeln (wenn einige Maßnahmen greifen) oder ob sie sich verdreifachen wird. Eine "grausame Bedeutung" maß Frau Nafis Sadik, Direktorin des Bevölkerungsfonds der Vereinten Nationen, den Entscheidungen zu, welche die Regierungen in Hinblick auf die Bedrohung treffen werden.29) 

Auf der Weltbevölkerungskonferenz in Mexiko 1984 glaubte man bereits einen wesentlichen Rückgang der Überschußrate von 2,03 auf 1,67 Prozent verkünden zu können. Doch die folgenden Jahre zeigten, daß sich der Überschuß bei 1,9 Prozent verfestigte; er beträgt 2,1 Prozent in den Entwicklungs­ländern und 0,5 Prozent in den Industrieländern. Und das, obwohl jährlich 50 Millionen Abtreibungen erfolgen und über 14 Millionen Kinder an Unterernährung sterben. Beide Zahlen hinzuaddiert würden einen jährlichen Zuwachs von 160 Millionen ergeben.

So halten denn auch von den unterentwickelten Staaten 65 ihren Zuwachs für zu hoch, und 53 davon haben Maßnahmen zur Geburtenkontrolle ergriffen.30 Aber einige Staaten lehnen jede Geburtenplanung rundweg ab. Den größten Erfolg hatte China, wo die Überschußrate von 2,6 Prozent (1970) auf 1,4 Prozent (1985) sank. Am Ziel der Wachstumsrate 0 gemessen, war es dennoch ein bescheidener Erfolg. Aber schlimmer ist, daß die Zahl der Geburten schon wieder steigt. Selbst wenn es gelungen wäre, die Zuwachsrate in China auf ein Prozent zu drücken, würde die Bevölkerung um jährlich zwölf Millionen anwachsen und damit um 2050 1500 Millionen erreichen.31  

In Indien endeten die zum Teil radikalen Bemühungen der siebziger Jahre mit einem Mißerfolg; die Zunahme beträgt 1,8 Prozent. Das bedeutet, Indien wird im Jahr 2000 über eine Milliarde Menschen haben und um 2030 China als den zahlreichsten Staat der Erde überholen. Dazu kommen auf dem indischen Subkontinent schon um 2000 je 150 Millionen in Pakistan und Bangladesh, das heißt, daß dieser dann soviel Menschen haben wird wie zu Anfang unseres Jahrhunderts die ganze Erde hatte. Schon heute leben 60 Prozent aller Menschen in Asien. 

Eine der verbreiteten Thesen lautet: Geburten durch Wohlstand vermindern!  

Da die wohlhabenden Völker in der Regel die schwächsten Geburtenraten haben, wird als Ausweg propagiert, alle Völker auf diesen Wohlstand zu heben.

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Die "Welt­kommission für Umwelt und Entwicklung" stellte 1987 fest, daß die globale Industrie­produktion "verfünf- bis verzehnfacht werden müßte, falls in den Entwicklungsländern bis zum Abflachen des Bevölkerungs­wachstums das gleiche Konsumniveau pro Kopf erreicht werden sollte, das heute in den Industrieländern üblich ist".32 Die Unmöglichkeit dieses Weges habe ich bereits in <Ein Planet....> dargestellt.33 Die Faustregel, daß der Wohlstand zu einer geringeren Nachkommenschaft führt, gilt überdies nicht für alle Völker.

