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5.4  Multikulturelle Gesellschaft?

Die ganze Gesellschaft wird
 ein Büro und eine Fabrik sein.
Der russische Revolutionär Lenin

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Wir wiederholen die Feststellung, daß alle Hochkulturen in kleinräumigen Stadtstaaten mit bäuerlichem Umland existiert haben. Imperien entstanden in den Kulturkreisen, als diese ihren Höhepunkt schon überschritten hatten. Doch selbst die früheren Großreiche umfaßten nach heutigen Maßstäben nur bescheidene Zahlen von Bewohnern, und die Reichsteile hatten geringe Verbindungen untereinander. Jede Kultur bis hin zu den primitiven Stämmen hatte ihren ausgeprägten individuellen Charakter, mit eigenen Bau- und Kunstformen, mit eigener Religion und Sitte sowie der jeweiligen Geographie angepaßter Landbebauung und Ernährung.

Erst das Verkehrswesen des 20. Jahrhunderts verkürzte die Reiseentfernung von Wochen auf Stunden und gestattete mit Großtransportmitteln den totalen Waren- und Personen­austausch zwischen Völkern, die sich früher nie gesehen hatten. Das leichtgewordene Reisen wirbelt seit dem II. Weltkrieg die Völker durch­einander wie noch zu keiner Zeit. Ausgenommen davon waren bisher nur die Ostblockländer und China.

Als noch folgenreicher erwies sich die Verbreitung der gleichen Techniken rund um den Globus. Die gleichen Schiffe, Eisenbahnen, Automobile und Flugzeuge führten zu gleichen Häfen, Bahnhöfen, Garagen und Flugplätzen. Stahl, Beton und Glas sind die Baumaterialien, die in unserem Jahrhundert die ganze Welt eroberten und ihr ein Einheitsbild verpaßten. Die weltweiten Investitionen der Konzerne sorgten dafür, daß überall dieselben technischen Systeme eingerichtet wurden. Japanische Autos unterscheiden sich nicht von europäischen oder amerikanischen. 

Die Wissenschaftler, Techniker und Manager arbeiten weltweit an den gleichen Projekten, treffen sich auf Ausstellungen und Kongressen. Sie bilden jetzt eine internationale Klasse, wie sie Marx mit seinem Proletariat nie erreicht hat.

Die letzten regionalen Bastionen sind mit der Öffnung des Ostblocks eingestürzt, und auch die übrig gebliebenen, das große China, Nordkorea und das kleine Kuba, wanken.

Die europäischen Völker haben ihre Eigenheiten bereits im Zuge der Amerikanisierung nach dem II. Welt­krieg weitgehend verloren. Doch die euro-amerikanische Zivilisation hat den ganzen Erdkreis besiegt. Die Herstellung gleicher Lebensverhältnisse in der Welt als Ziel zu proklamieren, wäre gar nicht nötig gewesen; der Zug rollte schon längst in diese Richtung. Das besorgten die großen industriellen Macht­komplexe; denn sie brauchten Absatzmärkte für ihre Produkte, und sie benötigten die Rohstoffe dafür. Länder, die solche liefern konnten, wie speziell die Erdölbesitzer, gerieten schnell unter die Reichen; während Länder, die nichts zu bieten hatten als Menschen, am Hungertuch der Entwicklungshilfe nagen und infolge ihrer Vermehrung weiter nagen und verhungern werden.

Weder die ökonomischen Marktstrategen noch die Regierungen haben sich jemals Gedanken darüber gemacht, worauf die Entwicklung letztlich zielt, wie das gelobte Land der "gemeinsamen Zukunft" einmal aussehen soll. Insofern läuft der Vorgang wie ein Naturereignis, obwohl er doch von Menschen ausgelöst worden ist. Die Welt erstrebt einen einzigen Lebensstil, aber es existieren himmelweit unterschiedliche Lebensverhältnisse. Diese klaffen so weit auseinander wie noch nie in der Geschichte des Menschen auf dieser Erde. Die einen vegetieren in den Slums unter Kistenbrettern und Wellblech, und die anderen übernachten nur einige Kilometer weiter in Hotels, wo ein Tag soviel kostet, wie die anderen für ein ganzes Lebensjahr nicht in die Hand bekommen. Eigenartig: Ausgerechnet im materialistischen Zeitalter sind es die materiellen Unterschiede, die weiter auseinander klaffen denn jemals in der Geschichte.

