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4.4   Die Entropie

Die Zeit vermindert den Wert der Welt.
Der römische Dichter Horaz  

253-256

Die soeben beschriebenen Vorgänge, die vor unseren Augen ablaufen: Verwandlung von wertvollen Rohstoffen in einen wertlosen Mischmasch von Müll und der fossilen Brennstoffe in Abgase und Asche, ist auch ein theoretisch erfaßbarer Ablauf. Die Physiker sprechen seit 120 Jahren von Entropie. Nach dem ersten Hauptsatz der Thermodynamik bleibt in einem geschlossenen System die Gesamtenergie immer gleich. Nach dem zweiten Hauptsatz fällt die Energie von niedriger Entropie, die nutzbar ist, der Zerstreuung und damit stetiger Verminderung anheim, wird also wertlos wie eine Mülldeponie.

Der Physiker Albert Einstein bezeichnete die Thermodynamik als die einzige physikalische Theorie universellen Inhalts, die niemals umgestoßen werden wird. Der amerikanische Ökonom Nicholas Georgescu-Roegen erkannte die Folgen für die Wirtschaft des Menschen, was die Masse der Ökonomen bis heute nicht daran gehindert hat, sich dagegen blind zu stellen.

Nun ist allerdings unser Planet Erde für sich allein kein geschlossenes System, denn er empfängt unablässig Energie von der Sonne. Dabei bleibt die Menge der uns zufließenden Sonnenenergie über die Millionen Jahre nahezu konstant. Ob die Eiszeiten auf verminderten Zufluß zurückzuführen sind, konnte noch nicht geklärt werden. Die Erde bildet jedenfalls mit der Sonne ein geschlossenes System. Ohne Hinzutun des Menschen bewirkt die Sonne das organische Wachstum von Pflanze, Tier und Mensch auf unserem Planeten.

Fast vier Milliarden Jahre wirkt die Sonne als Motor der Lebensvorgänge auf unserer Erde und arbeitet damit wider die Entropie, indem sie natürliches Wachstum bewirkt. Infolgedessen blieb die Erde kein kahler toter Planet wie unser Trabant, der Mond. Die Fülle des Lebens nahm unter großen Schwankungen mit der Evolution zu. Die lebendigen Werte wuchsen mit ihrer Vielfalt und Zahl der Organismen bis hin zum Menschen.

Das formulierte der britische Philosoph Alfred North Whitehead am klarsten: "Wenn wir die Erde als physikalisches System betrachten, erscheint sie als ein endliches, in beständigem Verfall begriffenes System, dessen Vielfältigkeit und Aktivität fortwährend abnimmt."40"Die andere, gegenläufige Tendenz manifestiert sich im jährlichen Frühlingserwachen der Natur und in der aufwärts gerichteten Evolution der lebenden Organismen."41

Bevor der Mensch die Macht übernahm, hat also - unter wiederholten Einbrüchen wie den Eiszeiten - eine stetige Anreicherung der Biomasse und folglich der Humusschicht, die sich aus deren Verwesung ergab, stattgefunden. In unserer Gegenwart erzeugt das gesamte Ökosystem jährlich eine Biomasse von rund 140 Milliarden Tonnen.42 Auch die Kohlenstoffe in Form von Kohle, Erdöl und Erdgas sind Produkte früherer Sonnenenergie.

In ihrer grundsätzlichen Bedeutung wurden diese Erkenntnisse von dem amerikanischen Ökonomen Herman Daly aufgegriffen: Wir haben auf dieser Erde zwei Quellen, die unsere Wirtschaft speisen. Erstens die Strahlungsenergie der Sonne und zweitens die Lagerstätten der fossilen Brennstoffe und auch der sonstigen Mineralien in der Erdkruste, die ebenfalls einen niedrigen Grad von Entropie aufweisen, wie Eisen, Kupfer, Zinn und so weiter.

Die Sonnenenergie fließt eng begrenzt in ihrer Menge, aber nahezu unbegrenzt in bezug auf ihre zeitliche Dauer (jedenfalls noch einige Milliarden Jahre). Die irdischen Lagerstätten aber sind in der Gesamtmenge begrenzt, wogegen das Tempo ihres Abbaus vom Menschen gesteigert werden kann. Die irdischen Reserven unterliegen also der Willkür des Menschen, die solaren nicht. Der Mensch steigert zur Zeit die Nutzung dessen, was seiner Willkür unterliegt — und kommt sich sehr klug dabei vor. Die ganze Absurdität des Vorgangs deckt Herman Daly in dem Mißverhältnis der beiden Quellen auf: "Wenn alle fossilen Brennstoffe der Welt verbrannt werden könnten, so würden sie nur das Energieäquivalent von einigen wenigen Wochen Sonnenenergie liefern."43

Ich hatte das in <Ein Planet wird geplündert> so dargelegt, daß wir das Kapital der Erde aufzehren, statt nur von den Zinsen zu leben. Wer schnelles "Wachstum" haben will, der muß das Kapital angreifen — und das tun die Menschen im weiter zunehmenden Maße. Wenn die gegenwärtige Absicht darin besteht, hohe Wachstumsraten zu erzielen, dann kann dies auf die bequemste Weise erreicht werden — indem man die irdischen Quellen schnell aufbraucht.

wikipedia  Horaz   30 v. Chr. 