Sie gilt wohl für Europa, Nordamerika und neuerdings Japan. Dazu ist gerade für Europa die Frage aufzuwerfen, ob es seinen Wohlstand nicht auch der Tatsache verdankt, daß hier, vor allem in Mittel- und Nordwesteuropa die Zahl der Nachkommen nie sehr hoch war. Hier gab es offensichtlich schon immer Geburtenplanung. Sie ließ offenbar etwas nach, als die Erfahrung gemacht wurde, daß durch Abwanderung in die Städte oder Auswanderung sehr wohl mehr Menschen ihr Auskommen finden konnten. Zu einer so rationalen Verhaltensweise sind die meisten Völker der Welt nicht fähig. Darum werden sie den Wohlstand nie erreichen; denn die vielen Kinder fressen sofort jeden ökonomischen Zuwachs weg. Wo aber der Wohlstand sprunghaft gestiegen ist wie in den Erdöl­ländern, gibt es dennoch die höchsten Geburtenraten. All den Völkern, welche die Lebensweise der Europäer kopierten, hätte auffallen müssen, wie wenig Kinder diese haben.

 

Mehr Menschen ergeben mehr Arbeitsuchende. Die schnelle Vermehrung bringt nicht nur die Probleme der Ernährung, der Behausung, des Raumes und der Dichte, sondern auch das der Arbeit. Tabelle 4 zeigt, wie stark die Nachfrage nach Arbeits­plätzen bis 2025 zunehmen wird: stärker als die Bevölkerung, da in nächster Zeit die stärksten Jahrgänge der Welt­geschichte ins arbeitsfähige Alter kommen. 

Auch die Arbeit richtet die Welt zugrunde. Denn es ist nicht mehr die Arbeit der Steinzeit und auch nicht mehr die der vergangenen Hochkulturen; es handelt sich vielmehr um Arbeit mit technischen Waffen. Die Arbeitenden sind ausgerüstet mit Motorsägen, Bulldozern, Kränen, Lastwagen, Schiffen, Flugzeugen, und in den Fabriken verarbeiten riesige mit Energie angetriebene Maschinen gewaltige Rohstoffmengen. Je mehr sie leisten, um so mehr Brennstoffe und Mineralien fressen sie. Das heißt, jede modern und rationell eingesetzte Arbeitskraft verfügt über ein riesiges Zerstörungs­potential, mit dem sie nicht etwa dauerhafte Werte schafft, sondern kurzlebige Güter, die rasch auf den Abfallhalden landen.

Das Arbeitsprodukt ist in kurzer Zeit verschlissen, es bleiben dagegen: die leeren Lagerstätten der Mineralien und der fossilen Brennstoffe, die Umwelt­schäden der Produktions­prozesse und letztlich der Müll. Jeder arbeitende Mensch ist also ein Umweltschädling; er schadet der Natur um so mehr, je "produktiver" er arbeitet. Die vielen arbeitenden Menschen werden zu Totengräbern dieser Welt. 

Es ist eine makabre Ironie, wenn Papst Johannes XXIII. den Müttern zurief: "Habt keine Angst davor, viele Kinder zu bekommen! Die Welt ist von Gott nicht geschaffen worden, um ein Friedhof zu sein. Der Herrgott segnet die großen Suppentöpfe!"34* 

Auch ein Papst sollte wissen, daß die Friedhöfe um so größer werden müssen, je mehr Menschen geboren werden. Und unser Planet wird um so früher zum Friedhof der Menschen werden, je schneller deren Zahl zunimmt.

Diese Erde und — worauf es ankommt — ihre Natur wird sich nie und nimmer danach richten, wieviel Menschen zu versorgen sind, sondern die Menschen müßten sich danach richten, wie viele von ihnen hier eine Lebensbasis finden können. 

Der Mensch beschneidet jedoch der Natur den Raum auf dieser Erde Tag für Tag und füllt ihn blindlings mit Menschen. 

Je schneller er ihn überfüllt, um so früher schwinden seine eigenen Lebenschancen dahin. Die Zahl der Toten wird in Korrelation mit der Zahl der Geburten wachsen und — zu einem schon nahen Zeitpunkt — apokalyptische Ausmaße annehmen.

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* (d-2013)  wikipedia  Johannes_XXIII.  1881-1963,  Selig:2000  -- Zitiert nach T.Löbsack     

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Himmelfahrt ins Nichts von Herbert Gruhl 1992

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