 

Die kulturellen Unterschiede unterliegen jedoch der Nivellierung. In den Hotels und in den Slums laufen die gleichen Fernseh­programme, tönen die gleichen Schlager, kommen die gleichen Nachrichten aus den Lautsprechern, die Kinos zeigen die gleichen Filme, und die Sportereignisse vereinen Arme und Reiche. 

Der Verleger Heinz Friedrich schrieb in seinem Buch <Kulturverfall und Umweltkrise>, daß die globale Kommunikation alles... 

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"...bis in die entferntesten Winkel des Planeten hinein­projiziert. Die Eskimos bleiben ebenso wenig davon verschont wie die Neger Innerafrikas oder die Einwohner Polynesiens. Sie alle werden hineingezogen in den Strudel zivilisatorischer Dekadenz, die einen längst fragwürdigen materiellen Lebensstandard anstelle schöpferischer Welt- und Wirklichkeits­bewältigung als höchstes Scheinglück anbietet. So infiziert die an Sinnentleerung schwer erkrankte, abendländisch geprägte und amerikanisch verflachte Zivilisation durch ihre Kommunikations- und Verkehrsmittel die gesamte Menschheit."25

Der Philosoph Max Scheler hielt 1927 einen Vortrag zum Thema <Der Mensch im Weltalter des Ausgleichs>. Er sah ein naturnotwendiges Geschick, das in unserer Geschichte waltet, insofern als die Gegensätze der Rassen und der Klassen, der Geschlechter und der Generationen, der Religionen und der Konfessionen, der Weltanschauungen und Weltbilder sich laufend ausgleichen.26) Ein halbes Jahrhundert später beschrieb Hubert Markl die eingetroffenen Tatsachen: Die Menschheit... 

"schmilzt derzeit mit steigender Geschwindigkeit erstmals zu einer einzigen, globalen Gesamtzivilisation zusammen, die von Pol zu Pol reicht und uns in der Massenhaftigkeit und Gleichförmigkeit ihrer Produkte eher erschreckt als lockt: Vom maschinell gleichförmig vorgekauten Fleischfladen auf dem Plastikteller bis zum Transistorradio, aus dem überall auf unserer Erde ähnlich lärmende Rhythmen und gleichförmig nachgekaute Phrasen quellen."27

Wie nennt man den Ausgleich der Differenzen auf ein gemeinsames Mittelmaß? Entropie

Und diese besondere Art von Entropie läuft inzwischen unter einem höchst fragwürdigen Namen: "Multikulturelle Gesellschaft". Dieser Begriff ist schon ein Widerspruch in sich. Denn das Hauptkennzeichen jeder Kultur ist gerade, daß sie eine unverwechselbare Eigenart besitzt, daß sie einen bestimmten Stil entwickelt hat, der alle ihre Lebensbereiche durchdringt: die Religion, die Kunst, die Gebräuche und Sitten, die Erziehungs­ziele für die Kinder. Wenn dagegen viele Kulturen in einem Raum zusammengemixt werden, so ergibt das entweder ein neben- und gegeneinander oder — wie in der physikalischen Wärmelehre — Entropie, also ein Gemisch, dessen Wert mit zunehmender Durchmischung sinkt, bis es letzten Endes keinen Wert mehr hat. Eine Gesellschaft als "multikulturell" zu bezeichnen heißt nichts anderes als festzustellen, daß sie keine Kultur hat.

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Bezeichnenderweise ist stets von multikultureller Gesellschaft die Rede, nie von einem multikulturellen Volk, weil nämlich damit der Widerspruch allzu deutlich würde, denn ein Volk hat noch nie mehrere Kulturen gleichzeitig gehabt, eher schon mehrere Völker eine Kultur. "Gesellschaft" paßt aber immer, denn damit wird ohnehin ein künstliches Gebilde bezeichnet. Folglich gingen die neuen Theorien von "der Gesellschaft" aus, welche sich aus unstrukturierten Menschenmassen, in denen jeder gleich sein soll, am leichtesten zu einer beliebigen Gesellschaft formieren läßt. Das ergibt dann eine klassenlose, vor allem aber völkerlose Gesellschaft. Die Proletarier aller Länder sollten sich enger verbunden fühlen als die Menschen eines Volkes.

Das taten sie jedoch zum Kummer der Theoretiker nicht, worauf es die politischen Praktiker mit Zwang versuchten. Doch dieser scheiterte gerade in diesen Jahren. Und wer fegte diese Gesellschafts­theorie hinweg? Der Aufstand der Völker. Das konnten gewisse Leute, die sich selbst als "Intellektuelle" verstehen, nun gar nicht begreifen; denn alle ihre gesellschaftlichen Spielmodelle lösten sich nun in Wohlgefallen auf. Die Völker erhoben sich gerade gegen die neue, die Völkergrenzen mißachtende neue Herrenklasse, aber auch gegen die Theoretiker. Das hindert die letzteren im Westen nicht daran, ihre Gesellschaftsmodelle weiter zu jonglieren, darunter das der multikulturellen Gesellschaft.