254


Wenn das Wachstum der Bevölkerung und der Pro-Kopf-Verbrauch Höhen erreichen, die jenseits der Kapazitäten der Selbsterneuerung der Ressourcen liegen, dann stehen wir einem noch größeren Druck gegenüber, fortzufahren, das geologische Kapital zu verbrauchen.

"Die Schwierigkeit ist eine doppelte", fährt Herman Daly fort: 

"Erstens werden unsere irdischen Quellen letzten Endes versiegen. Zweitens, selbst wenn unsere Quellen nie versiegen würden, stünden wir noch vor dem Problem ökologischer Zusammenbrüche, verursacht durch einen wachsenden Durchsatz an Materie und Energie. Sogar dann, wenn die Technologie in der Lage wäre, die Strahlung der einfallenden Sonnenenergie (bei weitem der saubersten Quelle) zu verdoppeln, so würde auf Grund der Millionen von Jahren hinter uns liegenden evolutionären Anpassung an die gewohnte Menge die Verdopplung dieser Menge eine totale Katastrophe auslösen.

Die gesamte Biosphäre ist als ein komplexes System um den fixierten Punkt des vorgegebenen Sonnenenergieflusses entstanden. Der moderne Mensch ist das einzige Lebewesen, das den solaren Ertrags­haushalt überzogen hat. Die Tatsache, daß der Mensch seinem festgelegten Solar­einkommen etwas hinzugefügt hat, indem er irdisches Kapital verbraucht, hat ihn aus dem Gleichgewicht mit der übrigen Biosphäre herausgeworfen. 

Da die Bestände künstlicher Gebrauchsgegenstände an Zahl und die Menschenzahlen gewachsen sind, mußte der Durchsatz zu deren Erhaltung ebenfalls wachsen, was wiederum stärkere Ausbeutung der Ressourcen und mehr Umweltverschmutzung einschließt. Die natürlichen biologisch-geologisch-chemischen Zyklen werden überlastet. Es werden fremdartige Stoffe produziert und massenweise in die Biosphäre geschleudert — Substanzen, mit denen die Welt noch keine auf Anpassung gerichteten evolutionären Erfahrungen gesammelt hat und die daher immer zerstörend wirken."43

Je schneller wir das Kapital der Erde ausbeuten, um so mehr treiben wir die Entropie voran. Und der Vorgang beeinträchtigt nun schon längst die vielfältigen Lebensvorgänge auf diesem Planeten, was in den nächsten Kapiteln im einzelnen zu beweisen sein wird. Obwohl das bekannt ist, erweitert der Mensch das Ausmaß der toten Materie, die zu nichts mehr zu gebrauchen ist. Nur das Leben hat die einzigartige Eigenschaft, dem Verfall entgegenzuwirken.44) 

Seitdem sich der Mensch mit den großtechnischen Mitteln am Abbau der lebendigen Natur beteiligt und Abfall erzeugt, überwiegt die Entropie auf der Erde bei weitem die Naturproduktion. Der Umschlag in eine negative Bilanz wird sich irgendwann im 20. Jahrhundert ereignet haben. Die ökologische Weltbilanz, wird immer negativer, und zwar genau in dem Maße, wie das fälschlich so genannte "wirtschaftliche Wachstum" zunimmt. Die heute lebenden Menschen sind Großparasiten an der Natur, die "entwickelten" Völker am stärksten, die "unterentwickelten" am geringsten; sie sollen noch zu einer parasitären Lebensweise "entwickelt" werden.

Das heutige Weltprogramm, welches sich die Entwicklung der "Unterentwickelten" zum hochtechnischen Zivilisations­standard zum Ziel setzt, ist ein perfektes Entropie­programm! Das gleiche gilt natürlich auch für die weiteren wirtschaftlichen "Wachstumsprogramme" der Industrie­nationen. 

(Dies wird nun verschiedentlich erkannt. So plant das deutsche Statistische Bundesamt neben den ökono­mischen Jahres­rechnungen künftig auch ökologische zu erstellen; es wird allerdings bei deren Berechnung auf große Schwierig­keiten stoßen.)

Die Folgen sieht man überall, am krassesten aber im Aussterben der pflanzlichen und tierischen Arten. Der Mensch entzieht ihnen den Lebensraum, weil er die natürlichen Lebensräume immer schneller für sich "erschließt", das heißt die Flächen mit Beton übergießt, auf denen vorher etwas wuchs

Und diese Beseitigung der Wachstumsmöglichkeit der Natur nennt er ironischerweise "wirtschaftliches Wachstum".

255-256

 

 

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Himmelfahrt ins Nichts von Herbert Gruhl 1992