Doch diese Multikultur, die keine Kultur mehr ist, hat eine gewisse Logik auf ihrer Seite:

1. Wer selbst keinen religiösen Glauben mehr hat, dem ist es gleichgültig, welchem der Nachbar anhängt.
2. Wenn Gebräuche und Sitten von Techniken abgelöst sind, verfallen sie der Gleichgültigkeit.
3. Wo es keinen eigenen Stil in der Kunst mehr gibt, läßt man jeden gelten.
4. Wenn sich Wohn- und Ernährungsgewohnheiten weltweit vereinheitlichen, wird jede regionale Wohn- und Eßkultur obsolet.
5. Wenn der Mensch jederzeit zum Wohnungswechsel bereit sein muß, kann er keine Verwurzelung in seiner Kultur gebrauchen.

 

Wir haben in den größten Teilen der Erde sehr schnell einen Zustand des Menschen erreicht, welchen Oswald Spengler als den für die Weltstadt typischen beschrieb: 

"Statt eines formvollen, mit der Erde verwachsenen Volkes — ein neuer Nomade, ein Parasit, der reine traditionslose, in formlos fluktuierender Masse auftretende Tatsachenmensch, irreligiös, intelligent, unfruchtbar, mit einer tiefen Abneigung gegen das Bauerntum ... also ein ungeheurer Schritt zum Anorganischen, zum Ende ..."28) — "Zur Weltstadt gehört nicht ein Volk, sondern eine Masse."

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Diese steht allem Überlieferten verständnislos gegenüber und entwickelt eine 

"der bäuerlichen Klugheit überlegene scharfe und kühle Intelligenz, ihr Naturalismus in einem ganz neuen Sinne, der über Sokrates und Rousseau weit zurück in bezug auf alles Sexuelle und Soziale an Urmenschliche Instinkte und Zustände anknüpft, das panem et circenses, das heute wieder in der Verkleidung von Lohnkampf und Sportplatz erscheint — alles das bezeichnet der endgültig abgeschlossenen Kultur, der Provinz gegenüber eine ganz neue, späte und zukunftslose, aber unvermeidliche Form menschlicher Existenz."29

Was Spengler noch als "Menschen der Weltstädte" beschrieb, das sind die heutigen "neuen Menschen" in Stadt und Land, die nicht mehr von Natur und Heimat, sondern von <Umwelt> sprechen, nicht mehr vom Volk, sondern von der Gesellschaft, nicht mehr vom Schicksal, sondern von sozialen Problem­stellungen, nicht mehr von Liebe, sondern von Partnerschaft. Wobei der jeweils zweite Begriff ganz deutlich das Merkmal der Austauschbarkeit des Gegenstandes trägt, man kann ihn ohne weiteres wechseln.

Das Gefäß, in dem sich das alles vollzieht, hat auch einen Namen und heißt "Schmelztiegel", ein Bild, das aus der Technik stammt. (Die Redensart vom Schmelztiegel der Völker kam wohl mit der Besiedelung von Nordamerika auf.) Wer sich noch nicht vorstellen kann, was Entropie ist, der möge an den Schmelztiegel denken, worin verschiedene Stoffe eingeschmolzen werden, so daß daraus eine undefinierbare Schmelzmasse entsteht, umso wertloser, je gründlicher viele Bestandteile durchmischt werden. Wer dagegen Edelmetall gewinnen will, muß vorher genau berechnen, was er in den Tiegel hineintut.

Wenn man nun die USA als Modell nimmt, dann ist gerade dort die Schmelze nicht gelungen. Die Indianer konnten in drei Jahrhunderten nicht integriert werden. Die Chinesen bildeten eigene Ghettos mit eigener Verwaltung, die ausgezeichnet funktioniert. Die Schwarzen begnügten sich gutmütig bis heute mit unter­geordneten Berufen. Als Schmelztiegel wirkten die USA nur in bezug auf die Einwanderer aus Europa — und vielleicht auch das nur, weil das anglikanische Element weit überwog.

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Im übrigen werden jetzt auch in Amerika die Gegensätze noch größer. Dafür sorgen besonders die "Hispanics" aus Mittel- und Südamerika, die zum großen Teil illegal einsickern. Im Mai 1991 entfesselten diese Straßen­schlachten mit der aus Schwarzen bestehenden Polizei, nur zwei Kilometer vom Weißen Haus entfernt.

Je unvereinbarer die Bestandteile in einem Schmelztiegel werden, um so größer wird die Explosionsgefahr. Der Libanon bot ein solches Beispiel über Jahrzehnte, bis ihn Syrien seiner Gewalt unterwarf. Die Völker der Sowjetunion sind in 70 Jahren zu keiner Einheit zusammengewachsen, sie streben jetzt auseinander, sobald sie nicht mehr mit Gewalt zusammengepreßt werden. Jugoslawien splittert sich wieder in Völker auf, obwohl sie gemeinsam slawischen Ursprungs sind. In der Dritten Welt hat es nach ihrer Befreiung immer nur weitere Spaltungen gegeben, nie Zusammenschlüsse. 

Und je schneller sich die Regionen der Erde von Schmelztiegeln zu Überdruckgefäßen entwickeln, um so heftiger werden die Eruptionen sein. Denn die Welt tritt in das Stadium ein, in dem es nicht nur um die Lebensmittel, sondern um die Überlebens­mittel geht. In dieser Phase gelten — wenn überhaupt noch etwas gilt — die Familienbindungen, was gerade die islamischen Familien vorexerzieren.

"Während Immigranten aus dem Kulturkreis mit jüdisch-hellenistisch-christlicher Religionstradition sich im allgemeinen ohne wesentliche Komplikationen selber in die Kultur des Gastlandes zu integrieren pflegen ... gilt dies erfahrungs­gemäß für Familien mit islamischer, hinduistischer oder buddhistischer Tradition fast gar nicht, da es in der Praxis zumeist an der Bereitschaft zur kulturellen Eingliederung mangelt."30

Wo die Mischungen zu bunt und zu heterogen sind, dort wird es zu erbitterten Auseinandersetzungen komm­en. Gemischte Gesellschaften funktionieren in Schön­wetter­lagen der Geschichte; doch beim ersten Windstoß zerplatzen sie wie Seifenblasen.

Es wird in dieser Welt nie eine multikulturelle Gesellschaft geben, die das Adjektiv kulturell wirklich verdient. Je stärker die Völker durcheinander brodeln, um so größer die Entropie, ein um so geringeres Maß an Kultur ist das Ergebnis. Und auch zu einer friedlicheren Welt kann dieser Weg gerade nicht führen.

Schon Kant wußte, daß der Weg zum Frieden über die Autonomie der Regionen führen müsse; er sah in Sprache und Religion Trennungslinien der Natur, die darauf hinweisen, daß es kein einheitliches Weltimperium geben könne; darum seien nur Handels- und Kommunikations- und Besuchsrecht erlaubt, aber kein dauerndes Gastrecht.31  

Darum folgert auch der Ökonom Mishan: "Die Konflikte und Zwiste unter Ländern und innerhalb der Gastländer werden im gleichen Maße anwachsen wie die illegale Immigration aus ärmeren Ländern in Afrika, Asien und Südamerika in die reicheren westlichen Länder."32

Karl Jaspers sagte noch deutlicher voraus: Bei Kollision der materiellen Lebensbedingungen "wird eine tiefere Solidarität der Menschen, die sich im Ursprung ihres Selbstbewußtseins geschichtlich als zueinander gehörend bewußt sind, den Kampf um Sein und Nichtsein gegen das Fremde aufnehmen."33  

Aber auch ein Philosoph, der die Dinge vom christlich-ethischen Standpunkt aus betrachtet, Hans Jonas, urteilt: "Die übernationale Sache der Menschheit wäre praktisch unhaltbar, wenn sie die Verleugnung des Näheren zur Bedingung machte, und der Versuch, dies zu erzwingen, könnte nur zum Unheil führen, wovon eines schon die Kompromittierung eben der Idee der Menschheits­sache selbst wäre."34

Die <multikulturelle Gesellschaft> ist im Grunde eine waschechte kommunistische Idee, wie sie von Lenin in seinem zitierten Ausspruch prägnant gekenn­zeichnet wird: eine technokratisch-bürokratisch organisierte Ansammlung von "gleichen" Menschen, die wie Atome zu funktionieren haben. Weil sich die historisch gewachsenen Individuen dagegen sträubten, ließ Stalin um die 20 Prozent aus den eigenen sowjetischen Völkern liquidieren.

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Himmelfahrt ins Nichts von Herbert Gruhl 1992